Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern

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Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen
Straftätern
Eine kritische Würdigung der Debatte um Art. 36 JStG

    LISA REGGIANI

    Zitiervorschlag

    REGGIANI, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern,
    in: cognitio 2021/1.

    URL: cognitio-zeitschrift.ch/2021-1/Reggiani

    DOI: 10.5281/zenodo.4443026

    ISSN: 2624-8417

        Creative Commons – Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International
Kurze Verjährungs-
fristen bei jugendlichen
Straftätern                                                      A. Allgemein                                   4
                                                                 B. Erziehungsmodell und
Eine kritische Würdigung der                                     Täterstrafrecht                                4
Debatte um Art. 36 JStG                                          C. Neutralisierungstechniken                   5
                                                                 D. Weiterentwicklung                           6
    LISA REGGIANI
                                                                 E. Weitere Gründe                              6
    Trotz scharfer Kritik seitens der Lehre steht            IV. Fristenlauf                                    7
    Art. 36 JStG erneut vor einem Umbruch. So soll
    die von der Praxis langersehnte Rechtsprechung des           A. Anwendung von Art. 97 Abs. 3 StGB
    Bundesgerichtes Einzug in die Bestimmung finden.             im Jugendstrafrecht                  7
    Der vorliegende Beitrag zeigt auf, was die Hinter-           B. Bundesgerichtsentscheid: echte
    gründe kurzer Verjährungsfristen im Jugendstraf-             Gesetzeslücke                                  7
    recht sind und weshalb die Kodifizierung des bundes-     V. Beschleunigungsgebot                          10
    gerichtlichen Urteils kritisch betrachtet werden muss.
                                                                 A. Bedeutung im Bezug zur Verjährung 10
    Inhaltsübersicht                                             B. Verfahrensdauern der
                                                                 Jugendstrafverfahren in der Schweiz          11
    I. Einleitung                                       1
                                                             VI. Ausblick                                     12
    II. Allgemeines                                     2
                                                             VII. Zusammenfassung und Fazit                   13
        A. Begriff                                      2
        B. Verjährung bei schweren Straftaten           2
          1. Fristverlängerung                          2
          2. Unverjährbarkeit                           3
                                                             I. Einleitung
    III. Gründe für kurze Verjährungsfristen                 Im Rahmen der Einführung des neuen Ju-
    bei Jugendlichen                                    4    gendstrafgesetzes im Jahre 2007 blieb auch
                                                             die Verfolgungsverjährung1 vor einer radika-
    
         Dieser gekürzte Beitrag wurde als Bachelorarbeit
                                                             len Änderung nicht verschont. Als Folge
         im Rahmen des Seminars «Jugendstrafrecht»           davon wurden die Verjährungsfristen mit
         von Prof. Dr. Christian Schwarzenegger und
         Dr. Gian Ege im Herbstsemester 2020 an der
         Universität Zürich verfasst.                        1    Im Folgenden wird der Begriff der Verfolgungs-
         Für Rückfragen wenden Sie sich bitte an:                 verjährung der Verständlichkeit halber durchge-
         lisa.reggiani@bluewin.ch.                                hend als Verjährung bezeichnet.

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cognitio 2021/1                                        Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern

Art. 36 JStG stark herabgesetzt. Diese                 führt.6 Davon abgegrenzt wird die in Art. 37
kurzen Fristen können in Anbetracht der                JStG geregelte Vollstreckungsverjährung,
Nachbarstaaten wie beispielsweise Deutsch-             welche an ein bereits vollstreckbares Urteil
land oder Österreich, aber auch im Vergleich           anknüpft und den Zeitablauf nach einer rich-
zur bisherigen Rechtslage geradezu als No-             terlichen Beurteilung bestimmt.7 Während
vum bezeichnet werden.2 Zurückzuführen                 erstere die Strafverfolgung und das Ausfällen
sind die Anpassungen vor allem auf das Ziel,           einer Strafe verhindert, unterbindet letztere
das neue Jugendstrafrecht einem Täterstraf-            den Vollzug der rechtskräftig ausgesproche-
recht3 weiter anzunähern. Dennoch erging               nen Strafe.8
2017 ein Bundesgerichtsurteil4, welches
                                                       Indes orientiert sich die Verjährungsfrist an
diesen Prinzipien widerspricht und zu einer
                                                       der im Erwachsenenstrafrecht vorgesehenen
Kontroverse in Literatur sowie Praxis führ-
                                                       Trichotomie der Straftaten: Verbrechen,
te.5
                                                       Vergehen und Übertretungen. Hierbei sieht
Ein Schwerpunkt dieses Beitrags liegt in der           das Jugendstrafrecht aber vergleichsweise
Beleuchtung der Hintergründe kurzer Ver-               kurze Fristen vor. Mithin massgebend ist die
jährungsfristen bei Jugendlichen sowie                 abstrakte Strafdrohung, also die vorgesehene
eröffneten Problembereichen und Relativie-             Höchststrafe im Erwachsenenstrafrecht.
rungen, die mit Art. 36 JStG einhergehen.              Insofern verjähren alle Verbrechen i.S.v.
Ein weiterer Fokus wird auf die Auswirkun-             Art. 10 Abs. 2 StGB nach fünf Jahren. Bei
gen der Anwendung von Art. 97 Abs. 3                   Vergehen i.S.v. Art. 10 Abs. 3 StGB, welche
StGB im Jugendstrafrecht gelegt, wobei                 eine abstrakte Höchststrafe von drei Jahren
gleichzeitig ein kritischer Blick auf die              Freiheitsstrafe aufweisen, gilt eine Verjäh-
bundesgerichtliche Rechtsprechung                      rungsfrist von drei Jahren. Demgegenüber
geworfen wird. In einem nächsten Schritt               beträgt die Verjährungsfrist bei allen anderen
wird das Problem langer Verfahren im Ju-               Vergehen sowie bei Übertretungen i.S.v.
gendstrafrecht in Anlehnung an das Be-                 Art. 103 StGB lediglich ein Jahr.9 Ferner
schleunigungsgebot veranschaulicht und mit             gelangen bei Delikten gegen unter 16-Jährige
effektiven Zahlen in Relation gesetzt.                 gesonderte Verjährungsfristen nach Art. 36
                                                       Abs. 2 JStG zur Anwendung.10

II. Allgemeines                                        B. Verjährung bei schweren Straftaten

A. Begriff
                                                       1. Fristverlängerung
Die Verfolgungsverjährung nach Art. 36
                                                       Eine Sonderstellung nimmt Art. 36 Abs. 2
JStG kann definiert werden als Ablauf einer
                                                       JStG ein: Für schwere Straftaten, die an
bestimmten Zeit seit Begehung der Straftat,
                                                       Kindern unter 16 Jahren begangen wurden,
was zur Einstellung der Strafverfolgung
                                                       finden die ordentlichen Fristen keine An-

                                                       6    AEBERSOLD PETER, Schweizerisches Jugend-
2   Sowohl gemäss bisheriger Rechtslage (Art. 70            strafrecht, 3. Aufl., Bern 2017, N 645.
    aStGB) wie auch im deutschen (§ 78 StGB) und       7    AEBERSOLD (Fn. 6), N 655.
    österreichischen Recht (§ 57 StGB) richtet sich    8    RIEDO CHRISTOF, Jugendstrafrecht und Jugend-
    die Verjährungsfrist bei Jugendlichen nach dem          strafprozessrecht, Basel 2013, N 2572 ff.
    Erwachsenenstrafrecht. Dies führt im Vergleich     9    RIEDO (Fn. 8), N 2590.
    zum geltenden Recht in der Schweiz zu deutlich     10   RIESEN-KUPPER MARCEL, in: Donatsch Andre-
    längeren Fristen für jugendliche Straftäter.            as (Hrsg.), StGB/JStG Kommentar, Mit weite-
3   Auf den Begriff wird in III.B näher eingegangen.        ren Erlassen und Kommentar zu den Strafbe-
4   BGE 143 IV 49.                                          stimmungen des SVG, BetmG und AuG/AIG,
5   Vgl. hinten, IV.B.                                      20. Aufl., Zürich 2018, N 2 f. zu Art. 36 JStG.

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wendung. Stattdessen wird die Verjährung                 keit findet durch Art. 101 Abs. 2 StGB statt.
bis zur Vollendung des 25. Altersjahres des              So kann gemäss der fakultativen Strafmilde-
Opfers verlängert. Die betreffenden Delikte              rung das Gericht die Strafe nach freiem Er-
sind abschliessend aufgezählt und lehnen                 messen mildern, sofern die Straftat nach
sich im Grundsatz an Art. 97 Abs. 2 StGB                 den ordentlichen Fristen von Art. 36 JStG
an. Nicht davon erfasst ist der Tatbestand               bereits verjährt wäre.14 Zweifelhaft bleibt
der sexuellen Handlungen mit Kindern                     dennoch die praktische Relevanz dieser
(Art. 187 StGB) sowie der sexuellen Hand-                Schwerstverbrechen im Jugendstrafrecht; so
lungen mit Abhängigen (Art. 188 StGB). Bei               dürfte wohl kaum je ein Jugendlicher eines
diesen Delikten wurde von einer Fristverlän-             dieser Delikte begehen beziehungsweise für
gerung abgesehen, weil sexuelle Handlungen               ein solches verurteilt werden.15
zwischen Minderjährigen als weniger
                                                         Ausgenommen von der Unverjährbarkeit ist
schwerwiegend qualifiziert werden als die
                                                         Art. 101 Abs. 1 lit. e StGB (Art. 1 Abs. 2
übrigen aufgelisteten.11
                                                         lit. j JStG e contrario).16 Diese Bestimmung
Die Gründe für die Verlängerung der Fristen              hat ihren Ursprung in der Umsetzung von
bei Delikten gegen unter 16-Jährige liegen               Art. 123b BV anlässlich der Annahme der
im Gedanken des Opferschutzes: Das be-                   Unverjährbarkeitsinitiative durch das
troffene Kind kann oftmals erst im Erwach-               Stimmvolk am 30. November 2008. So sind
senenalter und nach dem Wegfall eines mög-               pornographische Straftaten an Kindern un-
lichen Abhängigkeitsverhältnisses über das               verjährbar, sofern sie von einer erwachsenen
Delikt reden und es zur Anzeige bringen.                 Straftäterin begangen wurden.17 Im erläu-
Dies führt dazu, dass die nun erwachsenen                ternden Bericht des Eidgenössischen Justiz-
Straftäter vor dem Jugendgericht zur Ver-                und Polizeidepartements wird die Nichtan-
antwortung gezogen werden, wobei die als                 wendung des Artikels bei jugendlichen Straf-
Minderjährige begangenen Straftaten auch                 tätern mit der unterschiedlichen Philosophie
nur jugendstrafrechtlich sanktioniert werden             von Erwachsenen- und Jugendstrafrecht
können.12                                                begründet.18 Ergänzend trägt Art. 36 Abs. 2
                                                         JStG durch die bereits verlängerte Frist bei
2. Unverjährbarkeit                                      schweren Delikten an Kindern dem Gedan-
                                                         ken der Volksinitiative genügend Rech-
Durch einen Verweis in Art. 1 Abs. 2 lit. j              nung.19
JStG findet Art. 101 Abs. 1 lit. a bis d und
Abs. 2 StGB auch im Jugendstrafrecht An-
wendung. Infolgedessen tritt bei Völker-                 14   ZURBRÜGG MATTHIAS, in: Niggli Marcel
mord (Art. 264 StGB), Verbrechen gegen                        A./Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommen-
                                                              tar, Strafrecht I, Art. 1–136 StGB, 4. Aufl., Basel
die Menschlichkeit (Art. 264a Abs. 1 und 2                    2019, N 18 zu Art. 101 StGB.
StGB), Kriegsverbrechen (Art. 264c–h StGB)               15   RIEDO (Fn. 8), N 2628.
sowie bei schweren Terrorakten die Verjäh-               16   Bundesrat, Botschaft zum Bundesgesetz zur
rung bei jugendlichen Straftäterinnen nicht                   Umsetzung von Artikel 123b der Bundesverfas-
                                                              sung über die Unverjährbarkeit sexueller und
ein.13 Eine Entschärfung der Unverjährbar-                    pornographischer Straftaten an Kindern vor der
                                                              Pubertät (Änderung des Strafgesetzbuches, des
11   HUG CHRISTOPH/SCHLÄFLI PATRIZIA/VALÄR                    Militärstrafgesetzes und des Jugendstrafgesetzes)
     MARTINA, in: Niggli Marcel A./Wiprächtiger               vom 22. Juni 2011, BBl 2011 5977 ff., S. 6003 f.
     Hans (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht I,       17   ZURBRÜGG (Fn. 14), N 13 zu Art. 101 StGB.
     Art. 1–136 StGB, 4. Aufl., Basel 2019, N 6 ff. zu   18   Vgl. vorne, III.B.
     Art. 36 JStG.                                       19   Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement,
12   BOHNET FRANÇOIS/JEANNERET YVAN, Le                       Erläuternder Bericht zur Änderung des Schwei-
     nouveau droit pénal des mineurs, Neuchâtel               zerischen Strafgesetzbuches und des Militärstra-
     2007, S. 25 f.                                           fgesetzes zur Umsetzung von Artikel 123b der
13   AEBERSOLD (Fn. 6), N 653.                                Bundesverfassung über die Unverjährbarkeit se-

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Schliesslich kann festgehalten werden, dass            rechts vom Erwachsenenstrafrecht kam es
die Kontroverse um die Unverjährbarkeit                jedoch zu einer massiven Verkürzung der
der in Art. 101 Abs. 1 lit. a bis d StGB auf-          Fristen. So kann ein merkliches Gefälle zwi-
geführten Delikte einen primär theoreti-               schen der Frist im Erwachsenenstrafrecht
schen Charakter aufweist. Dennoch ist auf-             von 15 beziehungsweise 30 Jahren bei Ver-
grund der Schwere der Delikte nachvoll-                brechen (Art. 97 Abs. 1 lit. a und b StGB)
ziehbar, warum diese auch im Jugendstraf-              im Vergleich zur fünfjährigen Frist für Ju-
recht nicht verjährbar sein sollen. Auch ist           gendliche festgestellt werden.22 Diese kurzen
eine Nichtanwendung der Unverjährbarkeit               Verjährungsfristen sind mit Blick auf andere
pornographischer Straftaten an Kindern im              Rechtsordnungen ein Novum. So wird bei-
Jugendstrafrecht einleuchtend. Ansonsten               spielsweise sowohl in Deutschland (§ 78
bestünde die Gefahr, dass jugendliche Straf-           StGB) als auch in Österreich (§ 57 StGB)
täterinnen trotz eines geringen Altersunter-           hinsichtlich der Verjährungsfristen auf das
schieds zum Opfer unter die Unverjährbar-              Erwachsenenstrafrecht verwiesen. Dies geht
keit fallen würden. Auch findet ein bestimm-           im Vergleich zur Schweiz mit längeren Fris-
ter Ausgleich durch die Fristverlängerung in           ten für jugendliche Straftäter einher. Eine
Art. 36 Abs. 2 JStG bereits statt.                     Begründung für die differenzierte Behand-
                                                       lung von erwachsenen und jugendlichen
                                                       Straftäterinnen durch das Schweizer Recht
III. Gründe für kurze Verjährungs-                     lässt sich in der Botschaft des Bundesrates
fristen bei Jugendlichen                               finden: Hiernach ist die Bestrafung eines
                                                       Jugendlichen bei zu langer Zeitspanne zwi-
A. Allgemein                                           schen Straftat und Sanktion in pädagogi-
                                                       scher und psychologischer Hinsicht proble-
Die Hintergründe des Verjährungsinstituts              matisch. In gewissem Masse relativiert wird
können auf verschiedene Theorien zurück-               dieser Aspekt durch das gesellschaftliche
geführt werden. Beispielsweise sehen einige            Bedürfnis nach einer Regelung, die bei
die Begründung in der Besserung des Tä-                schweren Straftaten den Schutzbedürfnissen
ters.20 Andere wiederum rechtfertigen den              der Allgemeinheit Rechnung trägt und somit
Untergang der Strafverfolgung mit dem                  auch im Sinne der positiven Generalpräven-
schwindenden Repressionsbedürfnis der                  tion die Integrität der Rechtsordnung beibe-
Gesellschaft oder den zunehmenden Be-                  hält.23
weisschwierigkeiten.21 Im Jugendstrafrecht
liegt die Begründung der Verjährung aber               B. Erziehungsmodell und Täterstraf-
nur bedingt in den allgemeinen Theorien. Im            recht
Fokus stehen vielmehr spezialpräventive
Gedanken.                                              In der rechtsvergleichenden Literatur ist es
                                                       üblich, das Jugendstrafrecht dem Erzie-
Vor der Einführung des Jugendstrafgesetzes
                                                       hungsmodell oder dem Justizmodell zuzu-
galten für minderjährige Straftäterinnen die-
selben Verjährungsfristen wie für volljährige.
Anlässlich der Abspaltung des Jugendstraf-
                                                       22   Bundesrat, Botschaft zur Änderung des Schwei-
     xueller und pornographischer Straftaten an Kin-        zerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine Best-
     dern vor der Pubertät, Bern 2010, S. 22 f.             immungen, Einführung und Anwendung des
20   FISCHER HUBERT, Die Strafverfolgungsverjäh-            Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu
     rung im deutschen und schweizerischen Strafge-         einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht
     setzbuch, Diss. Basel 1970, S. 8.                      vom 21. September 1998, BBl 1999 II 1979 ff.,
21   TRACHSEL ELISABETH, Die Verjährung gemäss              S. 2259.
     den Art. 70–75bis des Schweizerischen Strafge-    23   Botschaft Änderung Strafgesetzbuch (Fn. 22),
     setzbuches, Diss. Zürich 1990, S. 34 ff.               S. 2259 f.

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cognitio 2021/1                                      Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern

ordnen.24 Bei ersterem spielen die Person der        stärkte Tendenz in Richtung Erziehungsmo-
Jugendlichen und ihre Bedürfnisse eine zent-         dell auszumachen. Die neu eingeführten
rale Rolle, wobei Aspekte wie die Straftat           kurzen Verjährungsfristen versuchen das
oder das Verschulden in den Hintergrund              zeitliche Verhältnis von Straftat und Sankti-
gedrängt werden. Besonders therapeutische            onierung möglichst klein zu halten. Ziel ist
und erzieherische Ansätze sollen den Ju-             es, im Sinne des Täterstrafrechts in pädago-
gendlichen vor einer erneuten Begehung               gisch und erzieherisch geeigneter Weise auf
abhalten, indem die Sanktionen individuali-          den Jugendlichen einzuwirken, um ihn vor
siert werden. Die Entscheidungsträger ver-           weiteren Straftaten abzuhalten. Insofern ist
folgen pädagogische Ziele, um die Jugendli-          zur Erreichung der gewollten Wirkung eine
chen in spezialpräventiver Weise an das              zeitliche Begrenzung der Sanktionsausfäl-
Fehlverhalten hinzuführen. Auch das Straf-           lung unumgänglich.
verfahren selbst wird als Teil des Erzie-
hungsprozesses gewertet.25 Hingegen soll             C. Neutralisierungstechniken
sich das Jugendstrafrecht nach dem Justiz-
modell weitgehend am Erwachsenenstraf-               Rechtsprechung und Lehre sind sich einig,
recht orientieren. Hierbei wird an die Ver-          dass mit zunehmender zeitlicher Distanz die
antwortlichkeit der Jugendlichen appelliert,         erzieherische Wirkung der Sanktion auf die
um mithilfe der Sanktion als strafrechtliches        Jugendliche nachlässt.29 Zurückzuführen ist
Mittel den Straftäter einzuschüchtern.26             dies gemäss eines kriminologischen Ansatzes
                                                     auf die Anwendung von Neutralisierungs-
Primär spielte bei der Konzeption des neuen
                                                     techniken durch den Jugendlichen.30 Demzu-
Jugendstrafgesetzes der Gedanke des Täter-
                                                     folge versucht die adoleszente Straftäterin
strafrechts eine zentrale Rolle, was auch aus-
                                                     mit zunehmender zeitlicher Distanz zur Tat,
drücklich in der Botschaft des Bundesrates
                                                     das Auseinanderfallen zwischen negativem
erwähnt ist. Die Sanktionen dienen spezial-
                                                     Selbstbild und dem Wunsch nach Selbstak-
präventiven Zielen, indem sie sich nach den
                                                     zeptanz zu kompensieren. Um das innere
persönlichen Bedürfnissen des Kindes be-
                                                     Ungleichgewicht wiederherzustellen und
ziehungsweise der Jugendlichen richten und
                                                     eine Barriere zur Straftat aufzubauen, ten-
den minderjährigen Straftäter von der Bege-
                                                     diert der minderjährige Straftäter beispiels-
hung weiterer Delikte abhalten sollen.27 Die-
                                                     weise zur Bagatellisierung sowie Rechtferti-
ser Auffassung folgend muss die Sanktionie-
                                                     gung der Tat aber auch zu Schuldzuweisun-
rung nach Art und Mass der Individualität
                                                     gen an das Opfer.31 Folglich kann die Ju-
der jugendlichen Straftäterin angepasst
                                                     gendliche aufgrund der psychologischen
sein.28
                                                     Barriere nicht mehr individuell-präventiv
Im Hinblick auf die Verjährung im Jugend-            erreicht werden, weil eine Auseinanderset-
strafverfahren ist in der Schweiz eine ver-          zung mit der Tat und dem begangenen Un-
                                                     recht verhindert sowie eine drohende Sank-
24   JOSITSCH DANIEL/RIESEN-KUPPER MARCEL,
     Schweizerische Jugendstrafprozessordnung,       29   AEBERSOLD (Fn. 6), N 644 ff.; JO-
     Kommentar, 2. Aufl., Zürich/St. Gallen 2018,         SITSCH/RIESEN-KUPPER (Fn. 24), N 20 ff.;
     N 9.                                                 RIEDO (Fn. 8), N 2576 ff.; BGE 143 IV 49
25   AEBERSOLD (Fn. 6), N 253 ff.; JO-                    E. 1.7.2 S. 59.
     SITSCH/RIESEN-KUPPER (Fn. 24), N 9.             30   SYKES GRESHAM/MATZA DAVID, Techniken
26   AEBERSOLD (Fn. 6), N 257; JOSITSCH/RIESEN-           der Neutralisierung, Eine Theorie der Delin-
     KUPPER (Fn. 24), N 9.                                quenz, in: Sack Fritz/König Rene (Hrsg.), Kri-
27   Botschaft Änderung Strafgesetzbuch (Fn. 22),         minalsoziologie, Frankfurt am Main 1979,
     S. 2216.                                             S. 360 ff., S. 360.
28   STRATENWERTH GÜNTHER, Schweizerisches           31   DÖBERT RAINER/NUMMER-WINKLER GER-
     Strafrecht, Allgemeiner Teil I: Die Straftat,        TRUD, Adoleszenzkrise und Identitätsbildung,
     4. Aufl., Bern 2011, N 16 zu §3.                     Frankfurt am Main 1975, S. 101 ff.

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cognitio 2021/1                                          Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern

tionierung verharmlost wird. In Hinblick auf             folglich ungerecht behandelt fühlt, was zu
den Neutralisierungsvorgang geht also mit                nachteiligen Effekten führen kann.37
zunehmendem Zeitablauf und dem Verar-
                                                         Eine sozialpädagogische Reaktion, welche
beiten der Tat die spezialpräventive Wirkung
                                                         ihre Wirkung verfehlt und folglich nur ver-
der Bestrafung verloren.32 Aufgrunddessen
                                                         geltenden Charakter aufweist, widerspricht
besteht die Gefahr, dass das angestrebte
                                                         dem Wesen des schweizerischen Jugend-
Täterstrafrecht in ein vergeltendes Tatstraf-
                                                         strafrechts.38 Deshalb ist es auch aus ent-
recht umschlägt, da die Sanktion lediglich
                                                         wicklungspsychologischer Sicht zentral, dass
generalpräventiven Zwecken dient.33 In die-
                                                         die Strafe der Tat auf dem Fusse folgt, um
sen Überlegungen ist aber auch das Alter
                                                         eine Verhaltensänderung zu bewirken.
sowie die Schwere der Straftat zu berück-
sichtigen. Während bei älteren Jugendlichen
oder schweren Delikten die Tat emotional                 E. Weitere Gründe
länger fassbar bleibt, ist bei kleinen Kindern
oder Bagatelldelikten von einer kürzeren                 Zuzüglich zu den genannten Argumenten
wirkungsvollen Zeitspanne auszugehen.34                  kann das öffentliche Interesse bei Jugendde-
                                                         likten grundsätzlich als geringer eingeschätzt
                                                         werden, weil sie milder beurteilt und oftmals
D. Weiterentwicklung
                                                         als «Jugendsünde» betitelt werden.39 Hier ist
                                                         allerdings zu beachten, dass gerade bei
Die Adoleszenz stellt eine entwicklungspsy-
                                                         schweren Delikten das Verständnis der Ge-
chologische Umbruchphase dar, die sich in
                                                         sellschaft sehr gering ist. Besondere mediale
einem Neuorientierungsprozess des Jugend-
                                                         Aufmerksamkeit erregten beispielsweise der
lichen äussert. Es ist eine dualistisch gepräg-
                                                         Fall der sogenannten «Schläger von Mün-
te Phase, welche Erwachsensein und Kind-
                                                         chen»40 oder der Fall «Brian»41, welche beide
heit, Abhängigkeit und Unabhängigkeit so-
                                                         in einer massiven Systemkritik des Jugend-
wie Reife und Unreife vereint.35 Diese Ent-
                                                         strafrechts seitens der öffentlichen Meinung
wicklung läuft nicht linear, sondern phasen-
                                                         resultierten. Ein weiterer Grund für kurze
haft ab, was eine Beurteilung des Entwick-
                                                         Verjährungsfristen liegt im unterschiedlichen
lungsstandes für Aussenstehende zusätzlich
                                                         Zeitverständnis der Jugendlichen im Ver-
erschwert.36 Besonders bei Straftaten, die mit
                                                         gleich zu Erwachsenen. Da sie viel stärker
einer bestimmten Entwicklungsphase in
                                                         im Moment leben, können für Heranwach-
engem Zusammenhang stehen, muss diesem
                                                         sende bereits Zeitspannen von wenigen Mo-
Stadium gerecht und vor allem zeitnah rea-
                                                         naten eine lange Zeit darstellen, was sich in
giert werden. Ansonsten besteht die Gefahr,
                                                         einer geistigen Entfernung zur Tat manifes-
dass die Jugendliche aus der zur Tat gehö-
                                                         tieren kann.42 Für kurze Verfahren spricht
renden Phase herausgewachsen ist und sich
                                                         37   SESSAR KLAUS, Einsatz ambulanter Massnah-
32   RADKE MARC, Bestrafungshindernisse aufgrund              men im Bereich der §§ 45, 47 JGG, in: Bundes-
     des Zeitablaufs, Verjährungseintritt und Verfah-         ministerium der Justiz (Hrsg.), Neue ambulante
     rensüberlängen im Erwachsenen- und Jugend-               Massnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz,
     strafrecht, Diss. Kiel, Aachen 2001, S. 143; vgl.        Bonn 1986, S. 116 ff., S. 116.
     OSTENDORF HERIBERT, Abkürzung des Ju-               38   Vgl. vorne, III.B.
     gendstrafverfahrens oder «kurzer Prozess»?, in:     39   AEBERSOLD (Fn. 6), N 644.
     ZfJ, 1998/12, S. 481 ff., S. 481.                   40   MATTHEIS PHILIPP, Spiegel, Spurensuche an der
33   RADKE (Fn. 32), S. 144.                                  Goldküste, in: Spiegel vom 16. Juli 2009.
34   AEBERSOLD (Fn. 6), N 149 ff.                        41   HÜRLIMANN BRIGITTE, Republik, «Sie wollen an
35   KLOSINSKI GUNTHER, Jugendkrise: Spiegelbild              meinem Beispiel beweisen, dass es keine Ku-
     unserer Gesellschaftskrise?, in: Lempp Reinhart          scheljustiz gibt, dass sie hart sind», in: Republik
     (Hrsg.), Adoleszenz, Bern/Stuttgart/Wien 1981,           vom 1. Juli 2020.
     S. 51 ff., S. 84.                                   42   GIRSBERGER MARIANNE, Grundzüge des Ju-
36   OSTENDORF (Fn. 32), S. 481.                              gendstrafverfahrens mit besonderer Berücksich-

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cognitio 2021/1                                            Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern

auch das Bedürfnis nach Sicherheit der ju-                 den Recht, jedoch vor der Bejahung der
gendlichen Straftäter. Pendente Strafverfah-               Anwendbarkeit von Art. 97 Abs. 3 StGB im
ren stellen ein einschneidendes Erlebnis dar,              Jugendstrafrecht, galt die Frist als gewahrt,
das durch seinen ungewissen Ausgang einen                  wenn vor Fristenende ein letztinstanzliches
entwicklungsbehindernden Unsicherheits-                    kantonales Urteil ergangen ist. Bei einem
faktor darstellen kann.43                                  Weiterziehen des Urteils ans Bundesgericht
                                                           ruhte die Frist während des höchstinstanzli-
                                                           chen Verfahrens. Somit hatte die Vorinstanz
IV. Fristenlauf                                            bei Gutheissung der Beschwerde und Kassa-
                                                           tion des Entscheids gleich viel Zeit, wie zwi-
A. Anwendung von Art. 97 Abs. 3 StGB                       schen ihrem ersten Entscheid und der Ver-
im Jugendstrafrecht                                        jährung gelegen hätte.48 Ein ähnliches Prob-
                                                           lem stellt sich auch im Zusammenhang mit
Der Fristenbeginn richtet sich, wie in Art. 1              der Mediation; wenn durch «Taktieren» ein
Abs. 2 lit. j JStG statuiert, analog nach                  Mediationsverfahren im Sinne von Art. 17
Art. 98 StGB und bereitet im Gegensatz                     StPO verschleppt wird, um sich in die Ver-
zum Fristenende wenig Probleme.44                          jährung zu «retten».49 Umgekehrt besteht
Gemäss Art. 97 Abs. 3 StGB kann die Ver-                   aber auch die Gefahr, dass ein Mediations-
jährungsfrist durch die Fällung eines erstin-              verfahren nicht bewilligt wird, um solche
stanzlichen Urteils nicht mehr ablaufen. Die-              Rettungsversuche zu verhindern, obwohl es
se Bestimmung wird von der Verweisungs-                    angezeigt wäre.50
norm in Art. 1 Abs. 2 lit. j JStG nicht erfasst.           Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass
Dabei war lange unklar, ob dies ein gesetz-                das Fristenende hinsichtlich Art. 36 JStG
geberisches Versehen darstellte. Die Lehre                 durchaus Schwierigkeiten bereitet. Obschon
war mehrheitlich der Ansicht, dass die Be-                 die Lehre die Anwendung von Art. 97 Abs. 3
stimmung im Jugendstrafrecht infolge des                   StGB aufgrund des fehlenden Verweises
fehlenden Verweises keine Anwendung fin-                   abspricht, können die damit verbundenen
det.45 Einige Autoren befürworteten die An-                Probleme nicht ausgeblendet werden. Be-
wendbarkeit, was sie mit den bereits deutlich              sonders in der Praxis wurden Stimmen laut,
verkürzten Verjährungsfristen begründeten.46               welche auf die Komplikationen im Zusam-
Auch AEBERSOLD bedauerte die Nichtan-                      menhang mit der absichtlichen Herbeifüh-
wendung des Artikels: Es besteht die Mög-                  rung der Verjährung verweisen. Diese Prob-
lichkeit, durch Einlegen eines Rechtsmittels               lematik intensiviert sich insbesondere bei der
die Verjährung herbeizuführen.47 Im gelten-                einjährigen Frist.51

     tigung der Kantone Aargau und Waadt, Diss.            B. Bundesgerichtsentscheid: echte Ge-
     Zürich 1973, S. 43 f.; vgl. vorne, III.C.             setzeslücke
43   PUTZKE HOLM, Beschleunigtes Verfahren bei
     Heranwachsenden, zur strafprozessualen Aus-           Die Kontroverse um die Nichtanwendung
     prägung des Erziehungsgedankens in der Ado-
     leszenz, Diss. Bochum, Holzkirchen 2004, S. 57.       von Art. 97 Abs. 3 StGB im Jugendstraf-
44   RIEDO (Fn. 8), N 2601 ff.                             recht fand auch nach dem Bundesgerichts-
45   RIEDO (Fn. 8), N 2611 f.; RIESEN-KUPPER               entscheid im Jahre 2017 kein Ende. Um die
     (Fn. 10), N 4 zu Art. 36 JStG; ZURBRÜGG               Rechtsunsicherheit zu beenden, differenzier-
     (Fn. 14), N 51 zu Art. 97 StGB.
46   GÜRBER HANSUELI/HUG CHRIS-
     TOPH/SCHLÄFLI PATRIZIA, in: Niggli Marcel
                                                           48   RIEDO (Fn. 8), N 2612.
     A./Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommen-          49   AEBERSOLD (Fn. 6), N 648.
     tar, Strafrecht I, Art. 1–136 StGB, 4. Aufl., Basel   50   RIEDO (Fn. 8), N 2611.
     2019, N 17 zu Art. 1 JStG.                            51   Vgl. AEBERSOLD (Fn. 6), N 649; RIEDO (Fn. 8),
47   AEBERSOLD (Fn. 6), N 649.                                  N 2612.

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cognitio 2021/1                                  Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern

te das Bundesgericht in einem ersten Schritt     strafrecht vorliegt. Anders als das geltende
zwischen Gesetzeslücken und dem qualifi-         Recht enthielt der Vorentwurf Unterbre-
zierten Schweigen. So muss bei echten Lü-        chungsgründe wie beispielsweise die Ergrei-
cken infolge Übersehens einer Rechtsfrage        fung eines Rechtsmittels, Verfügungen des
durch den Gesetzgeber eine richterliche Lü-      Gerichtes oder Untersuchungshandlungen
ckenfüllung erfolgen. Im Gegensatz dazu ist      von Strafbehörden. Diese führten dazu, dass
von qualifiziertem Schweigen auszugehen,         die Verjährungsfrist neu zu laufen begann.
wenn der Gesetzgeber eine Rechtsfrage            Gesamthaft durfte aber die Dauer der abso-
nicht übersehen hat, sondern stillschweigend     luten Verjährungsfrist, welche dem Zweifa-
– im negativen Sinn – mitentschieden hat         chen der relativen Frist entsprach, nicht
und demzufolge keine Lückenfüllung statt-        überschritten werden (Art. 4 Ziff. 1 VE-
finden darf.52 Sodann unterscheidet das          JStG 1993 i. V. m. Art. 95a Abs. 2 Satz 2
Bundesgericht zwischen echten und unech-         VE-StGB 1993).55
ten Lücken: Erstere liegen vor, wenn der
                                                 Im Entwurf des Bundesrats von 1998 wurde
Gesetzgeber etwas nicht geregelt hat, das er
                                                 einerseits in Art. 97 Abs. 2 E-StGB 1998
hätte tun sollen, und eine Vorschrift weder
                                                 hinzugefügt, dass die Frist nicht mehr eintre-
durch den Wortlaut noch durch die Ausle-
                                                 ten kann, wenn ein erstinstanzliches Urteil
gung des Gesetzes ermittelt werden kann.
                                                 ergangen ist.56 Andererseits wurde die Un-
Hingegen wird von letzterer gesprochen,
                                                 terbrechung beziehungsweise das Ruhen der
wenn das Gesetz eine Antwort auf die
                                                 Fristen abgeschafft, was den Verweis bezüg-
Rechtsfrage bereitstellt, diese aber nicht be-
                                                 lich der Ruhens- und Unterbrechungsgründe
friedigend ist. Auch steht dem Gericht eine
                                                 vom Jugend- auf das Erwachsenenstrafrecht
Korrektur der unechten Lücke nach traditi-
                                                 überflüssig machte. Zusätzlich wurde in
oneller Auffassung grundsätzlich nicht frei.53
                                                 Art. 1 Abs. 2 E-JStG 1998 nicht auf Art. 97
Weiter führt das Bundesgericht aus, dass die     Abs. 2 E-StGB 1998 verwiesen. Wiederum
Aufzählung in Art. 1 Abs. 2 JStG grundsätz-      enthält das 2007 in Kraft getretene geltende
lich abschliessend sei und verweist gleichzei-   Recht keine Regelung über die Unterbre-
tig auf ältere Bundesgerichtsurteile. Aller-     chung, das Ruhen, Vorschriften über eine
dings habe sich das Bundesgericht damals         absolute Verjährungsfrist oder einen Ver-
nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob es    weis auf Art. 97 Abs. 3 StGB. 57 Diese histo-
sich um eine mögliche Gesetzeslücke han-         rische Argumentationslinie führt dazu, dass
delt. Auch werde in der Lehre mehrheitlich       das Bundesgericht bezüglich des Verlaufs
die Auffassung vertreten, die Bestimmung         der Verjährungsfrist im Jugendstrafrecht von
sei im Jugendstrafrecht nicht anwendbar.54       einer echten Gesetzeslücke ausgeht.58 Auch
                                                 liegt kein qualifiziertes Schweigen vor, weil
Anschliessend argumentiert das Bundesge-
                                                 bei einem absoluten Verständnis der Fristen
richt mit der Entstehungsgeschichte der
                                                 von Art. 36 Abs. 1 JStG, welche erst mit
Norm. Die verkürzten Verjährungsfristen
                                                 einem rechtskräftigen Entscheid zu laufen
gehen auf einen Vorschlag der Experten-
                                                 aufhören, im Vergleich zum Vorentwurf
kommission aus dem Jahre 1993 zurück,
                                                 eine zusätzliche massive Verkürzung der
welcher im Vorentwurf zur neuen Jugend-
                                                 Fristen resultieren würde. Dies ist aber vom
strafrechtspflege in Art. 4 Ziff. 1 Satz 1 VE-
                                                 Gesetzgeber so nicht vorgesehen gewesen.59
JStG 1993 die Bestimmungen des Strafge-
                                                 Unterstützt wird diese Ansicht auch von
setzbuches für anwendbar erklärte, sofern
keine entsprechende Vorschrift im Jugend-        55   BGE 143 IV 49 E. 1.6.1 S. 56.
                                                 56   BGE 143 IV 49 E. 1.6.2 S. 57.
52   BGE 143 IV 49 E. 1.4.2 S. 55.               57   BGE 143 IV 49 E. 1.6.2 S. 56.
53   BGE 143 IV 49 E. 1.4.2 S. 55.               58   BGE 143 IV 49 E. 1.6.3 S. 58.
54   BGE 143 IV 49 E. 1.4.2 S. 55.               59   BGE 143 IV 49 E. 1.7.1 S. 58.

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cognitio 2021/1                                     Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern

anderen Autoren: Es scheint wenig plausibel,        Aufnahme eines Mediationsverfahrens res-
dass der Gesetzgeber dies im Sinn gehabt            pektive die absichtliche Verfahrensverzöge-
hätte. Obschon eine deutliche Verkürzung            rung in die Verjährung zu retten, was den
der Verjährungsfristen im Jugendstrafrecht          Zielen des Jugendstrafrechts diametral wi-
bezweckt werden sollte, war eine faktisch           derspricht.63 Gleichzeitig ist wichtig, dass
doppelte Verkürzung der Fristen wohl kaum           keine Benachteiligung der Jugendlichen
vorgesehen. Auch sind die Fristen so kurz,          stattfindet, welche aus anderen Gründen ein
weil sie immer als relativ angesehen wurden.        Rechtsmittel ergreifen.64 Weiter führt das
So kann die Straftat gerade bei der einjähri-       Bundesgericht aus, mit Art. 97 Abs. 3 StGB
gen Frist leichthin in die Verjährung getrie-       wollte der Gesetzgeber eine Vereinfachung
ben werden.60 Unterschiedlicher Meinung             des Verjährungssystems bezwecken sowie
sind die Autoren bezüglich der Annahme              die Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit
einer echten Lücke. Bei einer logischen Be-         sicherstellen.65 Gemäss der Botschaft des
trachtungsweise liegt keine Lücke vor, da           Bundesrates widersprechen die Unterbre-
selbst bei einer Nichtanwendung des Art. 97         chungs- und Ruhegründe dem Institut der
Abs. 3 StGB keine Frage zum Verjährungs-            Verjährung und führten oftmals zu kompli-
ende unbeantwortet bleibt. Von einer Lücke          zierten Berechnungen der Verjährungsfris-
kann nur gesprochen werden, wenn man                ten, was eine Rechtsunsicherheit zur Folge
den Lückenbegriff primär normativ konzi-            hatte.66
piert beziehungsweise ihn daran misst, was
                                                    Die Gefahr bei einem Nichteintritt der Ver-
die Rechtsanwenderin in der Gesamtbe-
                                                    jährung nach einem erstinstanzlichen Urteil
trachtung als vertretbar befindet.61
                                                    liegt in langen Rechtsmittelverfahren. Die-
In einem nächsten Schritt nimmt das Bun-            sem Problem soll jedoch gemäss Bundesge-
desgericht Bezug auf das Beschleunigungs-           richt das Beschleunigungsprinzip entgegen-
prinzip, welchem gerade im Jugendstrafrecht         wirken (Art. 5 StPO i. V. m. Art. 3 Abs. 1
besondere Bedeutung zugesprochen werden             JStPO), indem es als genügender zeitlicher
soll. Um der erzieherischen Wirkung gerecht         Schutz fungiert. Das Beschleunigungsprinzip
zu werden, muss die Sanktion zeitlich mög-          verpflichtet die Behörden, das Strafverfah-
lichst nahe zur Straftat ausgesprochen wer-         ren rasch durchzuführen, um die beschuldig-
den. Dennoch ist den Materialien nicht zu           te Person nicht unnötig im Ungewissen zu
entnehmen, dass der Gesetzgeber die Ver-            lassen.67 An dieser Stelle ist zu erwähnen,
jährungsfrist weiter habe verkürzen wollen.62       dass gerade das Rechtsmittelverfahren des
Zudem können Jugendstrafverfahren nicht             zitierten Bundesgerichtsentscheids ein Nega-
immer schnell erledigt werden. Die Behör-           tivbeispiel für lange Verfahrensdauern bei
den sind verpflichtet, die persönlichen Ver-        Jugendstrafverfahren darstellt. Obschon die
hältnisse der Jugendlichen abzuklären und           Delikte vom damals 17-jährigen Täter 2005
allenfalls eine ambulante beziehungsweise           begangen wurden, hob das Bundesgericht
stationäre Beobachtung oder eine Begutach-          2017 das kantonale Urteil zum dritten Mal
tung anzuordnen (Art. 9 Abs. 1 und 3 JStG).
Auch können kurze absolute Fristen den
Anreiz schaffen, sich beispielsweise durch
die Ergreifung eines Rechtsmittels oder die
                                                    63   BGE 143 IV 49 E. 1.7.3 S. 60; AEBERSOLD
60   RIEDO CHRISTOF/GROSSENBACHER MANDA-                 (Fn. 6), N 649.
     NA, Von Lücken – in Gesetzen und in Urteils-   64   BGE 143 IV 49 E. 1.8.1 S. 60.
     begründungen, in: AJP, 2007/11, S. 1359 ff.,   65   BGE 143 IV 49 E. 1.8.1 S. 60.
     S. 1363.                                       66   Botschaft Änderung Strafgesetzbuch (Fn. 22),
61   RIEDO/GROSSENBACHER (Fn. 60), S. 1363.              S. 2134.
62   BGE 143 IV 49 E. 1.7.2 S. 59.                  67   BGE 133 IV 158 E. 8 S. 170.

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auf und wies die Sache erneut an das kanto-           kann. Dies eröffnet den Problembereich
nale Gericht zurück.68                                langer Rechtsmittelverfahren, welche gerade
                                                      im Jugendstrafverfahren weitreichende Fol-
Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung
                                                      gen haben können. Zum einen geht die er-
führt die Verletzung des Beschleunigungs-
                                                      zieherische Wirkung des Verfahrens verlo-
gebots zu einer Strafreduktion, Strafbefrei-
                                                      ren, zum anderen kann sich die Jugendliche
ung oder ultima ratio zur Einstellung des Ver-
                                                      zunehmend schlechter mit ihrem Fehlverhal-
fahrens.69 Auch kann bei langen Verfahren
                                                      ten auseinandersetzen. So ist es in Anbe-
auf Art. 21 Abs. 1 lit. f JStG zurückgegriffen
                                                      tracht des erwähnten Bundesgerichtsent-
werden, falls seit der Straftat verhältnismäs-
                                                      scheids auch aus spezialpräventiver Sicht
sig viel Zeit vergangen ist. Demnach ist die
                                                      fragwürdig, jahrelange Rechtsmittelverfahren
Strafbefreiung möglich, wenn die Jugendli-
                                                      zu rechtfertigen.
che sich einerseits wohlverhalten hat und
andererseits das Interesse der Gesellschaft
sowie des Geschädigten an der Strafverfol-            V. Beschleunigungsgebot
gung gering ist. Wie auch in der Botschaft
erwähnt, ergänzt Art. 21 Abs. 1 lit. f JStG
                                                      A. Bedeutung im Bezug zur Verjährung
die Verjährungsregeln des Jugendstrafgeset-
zes und erlaubt es im Sinne des Täterstraf-           Aus einer rechtsstaatlichen Perspektive kann
rechts auf die einzelne Jugendliche einzuge-          die Verjährung auch als Ausfluss des Be-
hen.70 Deshalb misst sich das Vorliegen einer         schleunigungsprinzips gesehen werden.72
verhältnismässig langen Zeit am Alter bezie-          Zweifellos stellt das Beschleunigungsgebot
hungsweise Entwicklungsstand des Jugendli-            in Anbetracht der unter III. aufgeführten
chen, aber auch an der Schwere und Art des            Gründe einen wichtigen verfahrensrechtli-
Delikts sowie der Betroffenheit des Opfers.           chen Grundsatz dar. Besonders durch die
So kann bei jüngeren Jugendlichen grund-              Anwendung von Art. 97 Abs. 3 StGB im
sätzlich schneller von einer Strafe abgesehen         Jugendstrafrecht eröffnen sich Probleme zu
werden, da bei zu langer Zeitspanne die               langer Rechtsmittelverfahren. Dessen Be-
Verknüpfung zwischen Straftat und Strafe              deutung in diesem Kontext untermauert
dahinfällt und die erzieherische Komponen-            auch die Botschaft des Bundesrates: Das
te der Sanktion nicht ihre Wirkung erzielen           Beschleunigungsprinzip fungiert als Schutz-
kann.71                                               funktion vor Rechtsmittelverfahren, denen
Folglich lässt sich festhalten, dass das Bun-         keine zeitlichen Grenzen gesetzt sind.73 Die-
desgericht im Hinblick auf die Entstehungs-           ser Argumentation folgt auch das Bundesge-
geschichte der Bestimmungen in Art. 1                 richt in seinem Entscheid: Liegt eine Verlet-
Abs. 2 lit. j JStG eine echte Gesetzeslücke           zung des oben genannten Verfahrensgrund-
annimmt. Infolgedessen muss Art. 97 Abs. 3            satzes vor, so kann dies allenfalls zur Straf-
StGB entgegen dem gesetzlichen Wortlaut               reduktion, Strafbefreiung nach Art. 21
auch im Jugendstrafrecht Anwendung fin-               Abs. 1 lit. f JStG oder notwendigenfalls zur
den, weshalb die Verjährung nach erstin-              Einstellung des Verfahrens führen.74
stanzlichen Urteilen nicht mehr eintreten             So war die Verkürzung der Verfahrensdauer
                                                      zur Bekämpfung der Jugendkriminalität bei
68   KILLIAS MARTIN/MARKWALDER NORA/KUHN              der Konzeption der Jugendstrafprozessord-
     ANDRÉ/DONGOIS NATHALIE, Grundriss des
     Allgemeinen Teils des Schweizerischen Strafge-
                                                      nung ein Hauptanliegen. Obschon das Be-
     setzbuchs, 2. Aufl., Bern 2017, N 1646.
69   BGE 133 IV 158 E. 8 S. 170.                      72   FISCHER (Fn. 20), S. 13 f.
70   Botschaft Änderung Strafgesetzbuch (Fn. 22),     73   Botschaft Änderung Strafgesetzbuch (Fn. 22),
     S. 2259.                                              S. 2134; m. w. H. BGE 143 IV 49 E. 1.8.2 S. 61.
71   AEBERSOLD (Fn. 6), N 644.                        74   BGE 143 IV 49 E. 1.8.2 S. 61; vgl. vorne, IV.B.

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schleunigungsgebot nicht ausdrücklich Ein-             Zeit nur 66 % der Verfahren abgeschlossen
zug in die Jugendstrafprozessordnung fand,             werden. Begründet wurde dies mit umfang-
schlägt es sich in einzelnen Bestimmungen              reichen und lang andauernden Strafuntersu-
nieder. Zudem findet Art. 5 Abs. 1 StPO in             chungen.79 Rückblickend muss 2008 aller-
Anbetracht der Jugendstrafprozessordnung               dings als Ausnahmejahr qualifiziert werden.
im Sinne einer lex specialis analog Anwen-             Denn sowohl die mittlere Verfahrensdauer
dung.75                                                als auch die innerhalb von 180 Tagen abge-
                                                       schlossen Verfahren konnten ab 2009 deut-
B. Verfahrensdauern der Jugendstrafver-                lich verbessert werden und erreichten 2013
fahren in der Schweiz                                  mit durchschnittlich 82 Tagen den Tiefst-
                                                       stand.80 Zuletzt konnte allerdings wieder ein
Anlässlich der Einführung eines Jugend-                Anstieg verzeichnet werden, was damit er-
strafgesetzes sollen kurze Verjährungsfristen          klärt wurde, dass nun die Rechtskraft des
dazu beitragen, langen Verfahren Einhalt zu            Entscheides abgewartet wird. So betrug die
gebieten. Dennoch werden die langen Ver-               mittlere Verfahrensdauer 2019 rund 3.5 Mo-
fahrensdauern der Jugendstrafrechtspraxis in           nate; allerdings konnten 70 % der Verfahren
der Literatur weiterhin vehement kritisiert.76         innerhalb von drei Monaten abgeschlossen
So sehen einige Autoren eine Verschärfung              werden.81 Den Geschäftsberichten von 2009
des Problems durch den Nichteintritt der               bis 2019 ist auch zu entnehmen, dass sich
Verjährung nach einem erstinstanzlichen                die Jugendstrafbehörden des Kantons Zü-
Urteil. Rechtsmittelverfahren werden so                rich die Verkürzung der Verfahren jedes Jahr
über mehrere Jahre erstreckt, indem sie wie-           erneut als Entwicklungsschwerpunkt set-
derholt aufgehoben und zurückgewiesen                  zen.82
werden.77 Um das Problem langer Verfah-
                                                       Gesamtschweizerisch verhalten sich die Zah-
rensdauern im Jugendstrafrecht näher zu
                                                       len ähnlich, wobei allerdings grosse kantona-
beleuchten, wird im Folgenden näher auf die
                                                       le Unterschiede festzustellen sind. Dies ist
effektiven Zahlen der Praxis des Kantons
                                                       einerseits mit unterschiedlich hohen Krimi-
Zürich eingegangen:
                                                       nalitätsauslastungen sowie den Ressourcen
Laut Geschäftsbericht bewegt sich die mitt-            der Kantone zu erklären. Andererseits kann
lere Verfahrensdauer im Kanton Zürich in               es auch bedeuten, dass die Verfahren nicht
den Jahren vor der Einführung des Jugend-              in allen Kantonen optimal ausgestaltet sind.83
strafgesetzes (2005–2007) zwischen 141 und             Zusammenfassend können seit der Einfüh-
160 Tagen, was ungefähr 4.7 und 5.3 Mona-              rung des Jugendstrafgesetzes, aber insbeson-
ten entspricht. Auch konnten 69 % bis 72 %             dere seit dem Inkrafttreten der Jugendstraf-
der Fälle innerhalb von 180 Tagen abge-                prozessordnung, kürzere Verfahrensdauern
schlossen werden.78 Im Jahr darauf lässt sich          festgestellt werden. Zweifelhaft ist allerdings,
allerdings ein Allzeithoch feststellen. So liegt       welchen Einfluss die kurzen Verjährungsfris-
die Verfahrensdauer 2008 bei rund einem
halben Jahr; zudem konnten innerhalb dieser            79   Jugendanwaltschaft des Kantons Zürich,
                                                            Geschäftsbericht der Jugendstrafrechtspflege
75   JOSITSCH/RIESEN-KUPPER (Fn. 24), N 20 ff.              2008, Zürich 2009, S. 65.
76   MURER MIKOLÁSEK ANGELIKA, Analyse der             80   Jugendanwaltschaft des Kantons Zürich,
     Schweizerischen Jugendstrafprozessordnung              Geschäftsbericht der Jugendstrafrechtspflege
     (JStPO), Entspricht sie den Grundsätzen des Ju-        2009, Zürich 2010, S. 67.
     gendstrafrechts?, Diss. Zürich 2011, N 304; JO-   81   Jugendanwaltschaft des Kantons Zürich,
     SITSCH/RIESEN-KUPPER (Fn. 24), N 20; AEBER-            Geschäftsbericht der Jugendstrafrechtspflege
     SOLD (Fn. 6), N 149 ff.                                2019, Zürich 2020, S. 21.
77   KILLIAS/MARKWALDER/KUHN/DONGOIS                   82   Vgl. Geschäftsbericht Kanton Zürich 2019
     (Fn. 68), N 1646.                                      (Fn. 81), S. 22.
78   MURER MIKOLÁSEK (Fn. 76), N 300.                  83   MURER MIKOLÁSEK (Fn. 76), N 303.

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ten haben, da die Verjährung bereits nach           Überführung der bundesgerichtlichen Recht-
dem erstinstanzlichen Urteil nicht mehr ein-        sprechung ins Gesetz.87 Einzig der Kanton
treten kann und somit langen Rechtsmittel-          Zürich äusserte sich detailliert zur Bestim-
verfahren nicht Einhalt geboten wird.               mung des Vorentwurfs. Im ersten Teil der
                                                    von der Oberjugendanwaltschaft des Kan-
                                                    tons Zürich verfassten Stellungnahme wird
VI. Ausblick                                        die Kodifikation der bundesgerichtlichen
                                                    Rechtsprechung als sinnvoll erachtet, weil
Von der geplanten Änderung der Strafpro-            die Verjährungsfristen für Jugendliche ohne-
zessordnung ist auch Art. 36 JStG einge-            hin relativ kurz sind.88 Die als redaktionelle
schlossen. Ziel ist es, die neue Rechtspre-         Anpassungen qualifizierten Änderungen in
chung des Bundesgerichts in Art. 36 Abs. 1bis       Art. 36 Abs. 2 VE-JStG 2017 werden vom
VE-JStG 2017 zu überführen: Wie in Art. 97          Verfasser darauf zurückgeführt, dass ur-
Abs. 3 StGB soll die Verjährung nicht mehr          sprünglich der Menschenhandel nach
eintreten können, wenn ein erstinstanzliches        Art. 182 StGB in Art. 196 aStGB platziert
Urteil ergangen ist. Begründet wird dies in         war, dieser aber im geltenden Recht die se-
der Botschaft mit der stossenden Tatsache,          xuellen Handlungen mit Minderjährigen
dass durch das Ergreifen eines Rechtsmittels        gegen Entgelt regelt.89 Die aus diesen Grün-
oder das Verzögern eines Mediationsverfah-          den resultierende Anpassung des Deliktska-
rens die Verjährung herbeigeführt werden            talogs wird zwar als nachvollziehbar emp-
kann.84 Indes wird auf einen Verweis auf das        funden, jedoch ergibt diese Änderung mate-
Erwachsenenstrafrecht der Klarheit halber           riell wenig Sinn. So kommt Menschenhandel
verzichtet und es wird eigens ein neuer Ab-         bei Jugendlichen äusserst selten vor, weshalb
satz eingegliedert.85 Ebenfalls von einer Mo-       sich die Aufnahme der Bestimmung nicht
difikation betroffen ist Art. 36 Abs. 2 JStG.       offensichtlich aufdrängt.90 Wiederum kann
Einerseits soll eine verlängerte Verjährungs-       auch bei den sexuellen Handlungen mit
frist bei unter 16-jährigen Opfern nun auch         Minderjährigen gegen Entgelt nicht von
für Menschenhandel (Art. 182 StGB) gelten,          grosser praktischer Bedeutung gesprochen
andererseits soll die Bestimmung der sexuel-        werden. Dennoch ist es denkbar, dass bei-
len Handlungen mit Minderjährigen gegen             spielsweise ein 17-Jähriger von einer 15-
Entgelt (Art. 196 StGB) entfernt werden. In         Jährigen sexuelle Leistungen gegen Entgelt
der Botschaft werden die Anpassungen in             erhält und sich das Opfer erst im Erwachse-
Absatz 2 als rein redaktioneller Natur dekla-       nenalter zu einer Strafanzeige überwinden
riert.86                                            kann.91 Gleiches kann für das Fehlen der
Sowohl die Kantone wie auch die Organisa-           sexuellen Handlungen mit Kindern nach
tionen und Parteien äusserten sich grössten-        Art. 187 StGB gesagt werden: Im Gegensatz
teils nicht zu den geplanten Änderungen von         zur erwachsenenstrafrechtlichen Bestim-
Art. 36 JStG. Vereinzelte Kantone wie Basel-        mung nach Art. 97 Abs. 2 StGB wurde die-
Stadt, St. Gallen oder Solothurn sowie Or-          ser Artikel nicht in den Deliktskatalog auf-
ganisationen wie die Vereinigung für Jugend-
strafrechtspflege und die Universität Genf          87   Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement,
begrüssten in knappen Ausführungen die                   Zusammenfassung der Ergebnisse des Ver-
                                                         nehmlassungsverfahrens über den Bericht und
                                                         den Vorentwurf zur Änderung der Strafprozess-
84   AEBERSOLD (Fn. 6), N 649.                           ordnung, Bern 2019, S. 26.
85   Bundesrat, Botschaft zur Änderung der Straf-   88   Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement,
     prozessordnung vom 28. August 2019,                 Stellungnahmen Kantone, Bern 2018, S. 303.
     BBl 2019 6697 ff., S. 6774 f.                  89   Stellungnahmen Kantone (Fn. 88), S. 303.
86   Botschaft Änderung Strafprozessordnung         90   Stellungnahmen Kantone (Fn. 88), S. 303.
     (Fn. 85), S 6775.                              91   Stellungnahmen Kantone (Fn. 88), S. 303.

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cognitio 2021/1                                 Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern

genommen, obschon sich auch jugendliche         pensieren.94 Andererseits durchlebt eine Ju-
Straftäterinnen nach Art. 187 StGB strafbar     gendliche verschiedene entwicklungspsycho-
machen können.92                                logische Phasen, weshalb eine stark verzö-
                                                gerte Straffällung der Entwicklungsphase
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich
                                                zum Tatzeitpunkt nicht genügend Rechnung
der Kanton Zürich für ein Nichteintritt der
                                                tragen kann.95 Aus den genannten Gründen
Verjährung nach einem erstinstanzlichen
                                                ist es also hinsichtlich der Rückfallgefahr
Urteil nach Art. 36 Abs. 1bis VE-JStG 2017
                                                von grosser Wichtigkeit, möglichst zeitnah
ausspricht.93 Wiederum finden die geplanten
                                                erzieherisch auf den Jugendlichen einzuwir-
Änderungen in Art. 36 Abs. 2 VE-JStG 2017
                                                ken und das Verfahren zum Abschluss zu
nur bedingt Anklang. So sollen sowohl die
                                                bringen. Werden diese Elemente ausser Acht
sexuellen Handlungen mit Kindern (Art. 187
                                                gelassen, verfehlt die Strafe ihre spezialprä-
StGB), die sexuellen Handlungen mit Min-
                                                ventive Wirkung und weist nur noch vergel-
derjährigen gegen Entgelt (Art. 196 StGB)
                                                tenden Charakter auf, was dem Jugendstraf-
sowie der Menschenhandel (Art. 182 StGB)
                                                recht im Sinne eines Täterstrafrechts diamet-
mit verlängerten Fristen einhergehen, wenn
                                                ral widerspräche.
sie gegen unter 16-Jährige verübt wurden.
                                                In Anbetracht obiger Argumente ist es umso
Die Kritik des Kantons Zürich wurde ledig-
                                                erstaunlicher, dass das Bundesgericht in sei-
lich in der Zusammenfassung der Vernehm-
                                                nem Entscheid 2017 die Anwendung von
lassung aufgegriffen, jedoch in der Botschaft
                                                Art. 97 Abs. 3 StGB im Jugendstrafrecht
und dem Entwurf des Bundesrates (Art. 36
                                                bejaht.96 Auch wenn das Urteil in der Praxis
Abs. 2 E-JStG 2019) kommentarlos ausge-
                                                mehrheitlich begrüsst wird, kann es zweifel-
lassen.
                                                los als ambivalent betrachtet werden: Zum
                                                einen zeigt eine historische Beleuchtung der
VII. Zusammenfassung und Fazit                  Bestimmungen auf, dass der Gesetzgeber die
                                                durch die Absolutheit der Fristen erzeugte
Wie im Beitrag verdeutlicht, ist Art. 36 JStG   erneute Verkürzung der Fristen wohl nicht
stark vom Gedanken des Täterstrafrechts         beabsichtigt hatte. Dies ist vor allem im
geprägt. So ergeben sich die im Vergleich       Hinblick auf die einjährige Frist nachvoll-
zum Erwachsenenstrafrecht massiv verkürz-       ziehbar, da jene Delikte leichthin in die Ver-
ten Fristen nur bedingt aus den allgemeinen     jährung getrieben werden können. Hier stellt
Begründungstheorien. Vielmehr steht der         das Bundesgericht auch einen weiteren Kri-
einzelne Jugendliche und die Reaktion auf       tikpunkt fest: Kurze Verjährungsfristen
sein Fehlverhalten in spezialpräventiver Wei-   können den Anreiz schaffen, sich durch
se im Vordergrund. Funktionell liegt der        «Taktieren» im Sinne eines Rechtsmittel-
Schwerpunkt von Art. 36 JStG im Ziel kur-       oder Mediationsverfahrens in die Verjährung
zer Verfahrensdauern; die Sanktion soll der     zu retten.97 Wiederum führt der Nichteintritt
Tat möglichst auf dem Fusse folgen. Dies ist    der Verjährung nach einem erstinstanzlichen
aus mehreren Gründen sinnvoll: Einerseits       Urteil zu einem entgegengesetzten Problem.
versucht der adoleszente Straftäter mit zu-     Die Anwendung von Art. 97 Abs. 3 StGB
nehmendem Zeitablauf seit der Straftat das      ebnet den Weg für lange Rechtsmittelverfah-
dadurch entstandene innere Ungleichgewicht      ren, welche aus erzieherischer Sicht wenig
durch Neutralisierungstechniken zu kom-         sinnvoll sind. Das Bundesgericht sieht je-
                                                doch im Beschleunigungsgebot einen genü-
                                                94   SYKES/MATZA (Fn. 30), S. 360 ff.
92   Stellungnahmen Kantone (Fn. 88), S. 303.   95   SESSAR (Fn. 37), S. 116.
93   Zusammenfassung Stellungnahmen (Fn. 87),   96   Vgl. BGE 143 IV 49.
     S. 26.                                     97   BGE 143 IV 49 E. 1.7.3 S. 60.

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genden zeitlichen Schutz vor übermässig              es auch in Zukunft zu verhindern, das Ju-
langen Verfahren. Mit einem Blick auf die            gendstrafrecht in ein vergeltendes Tatstraf-
gesamtschweizerischen Verfahrensdauern               recht umzuwandeln.
lässt sich trotzdem feststellen, dass die Ju-
gendstrafverfahren mit rund 3.5 Monaten
tendenziell zu lang sind.98 Gerade im er-
wähnten Bundesgerichtsentscheid wurde das
Delikt 2005 von einem 17-jährigen Täter
begangen; jedoch wurde 2017 das Urteil zum
dritten Mal an die kantonale Instanz zurück-
gewiesen. Obschon es sich vorliegend um
schwere Straftaten gehandelt hat, scheint es
dennoch aus sozialpädagogischer Sicht frag-
würdig, einen 29-Jährigen für ein in der Ju-
gend begangenes Delikt zu bestrafen. Frag-
lich ist auch, ob bei Art. 1 Abs. 2 lit. j JStG
eine echte Gesetzeslücke vorliegt. Obschon
die Anwendung der Bestimmung hinsicht-
lich des historischen Kontexts berechtigt ist,
muss die Qualifizierung als echte Lücke kri-
tisch beäugt werden. Auch wenn die ver-
kürzten Fristen aus praktischem Standpunkt
als unbefriedigend erscheinen, muss bei logi-
scher Betrachtungsweise anerkannt werden,
dass das Gesetz auch bei Nichtanwendung
von Art. 97 Abs. 3 StGB eine Antwort auf
die Fragestellung bereithält.99
Ein Blick auf die Zukunft von Art. 36 JStG,
lässt erkennen, dass der Bundesgerichtsent-
scheid auch Einzug in die Bestimmung fin-
den wird. Dies stösst in der Praxis auf grosse
Zustimmung.
In einer Gesamtbetrachtung des Art. 36
JStG zeigt sich, dass kurze Verjährungsfris-
ten eine wichtige Funktion erfüllen. Insofern
müssen gegenläufige Bestrebungen wie der
Bundesgerichtsentscheid und dessen Kodifi-
kation kritisch betrachtet werden. Umso
mehr sind die Behörden angehalten, dem
Beschleunigungsgebot besondere Aufmerk-
samkeit zu widmen und ihre mittleren Ver-
fahrensdauern weiterhin zu senken, um der
erzieherischen Funktion des Jugendstraf-
rechts genügend Rechnung zu tragen. So gilt

98   Geschäftsbericht Kanton Zürich 2019 (Fn. 81),
     S. 21.
99   RIEDO/GROSSENBACHER (Fn. 60), S. 1363.

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