Kindergeld und Kinderfreibeträge in Deutschland: Evaluierung der Auswirkungen auf familienpolitische Ziele
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Kindergeld und Kinderfreibeträge in Deutschland: Evaluierung der Auswirkungen auf familienpolitische Ziele 28 Helmut Rainer, Stefan Bauernschuster, Natalia Danzer, Anita Fichtl, Timo Hener, Christian Holzner und Janina Reinkowski Kindergeld und Kinderfreibeträge stellen eine wichtige Säule der monetären Familienleistun- gen dar. Die Leistungen existieren in unterschiedlicher Form schon seit den Anfängen der Bun- desrepublik Deutschland. Eine aktuelle Forschungsstudie 1 des ifo Instituts hat im Rahmen der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und vom Bundes- ministerium der Finanzen (BMF) in Auftrag gegebenen Gesamtevaluation von zentralen ehe- und familienbezogenen Leistungen die Auswirkungen von Kindergeld und Kinderfreibeträgen auf Familien untersucht und Überlegungen zu der Effizienz dieser familienpolitischen Leistungen angestellt. Zentrale Ergebnisse: Kindergeldzahlungen können zu einem Beschäftigungsrückgang bei Müttern führen. Die wirtschaftliche Situation von Familien verbessert sich dadurch trotz der monetären staatlichen Unterstützung im Durchschnitt nicht. Die tatsächlichen Kosten einer Kin- dergelderhöhung liegen deutlich über den nominalen Kosten. Forschungsstudie: Kindergeld Drittel des Gesamtvolumens2 aller fami- und Kinderfreibeträge lienbezogenen Leistungen ausmacht (vgl. BMFSFJ 2012). Die Forschungsstudie beschäftigt sich mit den beiden familienpolitischen Leis- Integrales Ziel der beiden Regelungen tungen Kindergeld und Kinderfreibeträ- ist es, den Schutz der Familie, wie Arti- ge und untersucht deren Effekte auf die kel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes ihn Zielbereiche »Vereinbarkeit von Familie verlangt, zu gewährleisten. Kinder er- und Beruf«, »Wirtschaftliche Stabilität wirtschaften in ihrem späteren Erwerbs- und soziale Teilhabe von Familien« und leben Erträge für eine Volkswirtschaft »Geburtenrate/Erfüllung von Kinderwün- durch ihre Arbeitskraft und ihre Steuer- schen«. Um die Effekte von Kindergeld und Sozialversicherungszahlungen. So- und Kinderfreibeträgen auf die ge- mit können das Kindergeld und die Kin- wünschten Ziele zu identifizieren, wur- derfreibeträge konkret als Mittel zur Wür- de die Kindergeldreform von 1996 aus- digung der gesellschaftlichen Beiträge genutzt, durch die das Kindergeld deut- von Familien zum volkswirtschaftlichen lich erhöht wurde. In der anschließen- Wohlstand gesehen werden. Des Wei- den Effizienzanalyse wurden die direk- teren sind diese monetären Familienleis- ten und indirekten Kosten einer Erhö- tungen ein Mittel, einen Familienleis- hung der Leistungen betrachtet und in tungsausgleich herzustellen: Durch die- Relation zu den in den Wirkungsana - se Zahlungen wird versucht die vermin- lysen ermittelten gesamtwirtschaftlichen derte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Effekten gesetzt. von Familien – bedingt durch Kinderbe- treuung und -erziehung – zu kompen- sieren und damit horizontale Steuerge- Bedeutende Bestandteile der rechtigkeit herzustellen (vgl. Lüdeke und Familienpolitik Werding 1996). Das Kindergeld und die Kinderfreibeträ- ge stellen zwei wichtige Bestandteile der Historische Entwicklung monetären Familienleistungen innerhalb des breitgefächerten familienpolitischen Die Entwicklung des Kindergeldrechts un- Instrumentariums dar. Beide Leistungen ter dem Grundgesetz vollzog sich in meh- bestehen seit den Anfängen der Bundes- republik Deutschland und erfreuen sich 1 Der vorliegende Artikel basiert auf der Studie großer Beliebtheit in der Bevölkerung. Rainer et al. (2013). Dort finden sich weitere De- Die große Bedeutung der Leistungen tails und weitere Ergebnisse. lässt sich auch an ihrem finanziellen Vo- 2 Im Jahr 2010 lag das Gesamtvolumen aller famili- enbezogener Leistungen bei rund 125 Mrd. Euro, lumen ablesen, das bei jährlich rund das der ehebezogenen Leistungen bei rund 39 Mrd. Euro liegt und damit knapp ein 75 Mrd. Euro. ifo Schnelldienst 9/2013 – 66. Jahrgang – 16. Mai 2013
Forschungsergebnisse 29 reren Schritten. Seit der Einführung des Kindergelds in der steuerliche Entlastung durch den Freibetrag geringer ist BRD im Jahr 1954 und des Kinderfreibetrags im Jahr 1949 als das gezahlte Kindergeld. In dem Fall dient diese Dif- wurde neben der Finanzierung, der Leistungshöhe und dem ferenz der Förderung der Familie. Kreis der bezugsberechtigten Kinder3 bzw. deren Eltern auch die Möglichkeit der Kombination dieser zwei Leistungen Insgesamt führt das Optionsmodell dazu, dass die mone- mehrmals reformiert. Von 1955 bis 1995 wurden mit einer tären Entlastungen aus Kindergeld und Kinderfreibetrag zu- Unterbrechung das Kindergeld und der Kinderfreibetrag sammengenommen für die meisten Bezieher nicht mehr ein- gleichzeitig gewährt, weshalb man auch vom »Dualen Sys- kommensabhängig sind, sondern alleinig aus dem einkom- tem« sprach. mensunabhängigen Fixbetrag des Kindergelds bestehen, da der Kinderfreibetrag erst bei hohen Einkommen wirk- sam wird. Den insgesamt größten Effekt entfaltete die Re- Reform von 1996 form auf Bezieher niedrigerer Einkommen. Die bisher letzte große Strukturreform erfolgte im Jahr 1996. Mit der Kindergeldreform wurden die nominalen monetä- Die Reform geht auf Entscheidungen des Bundesverfas- ren Leistungen an Familien mit Kindern deutlich erhöht.6 sungsgerichts (BVerfG) Anfang der 1990er Jahre zurück.4 Der jährliche Kinderfreibetrag erhöhte sich um mehr als Nach dessen Auffassung erfolgte durch das damalige 50% von 2 098 Euro (4 104 DM) jährlich pro Kind vor der Duale System im Ergebnis keine vollständige Steuerfrei- Reform auf 3 203 Euro (6 246 DM) ab 1996. Für den Zeit- stellung des Existenzminimums von Kindern. Aufwendun- raum von 1997 bis 1999 wurde er auf 3 534 Euro gen für das Existenzminimum von Erwachsenen und Kin- (6 912 DM) festgelegt (vgl. Tab. 1). Wurde das Kindergeld dern müssen aber gänzlich steuerfrei gestellt werden. Der vor der Reform für das erste Kind einkommensunabhän- Gesetzgeber kam der richterlichen Forderung nach, indem gig, für alle weiteren Kinder jedoch einkommensabhän- das Kindergeldrecht in das Einkommensteuerrecht einge- gig bezahlt, war der Kindergeldbezug nach der Reform für gliedert wurde und sowohl das Einkommen in Höhe des alle Kinder nicht mehr an das Einkommen der Eltern ge- Existenzminimums der Eltern als auch der Kinder nicht mehr koppelt. Die Kindergeldhöhe betrug vor der Reform min- besteuert wurde. Für die Eltern wird dies über die Berück- destens 36 Euro (70 DM) und abhängig vom Einkommen sichtigung der steuerlichen Grundfreibeträge sichergestellt. und nach Kinderanzahl gestaffelt bis zu maximal 123 Euro Für die Kinder kann dies seit der Reform durch Abzug ent- (240 DM) pro Kind. Die Beträge können Tabelle 1 entnom- sprechender Freibeträge bei der Besteuerung der Eltern oder men werden. Geringverdiener konnten mit dem Zusatz- alternativ durch die Zahlung von Kindergeld erreicht wer- kindergeld eine Aufstockung um 33 Euro (65 DM) erhal- den (sog. »Optionsmodell«).5 ten. Kindergeld und Kinderfreibetrag zusammengenom- men bewirkten, dass kein Berechtigter weniger als 69 Euro Seit der Reform wird das Kindergeld in Deutschland im (135 DM) pro Kind an monatlichen Leistungen erhielt (vgl. Rahmen des Familienleistungsausgleichs als monatliche Lüdeke und Werding 1996). Nach dem 1. Januar 1996 Steuervergütung bezahlt. Die Eltern erhalten monatlich die stieg das Kindergeld für die ersten beiden Kinder auf nach Kinderanzahl gestaffelten Kindergeldbeträge. Im Rah- 102 Euro (200 DM) an, für das dritte auf 153 Euro (300 DM) men der Jahreslohnsteuerabrechnung wird dann durch und für das vierte und jedes weitere Kind auf 179 Euro die sogenannte »Günstigerprüfung« (von Amts wegen) ge- (350 DM) (vgl. Tab. 1). prüft, ob die resultierende Entlastung durch den Kinder- freibetrag größer als der Betrag des Kindergelds ist. In die- Abbildung 1 veranschaulicht zusammenfassend, wie hoch sem Fall kommt der Kinderfreibetrag zum Tragen, der dann die Leistungen von Kindergeld und die Wirkung des Kin- mit dem bereits gezahlten Kindergeld verrechnet wird. derfreibetrags für Paare mit einem Kind vor (blaue Linie) Durch den progressiven Steuertarif in Deutschland spa- und nach der Reform 1996 (rote Linie) waren. Der »Knick« ren Berechtigte durch einen Kinderfreibetrag umso mehr in der roten Kurve bei 74 933 Euro (146 556 DM) zeigt den Steuern, je höher ihre Einkommen sind. Daher ist die Steu- Punkt, ab dem das einkommensunabhängige Kindergeld erersparnis durch den Kinderfreibetrag erst ab einer ge- durch den Kinderfreibetrag ersetzt wird, da ab diesem Zeit- wissen Einkommenshöhe größer als das Kindergeld. Der punkt die Steuerersparnis durch den Freibetrag größer als Kinderfreibetrag wirkt sich hingegen nicht aus, wenn die das hypothetische Kindergeld ist. Erhielten Paare mit einem Kind vor der Reform durch die 3 Beispiel Kindergeld: Dieses wurde erstmalig 1954 für das dritte und jedes Kombination von Kindergeld und Zusatzkindergeld jährlich weitere Kind ausbezahlt, ab 1961 ab dem zweiten und ab 1975 ab dem ersten Kind. 4 Entscheidungen des BVerfGE vom 29. Mai 1990 (BVerfGE 82, 60) und 6 Sozialhilfeempfängern wurde das Kindergeld bis Ende 1999 vollständig auf 12. Juni 1990 (BVerfGE 82, 198). den Sozialhilfeanspruch angerechnet, d.h. die Sozialhilfe wurde um den 5 §§ 62–78 EstG seit der Fassung im Jahressteuergesetz vom 11. Okto- entsprechenden Betrag des Kindergeldes gekürzt. Arbeitslosengeld- und ber 1995, BGBl. I S. 1250. Arbeitslosenhilfebezieher konnten das Kindergeld zusätzlich beziehen. ifo Schnelldienst 9/2013 – 66. Jahrgang – 16. Mai 2013
30 Forschungsergebnisse Tab. 1 Entwicklung des Kinderfreibetrags und des Kindergelds 1992–1999 Kinderfreibetrag Monatliches Kindergeld Jahr je Kind 1. Kind 2. Kind 3. Kind 4. und weitere Kinder 1992–1993+ 2 098 (4 104) 36 (70) 66–36 (130–70)* 112–72 (220–140)* 123–72 (240–140)* 1994–1995+ 2 098 (4 104) 36 (70) 66–36 (130–70)* 112–36 (220–70)* 123–36 (240–70)* 1996 3 203 (6 246) 102 (200) 102 (200) 153 (300) 179 (350) 1997–1998 3 534 (6 912) 112 (220) 112 (220) 153 (300) 179 (350) 1999 3 534 (6 912) 128 (250) 128 (250) 153 (300) 179 (350) Anmerkungen: Leistung pro Jahr bzw. Monat in Euro; DM-Beträge in Klammern. – * Einkommensabhängige Kürzungen beim Kindergeld. – + Zusatzkindergeld in Höhe von 33 Euro (65 DM) für Bezieher niedriger Einkommen. Quelle: BMF (2007; 2008). mindestens 828 Euro (1 619 DM), bekamen sie ab 1996 Freizeit zusammensetzt, durch die optimale Aufteilung sei- mindestens 1224 Euro (2 394 DM) jährlich an Kindergeld- ner zur Verfügung stehenden Zeit auf Freizeit und Arbeits- leistungen. Der Reformgewinn lässt sich am vertikalen Ab- zeit zu maximieren. Arbeitszeit ist dabei als Mittel zum Zweck stand der roten zur blauen Linie ablesen. Die Steigerung zu sehen, um Einkommen zu erzielen, das für den Konsum der monetären Familienleistungen fiel für Berechtigte mit von Gütern verwendet werden kann. niedrigen Einkommen mit jährlich 396 Euro (775 DM) sehr hoch aus. Es ist deutlich erkennbar, dass Familien mit sehr Aus theoretischer Sicht sind mehrere Wirkungen der Kin- niedrigem Einkommen am meisten von der Reform profitier- dergelderhöhung von 1996 denkbar. Da eine Erhöhung des ten. Der Reformgewinn nimmt dann zunächst mit steigen- Kindergelds im Allgemeinen einer einkommenserhöhenden dem Jahreseinkommen kontinuierlich ab. Für Familien mit Transferleistung gleichkommt, die unabhängig vom Erwerbs- einem Jahreseinkommen um die 75 000 Euro ist die Reform status der Eltern gezahlt wird, müsste man also zur Schluss- sogar mit einer kleinen Einkommenseinbuße verbunden, wie folgerung kommen, dass sie sich negativ auf das Arbeits- in der Abbildung durch den marginalen Bereich, in dem die angebot auswirkt. Dahinter liegt die Intuition, dass ein be- blaue Linie oberhalb der roten Linie liegt, gezeigt. Danach stimmter Konsumplan durch die Erhöhung des Kindergelds nimmt der Vorteil mit steigendem Einkommen wieder kon- nun auch mit weniger Arbeitszeit erfüllt werden kann. Dies tinuierlich zu. Beim Erreichen des Spitzensteuersatzes ist die dürfte vor allem auf Haushalte mit niedrigem und mittlerem maximale Höhe der Förderung erreicht. Einkommen zutreffen. Für sie bedeutete die Reform näm- lich eine deutliche Kindergelderhöhung; gleichzeitig wurde mit der Abschaffung des Dualen Systems der vorher bean- Theoretische Wirkungen spruchte Freibetrag gestrichen, was letztlich einer Steuer- erhöhung auf das Arbeitseinkommen gleichkommt. Die Er- Nach dem neoklassischen Arbeitsangebotsmodell versucht höhung von einkommensunabhängigen Transferleistungen ein rational agierender Haushalt zunächst seinen individu- zusammen mit dem Wegfall der Freibeträge lässt die Zahl ellen Nutzen, der sich aus dem Konsum von Gütern und der Arbeitsstunden sinken.7 Für Bezieher von hohen Ein- kommen könnten sich durch die Kindergeld- reform positive wie auch negative Arbeitsan- Abb.1 reize ergeben. Die Erhöhung der Kinderfrei- Leistungen vor und nach der Reform Paare mit einem Kind beträge führt zu einer stärkeren einkommen- steuerlichen Entlastung und damit implizit zu Kindergeld und Wirkung des Kinderfreibetrags €/Jahr einem Nettolohnanstieg. Dieser Lohnanstieg 1 800 kann das Arbeitsangebot erhöhen, weil eine 1 600 Stunde Freizeit (gemessen am potenziellen 1 400 Verdienstausfall) teurer wird. Andererseits ist 1 200 auch vorstellbar, dass der implizite Lohnan- 1 000 stieg teils dazu verwendet wird, Arbeitszeit 800 zurückzufahren und Freizeit zu genießen. Je 600 nachdem, welcher der beiden Effekte (Sub- 1995 stitutionseffekt oder Einkommenseffekt) do- 400 1996 miniert, steigt oder fällt die Zahl der Arbeits- 200 stunden. 0 0 35 70 105 140 7 Somit wirken sowohl der Einkommens- als auch der zu versteuerndes Jahreseinkommnen in 1 000 € Quelle: Berechnungen des ifo Instituts. Substitutionseffekt negativ auf ihr Arbeitsangebot. ifo Schnelldienst 9/2013 – 66. Jahrgang – 16. Mai 2013
Forschungsergebnisse 31 Empirische Studien scheinlichkeit von alleinerziehenden Müttern durch die Ein- führung des WFTC um 5,1 Prozentpunkte erhöht wurde. Die bisher einzige Studie zur Evaluation von Kindergeld in Blundell, Brewer und Shephard (2005) fügen der Evidenz Deutschland stammt von Tamm (2010). In dieser Arbeit wird Ergebnisse für alleinerziehende Väter hinzu, die ebenfalls mit der Einfluss des Kindergelds auf die Erwerbstätigkeit von erhöhter Erwerbsbeteiligung auf den WFTC reagieren. Müttern mit Kindern über sechs Jahren und einem erwerbs- Brewer, Ratcliffe und Smith (2011) untersuchten die Wirkun- tätigen Partner untersucht. Der Autor findet keine Wirkun- gen der Einführung des WFTC auf die Geburtenrate. Im Er- gen auf die grundsätzliche Entscheidung von Müttern er- gebnis finden sie auch nach der Kontrolle für mögliche in- werbstätig zu sein. Doch zeigt sich eine Verringerung der dividuelle Trends der Gruppen eine um 15% erhöhte Ferti- Wochenarbeitszeit beschäftigter Mütter um eine Stunde. lität bei Paaren, die von der Reform betroffen waren. Der Dieser Effekt ist am stärksten bei Müttern mit mittlerer Bil- Effekt ist bei Erstgeburten am stärksten ausgeprägt und dung ausgeprägt. nimmt für Paare mit Kindern ab. Internationale Studien Methodik und Wirkungsanalysen In den USA und Großbritannien sind zwei familien- und so- zialpolitische Instrumente – »Earned Income Tax Credit« In der diesem Artikel zugrunde liegenden Studie wurde die (EITC) in den USA und der »Working Families‘ Tax Credit« bereits beschriebene Kindergeldreform aus dem Jahr 1996 (WFTC) in Großbritannien – intensiv untersucht worden. Bei- hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Vereinbarkeit von Fa- de Maßnahmen zielen jedoch auf benachteiligte Gruppen milie und Beruf, auf die Fertilitätsentscheidung von Familien ab und sind an die Bedingung von Erwerbsarbeit geknüpft, und – im Gegensatz zu bereits vorliegenden Studien auch – um positive Arbeitsanreize zu setzen. auf deren soziale Teilhabe und deren wirtschaftliche Stabilität analysiert. Die Reform aus dem Jahr 1996 wird in diesen Wir- Der EITC stellt eine Steuergutschrift dar, die einkommens- kungsanalysen wie ein Experiment behandelt, durch das Paa- schwachen Eltern bei Aufnahme von Erwerbsarbeit einen re mit Kindern in den Genuss höherer staatlicher Geldleis- einkommensabhängigen Transfer (zusätzlich zum Lohn) bis tungen kommen, während Paaren ohne Kinder diese zusätz- zu einer gewissen Einkommensgrenze zukommen lässt. In lichen monetären Leistungen nicht zugutekommen. Anhand Studien wird nachgewiesen, dass der EITC das Arbeitsan- dieses Quasi-Experiments lassen sich dann Aussagen über gebot von alleinstehenden Müttern erhöht (vgl. Eissa und tatsächliche Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge ableiten. Liebman 1996; Meyer und Rosenbaum 2001). Der EITC Datenbasis für die Untersuchungen ist die Längsschnittbefra- hat eine Phase-out-Region, in der er abgeschmolzen wird gung des Sozio-oekonomischen Panels über die Wellen 1992 und man durch Verringerung des Einkommens mehr Trans- bis 1998, und damit über einen Zeitraum, der das Reform- fers erhalten kann. Das macht sich bei verheirateten jahr 1996 sowie mehrere Vor- und Folgejahre enthält. Paaren bemerkbar, so dass verheiratete Mütter ihr Arbeits- angebot senken, Väter jedoch nicht (vgl. Eissa und Hoynes Die Reform von Kindergeld und Kinderfreibetrag zum Jahr 2004). Die Wirkungen des EITC auf die Geburtenrate sind 1996 erfüllt die Grundvoraussetzung für eine quasi-experi- ebenfalls untersucht worden, mit eher ernüchterndem Er- mentelle Identifikationsstrategie in einem Differenz-in-Diffe- gebnis. Es werden zwar tendenziell positive Effekte gefun- renzen-Modell (DiD-Modell), nämlich eine nicht antizipierte den, die Wirkung ist aber sehr begrenzt (vgl. Baughman und Einführung einer Maßnahme für eine bestimmte Gruppe oder Dickert-Conlin 2003; 2009). zumindest eine substantielle Veränderung der Leistungen zu einem bestimmten Zeitpunkt.8 Die Größe der berechne- Internationale Studien mit britischen Daten evaluieren den ten Effekte der Reform von 1996 ist aufgrund von Verände- »Working Families‘ Tax Credit« (WFTC), den es von 1999 bis rungen der Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt nicht un- 2003 gab. Die Leistung stellt im Wesentlichen ebenfalls ei- bedingt eins zu eins auf heute übertragbar. Mit der Identifi- ne Steuergutschrift für Familien mit Kindern dar, die die Er- kationsstrategie können jedoch grundsätzliche Reaktionen werbstätigkeit mindestens eines Elternteils zur Bedingung von Familien auf eine Erhöhung des Kindergelds methodisch hat. Die Erwerbsarbeit muss dabei mindestens 16 Stunden sauber aufgedeckt werden, die zumindest in ihrer Tendenz pro Woche umfassen. Deshalb überrascht es nicht, dass auch heute zu erwarten sind. Die große Erhöhung der Leis- Francesconi, Rainer und van der Klaauw (2009) positive tungen für Kindergeldempfänger lässt es in einem ersten Arbeitsanreize für diejenigen finden, die weniger als 16 Stun- 8 Entscheidend für einen Vorher-Nachher-Vergleich, der auch Bestandteil den arbeiten und dadurch die Mindestanforderung des des DiD-Modells ist, ist die korrekte Identifizierung des Zeitpunktes der Wir- WFTC nicht erfüllen. Für Zweitverdiener, deren Partner be- kung. Das Gesetz trat zum 1. Januar 1996 in Kraft. Da das Gesetz erst reits WFTC-berechtigt sind, ergeben sich hingegen negati- am 11. Oktober 1995 vom Bundestag beschlossen wurde, ist anzuneh- men, dass der Mehrheit der Bevölkerung die Einzelheiten der Reform ve Arbeitsanreize. Francesconi und van der Klaauw (2007) nicht frühzeitig bekannt waren, so dass das Gesetz nicht bereits vor dem kommen zu dem Ergebnis, dass die Beschäftigungswahr- 1. Januar 1996 zu Verhaltensreaktionen in der Bevölkerung führte. ifo Schnelldienst 9/2013 – 66. Jahrgang – 16. Mai 2013
32 Forschungsergebnisse Schritt zu, die Zielgröße vor der Reform mit der Zielgröße in erster Linie bei der Anzahl der Arbeitsstunden der Mütter nach der Reform innerhalb der Gruppe der Anspruchsbe- bemerkbar machen. Mütter mit Partnern verringern die Voll- rechtigten zu vergleichen. Diese einfache Differenz (erste Dif- zeittätigkeit zugunsten der Teilzeittätigkeit, während die Er- ferenz) ist jedoch noch nicht kausal interpretierbar, da sie werbsquoten weitgehend stabil bleiben. Der Anstieg der Teil- nicht eindeutig auf die Gesetzesreform zurückzuführen ist, zeittätigkeit ist statistisch signifikant und robust. Obwohl der sondern ebenso gut durch einen einfachen Zeittrend her- Rückgang der Vollzeittätigkeit nicht in allen Spezifikationen vorgerufen worden sein könnte, der völlig unabhängig von statistisch signifikant ist, deuten die Teilergebnisse der ver- der Reform verlaufen ist. Zudem könnten im Reformjahr schiedenen Heterogenitätsanalysen und die Größe der andere Veränderungen aufgetreten sein, die einen Sprung durchschnittlichen Effekte deutlich darauf hin, dass der An- in der Zielvariable verursacht haben könnten. stieg der Teilzeittätigkeit in erster Linie aus dem Rückgang der Vollzeittätigkeit resultiert. Um diese Ursachen, die in keinem Zusammenhang mit der Reform stehen, auszuschalten, wird im DiD-Modell im Ge- Das Muster eines Übergangs von Vollzeit- auf Teilzeitbe- gensatz zum naiven Vorher-Nachher-Vergleich eine zweite schäftigung ist besonders in Haushalten mit niedrigem Ein- Differenz ausgenutzt. Diese zweite Differenz ist die Diffe- kommenspotenzial ausgeprägt, und somit genau bei je- renz der Vorher-Nachher-Differenzen (erste Differenzen) zwi- nen, die besonders von der Reform profitierten und bei de- schen der geförderten (Eltern) und der nichtgeförderten nen deshalb auch theoretisch starke negative Einkommens- Gruppe (Kinderlose). Es wird also die Entwicklung der be- effekte auf das Arbeitsangebot erwartet werden. Deutlich trachteten Zielgröße der Behandlungsgruppe (Treatment- wird außerdem, dass insbesondere Mütter von zwei oder gruppe) mit der Entwicklung der Zielgröße der Kontrollgrup- mehr Kindern, die ihre Familienplanung mutmaßlich abge- pe verglichen. Unter der Annahme, dass die Trends in der schlossen haben, für die negative Arbeitsmarktreaktion ver- Zielgröße der beiden Gruppen ohne die Reform ähnlich ge- antwortlich sind. Das Arbeitsmarktangebot der Väter bleibt wesen wären, erlaubt diese zweite Differenz – die Differenz von der Reform unberührt. Bei alleinerziehenden Müttern zwischen gruppenspezifischen Differenzen über die Zeit – hingegen wird keine Verringerung des Arbeitsangebotes ge- eine klare ursächliche Zurechnung der Effekte auf die Kin- funden. Die wegen der geringeren Fallzahl weniger robus- dergeldreform. Anhand dieser Methode werden die Effekte ten Ergebnisse deuten eher sogar auf eine leichte Zunah- der Kindergeldreform auf die verschiedenen Zielbereiche un- me der Beschäftigung hin. tersucht und im Folgenden dargestellt. Eine Modellrechnung verdeutlicht das Ausmaß der ge- fundenen Ergebnisse. Eine fiktive Kindergeldreform, bei Vereinbarkeit von Familie und Beruf der die Leistungen im Durchschnitt um nur einen Euro pro Monat und Kind angehoben werden 9, führt durch- Der erste analysierte Lebensbereich von Familien mit Kin- schnittlich zu einem Rückgang der Vollzeitbeschäftigung dern betrifft die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Insbe- von Müttern um 0,34 Prozentpunkte und einem Anstieg sondere wird hier das Arbeitsangebot bzw. die durch die Re- der Teilzeitbeschäftigung um 0,40 Prozentpunkte. Dies form bedingten Veränderungen des Arbeitsangebots von entspricht einem Rückgang der vollzeitbeschäftigten Müt- Müttern betrachtet. ter um 17 100 und einem Anstieg der teilzeitbeschäftig- ten Mütter um 20 300.10 Die durchschnittliche wöchentli- Durch die Kindergeldreform 1996 wurde wie bereits erläu- che Arbeitszeit würde um 0,09 Stunden sinken, was zu ei- tert das Kindergeld massiv erhöht, und der Freibetrag war nem gesamtwirtschaftlichen Rückgang von 434 400 Ar- nur noch für Hocheinkommensbezieher relevant. Der Ent- beitsstunden pro Woche führt. scheidungsspielraum von Familien wurde durch die Erhö- hung der Leistungen erweitert. Die erhöhte Wahlfreiheit schlägt sich am Arbeitsmarkt in einer Verringerung der Er- Wirtschaftliche Stabilität von Familien werbstätigkeit von Müttern nieder. Durch die Ausgestal- tung der Kindergeldreform ergibt sich für die empirische Un- Für die empirische Untersuchung der Auswirkungen der Kin- tersuchung ein interessantes theoretisches Gefälle der Pro- dergeldreform auf die wirtschaftliche Stabilität von Familien fiteure der Reform. Während Hocheinkommensbezieher nur werden als Zielgrößen das monatliche Brutto- bzw. Netto- von höheren Freibeträgen leicht profitieren können, bedeu- erwerbseinkommen, das jährliche Nettohaushaltseinkom- tet die Erhöhung des Kindergeldes für Geringverdiener merk- 9 In der politischen Realität beträgt eine Kindergelderhöhung typischer- liche Einkommenszuwächse und damit starke negative Ein- weise nicht nur einen Euro pro Monat, dementsprechend fallen die Effek- kommenseffekte auf das Arbeitsangebot. te auf die Arbeitsmarktbeteiligung größer aus. Werden die Ergebnisse mit dem tatsächlichen Betrag einer Erhöhung hochgerechnet, ergeben sich weit größere Volumina eines reduzierten Arbeitsangebotes. Die empirischen Ergebnisse legen nahe, dass sich die ne- 10 Diese Hochrechnung gilt, wenn alle Mütter mit Kindern von sechs bis gativen Beschäftigungswirkungen der Kindergelderhöhung unter 18 Jahren zugrunde gelegt werden. ifo Schnelldienst 9/2013 – 66. Jahrgang – 16. Mai 2013
Forschungsergebnisse 33 men, das Pro-Kopf-Äquivalenzeinkommen sowie zwei Ar- ziehenden Müttern durch die Reform signifikant gestiegen mutsindikatoren herangezogen. Die empirischen Ergebnis- sind. Somit scheinen die Ergebnisse zu belegen, dass die se sind im Vergleich zu den Auswirkungen auf das Arbeits- Reform zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Stabili- angebotsverhalten wesentlich weniger eindeutig; allerdings tät von Familien mit alleinerziehenden Müttern geführt hat. lassen sich trotzdem einige Tendenzen erkennen. Ganz allgemein würde man erwarten, dass sich die finan- Soziale Teilhabe zielle Situation der Familien durch eine Kindergelderhöhung wesentlich verbessert. Überraschenderweise kann dies al- Die durch die reduzierte Arbeitszeit entstehende zusätzliche lerdings nicht beobachtet werden. In fast allen Spezifikatio- freie Zeit könnten Mütter dazu nutzen, um in größerem Um- nen sind die Punktschätzer nicht signifikant von null ver- fang am sozialen und gesellschaftlichen Leben teilzuneh- schieden und deuten damit an, dass es keinen statistisch men, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, sich wei- belastbaren Reformeffekt auf das durchschnittliche Erwerbs- terzubilden oder sich einfach ausreichende Ruhepausen zu einkommen von Müttern sowie auf die wirtschaftliche Sta- gönnen, die sich positiv auf ihre Lebenszufriedenheit aus- bilität von Haushalten gab. Dies kann zum Teil auf einer mög- wirken. In der Studie wird die soziale Teilhabe von Familien lichen Schätzungenauigkeit beruhen. Es ist aber auch denk- anhand dreier Variablengruppen untersucht. bar, dass es im Zuge der Reform und damit verbundenen Anpassungswirkungen beim Arbeitsangebot zu verschiede- Die erste Gruppe an Indikatoren bezieht sich auf die Zeit- nen komplexen Kompensationseffekten gekommen ist, die verwendung in der Freizeit. Die abhängigen Variablen mes- dazu führen, dass die durchschnittlichen Gesamteffekte sen die Häufigkeit von sieben verschiedenen Freizeitakti- kaum von null zu unterscheiden sind. vitäten. Hierzu zählen der Besuch von kulturellen Veran- staltungen (z.B. Konzerte, Theater, Vorträge); der Besuch Eine vorsichtige Interpretation der Basisergebnisse legt na- von Kinos, Popkonzerten, Tanzveranstaltungen; aktiver he, dass sich das reduzierte Arbeitsangebot von Müttern in Sport; Geselligkeit mit Freunden, Verwandten oder Nach- einem niedrigeren monatlichen Erwerbseinkommen wider- barn; politisches Engagement (Beteiligung in Bürgerinitia- spiegelt. Gleichzeitig scheint jedoch das durchschnittliche tiven, in Parteien, in der Kommunalpolitik); ehrenamtliche Haushaltseinkommen (in dem neben den Erwerbseinkom- Tätigkeiten in Vereinen, Verbänden oder sozialen Diensten; men bspw. auch sämtliche staatliche Transfers wie etwa das Mithilfe bei Freunden, Verwandten oder Nachbarn Kindergeld enthalten sind) ebenfalls zu sinken. Dies deutet (Nachbarschaftshilfe). darauf hin, dass das Erwerbseinkommen stärker reduziert wurde, als das Haushaltseinkommen durch die erhöhten Die zweite Variablengruppe enthält die folgenden sieben Ziel- Kindergeldleistungen gesteigert wurde. Darüber hinaus deu- größen: Zeit für Hobbys und sonstige Freizeitbeschäftigun- ten die Ergebnisse darauf hin, dass der Umfang der jährli- gen; Zeit für Reparaturen am Haus, in der Wohnung, am chen sozialen Transferleistungen eines Haushalts (ohne Kin- Auto, Gartenarbeit; Zeit für Aus- und Weiterbildung und Ler- dergeld) leicht zurückgegangen ist. nen (auch Schule, Studium); Zeit für Hausarbeit (Waschen, Kochen, Putzen); Zeit für Berufstätigkeit oder Lehre (Zeiten Auch verschiedene Variationen der Basisanalyse ergeben einschließlich Arbeitsweg, auch nebenberufliche Tätigkeit); in den meisten Fällen keine signifikanten, statistisch be- Zeit für Kinderbetreuung; Zeit für Besorgungen (Einkaufen, lastbaren neuen Erkenntnisse. Vorsichtige Interpretationen Beschaffungen, Behördengänge). der Ergebnisse von Quantilsregressionen des Brutto- erwerbseinkommens weisen darauf hin, dass sich die Re- Die letzte Variablengruppe ergänzt die bisherigen Angaben form tendenziell negativ auf das Erwerbseinkommen von zu Freizeitaktivitäten und Zeitallokation im Alltag durch Infor- Müttern im unteren Bereich der Einkommensverteilung aus- mationen der befragten Personen über das subjektive Wohl- gewirkt hat. befinden, das durch die Zufriedenheit mit ihrem gegenwär- tigem Leben, mit ihrer Gesundheit, mit ihrer Arbeit, mit ihrer Die einzige Heterogenitätsanalyse, die signifikante Gruppen- Tätigkeit im Haushalt, mit dem Einkommen ihres Haushalts, unterschiede im Reformeffekt offenbart, ist die separate Ana- mit ihrer Wohnung, mit ihrer Freizeit und mit ihrem Lebens- lyse von alleinerziehenden Müttern. Die Analyse des Arbeits- standard insgesamt, gemessen wird. angebots zeigte bereits, dass alleinerziehende Mütter ihr Ar- beitsangebot als Reaktion auf die Reform tendenziell ver- Es lässt sich festhalten, dass die Kindergeldreform von 1996 größerten. Auch wenn sich diese Ausweitung nicht signifi- keine robusten und signifikanten Effekte auf die verschie- kant und robust in einer Erhöhung des monatlichen Erwerbs- denen Maße der sozialen Teilhabe, der Zeitverwendung so- einkommens von Alleinerziehenden widerspiegelt, so gilt wie der Zufriedenheit mit bestimmten Lebensbereichen hat- dennoch, dass das durchschnittliche Haushaltseinkommen te. Nur bei sportlichen und kulturellen Aktivitäten wurden sowie das Äquivalenzeinkommen von Familien mit alleiner- positive Effekte gefunden, wenngleich dies keine Änderung ifo Schnelldienst 9/2013 – 66. Jahrgang – 16. Mai 2013
34 Forschungsergebnisse der grundsätzlichen Lebenszufriedenheit nach sich zog. mit niedrigerem Einkommen stärker von der Kindergeldre- Ebenso wie bei der Analyse der Auswirkungen der wirtschaft- form als Menschen mit höheren Einkommen, weshalb zu er- lichen Stabilität ist es denkbar, dass dies auf die Komplexi- warten ist, dass sie auch stärkere Verhaltensreaktionen zei- tät der Veränderung und auf individuelle Anpassungs- und gen. Da jedoch die Einkommen selbst durch die Kindergeld- Kompensationseffekte der betroffenen Familien zurückzu- reform beeinflusst werden können, wird die Position einer führen ist. Familie in der Einkommensverteilung durch die Bildung der beiden Partner approximiert. Als Behandlungsgruppe Die mit den Kindern verbrachte Zeit ist im Zusammenhang (Treatmentgruppe) im DiD-Modell wird daher auf Familien einer Evaluierung von familienpolitischen Maßnahmen eine zurückgegriffen, bei denen mindestens ein Partner geringe wichtige Zielgröße. Generell scheinen Mütter nach der Schulbildung aufweist (bzw. in einer weiteren Spezifikation Kindergeldreform mehr Zeit für die Kinderbetreuung aufzu- auf Familien, bei denen beide Partner höchstens mittlere wenden, was teilweise durch die Verschiebung von Voll- zu Schulbildung aufweisen). Als Kontrollgruppe dienen alle üb- Teilzeit und einer zusätzlichen Reduktion der Freizeit ermög- rigen Paare. Die Geburtenraten beider Gruppen werden licht wird. Diese Effekte auf die Zeit für Kinderbetreuung kön- anschließend über die Zeit betrachtet. Die implizite Annah- nen jedoch wegen der nicht adäquaten Kontrollgruppe nicht me ist, dass beide Gruppen ohne die Kindergeldreform dem stringent ursächlich auf die Kindergeldreform zurückgeführt gleichen Trend in der Geburtenrate gefolgt wären. Ist diese werden, da ein allgemeiner Zeittrend hin zu mehr Betreu- Annahme erfüllt, so können Unterschiede in der Entwick- ung das entstehende Muster ebenso erklären könnte. Von lung der Geburtenrate dieser beiden Gruppen über die Zeit weiterem Interesse wäre hier natürlich auch, wie sich eine ursächlich auf die Kindergeldreform zurückgeführt werden eventuell längere gemeinsame Zeit, die Mütter mit ihren Kin- bzw. spezifisch darauf, dass durch die Reform die monetä- dern verbringen können, auf das Wohlbefinden der Kinder ren Leistungen für die Behandlungsgruppe stärker erhöht auswirkt. wurden als für die Kontrollgruppe. Insgesamt deuten die Ergebnisse nur in Teilspezifikationen Geburtenrate/Erfüllung von Kinderwünschen auf eine positive Beeinflussung der Geburtenrate durch die Kindergeldreform hin. Nur für die erste Treatmentgruppe Eine Erhöhung von spezifisch familienpolitischen Leistungen (Paare, bei denen mindestens ein Partner geringe Schulbil- wie die Erhöhung des Kindergelds im Jahr 1996 führt zu dung aufweist) wird ein statistisch signifikant positiver Anreizwirkungen, die potenziell in der Lage sind, die Ge- Effekt der Reform auf die Wahrscheinlichkeit einer Geburt burtenrate zu steigern. Durch zusätzliche finanzielle Mittel gefunden. Das Ergebnis ist für Kinderlose, also für Erstge- für Familien, die Kinder zur Bedingung für die Anspruchs- burten, am stärksten ausgeprägt und statistisch signifikant. berechtigung machen, werden die Zusatzkosten einer Ver- Eine Veränderung des Alters der Mutter bei Geburt kann größerung der Familie verringert. Dadurch sollte theoretisch nicht gefunden werden, weshalb ein reiner Vorzieheffekt als ein Anstieg solcher Leistungen zu einer Erhöhung der Ge- Ursache für den Effekt auf die Geburtenrate ausgeschlos- burtenrate führen. Empirisch ist dabei ein kurzfristiger An- sen werden kann. Da jedoch für die Spezifikation mit der stieg der (nach dem Periodenmuster berechneten) zusam- alternativen Treatmentgruppe (Paare, bei denen beide Part- mengefassten Geburtenziffer von einer tatsächlich langfris- ner höchstens mittlere Schulbildung aufweisen) keine signi- tigen Erhöhung der (nach dem Kohortenmuster berechne- fikanten Ergebnisse gefunden werden, sollten die Ergeb- ten) endgültigen Kinderzahl zu unterscheiden. Eine Erhö- nisse insgesamt eher vorsichtig interpretiert werden. hung von Anreizen kann auch dazu führen, dass ohnehin geplante Geburten vorgezogen werden. Dieses reine Vor- ziehen von Geburten erhöht zwar kurzfristig die zusam- Effizienzanalyse mengefasste Geburtenziffer, aber nicht die endgültige Kin- derzahl. Am Alter der Mütter bei Geburt lassen sich also Im Anschluss an die Wirkungsanalysen wurde eine Effizienz- zumindest Hinweise für mögliche reine Vorzieheffekte erken- analyse angestellt. Konkret wurden die direkten Kosten der nen. Daher kommt der Betrachtung des Alters der Mütter Kindergeldreform um die fiskalischen Auswirkungen der in bei Geburt in den Analysen zu den Effekten der Kindergeld- der Wirkungsanalyse ermittelten gesamtwirtschaftlichen erhöhung auf die Fertilität eine wichtige Rolle zu. Da die Effekte ergänzt, um zu bestimmen, welche direkten und in- Kindergeldreform theoretisch Fertilitätsanreize sowohl für direkten Kosten dem Staat durch die Kindergeldreform ent- Familien mit Kindern als auch ohne Kinder setzt und somit stehen. Kinderlose nicht mehr als nicht von der Reform betroffene Vergleichsgruppe dienen, wird hier zur Identifizierung des Direkte Kosten umfassen dabei die zusätzlichen Ausgaben kausalen Effektes auf die unterschiedlich starke Auswirkung pro Kind in Form erhöhten Kindergelds. Als indirekte Kos- der Kindergeldreform über die Einkommensverteilung zu- ten werden Folgekosten wie beispielsweise sinkende Steu- rückgegriffen. Wie bereits beschrieben, profitieren Menschen er- und Beitragseinnahmen aufgrund einer geringeren ifo Schnelldienst 9/2013 – 66. Jahrgang – 16. Mai 2013
Forschungsergebnisse 35 Erwerbstätigkeit bezeichnet. Minderausgaben bei den Sozial- rio Mittelwert für die Gruppe der Mütter mit 6- bis 17-jäh- transfers reduzieren die indirekten Kosten. Die direkten und rigen Kindern, besagt etwa, dass durch eine Kindergeld- indirekten Kosten wurden anhand einer fiktiven Kindergeld- reform, in der die Kindergeldleistungen im Durchschnitt reform, die eine Erhöhung der Kindergeldleistungen um um 1 Euro pro Kind erhöht werden, die Kosten insgesamt 12 Euro pro Kind und Jahr bzw. um 1 Euro pro Kind und bei 2 Euro pro Kind liegen. Legt man alle Mütter mit Kin- Monat vorsieht, berechnet. Die Ergebnisse dieser Berech- dern unter 18 Jahren zugrunde, liegen die Gesamtkosten nungen sind in Tabelle 2 im Detail aufgeführt. einer Kindergelderhöhung um 1 Euro pro Kind zwischen 1,20 Euro pro Kind (Untergrenze) und 4,10 Euro pro Kind Die direkten Kosten dieser fiktiven Kindergeldreform erhö- (Obergrenze).11 hen sich entsprechend der Anzahl der Kinder, für die ent- weder Kindergeld gezahlt oder ein Kinderfreibetrag in An- Die große Spannweite des Quotienten von 1,1 bis 2,9 bzw. spruch genommen wird. 2010 waren rd. 17,5 Mill. Kinder 1,2 bis 4,1 verdeutlicht wie schwierig es ist, die genauen kindergeldberechtigt. Bei einer entsprechenden Erhöhung Kosten einer solchen Reform abzuschätzen. Allerdings legt der Kindergeldleistungen verursacht die zugrunde gelegte die Tatsache, dass der Quotient auch im günstigsten Fall fiktive Reform jährliche Zusatzkosten in Höhe von gut (Untergrenze) größer als eins ist, nahe, dass mit indirekten 210 Mill. Euro (1. Zeile Tab. 2). Kosten für den Staat zu rechnen ist. Im Mittel der Schät- zungen liegt die Höhe dieser zusätzlichen indirekten Kos- Die zusätzlichen indirekten Kosten einer fiktiven Kinder- ten in etwa auf dem gleichen Niveau wie die direkten Kos- geldreform werden, beruhend auf den Schätzergebnissen ten einer Kindergelderhöhung. Damit sind die Gesamtkos- der Wirkungsanalyse, in zwei Szenarien berechnet. Im ers- ten einer Erhöhung des Kindergelds durchschnittlich dop- ten Szenario wird davon ausgegangen, dass die Effekte pelt so hoch wie die direkten Kosten. der Wirkungsanalyse nur für die untersuchte Gruppe von Müttern mit 6- bis 17-jährigen gelten. Im zweiten Szena- Es sollte am Ende jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass rio wird angenommen, dass die Effekte auf Mütter mit 0- die infolge der Kindergeldreform feststellbare Verringerung bis 17-jährigen Kindern übertragbar sind. Abschließend der Erwerbstätigkeit der Mütter zeitliche Zugewinne in den werden die Gesamtkosten inkl. indirekter Kosten, die durch Familien ergeben, die unter Umständen dazu beitragen eine Verringerung der Steuereinnahmen und der Einnah- können, die Wohlfahrt zu erhöhen. Da diese potenziellen men der Sozialversicherungen (durch Verringerung der Ar- Effekte jedoch hier nicht zu quantifizieren sind, konnten sie beitszeit) sowie durch Minder- oder Mehrausgaben bei in der angestellten Effizienzanalyse nicht berücksichtigt Transferleistungen entstehen, ins Verhältnis zu den direk- werden. ten Kosten (Erhöhung der Kindergeldleistungen) gesetzt. Die so entstehenden Maßzahlen sind der letzten Zeile in 11 Ober- und Untergrenzen werden durch das 90%-Konfidenzintervall der Tabelle 2 zu entnehmen. Der Quotient von 2,0 im Szena- Schätzungen vorgegeben. Tab. 2 Direkte und indirekte Kosten einer fiktiven Kindergeldreform Direkte und indirekte Kosten (12 Euro pro Kind und Jahr/1 Euro pro Kind und Monat) Mütter (Kinder 6–17) Mütter (Kinder 0–17) Untergrenze Mittelwert Obergrenze Untergrenze Mittelwert Obergrenze Direkte Kosten (in Mill. Euro pro Jahr) 210,4 210,4 210,4 210,4 210,4 210,4 Mindereinnahmen an Steuern und SV-Abgaben von 0,0 194,9 387,7 0,0 318,5 633,5 Arbeitnehmern (in Mill. Euro pro Jahr) Mindereinnahmen von SV- Abgaben von Arbeitgebern – 29,3 63,7 156,8 – 47,9 104,2 256,2 (in Mill. Euro pro Jahr) Zusätzliche Transferleistungen ohne Kindergeldleistungen 53,7 – 45,6 – 144,9 87,7 – 74,6 – 236,8 (in Mill. Euro pro Jahr) Kosten insgesamt (in Mill. Euro pro Jahr) 234,8 423,4 610,0 250,2 558,5 863,4 Kosten insgesamt/direkten Kosten 1,1 2,0 2,9 1,2 2,7 4,1 Quelle: Berechnungen des ifo Instituts. ifo Schnelldienst 9/2013 – 66. Jahrgang – 16. Mai 2013
36 Forschungsergebnisse Schlussbemerkung damit erreichten Wirkungen stehen, und welche Wirkun- gen überhaupt erwünscht sind, bleibt daher im Kern eine Die Ergebnisse der Wirkungsanalysen zeigen, dass durch Frage politischer Abwägungen. Wissenschaftliche Wirkungs- eine Kindergelderhöhung bei Müttern negative Beschäf- analysen schaffen dafür allerdings wichtige Grundlagen. tigungseffekte auftreten können, die sich in einer Verringe- rung der Arbeitsstunden zeigen. Mütter mit Partnern – vor allem in Haushalten mit niedrigem Einkommen – verrin- Literatur gern die Vollzeittätigkeit zugunsten der Teilzeittätigkeit, wäh- Baughman, R. und S. Dickert-Conlin (2003), »Did Expanding the EITC rend die Erwerbsquoten weitgehend stabil bleiben. Die wirt- Promote Motherhood?«, American Economic Review 93, 247–251. schaftliche Situation von Familien verändert sich durch die Baughman, R. und S. Dickert-Conlin (2009), »The Earned Income Tax Kindergelderhöhung insgesamt nicht signifikant, da die Ver- Credit and Fertility«, Journal of Population Economics 22, 537–563. haltensänderungen am Arbeitsmarkt das Arbeitseinkom- Blundell, R., M. Brewer und A. Shephard (2005), »Evaluating the Labour men der Familien senken und somit die Kindergelderhö- Market Impact of Working Families’ Tax Credit Using Difference-in- hung wettmachen. Für alleinerziehende Mütter scheint die- Differences«, Tech. rep. ser Kompensationseffekt nicht zu wirken, so dass sich die BMF (2007), »Datensammlung der Steuerpolitik 2007«, Berlin. finanzielle Situation für diese Gruppe von Müttern durch das Kindergeld verbessert. Die Wirkungsanalyse zeigt darüber BMF (2008), »Datensammlung der Steuerpolitik 2007, Neuauflage Juli 2008«, Berlin. hinaus keine signifikanten Effekte auf verschiedene Maße der sozialen Teilhabe, der Zeitverwendung oder der Zufrie- BMFSFJ (2012), Familienreport 2012: Leistungen, Wirkungen, Trends, Berlin. denheit mit bestimmten Lebensbereichen. Auch bezüglich Brewer, M., A. Ratcliffe und S. Smith (2011), »Does Welfare Reform Affect Fer- der Effekte der Kindergelderhöhung auf die Geburtenrate tility? Evidence from the UK«, Journal of Population Economics 25, 245–266. können keine eindeutigen Schlüsse gezogen werden. Eissa, N. und H.W. Hoynes (2004), »Taxes und the Labor Market Participa- tion of Married Couples: The Earned Income Tax Credit«, Journal of Public Die Effizienzanalyse ergibt, dass die tatsächlichen Kosten Economics 88, 1931–1958. einer Kindergeldreform in etwa doppelt so hoch liegen wie Eissa, N. und J. B. Liebman (1996), »Labor Supply Response to the Earned die nominalen Kosten. Im Gegensatz zu infrastrukturellen fa- Income Tax Credit«, The Quarterly Journal of Economics 111, 605–637. milienpolitischen Leistungen wie der öffentlich geförderten Francesconi, M., H. Rainer und W. van der Klaauw (2009), »The Effects of Kinderbetreuung sind kostendämpfende Selbstfinanzie- In-Work Benefit Reform in Britain on Couples: Theory und Evidence«, rungseffekte beim Kindergeld nicht zu erwarten. Durch die Economic Journal 119, 66–100. verringerte Arbeitszeit der Mütter infolge der Erhöhung der Francesconi, M. und W. van der Klaauw (2007), »The Socioeconomic Con- Kindergeldleistung entstehen indirekte Kosten auf Seiten sequences of In-Work Benefit Reform for British lone Mothers«, Journal of des Staates: Da Mütter bei einer Kindergelderhöhung ihre Human Resources 42, 1–31. bezahlten Arbeitsstunden reduzieren, entgehen dem Staat Gathmann, C. und B. Saß (2012), »Taxing Childcare: Effects on Labor Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträge. Im Mit- Supply and Children«, IZA Discussion Paper, Nr. 6440. tel der Schätzungen liegt die Höhe dieser zusätzlichen indi- Lüdeke, R. und M. Werding (1996), »Die Reform des Dualen Familienlasten- rekten Kosten in etwa auf dem gleichen Niveau wie die di- bzw. Familienleistungsausgleichs 1996: Wirkungen und Ziele einkommens- rekten Kosten einer Kindergelderhöhung. Die neue familien- steuerlicher Kinderfreibeträge und des Kindesgelds nach altem und neuem Steuerrecht«, Journal of Economics and Statistics (Jahrbücher für National- politische Maßnahme des Betreuungsgeldes lässt dabei ver- ökonomie und Statistik) 215, 419–443. gleichbare Effekte erwarten.12 Meyer, B.D. und D.T. Rosenbaum (2001), »Welfare, The Earned Income Tax Credit, And The Labor Supply Of Single Mothers«, The Quarterly Journal of Eine abschließende Gesamtbeurteilung der familienpoliti- Economics 116, 1063–1114. schen Leistungen Kindergeld und Kinderfreibeträge ist al- Rainer, H., S. Bauernschuster, N. Danzer, T. Hener, C. Holzner und J. Rein- lein durch diese Studie nicht möglich. Weitere Aspekte wie kowski (2013), Kindergeld, ifo Forschungsbericht Nr. 60, ifo Institut, München. die Effekte der Leistungen auf das Wohlergehen von Kin- Tamm, M. (2010), »Child Benefit Reform und Labor Market Participation«, dern dürfen bei einer Gesamtbewertung der Maßnahmen Journal of Economics und Statistics (Jahrbücher für Nationalökonomie und nicht vernachlässigt werden. Außerdem kann die Gewich- Statistik) 230, 313–327. tung der zugrunde liegenden Ziele, auch im Vergleich zu ei- nem anderweitigen Mitteleinsatz, nicht objektiv beurteilt wer- den. Politische Leistungen sowie die Frage, ob deren öffent- liche Ausgaben in einem angemessenen Verhältnis zu den 12 Gathmann und Saß (2012) evaluierten das von 1. Juli 2006 bis 31. Juli 2010 in Thüringen geltende und dem geplanten Bundes-Betreuungs- geld vergleichbare Landes-Betreuungsgeld. Sie zeigen, dass die Erwerbs- tätigkeit von Müttern mit zweijährigen Kindern durch die Einführung um 20% sinkt; der Effekt ist besonders bei niedrig qualifizierten Müttern und in Niedrigeinkommenshaushalten ausgeprägt. ifo Schnelldienst 9/2013 – 66. Jahrgang – 16. Mai 2013
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