COVID-19: Nur eine Grippe oder doch mehr?

Die Seite wird erstellt Hanna Mertens
 
WEITER LESEN
COVID-19: Nur eine Grippe oder doch mehr?
CORONA-PANDEMIE

    COVID-19:
    Nur eine Grippe oder doch mehr?
    Ein Charakteristikum einer neu auf­
    getretenen Infektionserkrankung wie
    COVID-19 ist, dass die Risiken dieser
    Erkrankung (noch) nicht schlüssig
    genug abschätzbar sind. Trotz einer
    explosionsartigen Fülle an wissen-
    schaftlicher Literatur zu diesem Thema
    seit Ausbruch des Infektionsgesche-
    hens vor einem Jahr sind die bis heute
    verfügbaren Daten mit erheblichen
    Unsicherheiten verbunden, die mit der
    Vollständigkeit und Validität der Daten
    zu tun haben.

                                                                                                                                                      © unsplash/mufid majnun
    Eines der prägnantesten Beispiele für
    diese Unsicherheit ist die Abschätzung
    der Sterblichkeit. Bei Ausbruch eines
    akuten Infektionsgeschehens erfolgt        Die Zahl der Testungen hat großen Einfluss auf die Berechnung der Fallsterblichkeit.
    die Schätzung der Sterblichkeit über
    den Fall-Verstorbenen-Anteil (kumu-
    lierte Anzahl der Verstorbenen dividiert   Fallsterblichkeit. Umgekehrt könnte Definition). Die zeitliche Verzögerung
    durch die kumulierte Anzahl von labor-     jedoch ein nicht zu unterschätzender kann jedoch modelliert werden. In
    diagnostisch bestätigenden Fälle zu        Anteil der in Alten- und Pflegeheimen der wissenschaftlichen Kommunikation
    einem bestimmten Zeitpunkt). Die Fall­     Verstorbenen ungetestet bleiben. Aber spricht man daher besser vom rohen
    sterblichkeit ist vor allem eine Funk­ -   auch der Zähler, die Erfassung der beziehungsweise verzögerungsberei-
    tion des Nenners, also der Anzahl der      Todesfälle, birgt möglicherweise Tücken. nigten Fall-Verstorbenen-Anteil (time-
    getesteten Personen. Die Anzahl der        Zurzeit fließen alle Todesfälle, die mit delay adjusted case fatality ratio).
    getesteten Personen ist jedoch keine        COVID-19 assoziiert sind, mit in die Sta- Summa summarum ist die Fallsterb-
    Konstante, sondern kann erheblich           tistik ein. Dies führt zu einer Über- lichkeit durch die Vielzahl an Verzer-
    variieren. Sie hängt im Wesentlichen       schätzung von COVID-19 als Todesur- rungsmöglichkeiten wohl als der unsi-
    von politischen Regularien, den Zugän-     sache. Nach Angaben der Deutschen cherste Indikator zur Einschätzung der
    gen zum Gesundheitssystem, Indikati-        Gesellschaft für Pathologie, unter Be­­ Sterblichkeit zu bewerten.
    onspräferenzen von Ärzten, wirtschaft­     zug auf 154 Obduktionen, die deutsch-
    lichen Überlegungen, Testressourcen         landweit an verstorbenen COVID-19-­ Will man eine verzerrungsfreie Schät-
    oder auch teilweise von methodischen       Patienten vorgenommen wurden, ster­ zung der COVID-19-Sterblichkeit erhal-
    Überlegungen ab (zum Beispiel Vorher-      ­be jedoch der Großteil nicht „mit“, son- ten, ist das gesamte Spektrum an infi-
    sagewert eines Tests in Abhängigkeit        dern „an“ Corona. Dieser Anteil wird auf zierten Fällen zu betrachten. Dies führt
    der Infizierten-Prävalenz), wie wir das     über 80 Prozent geschätzt [1]. Des Wei- zur Berechnung des Infizierten-Ver-
    im Kontext der COVID-19-Pandemie            teren „laufen“ die Todesfälle den Er­­ storbenen-Anteils (Verstorbene divi-
    eindrucksvoll erfahren konnten. In der     kran­kungsfällen bei COVID-19 zeitlich diert durch alle Infizierte). Die Infekti-
    Regel werden symptomatische und             im Mittel etwa 14 Tage hinterher, so onssterblichkeit wird entweder durch
    schwere Fälle häufiger getestet als         dass der Fall-Verstorbenen-Anteil unter­ Modellierungsannahmen oder durch
    asymptomatische oder milde Fälle, ins-     schätzt wird, da sowohl die Erkran- die Bestimmung von SARS-CoV-2-­
    besondere zu Beginn einer Pandemie.        kungs- wie die Todesfälle auf den sel- Antikörpern in repräsentativen Stich­
    Dies führt zu einer Überschätzung der      ben Zeitpunkt bezogen werden (siehe proben, sogenannten Serosurveys, ge­­

8                                                                                                                                Ärzteblatt Sachsen 2|2021
COVID-19: Nur eine Grippe oder doch mehr?
CORONA-PANDEMIE

schätzt. Im Idealfall basiert sie jedoch  die 24 Studien aus verschiedenen Regi-     Eine möglichst genaue Schätzung der
sowohl auf einem Antigentest (PCR-        onen der Welt einflossen, lag die durch-   Infektionssterblichkeit kann für die
Test) als auch auf einem virusspezifi-    schnittliche globale SARS-CoV-2-Infek-     Prognose von zu erwartenden Todes-
schen Antikörpertest, um akute und        tionssterblichkeit in der ersten Pande-    fällen am Beginn einer Pandemie von
stattgefundene Infektionsfälle erfas-     miewelle bei 0,7 Prozent [5]. In einer     hoher gesellschaftlicher Relevanz sein,
sen zu können. Ein bekanntes Beispiel     noch umfangreicheren Meta-Analyse          insbesondere dann, wenn über einen
dafür ist die sogenannte Heinsberg-       mit 61 Studien lag sie jedoch deutlich     längeren Zeitabschnitt, etwa über
Studie [2].                               niedriger bei 0,3 Prozent [6]. In beiden   Jahre hinweg, keine effektiven Gegen-
                                          Metaanalysen zeigte sich eine deut­        maßnahmen wie Impfungen, Behand-
Die SARS-CoV-2-Infektionssterblichkeit liche Heterogenität der Ergebnisse            lungs- oder Präventionsmaßnahmen
lag in der ersten Welle der Pandemie (0,1 bis 1,3 Prozent [5] beziehungsweise        zur Verfügung stehen beziehungsweise
(März, April 2020) in Deutschland auf 0,0 bis 1,5 Prozent [6]), die von den          zu erwarten sind. Unter einer sehr kon-
der Basis weniger Serosurveys zwi- Autoren insbesondere mit der Alters-              servativen An­­­nahme, dass die (wahre)
schen 0,4 Prozent (Gangelt; Heinsberg- struktur und dem Casemix (Komorbidi-          SARS-CoV-2 Infektionssterblichkeit in
Studie) [2] und 0,8 Prozent (München; tät) der Bevölkerungen in Verbindung           Deutschland bei 0,5 Prozent liegt und
KoCo19) [3]. In Spanien erreichte sie auf gebracht wurde. Beide Annahmen             die Ansteckungsrate für SARS-CoV-2
der Basis eines national repräsentati- konnten in zwei Metaanalysen bestä-           bei Nicht-Verfügbarkeit effektiver Ge­­
ven Serosurveys einen Wert von 0,8 tigt werden [7, 8].                               genmaßnahmen 2,5 beträgt (Basisre-
Prozent [4]. In einer Meta-Analyse, in                                               produktionszahl R0), wäre bezogen auf

Ärzteblatt Sachsen 2|2021                                                                                                      9
COVID-19: Nur eine Grippe oder doch mehr?
CORONA-PANDEMIE

 die deutsche Bevölkerung (circa 83,5            damit zusammenhängen, dass am                       erhebliche Untererfassung vor, dies gilt
 Millionen Personen) bis zur Erreichung          Anfang der Pandemie vorwiegend die                 sowohl für die Erfassung von Fällen als
 der Herdenimmunitätsschwelle (1-1/R0           „schweren Erkrankungsfälle“ getestet                auch von Todesfällen. Die gängige Pra-
 = 0,6) mit mindestens 249.000 Todes-            wurden (confer Einleitung).                        xis ist, dass Grippe-Erkrankungen vor-
 fällen zu rechnen (0,005*83.500*0,6 =          Zum 15. Januar 2021 lag die Fallsterb-              nehmlich rein klinisch diagnostiziert
 249.000).                                       lichkeit für Deutschland und Sachsen               werden und Influenza häufig nicht als
                                                 dann wieder deutlich höher als Anfang              Todesursache angegeben wird, selbst
 Trotz aller methodischen Probleme,              Dezember 2020, weil über die Weih-                  dann, wenn eine labordiagnostische
 was die Schätzung der Fallsterblich-            nachtstage wieder weniger und vor                  Bestätigung vorliegt. Befragungen er­­
 keitsstatistik betrifft, ist diese Statistik    allem die symptomatischen Fälle ge­­               gaben, dass Influenza-assoziierte Todes­
 ein erster und wichtiger Indikator so­­         testet wurden (Gesamtdeutschland:                  ­fälle vor allem der Gruppe der respira-
 wohl zur Beschreibung eines akuten              2,2 Prozent, Sachsen: 2,9 Prozent, Stadt           torischen Todesursachen zugeordnet
 Infektionsgeschehens als auch zur               Leipzig: 1,6 Prozent, Landkreis Sächsi-            werden. Aber auch hinter kardiovasku-
 Grobbeurteilung der Effektivität einge-         sche Schweiz-Osterzgebirge: 4,5 Pro-                lären Todesursachen verbergen sich
 leiteter Interventionsmaßnahmen. Ins-           zent) [10, 11].                                    Influenza-assoziierte Todesfälle [14].
 besondere Analysen in kurzen und län-                                                              Auf Grund dieser Problematik wird in
 geren Zeitabschnitten einer Pandemie           Das Fehlen einer einheitlichen Syste-               Deutschland, wie auch in vielen ande-
 (täglich, einmal pro Woche beziehungs-         matik bei der Meldung beziehungs-                   ren Ländern, seit vielen Jahren die
 weise einmal im Monat) können auf              weise Dokumentation von Erkrankun-                  Influenza-assoziierte Sterblichkeit über
 mögliche Probleme im Zugang zur Ge­­           gen und Todesfällen erschwert Risiko-                die Exzess-Mortalität geschätzt. Die
 sundheitsversorgung oder in der Quali-         vergleiche zwischen Infektionen mit                 Exzess-Mortalität errechnet sich als
 tät der Gesundheitsversorgung hinwei-          SARS-CoV-2 und Influenza-Viren bezie-               Differenz zwischen der Gesamtzahl
 sen, während stratifizierte Analysen           hungsweise anderen Gesundheitsrisi-                 aller Todesfälle, die während einer Grip-
 erste Hinweise auf mögliche Einfluss-          ken [13]. So liegt bei Grippe-Erkrankun-            pewelle auftreten, und einer aufgrund
 faktoren auf die Sterblichkeit, wie Alter,     gen im Vergleich zu COVID-19 eine                   zurückliegender Jahre angenommenen
 Geschlecht oder Komorbidität, geben
 können [9].

 Die Fallsterblichkeit von COVID-19-Er-
 krankten liegt deutlich über der Infekti-
 onssterblichkeit. Mit Stand 9. Dezem-
 ber 2020 lag die Fallsterblichkeit für
 COVID-19 bezogen auf Gesamt-
 Deutschland bei 1,7 Prozent, für Italien
 bei 3,5 Prozent, für Frankreich bei
 2,4 Prozent [10]. Für Sachsen betrug sie
 1,9 Prozent, für die Stadt Leipzig
 0,8 Prozent, für den Landkreis Sächsi-
 sches Osterzgebirge 2,3 Prozent [11].
 Laut Medienberichten beruht die er­­
 höhte Fallsterblichkeit im Landkreis
 Sächsische Schweiz-Osterzgebirge auf
 COVID-19-assoziierten Todesfällen, die
 hauptsächlich in Pflegeheimen aufge-
 treten sind [12]. Der Anfang Dezember
 errechnete (rohe) Fall-Verstorbenen-
 Anteil liegt damit deutlich unter den
 Schätzungen am Beginn der Pandemie,
 die etwa um den Faktor 2 bis 3 höher           Letalitätsraten beim Corona-Virus (COVID-19) in den am stärksten betroffenen Ländern
 lagen [13]. Dies dürfte insbesondere           (Stand: 15. Januar 2021), Quelle: Johns Hopkins University © Statista 2021

10                                                                                                                             Ärzteblatt Sachsen 2|2021
CORONA-PANDEMIE

Zahl an Todesfällen ohne eine übliche        zwischen 0 – 13 Todesfällen pro             hortenstudie unterstrichen, die das
 Grippewelle im Hintergrund [14].            100.000 labordiagnostisch bestätigten       Sterberisiko von COVID-19-Kranken-
 Schon zu Beginn der ersten Welle der        Fällen beziehungsweise die Infektions-      hauspatienten mit dem Sterberisiko
 Corona-Pandemie prognostizierte das         sterblichkeit zwischen 1 – 10 Todesfäl-     von Patienten verglich, die wegen einer
 Robert Koch-Institut (RKI) eine zehn-       len pro 100.000 Infektionen. Somit lie-     saisonalen Influenza zwischen 2017
 mal höhere Wahrscheinlichkeit an einer      gen die Schätzungen zur Sterblichkeit       und 2019 in ein Hospital überwiesen
 SARS-CoV-2-Infektion zu versterben          im Kontext der Schweinegrippe etwa          wurden. Das Sterberisiko lag bei den
 als an einer Grippe. Die Sterblichkeit      um ein Hundertstel niedriger als die        COVID-19-Patienten fast fünfmal höher
 von COVID-19-Erkrankten läge zwi-           aktuellen Schätzungen zur Fall- bezie-      (Hazard-Ratio: 4,97) als bei den Influ-
 schen ein bis zwei Prozent, die Sterb-      hungsweise Infektionssterblichkeit bei      enza-Patienten [18].
 lichkeit von Grippe-Erkrankten im Rah-      COVID-19-Erkrankten beziehungsweise
 men einer üblichen saisonalen Grippe        SARS-CoV-2-Infizierten (siehe oben).     Die SARS-CoV-2-Sterblichkeit dürfte
 bei 0,1 bis 0,2 Prozent [15]. Die Autoren                                            auch höher liegen als die Sterblichkeit
 des oben genannten spanischen Sero-         Trotz der derzeit noch nicht hinreichend der asiatischen (A(H2N2)) und der Hong-­
 surveys [4] kamen zum selben Risiko-        verlässlichen Datenlage zur SARS- Kong-Grippe (A(H3N3)), mit Ausnahme
 verhältnis, wobei sie sich auf die Infek-   CoV-2-Infektion und vieler methodi- natürlich der Spanischen Grippe, die
 tionssterblichkeit und Daten der Influ-     scher Herausforderungen, die sich bei wiederum um ein Vielfaches höher liegt
 enza-Welle 2019/2020 der US-Behörde         Vergleichen von Infektionserkrankun- als die SARS-CoV-2-Sterblichkeit [14, 19].
„Centers for Disease Control und Preven-     gen untereinander ergeben, ist davon                                                  
 tion“ bezogen [16]. Chinesische Wis­sen­    auszugehen, dass die Wahrscheinlich-
 schaftler untersuchten in einem syste-      keit an einer SARS-CoV-2-Infektion zu
                                                                                                    Literatur unter www.slaek.de ➝
 matischen Review die Fall- und Infekti-     versterben um ein Vielfaches höher                             Presse/ÖA ➝ Ärzteblatt
 onssterblichkeit während der Schwei-        liegt, als bei einer üblichen saisonalen
 negrippe (Influenza A (H1N1pdm09))          Influenza. Diese These wird auch durch                       Dr. med. Thomas Brockow
                                                                                                                  Leiter des Referats
 [17]. Auf der Basis der weltweit verfüg-    die Ergebnisse einer aktuell publizier-         „Medizinische und ethische Sachfragen“
 baren Surveys lag die Fallsterblichkeit     ten, hochwertigen retrospektiven Ko­­                      E-Mail: t.brockow@slaek.de

                                                                                                                           Anzeige

     Junge Ärzte in
     der Region
     Ein neuer Film von

     www.aerzte-fuer-sachsen.de

Ärzteblatt Sachsen 2|2021                                                                                                            11
Sie können auch lesen