KINO KUNSTMUSEUM KELLERKINO | BERN

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Oktober 2012
10                                    Sansho dayû                                                                                  11

                                                    Kenji Mizoguchi
                                                    › Einführung in die filmische Hypnose
                                                    Kenji Mizoguchi (1898 –1956) gilt als Meister der Plansequenz und als
                                                    Mann mit nahezu feministischem Engagement. Fred van der Kooij revi-
                                                    diert in seinem Beitrag diese Klischees. Und entdeckt einen Regisseur, der
                                                    das Melodrama gegen den Strich bürstete und ein Kino von hypnotischer
                                                    Kraft schuf.
                                                    Bisweilen bewegt sich die Filmgeschichte in seltsam asynchronen Zeitläufen.
                                                    Obwohl Kenji Mizoguchi und Sergej Eisenstein im gleichen Jahr (1898) gebo-
                                                    ren wurden, gilt der sowjetische Regisseur als Grossmeister der Stummfilmzeit,
                                                    während Mizoguchis Hauptwerke in den Fünfzigerjahren entstehen, als Eisen-
                                                    stein bereits gestorben war.
                                                    Von den 63 Filmen, die Mizoguchi vor dem Zweiten Weltkrieg inszeniert hat,
                                                    sind nicht weniger als 52 verloren gegangen. Bei einem Gesamtwerk von 88 Fil-
                                                    men bedeutet das einen Verlust von fast 60 Prozent! Zudem sind jene Kopien,
                                                    die es von den wenigen erhaltenen Filmen der Zwanziger- und Dreissigerjahre
                                                    heute noch gibt, in einem oft erbärmlichen Zustand. Und ausserhalb von Japan
                                                    war damals kaum einer dieser Filme bekannt. Das änderte sich schlagartig, als
                                                    im Jahr 1953 der Film Erzählungen unter dem Regenmond (Ugetsu monogatari)
Einführung in die filmische Hypnose                 am Filmfestival von Venedig den Silbernen Löwen gewann.
                                                    Es ging auch nicht mehr lange, da meinten westliche Beobachter die Besonder-
                                                    heiten des spät entdeckten Meisters erkannt zu haben. Inhaltlich wurde ein na-

Kenji Mizoguchi                                     hezu feministisches Engagement gegen die Unterdrückung der Frau festgestellt,
                                                    und formal begeisterte sein Einsatz der Plansequenz, in der eine ganze Szene nur
                                                    mit einer einzigen (oft komplex bewegten) Kameraeinstellung eingefangen wird.
                                                    Man übersah allerdings, dass die Männer nicht in allen Filmen als selbstherrliche
                                                    Paschas auftreten und überraschend wenige Werke von Plansequenzen domi-
                                                    niert werden. Jener Film, in dem dieses Aufnahmeprinzip am reinsten und wohl
                                                    auch am virtuosesten Anwendung findet, ist ausgerechnet 47 Ronin (Genroku
                                                    Chushingura) (1941–42), der lange als ‹politisch verdächtig› von der Kritik geflis-
                                                    sentlich übergangen wurde. Aber in diesem Film wiederum treten kaum Frauen
                                                    auf! Auch die Mär, dass Mizoguchi tollkühn auf Grossaufnahmen verzichtet ha-
                                                    ben soll, wird nicht zuletzt vom Spätwerk Lügen gestraft. In zwei seiner grössten
                                                    Filme, Sansho, der Landvogt (Sansho dayû) (1954) und Das Leben der Oharu
                                                    (Saikaku ichidai onna) (1955) sind sie ein fester Bestandteil des Bildrepertoires.
                                                    Von den japanischen Leinwand-Klassikern wird gerne behauptet, der Zuschauer
                                                    brauche zu deren Verständnis so etwas wie ein Entzifferungsgerät. (Kurosawa
                                                    wird wohl deshalb immer wieder als ‹zu westlich› kritisiert, weil seine Filme hier
                                                    auf Anhieb verstanden wurden.) Ich meine, Mizoguchi ist um kein Haar sperriger
                                                    als Antonioni oder Welles. Gerade die ausgefuchste Art und Weise, wie er mit
                                                    den mittlerweile kulturübergreifenden Konventionen des Melodrams umgeht,
                                                    erleichtert einem westlichen Publikum den Zugang spürbar. Erstaunlicherweise
                                                    sind es ausgerechnet jene Klischees (die ihm zu Lebzeiten in Japan ein breites
                                       Oyû-sama     Publikum garantierten), welche Mizoguchi eine höchst innovative Verknüp-
12                                                                                                                                                                          13
fung der filmischen Ereignisse erlauben. Denn eines lässt sich kaum übersehen:
Mit jenem sentimentalen Genre wird hier ein überaus komplexes Verwirrspiel
getrieben. Die daraus resultierte Rätselhaftigkeit kann aber wohl nur jener als
‹typisch japanisch› ansehen, der vergisst, dass wir Ähnliches bei einem westli-
chen Zeitgenossen wie Josef von Sternberg (1894–1969) beobachten können. Wie
auch später bei Rainer Werner Fassbinder zeigt sich bei Mizoguchi, dass die bru-
tale Kolportagemaschinerie des Melodrams sich offenbar vorzüglich dazu eignet,
besonders kräftig gegen den Strich gebürstet zu werden. Auch das widerspricht
dem Klischee dieses angeblich ‹japanischsten aller Regisseure›, war doch kaum
ein anderer im Lande derart gut informiert über die jeweils letzten technischen
und stilistischen Erneuerungen in der internationalen Filmszene.
Was aber zeichnet einen Mizoguchi-Film nun wirklich aus? Da wird Hochdra-
matisches derart in der Bildtiefe platziert, als würden die von ihren Gefühlen
Zerrütteten sich vor der Kamera schämen. Die Emotionen erscheinen dadurch
wie gereinigt und berühren überraschend intensiv. Auch entscheidende Ereignis-
se werden mit Vorliebe in jene Entfernung verlegt – statt der aktuellen 3-D-Brille
bräuchte man gelegentlich ein Fernrohr für dieses Kino! Dazu liebt es dieser Re-
gisseur, Ursache und Wirkung glattweg zu vertauschen oder den Grund einer
Reaktion gleich ganz zu unterschlagen. Wer an psychologische Begründungen ge-
wöhnt ist, wird mit harten Brüchen in der Personenzeichnung konfrontiert. Und
manchmal scheint einfach gar nichts zu passieren oder die Kamera schwenkt
kurzerhand vom Geschehen weg, um staunend den Rest des Raumes zu erfor-              Ugetsu monogatari
schen. All das verleiht auch noch dem alltäglichsten Drama eine Aura des Ge-
heimnisvollen. Und so zeigt sich einmal mehr: Nur primitive Sehgewohnheiten          auf dem Set zu Die Schwester von Gion (Gion no shimai) passenderweise einen
führen zu jener banalen Sucht nach sofortiger Verständlichkeit. Wunder dagegen       Besuch abstattete. Doch im Gegensatz zu Sternberg, dessen Karriere Hollywood
müssen rätselhaft sein; ohne das würden sie ihre Magie auf der Stelle verlieren.     bereits ein Jahr zuvor ohne viel Federlesen beendet hatte, konnte sich Mizoguchi
Wen erstaunt es da noch, dass dem Betrachten eines Mizoguchi-Films immer             ein hohes Mass an Unabhängigkeit erstreiten. Ach, wäre doch auch Sternberg
wieder etwas Hypnotisches anhaftet. Gebannt sitzen wir vor der Leinwand und          Japaner gewesen! Fred van der Kooij
fragen uns entzückt: «Wie bitte?»
Und zugleich ahnen wir: Umso leichter und berauschender ein Mizoguchi-Film
                                                                                                           Vorlesung Fred van der Kooij
wirkt, desto anstrengender und rücksichtsloser muss wohl der Arbeitsprozess
                                                                                     So 07. 10. 11:00      Fred van der Kooij hält eine Vorlesung zum Werk von Kenji Mizogu-
gewesen sein, mit dem dies gelang. Zu Recht, denn gleich ob literarischer Klas-
                                                                                                           chi, illustriert mit Filmausschnitten (Dauer: 90 Minuten). Fred van der
siker oder Groschenroman, das Sujet der jeweiligen Vorlage wurde in endlosen                               Kooij ist Dozent für Filmtheorie an der ETH Zürich und für Filmge-
Drehbuchkonferenzen so lange überarbeitet, bis das, was schliesslich auf dem                               schichte an der Filmakademie Baden-Württemberg, Ludwigsburg. Er
Zelluloid erscheint, sich wie ein Palimpsest über den ursprünglichen Text gelegt                           lebt in Zürich.
hat. So kann aus einem Schundroman etwas ganz Kostbares werden, oder es ent-
steht – wie im Falle von Erzählungen unter dem Regenmond (1953) – durch die
tollkühne Vermischung von zwei japanischen Novellen mit deren zwei aus der                                 Ugetsu monogatari
Feder von Guy de Maupassant eine makellose Fabel.                                    Fr 05. 10. 18:30      (Erzählungen unter dem Regenmond)
Mochte er auch politisch seine Jacke nach dem Wind gehängt haben und da-             S0 07. 10. 13:00      Japan 1953, 96 Min., 35mm, J/df, Schwarzweiss
bei von ‹links› über ‹nationalistisch› nach ‹liberal› geschwenkt sein, auf dem Set   Do 11. 10. 18:30      Regie: Kenji Mizoguchi Drehbuch: Matsutarô Kawaguchi, Yoshikata
war Mizoguchi immer nur eines: ein Despot. Allein schon seine Proben ähnel-                                Yoda, Kyûchi Tsuji, Akinari Ueda Mit: Machiko Kyo, Masayuki Mori,
                                                                                                           Kinuyo Tanaka, Mitsuko Mito, Sakae Ozawa, Sugisaku Aoyama, Kikue
ten Erschöpfungsschlachten, wo er seine SchauspielerInnen nach Herzenslust
                                                                                                           Mori, Ikio Sawamura, Eigoro Onoe, Saburo Date, Reiko Kongo
verwünschte. Darin gleicht er frappant dem von ihm so bewunderten Josef von
                                                                                                           Im 16. Jahrhundert, zur Zeit verheerender Bürgerkriege: Einen Töpfer
Sternberg; ein Regiemonster auch er, der dem fernöstlichen Bruder im Jahr 1936                             drängt es, reich zu sein, sein Bruder will Kriegsherr werden. Um diese
14                                                                                                                    15
                                                   Träume zu verwirklichen, setzen sie alles aufs Spiel – und verlieren.
                                                   Dies ist einer der grossartigsten Filme aller Zeiten. Die Helden sind
                                                   grob und brennen vor Ehrgeiz, aber der Stil des Films ist elegant und
                                                   geheimnisvoll. (…) Die Eröffnungssequenz ist eine von Mizoguchis be-
                                                   rühmten ‹Scroll-Shots›, in der die Kamera so über die Landschaft glei-
                                                   tet, als wäre diese ein japanisches Rollbild.
                                                   (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 09. 05. 2004)
                                                   Dieser bewunderungswürdigste aller Filme ist Mizoguchis Meister-
                                                   werk, das ihn auf die gleiche Stufe stellt mit Griffith, Eisenstein und
                                                   Renoir. (…) Mizoguchi ist wohl der einzige Regisseur, der es wagt, sys-
                                                   tematisch Gegenschussaufnahmen von 180 Grad zu verwenden.
                                                   (Jean-Luc Godard, in: Arts, Nr. 656, 5.2.1958)

                                                   Sansho dayû (Sansho, der Landvogt)
                                Sa 06. 10. 16:00   Japan 1954, 124 Min., DCP, J/d, Schwarzweiss
                                So 14. 10. 16:00   Regie: Kenji Mizoguchi Drehbuch: Ogai Mori, Fuji Yahiro, Yoshikata
                                So 21. 10. 16:00   Yoda Mit: Kunuyo Tanaka, Soshiaki Hanayagi, Kyôko Kagawa
                                                   Ein Gouverneur wird wegen seines liberalen Denkens ins Exil ge-
                                                   schickt, seine Frau muss für sich und ihre beiden Kinder eine neue
                                                   Heimat suchen – doch die Familie wird auseinandergerissen und die
                                                   Kinder landen beim Landvogt Sansho, der Hunderte von Sklaven hält
                                                   und sie alle wie Dreck behandelt.
Gion no shimai                                     Mizoguchi beachtet die Kompositionsgesetze des klassischen Kinos
                                                   sehr genau: Bewegung nach links suggeriert auf zeitliche Rückwärts-
                                                   bewegung hin, nach rechts vorwärts, aufwärts ist hoffnungsvoll, ab-
                                                   wärts unheilvoll. (…) Die Figuren wirken stets so, als wären sie äus-
                                                   serst sorgfältig innerhalb des Bildes arrangiert – doch Mizoguchi soll
                                                   seinen Schauspielern nie vorgegeben haben, wie sie sich bewegen oder
                                                   wo sie stehen sollten. Stattdessen liess er sie das gewünschte Resultat
                                                   wissen, worauf sie selbst entschieden, wie sie sich bewegen wollten.
                                                   (…) Sansho ist der persönlichste Film des Regisseurs, der selbst in gros-
                                                   ser Armut aufgewachsen war und zusehen musste, wie seine Schwes-
                                                   ter verkauft und die Mutter vom Vater misshandelt wurde. (…) Ein
                                                   Filmkritiker des ‹The New Yorker› gestand, dass er Sansho nur einmal
                                                   gesehen habe und dass er aus dem Film als gebrochener Mann heraus-
                 Gion bayashi
                                                   gekommen sei – aber gleichzeitig überzeugt davon, dass er in seinem
                                                   Leben nie etwas Besseres gesehen habe.
                                                   (Roger Ebert, Chicago Sun-Times, 20. 10. 2007)

                                                   Gion no shimai (Die Schwestern von Gion)
                                Mo 15. 10. 18:30   Japan 1936, 69 Min., 35mm, J/df, Schwarzweiss
                                Sa 20. 10. 16:30   Regie: Kenji Mizoguchi Drehbuch: Kenji Mizoguchi, Yoshikata Yoda,
                                                   nach dem Roman von Alexsandr Kuprin Mit: Isuzu Yamada,
                                                   Yôko Umemura, Benkei Shiganoya, Eitarô Shindô, Taizô Fukami, Fumio
                                                   Okura, Namiko Kawajima, Reiko Aoi
                                                   Im alten Geisha-Viertel Gion in Kioto arbeiten zwei Schwestern im
Sansho dayû      Sansho dayû                       Geisha-typischen Graubereich zwischen Unterhaltungskunst und Pro-
18                                                                                                                                                                               19
                   stitution. Die Ältere hält sich an traditionelle Werte von Loyalität
                   und nimmt ihren bankrotten Hauptgönner bei sich auf. Die jüngere
                   Schwester hingegen verachtet ihre Kunden und setzt alle Mittel ein,
                   um zu Geld zu kommen. Hinter dem Rücken der älteren zettelt sie ein
                   Ränkespiel an, das beiden zugutekommen soll.
                   Die Zensur gab Mizoguchis Werk nur mit zehn Schnittauflagen frei.
                   Doch auch das so verstümmelte Werk verblüfft noch durch seine unge-
                   schminkte Darstellung der oft beschönigten Geisha-Existenz. Von den
                   beiden Schwestern über ihre Kunden bis zu deren Familien und Ange-
                   stellten zeichnet Mizoguchi alle Figuren als Gefangene ihrer jeweili-
                   gen Lebenswelten, zwischen denen er mit raffinierten Kamerafahrten
                   und sinnigen visuellen Übergängen so selbstverständlich wie mühelos
                   hin und her blendet. Die leise Tragödie mündet in eine bittere Gesell-
                   schaftskritik, die quasi direkt zur Kamera und damit ans Publikum ge-
                   richtet ist. (afu)

                   Gion bayashi (Die Festmusik von Gion)
Sa 20. 10. 18:30   Japan 1953, 85 Min., Digital HD, J/e, Schwarzweiss
Di 23. 10. 18:30   Regie: Kenji Mizoguchi Drehbuch: Yoshikata Yoa, Matsutarô Kawagu-
Sa 27. 10. 18:30   chi, nach dem Roman von Matsutarô Kawaguchi Mit: Michiyo Kogure,
                   Ayako Wakao, Seizaburô Kawazu, Emiko Yanagi, Saburô Date
                   Eiko, ein verwaistes Mädchen vom Land, reist nach Kioto zur Geisha
                   Miyoharu, einer Kollegin und Freundin ihrer Mutter, um selber Geisha     Oyû-sama
                   zu werden. Miyoharu versucht vergeblich, sie von ihrem Vorhaben ab-
                   zubringen, hilft ihr dann aber nach Kräften bei der kostspieligen Aus-
                   bildung. Sie macht Schulden, um Eiko die Karriere zu ermöglichen.                           Oyû-sama (Frau Oyu)
                   Trotz handfesten Widerstands der jüngeren sind die beiden Frauen         Mi 24. 10. 18:30   Japan 1951, 94 Min., DCP, J/d, Schwarzweiss
                   schliesslich wehrlos ihrer Arbeitgeberin und ihren reichen Kunden        So 28. 10. 16:30   Regie: Kenji Mizoguchi Drehbuch: Yoshikata Yoda, nach dem
                   ausgeliefert.                                                            Mo 29. 10. 18:30   Roman von Junichirô Tanizaki Mit: Kinuyo Tanaka, Nobuko Otowa,
                   Mizoguchi variiert hier seinen berühmten früheren Film Die Schwes-                          Yûji Hori, Kiyoko Hirai, Reiko Kongo, Eijirô Yanagai, Eitarô Shindô,
                   tern von Gion (1936) und eines seiner Hauptthemen, das Ausgeliefert-                        Kanae Kobayashi, Fumihiko Yokoyama, Jun Fuikawa
                   sein von Frauen an eine Gesellschaft, in der Männer und Geld regieren.                      Shinnosuke soll die junge Shizu heiraten, doch als er deren ältere
                   Anders und dramaturgisch noch raffinierter als im Zwillingsfilm von                         Schwester Oyu erblickt, geraten diese Pläne ins Wanken. Da Oyu ver-
                   1936 enthüllt er nach einer trügerischen ersten halben Stunde über die                      witwet ist und nicht mehr heiraten darf, soll Shinnosuke die Hochzeit
                   hohe Schule der Geisha-Kunst eine ganze Kaskade der Abhängigkei-                            mit Shizu durchziehen. Die Geschichte einer Liebe zu dritt, extrem
                   ten hinter dem schönen Schein: von der jüngeren zur älteren Geisha                          stilisiert und gleichzeitig extrem realistisch.
                   und zu ihrer Arbeitgeberin, und von dieser über deren Hauptgeldgeber                        Die Figuren sprechen ihre Gefühle nicht aus, sie verraten sie durch
                   bis dessen Geschäftspartnern. Der Handlungsverlauf spiegelt auch die                        wenige vieldeutige Worte oder durch besondere Aufmerksamkeit einer
                   Entwicklung des Geisha-Berufsbildes von der Vor- zur Nachkriegszeit,                        anderen Person gegenüber. Umgekehrt verrät der Wortschwall bana-
                   in deren Verlauf die hochkultivierten Gastgeberinnen und Unterhalte-                        le und konventionelle Lebensauffassungen: Aus dem Mund von Oyus
                   rinnen zunehmend zu reinen Prostituierten wurden. Die versöhnliche                          Schwiegervater spricht pausenlos die Moral.
                   Schlusswendung, mit der sich die Geishas ihrer gegenseitigen Solidari-                      (Alain Masson, La revue du cinéma, 1984)
                   tät versichern, wurde Mizoguchi vom Studio aufgezwungen, doch ahnt                          Wenn im Ablauf einer Szene mit sich steigernder Dichte ein psy-
                   man die konsequentere Pointe, auf die der Film herauslaufen sollte.                         chischer ‹Akkord› auftritt, vermag ich nicht, die Szene plötzlich zu
                   (afu)                                                                                       schneiden. Ich versuche, den Augenblick zu intensivieren, indem ich
                                                                                                               die Einstellung so lange anhalte. Solcherart ist der Inszenierungsstil
                                                                                                               entstanden, den man bei mir beobachten kann – weder aus bewusster
                                                                                                               Überlegung noch aus Sucht zu Neuerung. (Kenji Mizoguchi)
20                                                                                          Notes on Marie Menken                                                      21

Rashomon                                   Rashomon

                   Special: erstmals in restaurierter Fassung
                   Rashomon
                                                                                             New York
Fr 12. 10. 18:30
Fr 26. 10. 18:30
So 28. 10. 18:30
                   Japan 1951, 88 Min., DCP, J/d, Schwarzweiss
                   Regie: Akira Kurosawa Drehbuch: Akira Kurosawa,
                   Ryunosuke Akutagawa, Shinobu Hashimoto Mit: Toshiro Mifune,
                                                                                             Avantgarde
                   Machiko Kyô, Masyuki Mori, Takashi Shimura, Minoru Chiaki,
                   Kichijiro Ueda, Fumiko Honma, Daisuke Katô
                                                                                             Blues in W!
                   Zwei Erzählungen des Dichters Akutagawa Ryunosuke waren der Aus-          und weitere historische Experimente
                   gangspunkt für Rashomon, einen der besten Filme der Filmgeschichte.
                   Die eine liefert die Rahmenhandlung unter dem titelgebenden Rasho-
                   mon, dem Südtor des alten Kioto, die andere das Mark von Kurosawas        Ausgehend von John Cage, der dieses Jahr hundertjährig geworden wäre,
                   Filmhandlung. Sie berichtet von einem Totschlag auf der Wegstrecke        taucht die Filmreihe in die Welt der New Yorker Avantgarde ein. Dem
                   von Sekiyama nach Yamashina, dem darauffolgenden Prozess gegen
                                                                                             grossen Musikdenker sind zwei Filme gewidmet. Rahsaan Roland Kirk,
                   den Banditen Tajomaru (Toshiro Mifune) und der versuchten Verar-
                                                                                             Mary Menken, Jack Smith, John Zorn, Ira Cohen sind weitere schillernde
                   beitung des Geschehens durch einen Priester, einen zufälligen, Fragen
                                                                                             Protagonisten der filmischen Grenzgänge.
                   stellenden Passanten und jenen Holzfäller, der den Tathergang mitver-
                   folgt haben will. Die drei stellen fest, dass vor Gericht vier Aussagen   New York – kombiniert man diese assoziationsgeladene Metapher mit den (his-
                   gemacht wurden und dass sich diese in ganz wesentlichen Punkten           torischen) Begriffen ‹Underground›, ‹Kunstszene›, ‹Musik›, ‹Experiment› und
                   voneinander unterscheiden, ja widersprechen. Wo also liegt die Wahr-      ‹1960er-Jahre›, dann sind wir sofort in einem gesellschaftlich-ästhetisch enga-
                   heit, sind doch alle Versionen in sich stimmig und glaubwürdig. Gibt
                                                                                             gierten Feld, dessen Innovationen und Verwerfungen bis heute nachwirken. Per-
                   es überhaupt so etwas wie eine ‹objektive›, von allen teilbare Empfin-
                                                                                             formance, Fluxus, Pop Art, Videokunst, Hippie-Ästhetik und Free Jazz mögen
                   dung von Hergängen oder erleben wir alle ein Geschehen so, wie es
                                                                                             als Stichworte genügen, die Liste an künstlerisch nachhaltigen Strömungen aus
                   uns unter den jeweiligen Umständen gerade am besten passt? Akira
                   Kurosawa präsentiert dem Publikum, das er in die Rolle der Geschwo-       dieser Zeit liesse sich problemlos verlängern.
                   renen versetzt, die einzelnen Schilderungen des Tathergangs, und zwar     Dass viele wesentlichen Fragen nach den Grenzen von Kunst und Musik da-
                   in Rückblenden, welche die Vergangenheit eben in der Gegenwart der        mals nicht bloss in Begleittexten, sondern ganz konkret in wegweisenden
                   Erzählung aufleben lassen. Jeder Tathergang wird damit zur möglichen      Kunst-, Film- und Musikwerken gestellt wurden, wird heute unter anderem
                   Wahrheit. In jedem Ablauf verhalten sich die Figuren anders, zum Teil     durch die vielen Veranstaltungen rund um John Cage ins Bewusstsein gerufen.
                   grundlegend anders. Gleichbleibend sind der Ort des Geschehens, eine      Der Komponist, Denker, Künstler und Philosoph wäre 2012 hundertjährig ge-
                   kleine, lichte Stelle im Wald, und die drei Personen: ein stolzer Samu-   worden und hat einige der folgenreichsten Kompositionen geschrieben, die aus
                   rai, seine göttlich schöne Frau und der Bandit. Klar ist auch, dass der   dem Kreis der sogenannten ‹New York School› (John Cage, Morton Feldman,
                   Samurai am Ende tot ist. Bleibt die Frage, wie es dazu kommen konnte.
                                                                                             Earle Brown, Christian Wolff) seit den frühen 1950er-Jahren entstanden. Cage
                   (Walter Ruggle)
                                                                                             erfindet Zugänge zur Musik, die man sich im geschundenen Nachkriegseuropa
                                                                                             nicht hätte vorstellen können, wo systematische Fortschrittsorientierung und
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