Krieg und Frieden, Schuld und Unschuld: Luftangriffe in japanischen Zeichentrickfilmen (Anime) OAG Tokyo 10. März 2021 - Joachim Alt

Krieg und Frieden, Schuld und Unschuld:
    Luftangriffe in japanischen Zeichentrickfilmen (Anime)

                         OAG Tokyo

                        10. März 2021

Joachim Alt

Anime
• Keine feste Definition
• “japanische Zeichentrickfilme”
• verwendete Definition
    ➢überwiegend aus japanischen Quellen finanziert
    ➢Regie (Storyboard etc.), Schlüssebildanimation usw. unter japanischer Leitung
    ➢Fokus auf „Zeichentrick“
        • Nicht Bewegtbildaufnahmen von Bilderbüchern etc.
        • Maximal teilweise (

Japans Weltkrieg definieren
 • Auch hier, tatsächlich keine feste Definition!
 • Nach Kriegsende “Neudefinition” durch westliche Alliierte (vor allem USA)
     ➢Japan als “Bastion gegen Kommunismus in Asien”
     ➢Umbenennung von Dai Tōa Sensō (Großer Ostasienkrieg) in Taiheiyō Sensō (Pazifikkrieg)
     ➢Verlagerung der Aufarbeitung hin zu Kampfhandlungen mit den USA (ab Angriff auf Pearl
       Harbor, 7. Dezember 1941)
     ➢Verbot von Veröffentlichungen mit Darstellungen von durch alliierte Truppen verursachte
       Schäden bis Ende der Besatzung (1952, außer Okinawa)
 • Startpunkt des Dai Tōa Sensō strittig: Mukden-Zwischenfall (18. September 1931) oder
   Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke (7. Juli 1937)
 • Da keine Kriegserklärung nach Mukden-Zwischenfall (auch Gründung von Mandschukuo nicht
   international sanktioniert), Annahme von Kriegsbeginn 1937
 • Kriegsende am 2. September 1945 (Ende der Kampfhandlungen am 15. August)

Japans Weltkrieg verstehen
 • Gründe für Expansionismus unter anderem in europäischem Kolonialismus in Asien und
   gewaltsamer Öffnung Japans durch die USA
 • Verschiedene Bestrebungen
     ➢Sicherung der eigenen Souveränität
     ➢Ausbau der eigenen Machtposition
        • Kolonisierung von Hokkaido
        • Eingliederung von Okinawa
        • 1. Sino-Japanischer Krieg (Zugewinn Taiwan)
        • Russo-Japanischer Krieg (Zugewinn Korea und Sachalin, Häfen in China)
        • Beteiligung 1. Weltkrieg (Zugewinne in China + Saipan – ehem. Deutsche Kolonien)
     ➢„Kampf der Kulturen“ und Konter-Expansionismus
        • Marionettenstaat Mandschukuo
        • Schaffung der Großostasiatischen Wohlstandssphäre

Mal angenommen es stimmt...
• Japanischer Konter-Expansionismus zur Befreiung Asiens von europäischer Kolonialherrschaft
       ➢Sympathien für Japan in Teilen Asiens (Indien, Indonesien, teils auch Thailand, Vietnam
         und Taiwan)
       ➢Interesse der ABCD-Mächte an „Unterwerfung“ Japans
       ➢Öl-Embargos gegen Japan in Folge der Kampfhandlungen in China

• Konstrukt eines Verteidigungskriegs (politisch „konservativer“ Standpunkt) wird realistisch

Geschichte und Gedächtnis
 • Geschichte als kontrolliertes Narrativ
     ➢Geschichte ist nicht Vergangenheit, sondern editierte Anordnung von Ereignissen
     ➢Ein wesentlicher Faktor bei der Schaffung nationaler Identität
     ➢„Sieger schreiben Geschichte“

 • Gedächtnis als Verinnerlichung von Erlebnissen
     ➢Kann individuell oder kollektiv sein
     ➢Muss nicht auf eigenen Erlebnissen basieren
     ➢Entsteht nicht selektiv, kann aber beeinflusst werden

 • Geschichte und Gedächtnis nicht gleich, aber miteinander verbunden
     ➢Geschichte ohne Gedächtnis?

Wo haben Japaner den Krieg erlebt?1
 • Bevölkerung Japans (Hokkaido bis Okinawa) bei Kriegsende: ca. 71,3 Millionen
     ➢1941 ca. 74 Millionen
     ➢ca. 2,7 Millionen Kriegstote (davon ca. 1,74 Millionen Militär)
 • Japanische Staatsangehörige außerhalb Japans bei Kriegsende: ca. 6,5 Millionen
     ➢davon Militär: ca. 3,5 Millionen
     ➢davon Zivilisten : ca. 3 Millionen
     ➢In China: ca. 2,6 Millionen
     ➢In der Mandschurei: ca. 1,1 Millionen
 • Japanische Staatsangehörige außerhalb Japans im September 1946: ca. 2 Millionen
     ➢Verbleib ungeklärt (lt. japanischer Regierung): ca. 0,54 Millionen
     ➢Frühjahr 1949: 300.000 Japaner in russischer Kriegsgefangenschaft „verschwunden“
 • Anteil der Japaner, die Kriegsende in Japan erlebt haben: ca. 92 - 93 % der Bevölkerung
                                                                                  1   Zahlen gem. Dower (1999), 45-53

Wie haben Japaner / wie hat Japan den Krieg erlebt?
 • China / Mandschurei: ab August 1945 russische Bodenoffensive, Flucht / Vertreibung /
   Gefangenschaft, davor kaum Berührung für Zivilbevölkerung
 • Koreanische Halbinsel: auch vor 1945 Widerstandsbewegung / regional Kampfhandlungen, ab
   August 1945 Umkehr Kräfteverhältnis, mit russischer Offensive Flucht / Vertreibung /
   Gefangenschaft / Internierung
 • Taiwan: kaum Berührung für Zivilbevölkerung
 • Saipan und Okinawa: ab 1944 „gemäßigte“ Luftangriffe, dann Bombardement von See, übergang
   in blutige Landung (Okinawa auf japanischer Seite: ca. 110.000 Militär, 30.000
   Zwangsverpflichtete, 100.000 oder mehr Zivilisten tot)
 • Hauptinseln (ohne Hokkaido): 1942 Doolittle Raid (kaum strategischer Wert), ab Ende 1944
   sporadische Luftangriffe, ab März 1945 systematische und großangelegte Luftangriffe, meiste
   Verluste in Tokyo (10.3., ca. 100.000) und Hiroshima (6.8., ca. 100.000 direkt)
 • Hokkaido und Kurilen: sporadische Luftangriffe, dann russische Landung (Kurilen) - Vertreibung

Unterm Strich
 • Mehrheit der Zivilbevölkerung (Bewohner Hauptinseln) bis 1945 weitgehend von
   Kampfhandlungen unberührt
 • Geringer Anteil an Truppen (mit Gefechtserlebnissen UND zurückgekehrt) an
   Nachkriegsbevölkerung
 • Truppen grundsätzlich erwachsene Männer (dementsprechend Heimatfront: Frauen, Kinder)
 • Okinawa als relativ am härtesten getroffene Region bis 1972 unter US-Verwaltung

          Gegend um Asakusa am Morgen des 10. März 1945

Die „Opferperspektive“
 • Ab 1953 Aufarbeiten der Atombombenabwürfe
 • Auch nach Rückgabe an Japan kaum zunächst kaum Aufarbeitung Okinawa
 • „Wiedererleben“ des Kriegs durch den Vietnamkrieg
     ➢Scharfe internationale Kritik an USA in Vietnam, obwohl bei ähnlicher Kriegsführung gegen
       Japan gebilligt
     ➢Abhebung durch Atombombenabwürfe („competitive victimhood“)
 • Gesellschaftliche und mediale Verarbeitung des Kriegs verlagert Fokus auf 1945/46, Schäden
   und Opfer durch Luftangriffe, sowie Leiden in der Nachkriegszeit

Kritik an der „Opferperspektive“
 • Verschärfter Ausblick auf japanische Wirtschaftsexpansion
   vor allem in den 1980ern in englischsprachigen Ländern
     ➢USA / Vereinigtes Königreich neben China primäre
       Kriegsgegner Japans („Pazifikkrieg“)
 • Vor dem Hintergrund des Endes des Kalten Kriegs, Kritik an
   japanischer Erinnerungskultur zum 2. Weltkrieg als
   Vorwand für Kritik an Wirtschaftsexpansion
     ➢Selbstdarstellung als Opfer, beispielsweise Filme
       behandeln nicht japanische Expansion in China
 • Annahme der Japan-Kritik auch in akademischen Kreisen

Der Krieg in Anime
 • Aufkommen von Anime zum 2. Weltkrieg in den 1970ern
     ➢Animentarī Ketsudan (1971), Schlachtfeld-Chroniken
 • Privatprojekt Pikadon (1978), Ausschnitt aus Leben in Hiroshima am 6.8.1945
     ➢Einfluss von Manga Hadashi no Gen (Barfuß durch Hiroshima) und Spielfilm Hiroshima (1953)
       erkennbar
 • Erster Titel in Spielfilmlänge Tsushima Maru – Sayonara Okinawa (1982), Tragödie um
   Schulkinder-Evakuierung
 • Mainstream-Einschlag mit Hadashi no Gen (1983), Atombombenabwurf auf Hiroshima
     ➢Wiederum deutlich von Pikadon beeinflußt
 • Hotaru no Haka (Die letzten Glühwürmchen, 1988), Drama vor Hintergrund der Luftangriffe auf
   Kobe
 • Zeitlicher Schwerpunkt weiterer Neuerscheinungen zwischen 1988 und 1993

Die selbstverständliche Opferperspektive in Anime
 • Bis in die frühen 2000er nur wenig akademische
   Aufmerksamkeit gegenüber Anime
 • Außerhalb Japans nur kaum Zugang zu erschienen Titeln
 • Am weitesten verbreitete Literatur: Susan J. Napier,
   „Anime from Akira to Princess Mononoke“ (2001) bzw.
   „Anime from Akira to Howl’s Moving Castle“ (2005)
     ➢Kapitel 11: Hadashi no Gen & Hotaru no Haka
     „The two most famous anime dramas concerning World War
     II, Mori Masaki’s [Hadashi no Gen ...] and Takahata Isao’s
     [Hotaru no Haka ...] share the collectivity of the Japanese
     memory as well as individual autobiographical accounts of
     personal suffering.“ (217)
     „Centered on the 1940s, the two films fit into victim’s
     history in certain obvious ways.“ (218)

Wie Anime den Krieg darstellen
 • Beobachtungen anhand von 32 Titeln (Serien, Filme, Kurzfilme usw., unabhängig von
   Produktionszielen wie Unterhaltung oder Erziehung):
     ➢Fokus der Darstellungen in Anime liegt tatsächlich auf 1945
     ➢Thematischer Schwerpunkt zum Kriegsgeschehen sind in der Regel Luftangriffe
     ➢Durch Luftangriffe häufig Waisenkinder
     ➢Häufig Nahrungsmittelknappheit
     ➢„Feind“ oft nur als Maschinen
     ➢Oft technologischer Vergleich

Einheitsbrei?
 • Portfolio zeigt alle 32 Titel
 • X-Achse:
     ➢Anteil japanischer Opfer in
       Darstellungen + Zeit / Ort
     ➢Fokus auf Japan (+)
     ➢Fokus außerhalb Japans (-)
 • Y-Achse:
     ➢Japan als Aggressor + Darstellung
       des „Feinds“
     ➢Japan als Aggressor (+)
     ➢Unmenschlicher Feind (-)

Standortbestimmung

Titel mit Luftangriffen

Auf der Karte

Zeitpunktbestimmung

Langfristiger Einfluss
 • Beobachtung einzelner Details lässt Einfluss von Hadashi no Gen und Hotaru no Haka vermuten

Bilder im Wandel
 • Filme bewegen sich langsam aber
   erkennbar hin zur Mitte des Modells
 • Seit 1990 kein einzelstehender neuer
   Titel in der rechten unteren Ecke des
   Modells
 • Alle einzelstehenden Titel seit 2000 vor
   allem auf der Y-Achse im Wandel

 • Ausrichtung auf japanische Kriegsopfer
   hat Bestand

Opfermentalität oder Opferbewusstsein?
 • 24 Titel beinhalten oder befassen sich mit Luftangriffen auf Japan
     ➢14x Angriffe mit Brandbomben (mehrere Tokyo, Fukuoka, Kobe, Kure, Kumagaya, andere)
     ➢9x Atombombenabwürfe (8x Hiroshima, 1x Nagasaki)
     ➢7x Tiefflieger-Angriffe (ausschließlich Honshū)

 • Unterschied zwischen Geschichte und Gedächtnis
     ➢Geführter Krieg: expansionistisch (Geschichte), erlebt von 3,5 Mio. Soldaten an der Front
     ➢Erlebter Krieg: defensiv (Gedächtnis), erlebt von über 60 Mio. Zivilisten in Japan
     ➢Wichtigstes Erlebnis im Krieg an der Heimatfront: Luftangriffe

 • Wichtiger Wechsel in Anime: ab 1990ern, mehr Darstellungen von japanischen Schicksalen
   außerhalb Japans (Korea, Mandschurei)

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

Referenzen
Literatur
Dower, John W. Embracing Defeat: Japan in the Wake of World War II. New York: The New Press, 1999.
Napier, Susan J. Anime from “Akira” to “Howl’s Moving Castle”: Experiencing Japanese Animation. New York: Palgrave MacMillan, 2005.

Anime
アニメンタリー決断（1971）Animentarī Ketsudan (Decision)
蒼い記憶 ー              満蒙開拓と少年たち（1993）Aoi Kioku – Manmō Kaitaku to Shōnentachi (n/a)
あした元気にな～れ！～半分のさつまいも（2005）Ashita genki ni nāre! – Hanbun no Satsuma imo (n/a)
はだしのゲン（1983）Hadashi no Gen (Barfuß durch Hiroshima)
火の雨が降る（1988）Hi no Ame ga furu (Rain of fire)
火垂るの墓（1988）Hotaru no Haka (Die letzten Glühwürmchen)
かんからさんしん（1989）Kankara Sanshin (n/a)
この世界の片隅に（2016）Kono Sekai no Katasumi ni (In this Corner of the World)
クロがいた夏（1990）Kuro ga ita Natsu (n/a)
ピカドン（1978）Pikadon (n/a)
戦争童話集（2002-2009）Sensō Dōwa Shū (n/a)
ザ・コクピット（1993）The Cockpit (The Cockpit)
対馬丸 ー さようなら沖縄（1982）Tsushima Maru – Sayōnara Okinawa (n/a)
うしろの正面はだあれ（1991）Ushiro no Shōmen ha dāre (Kayoko‘s Diary)