KRIEG IN DER UKRAINE Wie kann eine angemessene Reaktion auf die humanitäre Katastrophe mitten in Europa aussehen? - VENRO
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STELLUNGNAHME KRIEG IN DER UKRAINE Wie kann eine angemessene Reaktion auf die humanitäre Katastrophe mitten in Europa aussehen? Der Angriff russischer Truppen auf die Ukraine am Mehr als ein Dutzend Mitgliedsorganisationen von 24. Februar 2022 hat die Welt erschüttert und ver- VENRO sind seit 2014 in der Ukraine tätig. In der ändert. Dieser Krieg bringt für Millionen von Men- Regel arbeiten sie mit mehreren Partnerorganisati- schen körperliches und seelisches Leid mit sich. Er onen vor Ort zusammen. Schwerpunkte sind der zerstört die Lebensgrundlage für die Menschen in Aufbau von Sozialstrukturen für die Unterstützung der Ukraine und wird viele noch unabsehbare politi- von intern Vertriebenen und psycho-soziale Betreu- sche Folgen für die multilaterale Ordnung mit sich ung. Zahlreiche weitere humanitäre Organisationen bringen. Im Kampf um die Kontrolle von Großstäd- befinden sich in einer Sondierung und möchten un- ten wie Kiew und Charkiw oder mittleren Städten mittelbare humanitäre Hilfe in den zugänglichen wie Mariupol wird eine massive Zunahme der Opfer Gebieten der Ukraine sowie für Geflüchtete in den in der Zivilbevölkerung befürchtet. Nachbarstaaten leisten. Der landesweite Angriff ge- fährdet auch die Mitarbeitenden von ukrainischen Bereits mehr als 1,5 Millionen Menschen, überwie- sozialen Organisationen sowie internationaler gend Frauen, Kinder und ältere Menschen, haben Nichtregierungsorganisationen (NRO). Sie müssen laut den Vereinten Nationen (UN) die Ukraine bis sich um die Sicherheit des eigenen Personals sor- jetzt verlassen (Stand 7. März), bis zu 6 Millionen gen. Dennoch hoffen sie, in den Regionen bleiben Menschen könnten laut der Europäischen Kommis- und die Notversorgung ausweiten zu können. sion noch folgen. Fast eine Million Menschen sind über die Grenze nach Polen geflohen. Der Chefan- Auch Millionen von Menschen im Globalen Süden kläger des Internationalen Strafgerichtshofs hat Un- könnten die Auswirkungen des Krieges schon bald tersuchungen auf Kriegsverbrechen und Verbre- zu spüren bekommen. Die Ukraine und Russland chen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine ange- sind bedeutende Produzenten von Grundnahrungs- kündigt. mitteln wie Weizen, Mais und pflanzlichen Ölen. Der Krieg in der Ukraine kann die ohnehin fragile Er- Wie der russische Angriff auf das Atomkraftwerk nährungssicherheit im Nahen Osten und in vielen Saporischschja am 3. März zeigt, gehen große Ge- afrikanischen Ländern daher massiv beeinträchti- fahren von der Situation in Tschernobyl und den 15 gen. Mehr als 20 Prozent der globalen Weizen- und Atomreaktoren in vier Anlagen der Ukraine aus. mehr als 30 Prozent der Maisexporte entfielen in Während der militärischen Auseinandersetzungen den letzten Jahren auf Russland und die Ukraine. können gezielte Angriffe oder Unfälle durch Dies könnte zu Versorgungsknappheit und weiteren menschliches Fehlverhalten unter Stress leicht un- Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln füh- absehbare und schwerwiegende humanitäre, ge- ren und die Situation etwa in der von einer schwe- sundheitliche sowie ökologische Folgen auch über ren Dürre geplagten Region am Horn von Afrika zu- die Ukraine hinaus nach sich ziehen.
STELLUNGNAHME spitzen. Auch die Destabilisierung globaler Energie- und zivilen Einrichtungen (beispiels- märkte wird schwerwiegende Folgen für die Men- weise Verwaltungsgebäude, Wasser- schen im Globalen Süden mit sich bringen und und Stromversorgung, Krankenhäuser, könnte Millionen von Menschen in Armut stürzen. Schulen und alle Wohngebiete) sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung le- militärischer Handlungen. Der Zugang gen den Schwerpunkt auf Sanktionen in enger Ab- für humanitäre Helfer_innen und der stimmung mit der Europäischen Union (EU) und den Zugang betroffener Menschen zu huma- nitärer Hilfe muss uneingeschränkt ge- USA, beschränkte Waffenlieferungen an die Ukraine währleistet werden. Die in der zweiten sowie auf die militärische Abschreckung einer wei- Verhandlungsrunde vereinbarten teren Ausweitung des Konfliktes auf Mitgliedstaa- Schutzkorridore müssen ernsthaft um- ten der Nato. gesetzt werden. VENRO begrüßt die Einigung auf die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie als EU-weite Rechts- 2. die Bundesregierung auf, grundlage für eine unkomplizierte Aufnahme von Geflüchteten. Ein bitterer Beigeschmack ist aller- • in die vorläufige Haushaltsführung 2022 dings, dass an der polnisch-belarussischen Grenze eine Ausnahmeregelung für Sondermit- und in Kroatien sowie weiterhin auf dem Mittel- tel für die Ukraine aufzunehmen und meer völkerrechtswidrig Menschen abgewiesen der Umwidmung von Mitteln aus Titeln werden, ohne ihnen eine Prüfung auf Asyl zu er- der laufenden Entwicklungszusammen- möglichen. Zudem gibt es glaubwürdige Berichte arbeit mit der Ukraine für humanitäre über eine diskriminierende Praxis gegenüber Men- Hilfe zuzustimmen, damit dringend be- schen nicht-ukrainischer Nationalität und Herkunft nötigte Hilfe umgehend bereitgestellt bei Annäherung an den Grenzen und während des werden kann. Zusätzliche Mittel für die Grenzübertritts. Solche Doppelstandards sind nicht Ukraine dürfen insgesamt nicht zu Las- akzeptabel. Alle Schutzsuchenden müssen gemäß ten der Mittel für andere humanitäre der geltenden rechtlichen Grundlagen wie der Gen- Krisen oder der Mittel für Entwicklungs- fer Flüchtlingskonvention gleichermaßen behandelt zusammenarbeit gehen. werden. • angesichts der besonderen Unüber- Um die humanitären Auswirkungen des sichtlichkeit der weiteren Entwicklung Krieges in der Ukraine auf die Nachbar- in der Ukraine auch humanitäre Mittel länder und möglicherweise andere Regi- mit erhöhter Flexibilität bezüglich des onen weltweit zu begrenzen, fordert Ortes, der Art der Maßnahmen und des VENRO Zeitrahmens zu vergeben. 1. die russische Regierung und alle weiteren an • die zusätzlichen humanitären Mittel dem Konflikt beteiligten Regierungen auf, nicht alleine über die UN umzusetzen. NRO verfügen vielerorts über etablierte • das humanitäre Völkerrecht zu achten. Partnerstrukturen und haben einen Dazu zählt der Schutz von Zivilist_innen leichteren und direkteren Zugang zur betroffenen Bevölkerung. Ukrainische www.venro.org 2
STELLUNGNAHME NRO sollten weiterhin so lange wie • die Grenzübergänge für die Einfuhr von möglich gefördert werden, damit drin- Gütern weiterhin offenzuhalten. gende Hilfe vor Ort auch umgesetzt werden kann. Nationale und internationale humani- täre Akteur_innen sollten • gemeinsam mit Hilfsorganisationen praktikable Lösungen zu suchen, um • insbesondere die Situation von Frauen, Barmittel zur Versorgung der in Not ge- Kindern, alten Menschen und Men- drängten Bevölkerung in der Ukraine schen mit Beeinträchtigungen in den einführen und vor Ort auszahlen zu Blick nehmen und durch systematische können. Erfassung von Daten zu Gender, Alter und Behinderung bedarfsgerechte Hilfe • die transparente Dokumentation von sicherstellen. Frauen und Mädchen sind bereits gemeldeten und zukünftigen in besonderer Weise von dem Krieg be- Verletzungen des humanitären Völker- troffen und Risiken sexueller Ausbeu- rechts in Zusammenarbeit mit anderen tung ausgesetzt. Besondere Risiken be- Staaten und den UN zu unterstützen, stehen auch für Waisen in Einrichtun- um so eine spätere gerichtliche Verant- gen und Kinder auf der Flucht. Alte wortung von Kriegsverbrechen vorzube- Menschen und Menschen mit Beein- reiten. Die Einheit des Chefanklägers für trächtigungen werden häufig von hu- Ermittlungen sollte mit zusätzlichen fi- manitären Maßnahmen nicht erreicht nanziellen Mitteln unterstützt werden. oder nicht in die Planung von Evakuie- rungen einbezogen. Spezielle Maßnah- men zur Prävention von geschlechtsba- 3. die Europäische Union und die Nachbarstaaten sierter Gewalt und Menschenhandel der Ukraine auf, müssen vorgesehen werden. • die Grenzen zu den Nachbarländern der • psycho-soziale Maßnahmen für trauma- Ukraine für alle Flüchtenden offen zu tisierte Geflüchtete an sicheren Orten halten. Eine Unterscheidung nach Her- innerhalb der Ukraine oder den Nach- kunft oder Aufenthaltsstatus in der Uk- barländern einplanen. raine darf es bei Einreise nicht geben. Die Behandlung vor und nach Grenz- übertritt muss diskriminierungsfrei sein. • ukrainischen Akteur_innen die aktive Kriegsdienstverweigerer von russischer Teilhabe an allen Planungs- und Koordi- oder ukrainischer Seite müssen eben- nierungsprozessen ermöglichen. Bei falls das Einreiserecht erhalten. den Koordinierungstreffen für einzelne humanitäre Bereiche, sogenannte Clus- ter, sollten weiterhin ukrainische zivile • die Nachbarländer der Ukraine bei der Akteur_innen die Führungsrolle über- Aufnahme von Geflüchteten direkt zu nehmen. unterstützen und zu entlasten. www.venro.org 3
STELLUNGNAHME Trotz der massiven humanitären Auswirkungen des Dafür ist weiterhin die Zielmarke von mindestens Krieges dürfen die politischen und humanitären Kri- 0,7 Prozent für die Entwicklungszusammenarbeit sen in anderen Ländern und die humanitäre Hilfe sowie zusätzlicher Klimaschutzmaßnahmen im Bun- dort nicht aus dem Blick geraten. Zusätzliche Mittel deshaushalt vorzusehen. Der Haushaltsansatz im für die Ukraine dürfen nicht zu Lasten der humani- Jahr 2022 für das Auswärtige Amt und das Bundes- tären Hilfe oder Entwicklungszusammenarbeit für ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit andere Krisenregionen wie Afghanistan, den Sahel und Entwicklung muss mindestens auf dem Stand oder den Jemen gehen. von 2021 gehalten und in den Folgejahren kontinu- ierlich gesteigert werden. Die erfolgreiche Einigung auf EU-Ebene auf die Mas- senzustrom-Richtlinie für Geflüchtete aus der Ukra- ine sollte als Impuls für dringend notwendige Fort- schritte im gemeinsamen Europäischen Asylsystem und für eine Harmonisierung nationaler Bestim- mungen genutzt werden. Wir brauchen angesichts dieses Krieges eine politi- sche und gesellschaftliche Debatte über alle Präven- tionsinstrumente, mit denen wir die nationale und globale menschliche Sicherheit steigern können. Eine verbesserte Verteidigungsbereitschaft trägt nicht zur Lösung weltweiter Konflikte und der Min- derung der Folgen der Klimakrise oder wirtschaftli- cher Folgen der Corona-Krise bei. Es darf nicht zu ei- ner Kürzung für Mittel der Entwicklungszusammen- arbeit, humanitären Hilfe und zivilen Krisenpräven- tion kommen. IMPRESSUM Herausgeber Redaktion Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe Bodo von Borries, Maya Krille deutscher Nichtregierungsorganisationen e. V. Endredaktion Stresemannstraße 72, 10963 Berlin Silvan Rehfeld Tel : 030/2 63 92 99-10 E-Mail: sekretariat@venro org Berlin, 7. März 2022 www.venro.org 4
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