Iaf informationen - Verband binationaler ...

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iaf informationen
                                                               Ausgabe 1 / 2021

                                                                   ISSN 1430-8614

                                 BU
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                                  20

                                        GS
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                                             L

Qual der Wahl
DEMOKRATISCHE PARTIZIPATION AUS SICHT MIGRANTISCHER FAMILIEN
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Editorial |2

Liebe Leserin, lieber Leser,

                                                                    Wir haben uns in einem Online Panel mit der politischen Soziali-
                                                                    sation von jungen Migrant:innen auseinandergesetzt und dabei
                                                                    Ekin Deligöz, kinder- und familienpolitische Sprecherin der
                    es steht eine wichtige Entscheidung für
                                                                    Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, als Diskussionsgast
                    dieses Land an, und zwar die Bundestags-
                                                                    eingeladen.
                    wahlen 2021. Am Wochenende entscheidet
                                                                    Last but not least möchte ich Euch/Sie noch auf unsere Verbands-
                    sich, welche Parteien mehrheitlich in den
                                                                    forderungen für diese Wahlen aufmerksam machen. Zentralle
                    Bundestag ziehen und welche Parteien
                                                                    Themen sind dabei die Familienzusammenführung, das migran-
                    miteinander für die nächsten vier Jahre
                                                                    tische Familienleben in Deutschland sowie Bildung & Vielfalt.
                    koalieren werden.
                                                                    Politische Forderungen sind das Kerngeschäft der Interessen-
 Wir haben dies zum Anlass genommen, um Euch/Sie darüber zu         vertretung. Der Verband hat in seiner langjährigen Lobbyarbeit
informieren, welche Themen unser Verband mit den Bundes-            vieles erreicht. Steter Tropfen höhlt den Stein: im Juni diesen
tagswahlen in Verbindung bringt. Unser Motto ist: Wer wählen        Jahres wurde die geschlechterspezifische Diskriminierung und
geht, ist klar im Vorteil! Um Euch/Ihnen die Entscheidung für den   der daraus resultierende Generationenschnitt im Staatsange-
26. September 2021 einfacher zu machen, haben wir typische          hörigkeitsrecht endlich aufgehoben.
Verbandsfragen an unsere Politiker:innen gestellt und daraus
Wahlprüfsteine erstellt.                                            Ich wünsche Euch/Ihnen viel Spaß beim Lesen und
Migrant:innen mit eigener Zuwanderungsgeschichte bis hin in         herzliche Grüße!
den weiteren Generationen fühlen sich der Bundesrepublik
Deutschland auch nach vielen Jahren hier lebend oft nicht zu-       C
                                                                    Chryyssovalantou Va
                                                                      ry
                                                                    Chrysovalantou   V  n eltz
                                                                                        ng  t iki
                                                                                            tz
                                                                                     Vangeltziki
gehörig. Deutsche Politik kann sogar befremdlich sein.              Bundesgeschäft  f sführerin
                                                                                    ft
                                                                    Bundesgeschäftsführerin
Woran liegt das?
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Inhalt

Erkenntnisse aus der Wahlforschung              5
Prof. Dr. Sigrid Roßteutscher

Online-Diskussion                               6

Politische Partizipation von Migrant:innen      12

Von Zäunen und Bäumen                           13
Ekin Deligöz

Wahlprüfstein: Migrantisches Familienleben in   17
Deutschland

Wahlprüfstein: Bildung & Vielfalt               22

Wahlprüfstein: Migration ist ein                26
Familienprojekt

Für mehr Vielfalt                               31

Warum ich in die Politik ging
Drei Beispiele aus Leipzig                      32

#walman                                         33
Interview mit Ali Can
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     Junge Wähler:innen
     Rund 2,8 Millionen junge Menschen in Deutschland dürfen dieses Jahr zum ersten Mal den Bundestag wählen. Erstwähler:innen
     machen 4,6 Prozent aller Wahlberechtigten aus. Wählen sie? Wollen sie überhaupt wählen? Was bedeutet das für die politische
     Repräsentation? Wie bringen junge Menschen sich ein? Wie und wo werden sie politisch sozialisiert? Wo muss angesetzt werden, um
     die Wahlbeteiligung junger Menschen und insbesondere migrantischer junger Menschen zu erhöhen?

                                                                       Als Schwarzer aus einem Drittstaat bin ich für die Politik
                                                                       hier nicht relevant. Selbst wenn ich auch die deutsche Staats-
                                                                       angehörigkeit hätte und wählen dürfte, wüsste ich nicht,
                                                                       welcher Partei ich meine Stimme geben könnte, welche
Ich habe mich schon in Syrien als Student politisch engagiert und      Partei meine Interessen hier vertreten könnte.
als ich nach Deutschland kam, habe ich gesehen, dass sich eine
Bundestagsabgeordnete der SPD sehr für die Demokratie-                                             Adeo B.
bewegungen dort interessiert und engagiert hat. So bin ich SPD
Mitglied geworden. Als ich dann zum ersten Mal bei einer Sitzung
der Ortgruppe war, war ich sehr enttäuscht. Es waren meist
ältere Männer und Frauen, die sich überhaupt nicht für mich
interessierten. Sie waren nett und höflich, aber ich verstand nicht,
was ihre politische Arbeit war.

                                                                                                         Ich bin wie meine Eltern auch in der kurdischen
                              Shero J.
                                                                                                         Gemeinde organisiert. Vor einiger Zeit bin ich
                                                                                                         Mitglied bei den Linken geworden, weil sie die
                                                                                                         einzige Partei hier sind, die die Kurden immer in
                                                                                                         ihrem politischen Kampf unterstützt haben.

                                                                                                                                  Ferhad A.
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Erkenntnisse aus der Wahlforschung
Prof. Dr. Sigrid Roßteutscher

Familie als Hauptort der politischen Sozialisation
Die Familie ist tatsächlich der Hauptinitiator. Also wenn in der
Familie über Politik geredet wird, wenn die Eltern wählen gehen,
dann braucht man sich über den jungen Menschen überhaupt gar
keine Sorgen mehr machen. Man kann davon ausgehen: er ist
angekommen in der Politik. Sorgen muss man sich machen um
diejenigen, die in Elternhäusern aufwachsen, wo nicht mehr über        Noch ein Satz zur zunehmenden räumlichen Segregation, die
Politik geredet wird, wo keine klassischen Medien konsumiert           wir auch in Deutschland haben. Es gibt Stadtteile mit niedriger
werden, wo die Eltern schon nicht Wählen gehen.                        Wahlbeteiligung, Stadtteile mit hoher Wahlbeteiligung. Viele
                                                                       Menschen wachsen auf in Stadtteilen, in Kommunen, wo der
                                                                       Nachbar nicht wählt, wo der Onkel nicht wählt, wo der Bäcker
                                                                       nicht wählt oder überhaupt gar nicht mehr über Politik
Veränderungen im Wahlverhalten                                         gesprochen wird.
Noch für die 1980er Jahre galt, dass Bildung beim Wahlverhalten
fast keine Rolle spielte. Die Leute haben gewählt, egal ob sie einen   Migrantische junge Menschen gehen seltener zur Wahl als
höheren Bildungsabschluss hatten oder niedrigere. Nun, irgend-         nicht migrantische.
wann in den 90er Jahren geht die Schere auf und weniger ge-            Wenn man den Faktor Schicht mit einbezieht, ist ganz viel des
bildete Schichten gehen immer seltener zur Wahl, während es bei        Unterschieds zwischen migrantischem und nicht migrantischem
höher Gebildeten mehr oder weniger gleichbleibt. Diese Schere          Wahlverhalten erklärt. Hinzu kommt, wenn Jugendliche mit
geht bei den Jungen auf, nicht bei den Alten. Da wählen auch           Migrationshintergrund Diskriminierungserfahrungen machen,
weiterhin die, die immer gewählt haben. Wir sind mittler-weile in      dann ist das auch kein Stachel, sich jetzt erst recht zu engagieren,
einer Situation, wo Abiturient:innen eine doppelt so hohe              sondern eher ein Schritt in Richtung Apathie. Das Land will mich
Wahlbeteiligung haben wie andere junge Menschen mit einem              nicht, die lehnen mich ab.
niedrigen Abschluss oder ohne Schulabschluss. Das ist drama-           In vielen Familien mit migrantischen Hintergrund haben die Eltern
tisch, weil die Letztgenannten genau die Gruppen sind, die             keine deutsche Staatsbürgerschaft und genau aus diesem Grund
eigentlich Hilfe von der Politik bräuchten.                            auch kein großes Interesse an Politik in Deutschland.
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Online-Diskussion
Ekin Deligöz, kinder- und familienpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen
Baran Fakir, Young Voice, Türkische Gemeinde Deutschland e.V.
Prof. Sigrid Roßteutscher, Wahlforscherin an der JWG-Universität Frankfurt

Wo und wie wurden Sie politisch sozialisiert?

EKIN DELIGÖZ: Also ehrlich gesagt, ich glaube tatsächlich an
erster Stelle in der Familie. Ich hatte eine sehr, sehr engagierte
Großmutter und sie war ein Vorbild für mich. Sie war die erste
Stadträtin in einem sehr männlich dominierten patriarchalen
System. Sie hat sich wahnsinnig stark engagiert für Schule, für
Bildung, für Gesundheit, für sauberes Wasser und für vieles mehr.
Und dieses Engagement hat sich fortgesetzt, auch meine Mutter
war sehr engagiert. Und für mich war es auch selbstverständlich,
dass ich mich engagiere.

                                                                     BARAN FAKIR: Tatsächlich zunächst einmal in der Familie. Ich
                                                                     bin in eine alevitische Familie hineingeboren. Die politische
                                                                     Sozialisation war bei mir sehr vielfältig. Meine Mutter kam aus
                                                                     Istanbul nach Deutschland und über sie habe ich eine doch sehr,
                                                                     ich sage jetzt mal wertkonservative, humanistische Bildung be-
                                                                     kommen. Mein Vater, geboren und aufgewachsen in Ostanatolien
                                                                     war links, also er war überzeugter Marxist und hat sich dann auch
                                                                     hier engagiert. Zwischen diesen beiden Welten war es unmöglich,
                                                                     nicht politisiert oder politisch zu werden. Politik war immer Thema
                                                                     zu Hause. Es war eine Notwendigkeit, vor allem in Deutschland als
                                                                     Migrant:in, als Migrantenkind.
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SIGRID ROßTEUTSCHER: Ich bin in einer extrem politisierten
Familie aufgewachsen. Also wenn Wahlen waren, das fand
damals, als ich klein war in den 70er, 80er Jahren noch am Radio
statt, da mussten alle Kinder leise sein. Mein Vater war unglaub-
lich engagiert in der SPD. Politik war heilig. Es war ein Riesen-
thema und wenn die Partei nicht gewonnen hat, dann war erst
mal Krise, dann war Depression in der Familie angesagt. Wir
haben als kleine Kinder schon mitbekommen, dass Politik etwas
mit Identität zu tun hat.
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Online-Diskussion
Wie sehen Sie die politische Sozialisation in migrantischen Familien?

                                                                           EKIN DELIGÖZ: Politisch sind die Menschen schon, aber nicht in
BARAN FAKIR: Es gibt Diskrepanzen in der Wahrnehmung was die               den Strukturen, wie wir sie uns vorstellen. Sie sind engagiert in
politische Sozialisation in migrantischen Familien betrifft: Zum           den Moscheevereinen, in den Kulturvereinen, sie orientieren sich
Beispiel in türkischen Familien wird zwar auch häufig über Politik         nach wie vor an der türkischen Politik und fahren in die Türkei, um
gesprochen, aber es ist vielfach die türkische Politik. Auch weil sie      dort zu wählen und nicht hier.
keinen Einfluss auf die deutsche Politik nehmen konnten, jenseits          Für mich war klar: du bleibst hier und versuchst hier die Dinge zu
der Gewerkschaften, wo sie sich als Arbeiter:innen engagierten,            verändern. Man muss sich entscheiden und ich habe die deutsche
war die deutsche Politik ziemlich uninteressant. Die Kinder in             Staatsbürgerschaft beantragt, habe sie bekommen, habe selbst
diesen Familien sehen türkische Nachrichten, lernen die türkische          kandidiert und sitze jetzt im Bundestag. Aber letztendlich war es
politische Sprache, sie übernehmen Stereotype aus der Türkei,              die Entscheidung zu sagen: Wenn dir etwas nicht gefällt, dann
Hinzu kommt die eigene Lebenssituation. Wenn man Rassismus                 musst du das selbst anpacken und verändern, denn dir wird im
und Diskriminierung erfährt, führt das zu Verdruss und Unzu-               Leben nichts geschenkt. Selbst als Bundestagsabgeordnete, auf
friedenheit: Warum soll ich mich für die Politik in diesem Land            jedem Podium, bei jedem Auftritt muss ich drei, vier, fünfmal so
interessieren, wenn ich hier nicht willkommen bin? Es ist letzt-           gut sein wie alle anderen, um die gleiche Anerkennung, Wert-
endlich eine Frage der Verbundenheit. Vielen migrantischen                 schätzung, Akzeptanz zu bekommen. Das zieht sich durch unser
Familien fehlt ein Verbundenheitsgefühl mit dieser Gesellschaft.           Leben. Und ja, es gibt Zeiten, wo man sagt: Hey, das ist nicht fair.
Migrationsgeschichte ist ein sehr wichtiger Faktor, wenn es darum          Warum messt ihr mit zweierlei Maß? Warum ist meine Leistung
geht, junge Menschen zu politisieren.                                      nicht gut genug? Und warum komme ich trotz meiner Leistung
                                                                           nicht so weit wie andere mit weit weniger Leistung, mit weniger
                                                                           Kenntnissen und Können? Aber sich davon abschrecken zu lassen,
                                                                           ist noch viel schlimmer.
                                                                           Wenn es meiner Generation nicht gelingt, die Türen zu öffnen,
                                                                           dann werden sie auch für unsere Kinder verschlossen sein. Und
                                                                           deshalb lohnt es sich jeden einzelnen Tag aufzustehen, weiter
                                                                           zumachen und zu sagen: Ja, es lohnt sich. Dieses Land ist bunt,
                                                                           vielfältig und wir sind auch das Volk.

            BARAN FAKIR: Politik oder politisch sein kann für uns auch überlebenswichtig werden. Für meine Generation
            ist Hanau das, was Rostock, Solingen, Mölln für die Generation vorher war. Hanau hat sehr stark politisiert.
            Menschen, die keine Lust oder Idee von Politik hatten, wurden politisch. Auch das muss man realisieren.
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Online-Diskussion
Was tun?

EKIN DELIGÖZ: Vor allen Dingen dort, wo sich soziale Benach-            Also man gibt Leuten Wahlrecht zu dem Zeitpunkt, wo sie bereits
teiligung kumuliert, müssen wir ansetzen. Eine weitere Antwort          aus der Schule sind, nicht mehr im Elternhaus wohnen und mit
ist das Kommunalwahlrecht für Migrant:innen aus Drittländern.           anderen Dingen beschäftigt sind. Und die Wahrscheinlichkeit
Warum nicht? Das betrifft die Menschen. Da geht es um die               wählen zu gehen ist viel geringer, als wenn man 16 Jahre alt ist.
eigene Schule, die eigene Straße, den Wohnort. Mut zu mehr              Wir brauchen einen Ausgleich zu der riesigen Gruppe sehr alter
Demokratie heißt für mich auch Mut, das Wahlrecht auszuweiten,          Wähler:innen, damit die Politik sich nicht nur um Rentenfragen
z.B. das. Wahlalter auf 16 Jahre herabsetzen. Wir müssen viel           kümmert, sondern auch um Zukunftsfragen.
mehr junge Menschen mit einbeziehen, weil wer mit einbezogen
wird, interessiert sich. Für mich fängt Demokratie aber schon viel
früher an, mit einem Mitspracherecht im Kindergarten, in der            BARAN FAKIR: Ich sehe auch die Verantwortung bei den zivil-
Schule, die Schülermitverwaltung ernst nehmen, mitmachen bei            gesellschaftlichen Vereinen und Gruppen. Viele migrantische
Schülerversammlungen.                                                   Familien, waren und sind es nicht gewohnt, ihre Rechte einzu-
Den Menschen die Zusammenhänge klar machen ist wichtig. Das             fordern. Auch meine Eltern haben es einfach so hingenommen,
ist tatsächlich in der Parteipolitik am schwierigsten, weil es keinen   wenn ich z. B in der Schule ungerecht behandelt wurde. Und das
unmittelbaren Zusammenhang zwischen unserem Engagement                  sagen viele Eltern: Wir haben uns nicht getraut, wir hätten etwas
und dem Ergebnis gibt. Weil á la Max Weber: Politik ist immer das       sagen müssen, es war Unrecht. Also da fängt es an, hier kommt
Bohren dicker Bretter. Und gerade in Deutschland sind die Bretter       migrantischen Vereinen eine wichtige Aufgabe zu, die Eltern zu
besonders dick. Bis ich von einer Idee zu einem Ergebnis komme,         informieren und zu unterstützen. Ich bin dagegen, zu sehr auf
das dauert, das erlebe ich vielleicht selbst gar nicht mehr in          Parteien zu setzen oder darüber zu diskutieren, wie viele
meiner Abgeordnetenzeit.                                                migrantische Vertreter:innen haben wir in den Parteien.
                                                                        Aber in der Zivilgesellschaft sehe ich sehr viel, wo man sich
                                                                        engagieren sollte.

SIGRID ROßTEUTSCHER: Es gibt keinen empirischen Grund,
warum man das Wahlalter nicht auf 16 Jahre absenken sollte. Im
                                                                        EKIN DELIGÖZ: Also ich glaube, dass wir als Parteien eigentlich
Gegenteil, 16-Jährige sind motivierter und interessierter als die
                                                                        schon sehr präsent sind, dass viele meiner Kolleg:innen nicht nur
Altersgruppe 18 plus. Denn wer mit 18 wählen darf, ist im Durch-
                                                                        im Wahlkampf, sondern darüber hinaus präsent sind. Parteien
schnitt 20 und dies ist eine kritische Phase: Studium oder Berufs-
                                                                        haben auch einen Verfassungsauftrag: sie sollen die politische
findung, Familiengründung, Partnerschaft.
                                                                        Willensbildung des Volkes mitgestalten. Es braucht aber viel mehr
                                                                        positive Begegnungen mit Politiker:innen und zwar jenseits der
                                                                        Berichterstattung von 10 Sekunden in den Nachrichten.
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Online-Diskussion

Wäre Wahlpflicht eine Alternative?

EKIN DELIGÖZ: Ich bin eine Freiheitsrechtlerin. Ich finde, Wahl-
recht ist ein Recht. Und es gehört auch die Freiheit dazu, es nicht
in Anspruch zu nehmen. Das prägt unsere Wertegesellschaft, dass
                                                                       BARAN FAKIR: Dadurch, dass wir uns bei der Wahlpflicht auf
es eben nicht den einen Menschen gibt, der dir sagt, was du zu
                                                                       Wahlen fokussieren, erwecken wir den Eindruck, dass Demokratie
tun und zu lassen hast. Auch das ist Demokratie.
                                                                       nur durch Wahlen entsteht. Das stimmt aber nicht. Diesen Ein-
                                                                       druck dürfen wir nicht vermitteln. Wählen ist eine Gewissens-
                                                                       entscheidung, eine Meinungsfreiheit und dazu gehört auch die
SIGRID ROßTEUTSCHER: Ich bin keine hundertprozentige, aber             Freiheit „nein“ zu sagen.
eine achtzigprozentige Unterstützerin der Wahlpflicht. Wir haben
Steuerpflicht, wir haben alle möglichen Pflichten. Warum nicht die
Pflicht, wählen zu gehen? Was unsere Demokratie aufrecht erhält.
Mit einer Pflicht zu wählen, kommt hoffentlich auch die Selbst-
verpflichtung zur Information.
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Junge Wähler:innen

                                                                                   Letzthin war ich an einem Infostand der CDU/CSU, weil ich
                                                                                   wissen wollte, welche Positionen die Partei zur Familienpolitik
So lange ich denken kann, war immer Merkel
                                                                                   hat. Ich fühlte mich sehr unwohl, die Leute waren wohl erstaunt,
Kanzlerin und für mich die Politikvertreterin. Jetzt
                                                                                   dass ich mich als junge Kopftuchträgerin für ihre Partei
sehe ich eine Chance für einen positiven Wechsel,
                                                                                   interessierte. Sie waren höflich, aber irgendwie distanziert. Sie
deshalb werde ich jetzt wählen gehen, das erste Mal
                                                                                   haben mich gar nicht als potentielle Wählerin wahrgenommen.
in meinem Leben. Und ich bin schon 22 Jahre alt.
                                                                                                                    Amira S.
Carmen V.

                                                       Die Bundes-Politiker interessieren sich nur
                                                       für ihre eigenen Kreise. Was die jungen Leute
                                                       betrifft, die so wie ich wenig Chancen auf
                                                       einen guten Job haben, darüber denken die
                                                       nicht nach. Deshalb hat es auch keinen Sinn,
                                                       wählen zu gehen.

                                                                          Ali M.
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Politische Partizipation von Migrant:innen

Im Bereich der Partizipationsförderung in politischen Kontexten
gibt es verschiedene Ansätze, die wiederum über verschiede
Akteur:innen umgesetzt werden. So finden wir im Bildungswesen
Akteur:innen, die im vorschulischen und schulischen Bereich die
Demokratiekompetenzen und partizipatorischen Ressourcen                 Aber: Reicht das? Wenn Familien der Hauptort der politischen
stärken wollen. In der Schule bezieht sich dies meist auf den           Sozialisation sind, muss auch in den Familien angesetzt werden.
Politik- oder Sozialkundeunterricht. In der Ausbildung von              Das würde bedeuten, dass Familienbildung über das bisher
Erzieher:innen oder Lehrer:innen, spielt diese Kompetenz-               Übliche hinausgehen muss. Stärker als bisher müssen hier
förderung jedoch keine zentrale Rolle. Hier gibt es Aufholbedarf        konkrete Projekte entwickelt werden, um Familien in ihrer
in den Ausbildungscurricula.                                            Rechtewahrnehmung zu stärken. Das beinhaltet jenseits von
                                                                        Bildungs- oder Erziehungsunterstützung oder Beratung im
In diesem Zusammenhang wäre auch die Absenkung des                      Kontext von staatlichen Leistungen, gezielt die Rechtskundigkeit
Wahlalters auf 16 wünschenswert, um möglichst viele junge               zu fördern. Familien müssen Kenntnisse der Strukturen gewinnen
Menschen noch in der Schule zu erreichen.                               und ihre Kompetenzen entwickeln können. Hier ist eine starke
                                                                        Zusammenarbeit mit Migrant:innenorganisationen wichtig. Sie
Daneben befassen sich die Landes- oder Bundeszentralen für              haben Zugänge in die Communities und können niedrigschwellig
politische Bildung mit dem außerschulischen Bereich. Wer aber           Angebote bereitstellen. Demokratiekompetenz braucht diese
wird hier wirklich erreicht? Wer greift auf diese Inhalte zu jenseits   Rechtskundigkeit, damit Eltern und ihre Kinder ihre eigenen
von pädagogischem Fachpersonal oder sowieso schon politisch             Rechte einfordern und wahrnehmen können. Das beinhaltet
Interessierten und Versierten?                                          auch das Wahlrecht.

Last but not least stehen die Parteien als weitere Akteur:innen
mit ihrem Verfassungsauftrag der politischen Bildung in der
Verantwortung. Angesichts demographischer Entwicklungen und
dem nicht gerade irrelevanten, womöglich wahlentscheidenden
12,6 prozentigen Anteil migrantischer Wähler:innen an der
Wahlbevölkerung, müssen die Parteien hier auf diverseres
Personal und Themen der Einwanderungsgesellschaft setzen.
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Von Zäunen und Bäumen
Ekin Deligöz
                                                                             Geboren bin ich in der Türkei. Im Herbst 1979 kam ich mit meiner
                                                                             Mutter aus der Türkei nach Deutschland. Als Gepäck hatten wir
                                                                             zwei Koffer. Ein Koffer mit dem täglichen Bedarf, ein Koffer voller
                                                                             Kinderbücher, die zu der Zeit in der Türkei verboten wurden und
Haushaltspolitik gilt im Bundestag als die Königsdisziplin, die sehr         inzwischen längst vergessen sind. Meine erste Begegnung mit
viel politisches Wissen und Erfahrung voraussetzt. Ehrenamtlich              Deutschland war die Bahnhofstrasse in München. Wir liefen durch
bin ich Vizepräsidentin des Kinderschutzbundes (DKSB), Mitglied              eine Straße in der rechts und links türkische Händler ihre Döner-
im Komitee von UNICEF Deutschland und im Verein "Gegen                       imbisse und Kleinwarenhandel hatten. Meine erste Reaktion
Vergessen und für Demokratie".                                               darauf war: „Mama, dafür hätten wir den langen Weg nicht
In den Augen der deutschen Mehrheitsgesellschaft bin ich und                 machen müssen!“
b          aber häufig eine Migrantin aus der Türkei.
bleibe ich a                                                                 Von dort führte uns unser Weg nach Senden in Bayern. Ich wurde
Auf
  u Wikipedia, die Enzyklopädie unserer Zeit, wo wohl die meisten            Schülerin der türkischen Schule in der Grundschule Engelhard.
Menschen
Me            nachschlagen, wenn sie schnell etwas wissen wollen,
           n nachschlag                                                      Unsere Lehrer unterrichteten uns auf Türkisch, nach dem
wird
   rd der MMigrant wie folgfolgt definiert: „Migrant (das lateinische Verb   türkischen Lehrplan, in einem eigenen Schulflügel. Selbst die
migrare
     ra bedeutet mit seine  seiner Habe usw. nach einem anderen Orte         Pausenhöfe der türkischen und der deutschen Schüler waren
ziehen,n, um
           m da zu wohnen;
                       o         wegziehen, ausziehen, übersiedeln) ist
                                 we                                          getrennt. Ich erinnere mich, wie wir an den dazwischen ange-
ein unpräziser
       npräz      Begriff
                        fff für eine PPerson, die ihren                      brachten Eisengittertoren hingen, um einen Blick in die deutsche
Lebensmittelpunkt
           itt         verlegt.
                          e       Aus S Sicht ihres Herkunftslandes sind     Welt zu erspähen. Wir waren Zaungäste. Die einen waren drinnen
Migranten A   Auswanderere     (Emigranten), aus Sicht des
                               (Emigrant                                     und wir waren draußen. Ich wollte aber unbedingt dazu gehören
Aufnahmelandes
    fn         n    Einwanderer
                       n               (Immigranten). Die Umschreibung
                                   e (Imm                                    und nicht außen vor bleiben.
„Menschenh mi      Migrationshintergrund“
               mit Migrationshintergrun
                     g              t            fasst Migranten und ihre    Ich wollte teilhaben an dieser bunten Welt. Meine Mutter meinte,
Nachkommen u     unabhängig
                    a             von       tatsächlichen
                                    n der tat                                wenn ich das wolle, müsse ich Deutsch lernen. Also lernte ich
Staatsbürgerschafthaft
                    f zusammen.“      .                                      Deutsch mit Hilfe von Langenscheidt-Wörterbüchern und der
Diese D
      Definition lässt
                   ss mich immer wandern, aber niemals
                             m wande                                         Sendung mit der Maus. Es waren Stunden mit vielen Tränen, Frust
ankommen.
       me                                                                    und Anstrengung. Damit öffnete sich für mich jedoch die Tür, eine
                                                                             Chance. Nach einem halben Jahr wechselte ich in eine deutsche
                                                                             Klasse. Ich begann Deutsch zu reden, zu denken und zu leben. Das
                                                                             eröffnete mir Perspektiven. Es führte aber auch dazu, dass sich
                                                                             meine türkischen Freunde von mir entfernten. Es war leider die
                                                                             Zeit von Entweder-Oder. Denn es trennte uns ein Zaun. Das
                                                                             machte einsam.
QUAL DER WAHL - DEMOKRATISCHE PARTIZIPATION AUS SICHT MIGRANTISCHER FAMILIEN | 14

Mein Weg führte mich auf das Gymnasium. Dort gab es keine                         Als Türkin wurde ich von den anderen in der türkischen
Zäune mehr. Die Einsamkeit löste sich auf. Ich war zwar die                       Gemeinschaft für eine „Verlorene“ gehalten. Es gab wenig
einzige Türkin in der Klasse, aber das war irgendwie egal. Ich war                Verständnis dafür, dass ich in die Schule ging, statt als Putzhilfe
ein ganz normales Mädchen, eine Schülerin. Ich gehörte dazu und                   Geld zu verdienen. Ich war in ihren Augen der türkischen Heimat
glaubte endlich angekommen zu sein. Eine ganz normale Schulzeit                   verfremdet. Die Tatsache, dass ich mich dank der Bildung meiner
in einer ganz normalen Kleinstadtschule begann.                                   Mutter in der türkischen Kultur gut auskannte, die Sprache sehr
                                                                                  gut beherrschte, galt nicht. In ihren Augen war ich eine, die
Ich erinnere mich gerne an die AG Umwelt, die unser sehr enga-
                                                                                  deutsch sprechen konnte, die mit den Schweinefressern zu-
gierter Biolehrer anbot. Bei der alljährlichen Froschwanderung,
                                                                                  sammensaß, womöglich selber welches aß. So wurde ich auf die
wollten wir Frösche davor retten bei der Überquerung einer
                                                                                  Zuschauerbank verdonnert. Auf den Festen tanzte man nicht mit
Straße, direkt hinter der Schule, unter die Räder der Autos zu
                                                                                  mir, auf der Straße grüßte man mich nicht. Mit mir spielte man
kommen. Also starteten wir mit Gummistiefeln, Eimern, Plastik-
                                                                                  nicht. Ich gehörte nicht mehr dazu.
handschuhen und Taschenlampen, machten wir uns in der
Dunkelheit auf den Weg, um Frösche aufzuspüren. Klinge ich wie                    Damit kam ich zurecht. Sie brauchten meine Fähigkeiten als
eine typische Grüne, die von der Rettung der Frösche redet? Ja                    Dolmetscherin. Meine Aufgaben waren vielfältig: Nachhilfe geben,
genau, aber so fand ich zu meinem ökologischen Gewissen! Nicht                    Hausaufgabenbetreuung anbieten, kostenlose Übersetzerin bei
als Migrantin oder Ausländerin, sondern als Schülerin unter vielen                Ämtern, Ärzten, Ausfüllen von Unterlagen. Ich war da und ich half.
Gleichaltrigen.                                                                   Im Gegenzug nahm ich mir die Freiheit, in die Schule zu gehen. Ich
                                                                                  musste nicht dazu gehören. Das tat ich in der Schule. Dachte ich
Auch für mich gab es eine normale Kindheit. Ich habe aber
                                                                                  zumindest.
gelernt, dass eine solche Kindheit nur möglich war, weil es
Menschen gab, für die meine Herkunft keine Rolle gespielt hat,                    Für eine Hausarbeit über „Argumente für und gegen den Bau
sondern nur meine Fähigkeiten.                                                    einer Müllverbrennungsanlage.“ bekam ich mal die Note „5“. Ich
                                                                                  beschwerte mich und mein damaliger Lehrer entgegnete mir:
Die Schule war also eine gute Vorbereitung auf meinen Beruf
                                                                                  „Türken gehören nicht auf das Gymnasium und du nicht hierher.
als Politikerin!
                                                                                  Ich will dir nur einen Gefallen tun.“
Max Weber schreibt über die Voraussetzungen zu meinem Beruf,
dass drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den                        Diese Ungerechtigkeit, die ich verspürte, blieb und verwandelte
Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl - Augenmaß. 1                      sich in Wut.
Leidenschaft und Verantwortungsgefühl bekam ich mit auf den                       Da war er wieder, der Zaun. Ich gehörte nicht dazu. Nur diesmal
Weg. Nur Augenmaß musste ich noch lernen.                                         gehörte ich weder zu der einen noch zu der anderen Seite. Dabei
Ich war ein ganz normales Mädchen, aber ich war dennoch anders                    war ich nur eine Schülerin, eine Teenagerin. Ich wollte lernen, ich
als die anderen. Ich hatte zwei Welten.                                           war neugierig. Aber alle schlossen die Türen vor mir zu. Gab es
                                                                                  denn gar keinen Platz für mich?

1 Weber, Max (1926): Politik als Beruf, Ausgabe Reclam, Stuttgart 1992, S. 61f.
QUAL DER WAHL - DEMOKRATISCHE PARTIZIPATION AUS SICHT MIGRANTISCHER FAMILIEN | 15

Dieser Lehrer, der mit seines achtens „einen Gefallen tun wollte“,    Ich arbeite, damit es nicht mehr „die da drinnen und die draußen“
hat mich auf das wirkliche Leben vorbereitet. Denn er lehrte mich     gibt. Ich will diese Gesellschaft mitgestalten und verändern und
mit Augenmaß zu messen.                                               ich will meinen Beitrag dazu leisten, dass wir aus Fehlern lernen.
Ich war deshalb vorbereitet, als ich mich während meines                  Herausforderung
                                                                      Die Herausf
                                                                            e                   unserer Gesellschaft liegt darin, ob es uns
Studiums auf Wohnungssuche begab und bei einer Besichtigung                         „Aufstiegsgesellschaft“ für alle zu werden. Dazu
                                                                      gelingtt eine „Aufs
                                                                      g
zu hören bekam „Wie, ich dachte da kommt eine Studentin, jetzt        gehört
                                                                        hö e   es, Vorurteile zzu überwinden und Chancen zu schaffen.
kommt eine Türkin?“ Ich war vorbereitet, als mich bei meiner          Dabei sspielt     u eine ssehr große Rolle und die Schulen haben
                                                                                ie Bildung
Einbürgerung die Sachbearbeiterin fragte, ob ich schon mal was        eine große
                                                                              oße Verantwortung.
                                                                                        nt
von einer Verfassung gehört habe.“ Ich war auch vorbereitet, als      Mein damaliger
                                                                                ali    Deutschlehrer ha
                                                                                       D              hat mir ein Gedicht in mein
zahlreiche Morddrohungen und Fatwas (Islamische Urteils-              Poesiealbum
                                                                        esi      me eingetragen
                                                                                       g         und so mmir mit auf den Weg
sprüche) mich erreichten, weil ich mich für Frauenrechte im Islam     mitgegeben,
                                                                              ben weweil er damalss wusste, was
                                                                                                            w ich nicht erahnen konnte,
einsetzte und mich gegen Kopftücher positionierte.                    dass mein Weg ststeiniger sein          der von meinen
                                                                                                   i wird als d
Ich war vorbereitet auf diese Formen des Mikrorassismus, den          Mitschülerinnen unund Mitschülern.
                                                                                                  h
viele ja nicht „so meinen“. Es sind tausende kleine Stiche, die       Der Pflaumenbaum
                                                                                me       m (Bert B
                                                                                                 Brecht)
immer wieder wehtun und uns das Leben schwer machen und               Im Hofe steht ein Pflaumenbaum,
                                                                                          fla   e
uns mürbe machen. Dem setzte ich Mut entgegen. Für alle               Der ist so klein, man gl
                                                                                            glaubt
                                                                                               u es kaum.
Generationen von Migranten-Kindern, die nach mir kommen.              Er hat ein Gitter drum, so tritt ihn
Denn sie sollen als mündige, selbstbewusste Bürgerinnen und           keiner
                                                                          er um.
Bürger dieses Landes aufwachsen: Als Demokraten in einem
Rechtsstaat, optimistisch, zuversichtlich und mutig. Sie sollen die   Der Kleine
                                                                               ine kann
                                                                                      nnnicht größer
                                                                                                  er wer’n,
Chance bekommen selber zu bestimmen, wer sie sind und wohin           Ja – größerr wer’n, das möcht’ er ger
                                                                                                        gern!
sie gehören.                                                          ’s ist keine Red
                                                                                    ed davon:
                                                                      Er hat zu wenig Sonn’.
Verantwortung, Leidenschaft und Augenmaß machen mich mutig
und stark in schwierigen Situationen.                                 Dem Pflaumenbaum,
                                                                      man glaubt ihm kaum,
Ich bin Politikerin aus Überzeugung, weil ich ein Ziel habe:          Weil er nie eine Pflaume hat.
Brücken zu bauen, Zäune niederzureißen, Türen zu öffnen. Ich          Doch er ist ein Pflaumenbaum:
kämpfe für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, in die ich mich       Man kennt es an dem Blatt.
selbst einst reinkämpfen musste. Ich arbeite, damit es nicht mehr
„die da drinnen und die draußen“ gibt. Ich will diese Gesellschaft    Danke an all diejenigen, die den Baum in mir erkannt haben und
mitgestalten und verändern und ich will meinen Beitrag dazu           in ihren Schülerinnen und Schülern immer wieder erkennen.
leisten, dass wir aus Fehlern lernen.
                                                                      Dieser Text wurde uns freundlicherweise von Ekin Deligöz zur
                                                                      Verfügung gestellt.
QUAL DER WAHL - DEMOKRATISCHE PARTIZIPATION AUS SICHT MIGRANTISCHER FAMILIEN | 16

Migrantische Wähler:innen machen 12,2 Prozent aller
Wahlberechtigten aus.

Laut einer Studie von Citizens For Europe könnten ihre Stimmen in 167 von
299 Wahlkreisen (56 Prozent) mit ihrer Erst-stimme das Direktmandat für
den Bundestag entscheiden. In den nächsten Jahren wird ihr Anteil noch
zunehmen. Der Anteil migrantischer Kinder und Jugendlicher in deutschen
Großstädten steigt kontinuierlich, in einigen Städten liegt er mittlerweile bei   Wer vertritt ihre Interessen? Spielen Themen der Einwanderungs-
über 60 Prozent. Migrantische Wähler:innen können also wahlentscheidend           gesellschaft überhaupt eine Rolle in den Parteiprogrammen?
sein. Und mit ihnen die Themen einer Einwanderungsgesellschaft. Nimmt
man noch die Bürger:innen hinzu, die nicht wählen dürfen, weil sie keine          Wir haben den Parteien unsere Fragen geschickt:
deutsche Staatsbürgerschaft haben, derzeit sind das 9,7 Millionen in              Was gedenken die Parteien gegen eine durch Corona weiter ver-schärfte
Deutschland lebende Erwachsene, so steigt die Relevanz dieser Themen in           Bildungsbenachteiligung migrantischer Kinder zu unter-nehmen? Welche
Bezug auf die repräsentative Demokratie weiter.                                   Maßnahmen planen sie, um nachhaltig Diskrimi-nierung und Rassismus zu
                                                                                  verhindern und Betroffene auch zu schützen? Wie wollen sie dafür sorgen,
                                                                                  dass migrantische Familien bessere Zugänge zu Familienleistungen wie
                                                                                  Kindergeld, KindergeldPlus oder Elterngeld erhalten? Wie stehen sie zu
                                                                                  vereinfachten und proaktiven Einbürgerungspolitik? Wie zur doppelten
                                                                                  Staatsbürger-schaft? Was sagen sie zu Familiennachzug oder
                                                                                  Mehrsprachigkeit?
                                                                                  Alles Themen der binationalen, migrantischen und globalen Familien.
QUAL DER WAHL - DEMOKRATISCHE PARTIZIPATION AUS SICHT MIGRANTISCHER FAMILIEN |17

BUNDESTAGSWAHL 2021 – UNSERE FORDERUNGEN & WAHLPRÜFSTEINE
Migrantisches Familienleben in Deutschland - Antworten der Parteien

                                                                      Den Optionszwang im Staatsangehörigkeitsrecht wollen wir
                                                                      abschaffen und Mehrstaatigkeit anerkennen. Das Verbot der
                                                                      Mehrstaatigkeit wird den Realitäten in Deutschland als Ein-
                                                                      wanderungsland nicht gerecht. Die Staatsangehörigkeit stellt
 Entscheidend für die Familien ist, wie gut sie im Lebensumfeld
                                                                      ein dauerhaftes Band rechtlicher Gleichheit, Teilhabe und
 zurechtkommen und sich einbringen können. Für eine gesell-
                                                                      Zugehörigkeit sicher. Wir GRÜNE setzen uns für eine erleicht-
 schaftliche Partizipation sind sowohl die individuellen Ressourcen
                                                                      erte Einbürgerung ein: Wer in Deutschland geboren wird, soll
 der Familien selbst, als auch rechtliche und politische Rahmen-
                                                                      die Möglichkeit erhalten, deutsche*r Staatsbürger*in zu
 bedingungen von Bedeutung. Wir fordern:
                                                                      werden, wenn ein Elternteil rechtmäßig seinen gewöhnlichen
                                                                      Aufenthalt in Deutschland hat. Für Menschen, die hier jahrelang
    Doppelte Staatsbürgerschaft und erleichterte Einbürgerung!
                                                                      leben und Teil dieser Gesellschaft geworden sind, sollen
    Quoten, affirmative Maßnahmen und anonymisierte
                                                                      Einbürgerungen früher möglich werden. Nach fünf Jahren
    Bewerbungsverfahren, um Vielfalt adäquat zu repräsentieren!
                                                                      Aufenthalt in Deutschland sollen alle einen Antrag auf Ein-
    Diversitäts- und rassismuskritisches Management im Rahmen
                                                                      bürgerung stellen können. Die vorgenommenen Aushöhlungen
    der Organisationsentwicklung fester Bestandteil jeder
                                                                      des Staatsangehörigkeitsrechts wollen wir zurücknehmen.
    wirtschaftlichen, gemeinnützigen oder öffentlich-rechtlichen
                                                                      Hindernisse bei der Identitätsklärung, die nicht in der Hand der
    Unternehmenskultur umsetzen!
                                                                      Einzubürgernden liegen, dürfen ihnen nicht angelastet werden.
    Unbürokratische Anerkennung von ausländischen Ab-
                                                                      Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschen-
    schlüssen und beruflichen Erfahrungen für einen schnellen
                                                                      feindlichkeit sind tief in unserer Gesellschaft, ihren Strukturen
    Einstieg ins Arbeitsleben!
                                                                      und Institutionen verwurzelte Probleme. Wir sehen Maß-
    Familienleistungen zusammenfassen und allen Familien
                                                                      nahmen zur Gleichstellung von rassistisch diskriminierten
    einfach zugänglich machen!
                                                                      Menschen als notwendig an (BT-Drs. 19/24434). Deshalb wollen
                                                                      wir ein Partizipations- und Teilhabegesetz vorlegen und darin
                                                                      Gleichstellungsmaßnahmen wie beispielsweise verbindliche
                                                                      Zielvorgaben zur gleichberechtigten Teilhabe von strukturell
                                                                      diskriminierten Menschen einführen.
QUAL DER WAHL - DEMOKRATISCHE PARTIZIPATION AUS SICHT MIGRANTISCHER FAMILIEN | 18

Migrantisches Familienleben in Deutschland - Antworten der Parteien

                                                                    Wir stehen für eine klare Einbürgerungsperspektive für Zu-
Um die Anzahl von Bewerbungen aus diskriminierten Gruppen           wanderer, die schon über Jahre bei uns leben, arbeiten und gut
zu erhöhen, soll eine gezielte Ansprache in der Stellenaus-         integriert sind. Wir halten es für wichtig, dass gut integrierte
schreibung und gezielte Anwerbung erfolgen. Wir GRÜNE               Zuwanderer mit der Einbürgerung alle staatsbürgerlichen
wollen eine diversitätsorientierte und rassismuskritische           Rechte und Pflichten erhalten. Vereinfachte Verfahren oder
Öffnung der Verwaltung, von Behörden und gesellschaftlichen         verkürzte Fristen sind aber nicht geplant. CDU und CSU setzen
Institutionen, Vielfaltsbeauftragte als Vertreter*innen von         sich weiterhin dafür ein, dass Mehrstaatigkeit grundsätzlich
diskriminierten Menschen und eine diversitätsorientierte            vermieden wird und nur im Ausnahmefall möglich sein sollte.
Haushaltsbudgetierung einführen sowie das Bundesgremien-            Chancengerechtigkeit soll es in der gesamten Gesellschaft
gesetz reformieren.                                                 geben – in der Wirtschaft, in der Bildung und auch im öffent-
Wir GRÜNE setzen uns für mehr Teilhabemöglichkeiten für             lichen Dienst. Wir werben dafür, dass sich mehr junge Men-
migrantische Familien ein. Insbesondere wollen wir ein              schen für eine berufliche Laufbahn im öffentlichen Dienst
flächendeckendes Netz von Migrationsberatungsstellen                entscheiden. Dies stärkt auch die Identifikation von Menschen
schaffen und diese finanziell und strukturell absichern. So         mit Zuwanderungsgeschichte mit unserem Staat. Die Vielfalt
wollen wir zeitlich unbefristete bedarfsorientierte, individuelle   unserer Gesellschaft soll auch im öffentlichen Dienst sichtbar
Grundberatungsangebote für Migrant*innen mit Unter-                 sein.
stützungsbedarf, gerade auch für Familien, schaffen. Ein            CDU und CSU wollen die Familienleistungen für alle Leistungs-
solches breites Beratungsangebot ist insbesondere wichtig, um       berechtigten bündeln und vereinfachen. Sie sollen auto-
einen unterschiedslosen Zugang zu Sozialleistungen sowie zu         matisiert, digital und aus einer Hand Familien zur Verfügung
Kitas, Bildungseinrichtungen, Ausbildung und Arbeit, Wohn-          stehen. Geburtsurkunde, Kindergeld, Elterngeld und Kinder-
raum, Gesundheitsfürsorge zu gewährleisten. Auch auf euro-          zuschlag sowie das Bildungs- und Teilhabepaket sollen digital
päischer Ebene wollen wir einen kommunalen Integrations-            beantragt werden können. Wir wollen es so unbürokratisch und
fonds auflegen, um europaweit das Ankommen in den                   einfach wie möglich machen, Familienleistungen zu bekommen.
Kommunen direkt zu unterstützen und zivilgesellschaftliche          Leistungen müssen, wo immer möglich, automatisiert erfolgen.
Unterstützungsstrukturen zu fördern. Außerdem treten wir            Familien mit Migrationsgeschichte wollen wir durch gezielte
dafür ein, dass alle neu ankommenden Migrant*innen von              Informations- und Sprachförderungsmaßnahmen besser
Anfang an ein Recht auf einen kostenfreie Sprach- und               unterstützen.
Integrationskurse haben.
QUAL DER WAHL - DEMOKRATISCHE PARTIZIPATION AUS SICHT MIGRANTISCHER FAMILIEN | 19

Migrantisches Familienleben in Deutschland - Antworten der Parteien

Die Einbürgerungszahlen in Deutschland stagnieren seit            Ferner fordern wir Maßnahmen, um Führen in Teilzeit zu
Jahren. Ein Hauptgrund dafür ist das Festhalten am Prinzip der    normalisieren; inklusive Ausbau der Möglichkeiten zum
Vermeidung der Mehrstaatigkeit. Wir wollen das Staats-            mobilen Arbeiten sowie familienfreundliche Anwesenheits-
angehörigkeitsrecht umfassend zu modernisieren. DIE LINKE.        reglungen, die auch binationale Partner*innenschaften und
fordert Mehrfachstaatsangehörigkeiten infolge einer Ein-          Familien entlasten sollen. Ausländerrechtliche Voraussetz-
bürgerung oder aufgrund der Geburt in Deutschland zu              ungen für den Erhalt von Familienleistungen sind oft schwer zu
akzeptieren und die Pflicht zur Aufgabe der bisherigen            verstehen. Die Fragen nach Beantragung entsprechender
Staatsangehörigkeit aus dem Staatsbürgerschaftsrecht zu           Familienleistungen übernehmen die Einrichtungen der
streichen. Auch bisherige Einbürgerungsvoraussetzungen, wie       Migrationsberatungen für Erwachsene Zuwanderer (MBE).
Anforderungen zu Einkommens- oder Sprachnachweisen                Bundesweit wurden 2019 durch die MBE mehr als eine halbe
stellen erhöhte Anforderungen dar, die einer gleichberecht-       Millionen Personen erreicht. Leider ist die MBE seit Jahren
igten Teilhabe der hier lebenden Menschen mit Migrations-         unterfinanziert. Die von der Bundesregierung veranschlagten
geschichte im Wege stehen.                                        Haushaltsmittel werden 2021 nicht ausreichen, um die weiter
Die LINKE. setzt sich für eine umfassende 50%-Quote auf allen     steigende Nachfrage nach qualifizierter Migrationsberatung vor
Führungsebenen innerhalb der Unternehmen ein. Dies                Ort zu befriedigen. DIE LINKE. hat für das Haushaltsjahr 2021
beinhaltet Vorstände und Aufsichtsräte. Dazu gehört auch eine     eine Mittelerhöhung um 8 Mio. € gefordert.
Quote, um den Anteil von Menschen mit Migrationshinter-
grund in der öffentlichen Verwaltung entsprechend ihrem
Anteil an der Bevölkerung zu erhöhen, und ein Partizipations-
rat, der in wichtige Entscheidungen in Wirtschaft, Wissenschaft
und Politik einbezogen wird. Natürlich wird man nicht alles mit
                                                                  Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht sollte im Fall einer
Quoten regeln können, da z.B. eine Repräsentanz mithilfe
                                                                  Einbürgerung grundsätzlich auch die Mehrstaatigkeit zulassen.
einer Quote von queeren Menschen ein (Zwangs-)Outing
                                                                  Ab der Enkelgeneration der Ersteingebürgerten sollten sich
voraussetzen würde, sollte hier mit proaktiven Maßnahmen
                                                                  Menschen dann für eine Staatsangehörigkeit entscheiden
um queere Mitarbeiter*innen geworben und ein Klima der
                                                                  müssen, außer wenn mit dem Verlust der Aufgabe der zweiten
Vielfalt im Unternehmen etabliert werden.
                                                                  Staatsangehörigkeit rechtliche oder wirtschaftliche Nachteile
                                                                  verbunden sind, sie nicht auf sie verzichten können oder es
                                                                  sich um die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates
                                                                  handelt.
QUAL DER WAHL - DEMOKRATISCHE PARTIZIPATION AUS SICHT MIGRANTISCHER FAMILIEN |20

Migrantisches Familienleben in Deutschland - Antworten der Parteien

Wir fordern für Einwanderinnen und Einwanderer zudem einen         öffentlichen Druck hin zu einem Kulturwandel in Unternehmen,
vereinfachten Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit nach        Wissenschaft und Verwaltung.
insgesamt vier Jahren. Eine Niederlassungserlaubnis soll           Wir verstehen Vielfalt als Bereicherung und setzen uns für eine
bereits nach drei Jahren gewährt werden, wenn die Antrag-          lebendige Partei- und Diskussionskultur innerhalb der Freien
stellerin oder der Antragsteller in dieser Zeit mit gültigem       Demokraten ein. Uns ist es daher wichtig, die Vielfalt in unserer
Aufenthaltstitel straffrei in Deutschland gelebt hat und Sprach-   Partei zu stärken: Bei uns soll jedes Mitglied faire Chancen
kenntnisse sowie die vollständige Deckung des Lebensunter-         haben, seine Talente in die Partei einzubringen und Verant-
haltes auch der Familie nachweisen kann.                           wortung zu übernehmen. Dafür wollen wir die Vereinbarkeit
Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit soll unabhängig       von Familie, Beruf und Parteiarbeit vereinfachen, die Nutzung
vom Einwanderungsweg möglich sein, wenn zusätzlich ein             von geeigneten Online-Beteiligungsmöglichkeiten erproben,
Einbürgerungstest absolviert und das Bekenntnis zur Rechts-        moderne und ansprechende Veranstaltungsformate ent-
ordnung unseres Grundgesetzes abgelegt werden.                     wickeln, sowie bestehende Formate attraktiver und effizienter
Wir Freie Demokraten setzen uns für mehr Vielfalt in Unter-        gestalten.
nehmen sowie im öffentlichen Dienst und in der Politik ein.        Wir Freie Demokraten wollen ein Kinderchancengeld. Es
Gesetzliche Quoten lehnen wir jedoch ab. Für uns steht hier        besteht aus: Grundbetrag, Flexibetrag und nichtmateriellem
der gleiche Zugang zu öffentlichen Ämtern nach Eignung,            Chancenpaket. Die Angebote für bessere Chancen, Bildung und
Befähigung und fachlicher Leistung im Vordergrund.                 Teilhabe werden ausgeweitet und können von Kindern und
Stattdessen fordern wir für die Arbeitswelt ein ganzheitliches     Jugendlichen selbstständig über ein Kinderchancenportal
Diversity Management (Management der Vielfalt) als Teil der        kinderleicht abgerufen werden. Das Kinderchancengeld ist
ökonomischen Modernisierung. So schaffen wir gleiche               einfach, digital und ermöglicht echte Aufstiegschancen.
Chancen für Aufstieg durch Leistung – unabhängig von               Die Berechnung aller familienpolitischen Leistungen soll
Geschlecht, Alter, ethnischer Herkunft, Behinderung, sexueller     digitalisiert werden wie auch die Beantragung von Elterngeld
Orientierung oder Religion. Gerade der Mittelstand soll bei der    und anderen Leistungen. Wir wollen den Eltern den Zugang zu
Entwicklung von Konzepten unterstützt werden. Im öffentlichen      Familienleistungen so einfach und schnell wie möglich machen.
Dienst sind die Strukturen der Gleichstellungs- und Behinder-      Eine vollständig digital arbeitende Verwaltung und Bearbeitung
tenbeauftragten in ein ganzheitliches Diversity Management         der Anträge stellen eine schnelle Auszahlung sicher.
einzubinden.                                                       Wir Freie Demokraten wollen eine Integrationspolitik, die
Auch Transparenz der Maßnahmen für mehr Diversität und             Vielfalt begrüßt und daher Einwanderinnen und Einwanderer
Talentmanagement in Gleichstellungsberichten erhöht den            einlädt, Teil unserer Gesellschaft zu werden, ihnen aber auch
                                                                   eine eigene Integrationsleistung abverlangt.
QUAL DER WAHL - DEMOKRATISCHE PARTIZIPATION AUS SICHT MIGRANTISCHER FAMILIEN | 21

Migrantisches Familienleben in Deutschland - Antworten der Parteien

Wir wollen die Chancen der Einwanderung für Deutschland         Bedürfnissen von Menschen mit Migrationsgeschichte
nutzen, denn unser Land ist auf Einwanderung angewiesen.        auszurichten, wollen wir anonymisierte Bewerbungsverfahren
Integration ist der Schlüssel dafür, dass Einwanderinnen und    einführen, die der Zielrichtung des Allgemeinen Gleich-
Einwanderer zu einem Teil unserer Gesellschaft werden und zu    behandlungsgesetzes entsprechen. Die mangelnde Gleich-
ihrem Gelingen beitragen. Deshalb wollen wir Integration –      stellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt trifft Frauen mit
auch von Familien - fördern: durch Angebote zum Erlernen        Migrationsgeschichte besonders. Ihr Zugang zum Arbeitsmarkt
unserer Sprache und unserer Gesellschaftsordnung, Inte-         muss durch gezielte, niedrigschwellige Beratungsangebote
grationspaten nach kanadischem Vorbild sowie zusätzliche        verbessert werden. Arbeitsrechtliche Diskriminierung von
Integrationsmaßnahmen, die sich gezielt an Frauen, Kinder und   Frauen wegen ihrer ethnischen oder religiösen Herkunft muss
Senioren, aber auch an besonders schutzbedürftige Personen-     abgebaut werden. Zudem sollen im öffentlichen Dienst und in
gruppen richten.                                                der Privatwirtschaft Zielvereinbarungen, für einen höheren
                                                                Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte, getroffen
                                                                werden. Der öffentliche Dienst muss dabei eine Vorreiterrolle
                                                                übernehmen.
                                                                Wir haben ein Konzept der Kindergrundsicherung entwickelt,
Unsere Gesellschaft des Respekts braucht ein modernes           das aus zwei zentralen Bereichen besteht. Zum einen aus einer
Staatsangehörigkeitsrecht. Nachdem die SPD bereits dafür        Infrastruktur, die gerechte Bildung und Teilhabe für alle Kinder
gesorgt hat, dass grundsätzlich alle in Deutschland geborenen   ermöglicht. Sie beinhaltet gute und beitragsfreie Kitas, ein
Kinder mit der Geburt auch deutsche Staatsbürger*innen sind,    Ganztagsangebot für Schulkinder, eine soziale Infrastruktur für
werden wir zudem die generelle Möglichkeit von Mehrstaatig-     Kinder und Jugendliche und freie Fahrt in Bus und Bahn im
keit gesetzlich verankern. Wir wollen bestehende Hürden bei     Nahverkehr sowie ein Recht auf Mobilität vor allem für den
Einbürgerungen abschaffen und hierfür auch die geltende         ländlichen Raum. Die Kindergrundsicherung besteht zum
Regelaufenthaltsdauer von bisher acht Jahren verkürzen.         anderen aus einem neuen existenzsichernden, automatisch
Wir unterstützen Programme, die eine vielfältige Kultur in      ausgezahlten Kindergeld, das nach Einkommen der Familie
Unternehmen und Behörden fördern.                               gestaffelt ist – je höher der Unterstützungsbedarf, desto höher
Um Diskriminierung zu beseitigen und das arbeitsmarkt-          das Kindergeld. Damit machen wir das Leben der Familien
politische Instrumentarium an den spezifischen                  leichter, die es besonders schwer haben. Wir stellen sicher,
                                                                dass die Informationen über die Kindergrundsicherung
                                                                niederschwellig und mehrsprachig vorgehalten werden.
QUAL DER WAHL - DEMOKRATISCHE PARTIZIPATION AUS SICHT MIGRANTISCHER FAMILIEN | 22

Bildung & Vielfalt - Antworten der Parteien

                                                                       Alle Menschen sollen die gleichen Chancen haben und aktiv die
                                                                       Gesellschaft mitgestalten können. Antirassismus, Antidis-
Bildung bestimmt die Existenz und Lebensqualität von Familien.         kriminierung und Postkolonialismus wollen wir in Lehrplänen
Die Zugänge zu Bildung und Beratung sind jedoch nicht für alle         verankern. Kinder und Jugendliche müssen vor Diskriminierung
Familien in gleichem Maße gegeben. Nach wie vor ist Bildungs-          geschützt sein. Sie brauchen dafür Ansprechpersonen und
erfolg eng an die soziale Herkunft gekoppelt. Gesellschaftliche        Angebote zu Antidiskriminierung, Diversität und Demokratie-
Realitäten wie z.B. Mehrsprachigkeit werden von einer mono-            verständnis. Rassismuskritische Kompetenz soll als Teil von
lingual ausgerichteten Bildungspolitik weiterhin nicht aufgegriffen.   Diversity Kompetenzen für Beschäftigte der öffentlichen
Diversitäts- und migrationsbezogene Kompetenzen im Bildungs-           Verwaltung insbesondere durch Fortbildungen vermittelt
bereich sind nach wie vor wenig relevant. Wir fordern:                 werden und bei der Beurteilung der Beschäftigten und
                                                                       Bewerber*innen berücksichtigt werden. Wir wollen unab-
   Bildungs- und Beratungsangebote müssen migrations- und              hängige Forschung zu Antirassismus und anderen Formen
   diversitätssensibel sein!                                           gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sowie die Erhebung
   In Kitas (Gute-Kita-Gesetz) und in der Ganztagsbetreuung            von Antidiskriminierungsdaten fördern, um Benachteiligungs-
   (Rechtsanspruch ab 2026) Diversitätssensible                        strukturen sichtbar zu machen. Gemeinsam mit den Ländern
   Qualitätsstandards umsetzen!                                        wollen wir die Rassismusforschung an Hochschulen stärken.
   Anspruch auf Entwicklung einer eigenen sprachlichen und             Dafür braucht es eigene Studiengänge, Lehrstühle und
   kulturellen Identität!                                              Forschungsinstitutionen.
   Berücksichtigung der mehrsprachigen Realität in allen               Mehrsprachigkeit und Vielfalt sind in einem Einwanderungsland
   Bildungsinstitutionen!                                              und für eine Gesellschaft der Vielen ein großer Wert. Deshalb
   Ausweitung der Anerkennung von migrantischen                        setzen wir GRÜNE uns für eine Förderung und Erhalt der
   Familiensprachen als schulische Fremdsprachen!                      Muttersprache entlang der gesamten Bildungskette ein, so dass
   Politische Bildung und schulische Curricula müssen Migration        kein Kind seine Muttersprache verstecken muss. Schulen mit
   und Kolonialismus thematisieren!                                    besonderen Herausforderungen wollen wir dabei unterstützen,
                                                                       systematische Vorsorgearbeit zu leisten und deutsche wie auch
                                                                       muttersprachliche Sprachfertigkeiten zu fördern.
                                                                       Mehrsprachigkeit begreifen wir dabei als Reichtum und nicht
                                                                       als Defizit. Außerdem treten wir dafür ein, dass alle neu
                                                                       ankommenden Migrant*innen von Anfang an ein Recht auf
                                                                       kostenfreie Sprach- und Integrationskurse haben.
QUAL DER WAHL - DEMOKRATISCHE PARTIZIPATION AUS SICHT MIGRANTISCHER FAMILIEN | 23

Bildung & Vielfalt - Antworten der Parteien

CDU und CSU wollen die politische Bildung in allen Jahrgangs-       Gesellschaftliche Vielfalt in der Bildung sollte kein Randthema
stufen der allgemeinbildenden und beruflichen Schulen               sein, sondern gelebter Alltag. Dies muss sich auf allen Ebenen
stärken. Unsere rechtsstaatlich verfasste, freiheitliche, plurale   des Bildungssystems widerspiegeln: in den Unterrichtsinhalten
und repräsentative Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie     sowie der Unterrichtsorganisation, in der Ausbildung der
muss stets aufs Neue erlernt, gelebt und verteidigt werden.         Lehrenden und in der Zusammensetzung des Personals. Wir
Dazu brauchen wir überzeugte Demokratinnen und Demo-                sehen die Mehrsprachigkeit bei Lernenden mit Migrations-
kraten, die sich den komplexen Anforderungen der Welt im 21.        hintergrund als eine Bereicherung und eine Chance, die von
Jahrhundert stellen.                                                den Bildungseinrichtungen anerkannt und für gemeinsames
Für den Erwerb von Mehrsprachigkeit ist uns zunächst der            Lernen genutzt werden soll. In den Lehrplänen muss sich die
frühe Erwerb der deutschen Sprache ein wichtiges Anliegen.          Vielfalt der Lebensentwürfe und die der (sozialen und kultur-
Wir werden den Erwerb der deutschen Sprache so früh wie             ellen) Hintergründe von Kindern und Jugendlichen wider-
möglich fördern, insbesondere durch verbindliche, fortlaufende      spiegeln. Interkulturelle und inklusive Bildung sollte Teil der
und standardisierte Diagnoseverfahren. Ab einem Alter von           Lehrer:innenausbildung sein. Wir wollen eine Schule für alle:
drei Jahren kommen verbindliche Sprachstands-Tests mit              Eine Gemeinschaftsschule, in der alle Kinder gemeinsam
qualitativ wirksamen Sprachförderangeboten für alle Kinder          lernen, die kein Kind zurücklässt, sozialer Ungleichheit ent-
hinzu. Dort, wo ein besonderer Sprachförderbedarf festgestellt      gegenwirkt und einen nachhaltigen Beitrag zur gegenseitigen
wird, muss eine verpflichtende, qualitativ wirksame und             Anerkennung und Wertschätzung leistet.
durchgehende Sprachförderung in einer Kindertagesstätte oder        Eine mehrsprachige Sozialisation wird in Deutschland nur bei
Vorschule erteilt werden.                                           ökonomisch als wichtig erachteten Sprachen geschätzt. Wir
Für jedes dieser Kinder soll ein individueller Sprachförderplan     sehen die Mehrsprachigkeit bei Menschen mit Migrations-
erstellt werden, der Förderziele, Dauer und Umfang der kon-         hintergrund als eine Bereicherung und eine Chance, die von
kreten Maßnahmen neben der durchgängigen, integrierten              Bildungseinrichtungen anerkannt und für gemeinsames
Sprachförderung umfasst. Jedes Grundschulkind muss grund-           Lernen genutzt werden soll. Die Muttersprache beim Erlernen
sätzlich vor seiner Einschulung der deutschen Sprache mächtig       weiterer Sprachen einzubeziehen ist wichtig, um in diesen
sein, um dem Unterricht von der ersten Klasse an folgen zu          Sprachen einen sicheren Stand zu erwerben. Die Herkunfts-
können. Das ist auch die Grundlage für den Erwerb anderer           sprache soll bei Prüfungen als erste oder zweite Sprache
Sprachen.                                                           anerkannt werden. Wir betrachten Regional- oder Minder-
                                                                    heitensprachen als Ausdruck des kulturellen Reichtums und
                                                                    fördern ihr Angebot in Schulen.
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