Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern
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Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern Eine kritische Würdigung der Debatte um Art. 36 JStG LISA REGGIANI Zitiervorschlag REGGIANI, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern, in: cognitio 2021/1. URL: cognitio-zeitschrift.ch/2021-1/Reggiani DOI: 10.5281/zenodo.4443026 ISSN: 2624-8417 Creative Commons – Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International
Kurze Verjährungs- fristen bei jugendlichen Straftätern A. Allgemein 4 B. Erziehungsmodell und Eine kritische Würdigung der Täterstrafrecht 4 Debatte um Art. 36 JStG C. Neutralisierungstechniken 5 D. Weiterentwicklung 6 LISA REGGIANI E. Weitere Gründe 6 Trotz scharfer Kritik seitens der Lehre steht IV. Fristenlauf 7 Art. 36 JStG erneut vor einem Umbruch. So soll die von der Praxis langersehnte Rechtsprechung des A. Anwendung von Art. 97 Abs. 3 StGB Bundesgerichtes Einzug in die Bestimmung finden. im Jugendstrafrecht 7 Der vorliegende Beitrag zeigt auf, was die Hinter- B. Bundesgerichtsentscheid: echte gründe kurzer Verjährungsfristen im Jugendstraf- Gesetzeslücke 7 recht sind und weshalb die Kodifizierung des bundes- V. Beschleunigungsgebot 10 gerichtlichen Urteils kritisch betrachtet werden muss. A. Bedeutung im Bezug zur Verjährung 10 Inhaltsübersicht B. Verfahrensdauern der Jugendstrafverfahren in der Schweiz 11 I. Einleitung 1 VI. Ausblick 12 II. Allgemeines 2 VII. Zusammenfassung und Fazit 13 A. Begriff 2 B. Verjährung bei schweren Straftaten 2 1. Fristverlängerung 2 2. Unverjährbarkeit 3 I. Einleitung III. Gründe für kurze Verjährungsfristen Im Rahmen der Einführung des neuen Ju- bei Jugendlichen 4 gendstrafgesetzes im Jahre 2007 blieb auch die Verfolgungsverjährung1 vor einer radika- Dieser gekürzte Beitrag wurde als Bachelorarbeit len Änderung nicht verschont. Als Folge im Rahmen des Seminars «Jugendstrafrecht» davon wurden die Verjährungsfristen mit von Prof. Dr. Christian Schwarzenegger und Dr. Gian Ege im Herbstsemester 2020 an der Universität Zürich verfasst. 1 Im Folgenden wird der Begriff der Verfolgungs- Für Rückfragen wenden Sie sich bitte an: verjährung der Verständlichkeit halber durchge- lisa.reggiani@bluewin.ch. hend als Verjährung bezeichnet. 1
cognitio 2021/1 Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern Art. 36 JStG stark herabgesetzt. Diese führt.6 Davon abgegrenzt wird die in Art. 37 kurzen Fristen können in Anbetracht der JStG geregelte Vollstreckungsverjährung, Nachbarstaaten wie beispielsweise Deutsch- welche an ein bereits vollstreckbares Urteil land oder Österreich, aber auch im Vergleich anknüpft und den Zeitablauf nach einer rich- zur bisherigen Rechtslage geradezu als No- terlichen Beurteilung bestimmt.7 Während vum bezeichnet werden.2 Zurückzuführen erstere die Strafverfolgung und das Ausfällen sind die Anpassungen vor allem auf das Ziel, einer Strafe verhindert, unterbindet letztere das neue Jugendstrafrecht einem Täterstraf- den Vollzug der rechtskräftig ausgesproche- recht3 weiter anzunähern. Dennoch erging nen Strafe.8 2017 ein Bundesgerichtsurteil4, welches Indes orientiert sich die Verjährungsfrist an diesen Prinzipien widerspricht und zu einer der im Erwachsenenstrafrecht vorgesehenen Kontroverse in Literatur sowie Praxis führ- Trichotomie der Straftaten: Verbrechen, te.5 Vergehen und Übertretungen. Hierbei sieht Ein Schwerpunkt dieses Beitrags liegt in der das Jugendstrafrecht aber vergleichsweise Beleuchtung der Hintergründe kurzer Ver- kurze Fristen vor. Mithin massgebend ist die jährungsfristen bei Jugendlichen sowie abstrakte Strafdrohung, also die vorgesehene eröffneten Problembereichen und Relativie- Höchststrafe im Erwachsenenstrafrecht. rungen, die mit Art. 36 JStG einhergehen. Insofern verjähren alle Verbrechen i.S.v. Ein weiterer Fokus wird auf die Auswirkun- Art. 10 Abs. 2 StGB nach fünf Jahren. Bei gen der Anwendung von Art. 97 Abs. 3 Vergehen i.S.v. Art. 10 Abs. 3 StGB, welche StGB im Jugendstrafrecht gelegt, wobei eine abstrakte Höchststrafe von drei Jahren gleichzeitig ein kritischer Blick auf die Freiheitsstrafe aufweisen, gilt eine Verjäh- bundesgerichtliche Rechtsprechung rungsfrist von drei Jahren. Demgegenüber geworfen wird. In einem nächsten Schritt beträgt die Verjährungsfrist bei allen anderen wird das Problem langer Verfahren im Ju- Vergehen sowie bei Übertretungen i.S.v. gendstrafrecht in Anlehnung an das Be- Art. 103 StGB lediglich ein Jahr.9 Ferner schleunigungsgebot veranschaulicht und mit gelangen bei Delikten gegen unter 16-Jährige effektiven Zahlen in Relation gesetzt. gesonderte Verjährungsfristen nach Art. 36 Abs. 2 JStG zur Anwendung.10 II. Allgemeines B. Verjährung bei schweren Straftaten A. Begriff 1. Fristverlängerung Die Verfolgungsverjährung nach Art. 36 Eine Sonderstellung nimmt Art. 36 Abs. 2 JStG kann definiert werden als Ablauf einer JStG ein: Für schwere Straftaten, die an bestimmten Zeit seit Begehung der Straftat, Kindern unter 16 Jahren begangen wurden, was zur Einstellung der Strafverfolgung finden die ordentlichen Fristen keine An- 6 AEBERSOLD PETER, Schweizerisches Jugend- 2 Sowohl gemäss bisheriger Rechtslage (Art. 70 strafrecht, 3. Aufl., Bern 2017, N 645. aStGB) wie auch im deutschen (§ 78 StGB) und 7 AEBERSOLD (Fn. 6), N 655. österreichischen Recht (§ 57 StGB) richtet sich 8 RIEDO CHRISTOF, Jugendstrafrecht und Jugend- die Verjährungsfrist bei Jugendlichen nach dem strafprozessrecht, Basel 2013, N 2572 ff. Erwachsenenstrafrecht. Dies führt im Vergleich 9 RIEDO (Fn. 8), N 2590. zum geltenden Recht in der Schweiz zu deutlich 10 RIESEN-KUPPER MARCEL, in: Donatsch Andre- längeren Fristen für jugendliche Straftäter. as (Hrsg.), StGB/JStG Kommentar, Mit weite- 3 Auf den Begriff wird in III.B näher eingegangen. ren Erlassen und Kommentar zu den Strafbe- 4 BGE 143 IV 49. stimmungen des SVG, BetmG und AuG/AIG, 5 Vgl. hinten, IV.B. 20. Aufl., Zürich 2018, N 2 f. zu Art. 36 JStG. 2
cognitio 2021/1 Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern wendung. Stattdessen wird die Verjährung keit findet durch Art. 101 Abs. 2 StGB statt. bis zur Vollendung des 25. Altersjahres des So kann gemäss der fakultativen Strafmilde- Opfers verlängert. Die betreffenden Delikte rung das Gericht die Strafe nach freiem Er- sind abschliessend aufgezählt und lehnen messen mildern, sofern die Straftat nach sich im Grundsatz an Art. 97 Abs. 2 StGB den ordentlichen Fristen von Art. 36 JStG an. Nicht davon erfasst ist der Tatbestand bereits verjährt wäre.14 Zweifelhaft bleibt der sexuellen Handlungen mit Kindern dennoch die praktische Relevanz dieser (Art. 187 StGB) sowie der sexuellen Hand- Schwerstverbrechen im Jugendstrafrecht; so lungen mit Abhängigen (Art. 188 StGB). Bei dürfte wohl kaum je ein Jugendlicher eines diesen Delikten wurde von einer Fristverlän- dieser Delikte begehen beziehungsweise für gerung abgesehen, weil sexuelle Handlungen ein solches verurteilt werden.15 zwischen Minderjährigen als weniger Ausgenommen von der Unverjährbarkeit ist schwerwiegend qualifiziert werden als die Art. 101 Abs. 1 lit. e StGB (Art. 1 Abs. 2 übrigen aufgelisteten.11 lit. j JStG e contrario).16 Diese Bestimmung Die Gründe für die Verlängerung der Fristen hat ihren Ursprung in der Umsetzung von bei Delikten gegen unter 16-Jährige liegen Art. 123b BV anlässlich der Annahme der im Gedanken des Opferschutzes: Das be- Unverjährbarkeitsinitiative durch das troffene Kind kann oftmals erst im Erwach- Stimmvolk am 30. November 2008. So sind senenalter und nach dem Wegfall eines mög- pornographische Straftaten an Kindern un- lichen Abhängigkeitsverhältnisses über das verjährbar, sofern sie von einer erwachsenen Delikt reden und es zur Anzeige bringen. Straftäterin begangen wurden.17 Im erläu- Dies führt dazu, dass die nun erwachsenen ternden Bericht des Eidgenössischen Justiz- Straftäter vor dem Jugendgericht zur Ver- und Polizeidepartements wird die Nichtan- antwortung gezogen werden, wobei die als wendung des Artikels bei jugendlichen Straf- Minderjährige begangenen Straftaten auch tätern mit der unterschiedlichen Philosophie nur jugendstrafrechtlich sanktioniert werden von Erwachsenen- und Jugendstrafrecht können.12 begründet.18 Ergänzend trägt Art. 36 Abs. 2 JStG durch die bereits verlängerte Frist bei 2. Unverjährbarkeit schweren Delikten an Kindern dem Gedan- ken der Volksinitiative genügend Rech- Durch einen Verweis in Art. 1 Abs. 2 lit. j nung.19 JStG findet Art. 101 Abs. 1 lit. a bis d und Abs. 2 StGB auch im Jugendstrafrecht An- wendung. Infolgedessen tritt bei Völker- 14 ZURBRÜGG MATTHIAS, in: Niggli Marcel mord (Art. 264 StGB), Verbrechen gegen A./Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommen- tar, Strafrecht I, Art. 1–136 StGB, 4. Aufl., Basel die Menschlichkeit (Art. 264a Abs. 1 und 2 2019, N 18 zu Art. 101 StGB. StGB), Kriegsverbrechen (Art. 264c–h StGB) 15 RIEDO (Fn. 8), N 2628. sowie bei schweren Terrorakten die Verjäh- 16 Bundesrat, Botschaft zum Bundesgesetz zur rung bei jugendlichen Straftäterinnen nicht Umsetzung von Artikel 123b der Bundesverfas- sung über die Unverjährbarkeit sexueller und ein.13 Eine Entschärfung der Unverjährbar- pornographischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät (Änderung des Strafgesetzbuches, des 11 HUG CHRISTOPH/SCHLÄFLI PATRIZIA/VALÄR Militärstrafgesetzes und des Jugendstrafgesetzes) MARTINA, in: Niggli Marcel A./Wiprächtiger vom 22. Juni 2011, BBl 2011 5977 ff., S. 6003 f. Hans (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht I, 17 ZURBRÜGG (Fn. 14), N 13 zu Art. 101 StGB. Art. 1–136 StGB, 4. Aufl., Basel 2019, N 6 ff. zu 18 Vgl. vorne, III.B. Art. 36 JStG. 19 Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, 12 BOHNET FRANÇOIS/JEANNERET YVAN, Le Erläuternder Bericht zur Änderung des Schwei- nouveau droit pénal des mineurs, Neuchâtel zerischen Strafgesetzbuches und des Militärstra- 2007, S. 25 f. fgesetzes zur Umsetzung von Artikel 123b der 13 AEBERSOLD (Fn. 6), N 653. Bundesverfassung über die Unverjährbarkeit se- 3
cognitio 2021/1 Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern Schliesslich kann festgehalten werden, dass rechts vom Erwachsenenstrafrecht kam es die Kontroverse um die Unverjährbarkeit jedoch zu einer massiven Verkürzung der der in Art. 101 Abs. 1 lit. a bis d StGB auf- Fristen. So kann ein merkliches Gefälle zwi- geführten Delikte einen primär theoreti- schen der Frist im Erwachsenenstrafrecht schen Charakter aufweist. Dennoch ist auf- von 15 beziehungsweise 30 Jahren bei Ver- grund der Schwere der Delikte nachvoll- brechen (Art. 97 Abs. 1 lit. a und b StGB) ziehbar, warum diese auch im Jugendstraf- im Vergleich zur fünfjährigen Frist für Ju- recht nicht verjährbar sein sollen. Auch ist gendliche festgestellt werden.22 Diese kurzen eine Nichtanwendung der Unverjährbarkeit Verjährungsfristen sind mit Blick auf andere pornographischer Straftaten an Kindern im Rechtsordnungen ein Novum. So wird bei- Jugendstrafrecht einleuchtend. Ansonsten spielsweise sowohl in Deutschland (§ 78 bestünde die Gefahr, dass jugendliche Straf- StGB) als auch in Österreich (§ 57 StGB) täterinnen trotz eines geringen Altersunter- hinsichtlich der Verjährungsfristen auf das schieds zum Opfer unter die Unverjährbar- Erwachsenenstrafrecht verwiesen. Dies geht keit fallen würden. Auch findet ein bestimm- im Vergleich zur Schweiz mit längeren Fris- ter Ausgleich durch die Fristverlängerung in ten für jugendliche Straftäter einher. Eine Art. 36 Abs. 2 JStG bereits statt. Begründung für die differenzierte Behand- lung von erwachsenen und jugendlichen Straftäterinnen durch das Schweizer Recht III. Gründe für kurze Verjährungs- lässt sich in der Botschaft des Bundesrates fristen bei Jugendlichen finden: Hiernach ist die Bestrafung eines Jugendlichen bei zu langer Zeitspanne zwi- A. Allgemein schen Straftat und Sanktion in pädagogi- scher und psychologischer Hinsicht proble- Die Hintergründe des Verjährungsinstituts matisch. In gewissem Masse relativiert wird können auf verschiedene Theorien zurück- dieser Aspekt durch das gesellschaftliche geführt werden. Beispielsweise sehen einige Bedürfnis nach einer Regelung, die bei die Begründung in der Besserung des Tä- schweren Straftaten den Schutzbedürfnissen ters.20 Andere wiederum rechtfertigen den der Allgemeinheit Rechnung trägt und somit Untergang der Strafverfolgung mit dem auch im Sinne der positiven Generalpräven- schwindenden Repressionsbedürfnis der tion die Integrität der Rechtsordnung beibe- Gesellschaft oder den zunehmenden Be- hält.23 weisschwierigkeiten.21 Im Jugendstrafrecht liegt die Begründung der Verjährung aber B. Erziehungsmodell und Täterstraf- nur bedingt in den allgemeinen Theorien. Im recht Fokus stehen vielmehr spezialpräventive Gedanken. In der rechtsvergleichenden Literatur ist es üblich, das Jugendstrafrecht dem Erzie- Vor der Einführung des Jugendstrafgesetzes hungsmodell oder dem Justizmodell zuzu- galten für minderjährige Straftäterinnen die- selben Verjährungsfristen wie für volljährige. Anlässlich der Abspaltung des Jugendstraf- 22 Bundesrat, Botschaft zur Änderung des Schwei- xueller und pornographischer Straftaten an Kin- zerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine Best- dern vor der Pubertät, Bern 2010, S. 22 f. immungen, Einführung und Anwendung des 20 FISCHER HUBERT, Die Strafverfolgungsverjäh- Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu rung im deutschen und schweizerischen Strafge- einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht setzbuch, Diss. Basel 1970, S. 8. vom 21. September 1998, BBl 1999 II 1979 ff., 21 TRACHSEL ELISABETH, Die Verjährung gemäss S. 2259. den Art. 70–75bis des Schweizerischen Strafge- 23 Botschaft Änderung Strafgesetzbuch (Fn. 22), setzbuches, Diss. Zürich 1990, S. 34 ff. S. 2259 f. 4
cognitio 2021/1 Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern ordnen.24 Bei ersterem spielen die Person der stärkte Tendenz in Richtung Erziehungsmo- Jugendlichen und ihre Bedürfnisse eine zent- dell auszumachen. Die neu eingeführten rale Rolle, wobei Aspekte wie die Straftat kurzen Verjährungsfristen versuchen das oder das Verschulden in den Hintergrund zeitliche Verhältnis von Straftat und Sankti- gedrängt werden. Besonders therapeutische onierung möglichst klein zu halten. Ziel ist und erzieherische Ansätze sollen den Ju- es, im Sinne des Täterstrafrechts in pädago- gendlichen vor einer erneuten Begehung gisch und erzieherisch geeigneter Weise auf abhalten, indem die Sanktionen individuali- den Jugendlichen einzuwirken, um ihn vor siert werden. Die Entscheidungsträger ver- weiteren Straftaten abzuhalten. Insofern ist folgen pädagogische Ziele, um die Jugendli- zur Erreichung der gewollten Wirkung eine chen in spezialpräventiver Weise an das zeitliche Begrenzung der Sanktionsausfäl- Fehlverhalten hinzuführen. Auch das Straf- lung unumgänglich. verfahren selbst wird als Teil des Erzie- hungsprozesses gewertet.25 Hingegen soll C. Neutralisierungstechniken sich das Jugendstrafrecht nach dem Justiz- modell weitgehend am Erwachsenenstraf- Rechtsprechung und Lehre sind sich einig, recht orientieren. Hierbei wird an die Ver- dass mit zunehmender zeitlicher Distanz die antwortlichkeit der Jugendlichen appelliert, erzieherische Wirkung der Sanktion auf die um mithilfe der Sanktion als strafrechtliches Jugendliche nachlässt.29 Zurückzuführen ist Mittel den Straftäter einzuschüchtern.26 dies gemäss eines kriminologischen Ansatzes auf die Anwendung von Neutralisierungs- Primär spielte bei der Konzeption des neuen techniken durch den Jugendlichen.30 Demzu- Jugendstrafgesetzes der Gedanke des Täter- folge versucht die adoleszente Straftäterin strafrechts eine zentrale Rolle, was auch aus- mit zunehmender zeitlicher Distanz zur Tat, drücklich in der Botschaft des Bundesrates das Auseinanderfallen zwischen negativem erwähnt ist. Die Sanktionen dienen spezial- Selbstbild und dem Wunsch nach Selbstak- präventiven Zielen, indem sie sich nach den zeptanz zu kompensieren. Um das innere persönlichen Bedürfnissen des Kindes be- Ungleichgewicht wiederherzustellen und ziehungsweise der Jugendlichen richten und eine Barriere zur Straftat aufzubauen, ten- den minderjährigen Straftäter von der Bege- diert der minderjährige Straftäter beispiels- hung weiterer Delikte abhalten sollen.27 Die- weise zur Bagatellisierung sowie Rechtferti- ser Auffassung folgend muss die Sanktionie- gung der Tat aber auch zu Schuldzuweisun- rung nach Art und Mass der Individualität gen an das Opfer.31 Folglich kann die Ju- der jugendlichen Straftäterin angepasst gendliche aufgrund der psychologischen sein.28 Barriere nicht mehr individuell-präventiv Im Hinblick auf die Verjährung im Jugend- erreicht werden, weil eine Auseinanderset- strafverfahren ist in der Schweiz eine ver- zung mit der Tat und dem begangenen Un- recht verhindert sowie eine drohende Sank- 24 JOSITSCH DANIEL/RIESEN-KUPPER MARCEL, Schweizerische Jugendstrafprozessordnung, 29 AEBERSOLD (Fn. 6), N 644 ff.; JO- Kommentar, 2. Aufl., Zürich/St. Gallen 2018, SITSCH/RIESEN-KUPPER (Fn. 24), N 20 ff.; N 9. RIEDO (Fn. 8), N 2576 ff.; BGE 143 IV 49 25 AEBERSOLD (Fn. 6), N 253 ff.; JO- E. 1.7.2 S. 59. SITSCH/RIESEN-KUPPER (Fn. 24), N 9. 30 SYKES GRESHAM/MATZA DAVID, Techniken 26 AEBERSOLD (Fn. 6), N 257; JOSITSCH/RIESEN- der Neutralisierung, Eine Theorie der Delin- KUPPER (Fn. 24), N 9. quenz, in: Sack Fritz/König Rene (Hrsg.), Kri- 27 Botschaft Änderung Strafgesetzbuch (Fn. 22), minalsoziologie, Frankfurt am Main 1979, S. 2216. S. 360 ff., S. 360. 28 STRATENWERTH GÜNTHER, Schweizerisches 31 DÖBERT RAINER/NUMMER-WINKLER GER- Strafrecht, Allgemeiner Teil I: Die Straftat, TRUD, Adoleszenzkrise und Identitätsbildung, 4. Aufl., Bern 2011, N 16 zu §3. Frankfurt am Main 1975, S. 101 ff. 5
cognitio 2021/1 Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern tionierung verharmlost wird. In Hinblick auf folglich ungerecht behandelt fühlt, was zu den Neutralisierungsvorgang geht also mit nachteiligen Effekten führen kann.37 zunehmendem Zeitablauf und dem Verar- Eine sozialpädagogische Reaktion, welche beiten der Tat die spezialpräventive Wirkung ihre Wirkung verfehlt und folglich nur ver- der Bestrafung verloren.32 Aufgrunddessen geltenden Charakter aufweist, widerspricht besteht die Gefahr, dass das angestrebte dem Wesen des schweizerischen Jugend- Täterstrafrecht in ein vergeltendes Tatstraf- strafrechts.38 Deshalb ist es auch aus ent- recht umschlägt, da die Sanktion lediglich wicklungspsychologischer Sicht zentral, dass generalpräventiven Zwecken dient.33 In die- die Strafe der Tat auf dem Fusse folgt, um sen Überlegungen ist aber auch das Alter eine Verhaltensänderung zu bewirken. sowie die Schwere der Straftat zu berück- sichtigen. Während bei älteren Jugendlichen oder schweren Delikten die Tat emotional E. Weitere Gründe länger fassbar bleibt, ist bei kleinen Kindern oder Bagatelldelikten von einer kürzeren Zuzüglich zu den genannten Argumenten wirkungsvollen Zeitspanne auszugehen.34 kann das öffentliche Interesse bei Jugendde- likten grundsätzlich als geringer eingeschätzt werden, weil sie milder beurteilt und oftmals D. Weiterentwicklung als «Jugendsünde» betitelt werden.39 Hier ist allerdings zu beachten, dass gerade bei Die Adoleszenz stellt eine entwicklungspsy- schweren Delikten das Verständnis der Ge- chologische Umbruchphase dar, die sich in sellschaft sehr gering ist. Besondere mediale einem Neuorientierungsprozess des Jugend- Aufmerksamkeit erregten beispielsweise der lichen äussert. Es ist eine dualistisch gepräg- Fall der sogenannten «Schläger von Mün- te Phase, welche Erwachsensein und Kind- chen»40 oder der Fall «Brian»41, welche beide heit, Abhängigkeit und Unabhängigkeit so- in einer massiven Systemkritik des Jugend- wie Reife und Unreife vereint.35 Diese Ent- strafrechts seitens der öffentlichen Meinung wicklung läuft nicht linear, sondern phasen- resultierten. Ein weiterer Grund für kurze haft ab, was eine Beurteilung des Entwick- Verjährungsfristen liegt im unterschiedlichen lungsstandes für Aussenstehende zusätzlich Zeitverständnis der Jugendlichen im Ver- erschwert.36 Besonders bei Straftaten, die mit gleich zu Erwachsenen. Da sie viel stärker einer bestimmten Entwicklungsphase in im Moment leben, können für Heranwach- engem Zusammenhang stehen, muss diesem sende bereits Zeitspannen von wenigen Mo- Stadium gerecht und vor allem zeitnah rea- naten eine lange Zeit darstellen, was sich in giert werden. Ansonsten besteht die Gefahr, einer geistigen Entfernung zur Tat manifes- dass die Jugendliche aus der zur Tat gehö- tieren kann.42 Für kurze Verfahren spricht renden Phase herausgewachsen ist und sich 37 SESSAR KLAUS, Einsatz ambulanter Massnah- 32 RADKE MARC, Bestrafungshindernisse aufgrund men im Bereich der §§ 45, 47 JGG, in: Bundes- des Zeitablaufs, Verjährungseintritt und Verfah- ministerium der Justiz (Hrsg.), Neue ambulante rensüberlängen im Erwachsenen- und Jugend- Massnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz, strafrecht, Diss. Kiel, Aachen 2001, S. 143; vgl. Bonn 1986, S. 116 ff., S. 116. OSTENDORF HERIBERT, Abkürzung des Ju- 38 Vgl. vorne, III.B. gendstrafverfahrens oder «kurzer Prozess»?, in: 39 AEBERSOLD (Fn. 6), N 644. ZfJ, 1998/12, S. 481 ff., S. 481. 40 MATTHEIS PHILIPP, Spiegel, Spurensuche an der 33 RADKE (Fn. 32), S. 144. Goldküste, in: Spiegel vom 16. Juli 2009. 34 AEBERSOLD (Fn. 6), N 149 ff. 41 HÜRLIMANN BRIGITTE, Republik, «Sie wollen an 35 KLOSINSKI GUNTHER, Jugendkrise: Spiegelbild meinem Beispiel beweisen, dass es keine Ku- unserer Gesellschaftskrise?, in: Lempp Reinhart scheljustiz gibt, dass sie hart sind», in: Republik (Hrsg.), Adoleszenz, Bern/Stuttgart/Wien 1981, vom 1. Juli 2020. S. 51 ff., S. 84. 42 GIRSBERGER MARIANNE, Grundzüge des Ju- 36 OSTENDORF (Fn. 32), S. 481. gendstrafverfahrens mit besonderer Berücksich- 6
cognitio 2021/1 Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern auch das Bedürfnis nach Sicherheit der ju- den Recht, jedoch vor der Bejahung der gendlichen Straftäter. Pendente Strafverfah- Anwendbarkeit von Art. 97 Abs. 3 StGB im ren stellen ein einschneidendes Erlebnis dar, Jugendstrafrecht, galt die Frist als gewahrt, das durch seinen ungewissen Ausgang einen wenn vor Fristenende ein letztinstanzliches entwicklungsbehindernden Unsicherheits- kantonales Urteil ergangen ist. Bei einem faktor darstellen kann.43 Weiterziehen des Urteils ans Bundesgericht ruhte die Frist während des höchstinstanzli- chen Verfahrens. Somit hatte die Vorinstanz IV. Fristenlauf bei Gutheissung der Beschwerde und Kassa- tion des Entscheids gleich viel Zeit, wie zwi- A. Anwendung von Art. 97 Abs. 3 StGB schen ihrem ersten Entscheid und der Ver- im Jugendstrafrecht jährung gelegen hätte.48 Ein ähnliches Prob- lem stellt sich auch im Zusammenhang mit Der Fristenbeginn richtet sich, wie in Art. 1 der Mediation; wenn durch «Taktieren» ein Abs. 2 lit. j JStG statuiert, analog nach Mediationsverfahren im Sinne von Art. 17 Art. 98 StGB und bereitet im Gegensatz StPO verschleppt wird, um sich in die Ver- zum Fristenende wenig Probleme.44 jährung zu «retten».49 Umgekehrt besteht Gemäss Art. 97 Abs. 3 StGB kann die Ver- aber auch die Gefahr, dass ein Mediations- jährungsfrist durch die Fällung eines erstin- verfahren nicht bewilligt wird, um solche stanzlichen Urteils nicht mehr ablaufen. Die- Rettungsversuche zu verhindern, obwohl es se Bestimmung wird von der Verweisungs- angezeigt wäre.50 norm in Art. 1 Abs. 2 lit. j JStG nicht erfasst. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Dabei war lange unklar, ob dies ein gesetz- das Fristenende hinsichtlich Art. 36 JStG geberisches Versehen darstellte. Die Lehre durchaus Schwierigkeiten bereitet. Obschon war mehrheitlich der Ansicht, dass die Be- die Lehre die Anwendung von Art. 97 Abs. 3 stimmung im Jugendstrafrecht infolge des StGB aufgrund des fehlenden Verweises fehlenden Verweises keine Anwendung fin- abspricht, können die damit verbundenen det.45 Einige Autoren befürworteten die An- Probleme nicht ausgeblendet werden. Be- wendbarkeit, was sie mit den bereits deutlich sonders in der Praxis wurden Stimmen laut, verkürzten Verjährungsfristen begründeten.46 welche auf die Komplikationen im Zusam- Auch AEBERSOLD bedauerte die Nichtan- menhang mit der absichtlichen Herbeifüh- wendung des Artikels: Es besteht die Mög- rung der Verjährung verweisen. Diese Prob- lichkeit, durch Einlegen eines Rechtsmittels lematik intensiviert sich insbesondere bei der die Verjährung herbeizuführen.47 Im gelten- einjährigen Frist.51 tigung der Kantone Aargau und Waadt, Diss. B. Bundesgerichtsentscheid: echte Ge- Zürich 1973, S. 43 f.; vgl. vorne, III.C. setzeslücke 43 PUTZKE HOLM, Beschleunigtes Verfahren bei Heranwachsenden, zur strafprozessualen Aus- Die Kontroverse um die Nichtanwendung prägung des Erziehungsgedankens in der Ado- leszenz, Diss. Bochum, Holzkirchen 2004, S. 57. von Art. 97 Abs. 3 StGB im Jugendstraf- 44 RIEDO (Fn. 8), N 2601 ff. recht fand auch nach dem Bundesgerichts- 45 RIEDO (Fn. 8), N 2611 f.; RIESEN-KUPPER entscheid im Jahre 2017 kein Ende. Um die (Fn. 10), N 4 zu Art. 36 JStG; ZURBRÜGG Rechtsunsicherheit zu beenden, differenzier- (Fn. 14), N 51 zu Art. 97 StGB. 46 GÜRBER HANSUELI/HUG CHRIS- TOPH/SCHLÄFLI PATRIZIA, in: Niggli Marcel 48 RIEDO (Fn. 8), N 2612. A./Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommen- 49 AEBERSOLD (Fn. 6), N 648. tar, Strafrecht I, Art. 1–136 StGB, 4. Aufl., Basel 50 RIEDO (Fn. 8), N 2611. 2019, N 17 zu Art. 1 JStG. 51 Vgl. AEBERSOLD (Fn. 6), N 649; RIEDO (Fn. 8), 47 AEBERSOLD (Fn. 6), N 649. N 2612. 7
cognitio 2021/1 Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern te das Bundesgericht in einem ersten Schritt strafrecht vorliegt. Anders als das geltende zwischen Gesetzeslücken und dem qualifi- Recht enthielt der Vorentwurf Unterbre- zierten Schweigen. So muss bei echten Lü- chungsgründe wie beispielsweise die Ergrei- cken infolge Übersehens einer Rechtsfrage fung eines Rechtsmittels, Verfügungen des durch den Gesetzgeber eine richterliche Lü- Gerichtes oder Untersuchungshandlungen ckenfüllung erfolgen. Im Gegensatz dazu ist von Strafbehörden. Diese führten dazu, dass von qualifiziertem Schweigen auszugehen, die Verjährungsfrist neu zu laufen begann. wenn der Gesetzgeber eine Rechtsfrage Gesamthaft durfte aber die Dauer der abso- nicht übersehen hat, sondern stillschweigend luten Verjährungsfrist, welche dem Zweifa- – im negativen Sinn – mitentschieden hat chen der relativen Frist entsprach, nicht und demzufolge keine Lückenfüllung statt- überschritten werden (Art. 4 Ziff. 1 VE- finden darf.52 Sodann unterscheidet das JStG 1993 i. V. m. Art. 95a Abs. 2 Satz 2 Bundesgericht zwischen echten und unech- VE-StGB 1993).55 ten Lücken: Erstere liegen vor, wenn der Im Entwurf des Bundesrats von 1998 wurde Gesetzgeber etwas nicht geregelt hat, das er einerseits in Art. 97 Abs. 2 E-StGB 1998 hätte tun sollen, und eine Vorschrift weder hinzugefügt, dass die Frist nicht mehr eintre- durch den Wortlaut noch durch die Ausle- ten kann, wenn ein erstinstanzliches Urteil gung des Gesetzes ermittelt werden kann. ergangen ist.56 Andererseits wurde die Un- Hingegen wird von letzterer gesprochen, terbrechung beziehungsweise das Ruhen der wenn das Gesetz eine Antwort auf die Fristen abgeschafft, was den Verweis bezüg- Rechtsfrage bereitstellt, diese aber nicht be- lich der Ruhens- und Unterbrechungsgründe friedigend ist. Auch steht dem Gericht eine vom Jugend- auf das Erwachsenenstrafrecht Korrektur der unechten Lücke nach traditi- überflüssig machte. Zusätzlich wurde in oneller Auffassung grundsätzlich nicht frei.53 Art. 1 Abs. 2 E-JStG 1998 nicht auf Art. 97 Weiter führt das Bundesgericht aus, dass die Abs. 2 E-StGB 1998 verwiesen. Wiederum Aufzählung in Art. 1 Abs. 2 JStG grundsätz- enthält das 2007 in Kraft getretene geltende lich abschliessend sei und verweist gleichzei- Recht keine Regelung über die Unterbre- tig auf ältere Bundesgerichtsurteile. Aller- chung, das Ruhen, Vorschriften über eine dings habe sich das Bundesgericht damals absolute Verjährungsfrist oder einen Ver- nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob es weis auf Art. 97 Abs. 3 StGB. 57 Diese histo- sich um eine mögliche Gesetzeslücke han- rische Argumentationslinie führt dazu, dass delt. Auch werde in der Lehre mehrheitlich das Bundesgericht bezüglich des Verlaufs die Auffassung vertreten, die Bestimmung der Verjährungsfrist im Jugendstrafrecht von sei im Jugendstrafrecht nicht anwendbar.54 einer echten Gesetzeslücke ausgeht.58 Auch liegt kein qualifiziertes Schweigen vor, weil Anschliessend argumentiert das Bundesge- bei einem absoluten Verständnis der Fristen richt mit der Entstehungsgeschichte der von Art. 36 Abs. 1 JStG, welche erst mit Norm. Die verkürzten Verjährungsfristen einem rechtskräftigen Entscheid zu laufen gehen auf einen Vorschlag der Experten- aufhören, im Vergleich zum Vorentwurf kommission aus dem Jahre 1993 zurück, eine zusätzliche massive Verkürzung der welcher im Vorentwurf zur neuen Jugend- Fristen resultieren würde. Dies ist aber vom strafrechtspflege in Art. 4 Ziff. 1 Satz 1 VE- Gesetzgeber so nicht vorgesehen gewesen.59 JStG 1993 die Bestimmungen des Strafge- Unterstützt wird diese Ansicht auch von setzbuches für anwendbar erklärte, sofern keine entsprechende Vorschrift im Jugend- 55 BGE 143 IV 49 E. 1.6.1 S. 56. 56 BGE 143 IV 49 E. 1.6.2 S. 57. 52 BGE 143 IV 49 E. 1.4.2 S. 55. 57 BGE 143 IV 49 E. 1.6.2 S. 56. 53 BGE 143 IV 49 E. 1.4.2 S. 55. 58 BGE 143 IV 49 E. 1.6.3 S. 58. 54 BGE 143 IV 49 E. 1.4.2 S. 55. 59 BGE 143 IV 49 E. 1.7.1 S. 58. 8
cognitio 2021/1 Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern anderen Autoren: Es scheint wenig plausibel, Aufnahme eines Mediationsverfahrens res- dass der Gesetzgeber dies im Sinn gehabt pektive die absichtliche Verfahrensverzöge- hätte. Obschon eine deutliche Verkürzung rung in die Verjährung zu retten, was den der Verjährungsfristen im Jugendstrafrecht Zielen des Jugendstrafrechts diametral wi- bezweckt werden sollte, war eine faktisch derspricht.63 Gleichzeitig ist wichtig, dass doppelte Verkürzung der Fristen wohl kaum keine Benachteiligung der Jugendlichen vorgesehen. Auch sind die Fristen so kurz, stattfindet, welche aus anderen Gründen ein weil sie immer als relativ angesehen wurden. Rechtsmittel ergreifen.64 Weiter führt das So kann die Straftat gerade bei der einjähri- Bundesgericht aus, mit Art. 97 Abs. 3 StGB gen Frist leichthin in die Verjährung getrie- wollte der Gesetzgeber eine Vereinfachung ben werden.60 Unterschiedlicher Meinung des Verjährungssystems bezwecken sowie sind die Autoren bezüglich der Annahme die Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit einer echten Lücke. Bei einer logischen Be- sicherstellen.65 Gemäss der Botschaft des trachtungsweise liegt keine Lücke vor, da Bundesrates widersprechen die Unterbre- selbst bei einer Nichtanwendung des Art. 97 chungs- und Ruhegründe dem Institut der Abs. 3 StGB keine Frage zum Verjährungs- Verjährung und führten oftmals zu kompli- ende unbeantwortet bleibt. Von einer Lücke zierten Berechnungen der Verjährungsfris- kann nur gesprochen werden, wenn man ten, was eine Rechtsunsicherheit zur Folge den Lückenbegriff primär normativ konzi- hatte.66 piert beziehungsweise ihn daran misst, was Die Gefahr bei einem Nichteintritt der Ver- die Rechtsanwenderin in der Gesamtbe- jährung nach einem erstinstanzlichen Urteil trachtung als vertretbar befindet.61 liegt in langen Rechtsmittelverfahren. Die- In einem nächsten Schritt nimmt das Bun- sem Problem soll jedoch gemäss Bundesge- desgericht Bezug auf das Beschleunigungs- richt das Beschleunigungsprinzip entgegen- prinzip, welchem gerade im Jugendstrafrecht wirken (Art. 5 StPO i. V. m. Art. 3 Abs. 1 besondere Bedeutung zugesprochen werden JStPO), indem es als genügender zeitlicher soll. Um der erzieherischen Wirkung gerecht Schutz fungiert. Das Beschleunigungsprinzip zu werden, muss die Sanktion zeitlich mög- verpflichtet die Behörden, das Strafverfah- lichst nahe zur Straftat ausgesprochen wer- ren rasch durchzuführen, um die beschuldig- den. Dennoch ist den Materialien nicht zu te Person nicht unnötig im Ungewissen zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die Ver- lassen.67 An dieser Stelle ist zu erwähnen, jährungsfrist weiter habe verkürzen wollen.62 dass gerade das Rechtsmittelverfahren des Zudem können Jugendstrafverfahren nicht zitierten Bundesgerichtsentscheids ein Nega- immer schnell erledigt werden. Die Behör- tivbeispiel für lange Verfahrensdauern bei den sind verpflichtet, die persönlichen Ver- Jugendstrafverfahren darstellt. Obschon die hältnisse der Jugendlichen abzuklären und Delikte vom damals 17-jährigen Täter 2005 allenfalls eine ambulante beziehungsweise begangen wurden, hob das Bundesgericht stationäre Beobachtung oder eine Begutach- 2017 das kantonale Urteil zum dritten Mal tung anzuordnen (Art. 9 Abs. 1 und 3 JStG). Auch können kurze absolute Fristen den Anreiz schaffen, sich beispielsweise durch die Ergreifung eines Rechtsmittels oder die 63 BGE 143 IV 49 E. 1.7.3 S. 60; AEBERSOLD 60 RIEDO CHRISTOF/GROSSENBACHER MANDA- (Fn. 6), N 649. NA, Von Lücken – in Gesetzen und in Urteils- 64 BGE 143 IV 49 E. 1.8.1 S. 60. begründungen, in: AJP, 2007/11, S. 1359 ff., 65 BGE 143 IV 49 E. 1.8.1 S. 60. S. 1363. 66 Botschaft Änderung Strafgesetzbuch (Fn. 22), 61 RIEDO/GROSSENBACHER (Fn. 60), S. 1363. S. 2134. 62 BGE 143 IV 49 E. 1.7.2 S. 59. 67 BGE 133 IV 158 E. 8 S. 170. 9
cognitio 2021/1 Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern auf und wies die Sache erneut an das kanto- kann. Dies eröffnet den Problembereich nale Gericht zurück.68 langer Rechtsmittelverfahren, welche gerade im Jugendstrafverfahren weitreichende Fol- Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung gen haben können. Zum einen geht die er- führt die Verletzung des Beschleunigungs- zieherische Wirkung des Verfahrens verlo- gebots zu einer Strafreduktion, Strafbefrei- ren, zum anderen kann sich die Jugendliche ung oder ultima ratio zur Einstellung des Ver- zunehmend schlechter mit ihrem Fehlverhal- fahrens.69 Auch kann bei langen Verfahren ten auseinandersetzen. So ist es in Anbe- auf Art. 21 Abs. 1 lit. f JStG zurückgegriffen tracht des erwähnten Bundesgerichtsent- werden, falls seit der Straftat verhältnismäs- scheids auch aus spezialpräventiver Sicht sig viel Zeit vergangen ist. Demnach ist die fragwürdig, jahrelange Rechtsmittelverfahren Strafbefreiung möglich, wenn die Jugendli- zu rechtfertigen. che sich einerseits wohlverhalten hat und andererseits das Interesse der Gesellschaft sowie des Geschädigten an der Strafverfol- V. Beschleunigungsgebot gung gering ist. Wie auch in der Botschaft erwähnt, ergänzt Art. 21 Abs. 1 lit. f JStG A. Bedeutung im Bezug zur Verjährung die Verjährungsregeln des Jugendstrafgeset- zes und erlaubt es im Sinne des Täterstraf- Aus einer rechtsstaatlichen Perspektive kann rechts auf die einzelne Jugendliche einzuge- die Verjährung auch als Ausfluss des Be- hen.70 Deshalb misst sich das Vorliegen einer schleunigungsprinzips gesehen werden.72 verhältnismässig langen Zeit am Alter bezie- Zweifellos stellt das Beschleunigungsgebot hungsweise Entwicklungsstand des Jugendli- in Anbetracht der unter III. aufgeführten chen, aber auch an der Schwere und Art des Gründe einen wichtigen verfahrensrechtli- Delikts sowie der Betroffenheit des Opfers. chen Grundsatz dar. Besonders durch die So kann bei jüngeren Jugendlichen grund- Anwendung von Art. 97 Abs. 3 StGB im sätzlich schneller von einer Strafe abgesehen Jugendstrafrecht eröffnen sich Probleme zu werden, da bei zu langer Zeitspanne die langer Rechtsmittelverfahren. Dessen Be- Verknüpfung zwischen Straftat und Strafe deutung in diesem Kontext untermauert dahinfällt und die erzieherische Komponen- auch die Botschaft des Bundesrates: Das te der Sanktion nicht ihre Wirkung erzielen Beschleunigungsprinzip fungiert als Schutz- kann.71 funktion vor Rechtsmittelverfahren, denen Folglich lässt sich festhalten, dass das Bun- keine zeitlichen Grenzen gesetzt sind.73 Die- desgericht im Hinblick auf die Entstehungs- ser Argumentation folgt auch das Bundesge- geschichte der Bestimmungen in Art. 1 richt in seinem Entscheid: Liegt eine Verlet- Abs. 2 lit. j JStG eine echte Gesetzeslücke zung des oben genannten Verfahrensgrund- annimmt. Infolgedessen muss Art. 97 Abs. 3 satzes vor, so kann dies allenfalls zur Straf- StGB entgegen dem gesetzlichen Wortlaut reduktion, Strafbefreiung nach Art. 21 auch im Jugendstrafrecht Anwendung fin- Abs. 1 lit. f JStG oder notwendigenfalls zur den, weshalb die Verjährung nach erstin- Einstellung des Verfahrens führen.74 stanzlichen Urteilen nicht mehr eintreten So war die Verkürzung der Verfahrensdauer zur Bekämpfung der Jugendkriminalität bei 68 KILLIAS MARTIN/MARKWALDER NORA/KUHN der Konzeption der Jugendstrafprozessord- ANDRÉ/DONGOIS NATHALIE, Grundriss des Allgemeinen Teils des Schweizerischen Strafge- nung ein Hauptanliegen. Obschon das Be- setzbuchs, 2. Aufl., Bern 2017, N 1646. 69 BGE 133 IV 158 E. 8 S. 170. 72 FISCHER (Fn. 20), S. 13 f. 70 Botschaft Änderung Strafgesetzbuch (Fn. 22), 73 Botschaft Änderung Strafgesetzbuch (Fn. 22), S. 2259. S. 2134; m. w. H. BGE 143 IV 49 E. 1.8.2 S. 61. 71 AEBERSOLD (Fn. 6), N 644. 74 BGE 143 IV 49 E. 1.8.2 S. 61; vgl. vorne, IV.B. 10
cognitio 2021/1 Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern schleunigungsgebot nicht ausdrücklich Ein- Zeit nur 66 % der Verfahren abgeschlossen zug in die Jugendstrafprozessordnung fand, werden. Begründet wurde dies mit umfang- schlägt es sich in einzelnen Bestimmungen reichen und lang andauernden Strafuntersu- nieder. Zudem findet Art. 5 Abs. 1 StPO in chungen.79 Rückblickend muss 2008 aller- Anbetracht der Jugendstrafprozessordnung dings als Ausnahmejahr qualifiziert werden. im Sinne einer lex specialis analog Anwen- Denn sowohl die mittlere Verfahrensdauer dung.75 als auch die innerhalb von 180 Tagen abge- schlossen Verfahren konnten ab 2009 deut- B. Verfahrensdauern der Jugendstrafver- lich verbessert werden und erreichten 2013 fahren in der Schweiz mit durchschnittlich 82 Tagen den Tiefst- stand.80 Zuletzt konnte allerdings wieder ein Anlässlich der Einführung eines Jugend- Anstieg verzeichnet werden, was damit er- strafgesetzes sollen kurze Verjährungsfristen klärt wurde, dass nun die Rechtskraft des dazu beitragen, langen Verfahren Einhalt zu Entscheides abgewartet wird. So betrug die gebieten. Dennoch werden die langen Ver- mittlere Verfahrensdauer 2019 rund 3.5 Mo- fahrensdauern der Jugendstrafrechtspraxis in nate; allerdings konnten 70 % der Verfahren der Literatur weiterhin vehement kritisiert.76 innerhalb von drei Monaten abgeschlossen So sehen einige Autoren eine Verschärfung werden.81 Den Geschäftsberichten von 2009 des Problems durch den Nichteintritt der bis 2019 ist auch zu entnehmen, dass sich Verjährung nach einem erstinstanzlichen die Jugendstrafbehörden des Kantons Zü- Urteil. Rechtsmittelverfahren werden so rich die Verkürzung der Verfahren jedes Jahr über mehrere Jahre erstreckt, indem sie wie- erneut als Entwicklungsschwerpunkt set- derholt aufgehoben und zurückgewiesen zen.82 werden.77 Um das Problem langer Verfah- Gesamtschweizerisch verhalten sich die Zah- rensdauern im Jugendstrafrecht näher zu len ähnlich, wobei allerdings grosse kantona- beleuchten, wird im Folgenden näher auf die le Unterschiede festzustellen sind. Dies ist effektiven Zahlen der Praxis des Kantons einerseits mit unterschiedlich hohen Krimi- Zürich eingegangen: nalitätsauslastungen sowie den Ressourcen Laut Geschäftsbericht bewegt sich die mitt- der Kantone zu erklären. Andererseits kann lere Verfahrensdauer im Kanton Zürich in es auch bedeuten, dass die Verfahren nicht den Jahren vor der Einführung des Jugend- in allen Kantonen optimal ausgestaltet sind.83 strafgesetzes (2005–2007) zwischen 141 und Zusammenfassend können seit der Einfüh- 160 Tagen, was ungefähr 4.7 und 5.3 Mona- rung des Jugendstrafgesetzes, aber insbeson- ten entspricht. Auch konnten 69 % bis 72 % dere seit dem Inkrafttreten der Jugendstraf- der Fälle innerhalb von 180 Tagen abge- prozessordnung, kürzere Verfahrensdauern schlossen werden.78 Im Jahr darauf lässt sich festgestellt werden. Zweifelhaft ist allerdings, allerdings ein Allzeithoch feststellen. So liegt welchen Einfluss die kurzen Verjährungsfris- die Verfahrensdauer 2008 bei rund einem halben Jahr; zudem konnten innerhalb dieser 79 Jugendanwaltschaft des Kantons Zürich, Geschäftsbericht der Jugendstrafrechtspflege 75 JOSITSCH/RIESEN-KUPPER (Fn. 24), N 20 ff. 2008, Zürich 2009, S. 65. 76 MURER MIKOLÁSEK ANGELIKA, Analyse der 80 Jugendanwaltschaft des Kantons Zürich, Schweizerischen Jugendstrafprozessordnung Geschäftsbericht der Jugendstrafrechtspflege (JStPO), Entspricht sie den Grundsätzen des Ju- 2009, Zürich 2010, S. 67. gendstrafrechts?, Diss. Zürich 2011, N 304; JO- 81 Jugendanwaltschaft des Kantons Zürich, SITSCH/RIESEN-KUPPER (Fn. 24), N 20; AEBER- Geschäftsbericht der Jugendstrafrechtspflege SOLD (Fn. 6), N 149 ff. 2019, Zürich 2020, S. 21. 77 KILLIAS/MARKWALDER/KUHN/DONGOIS 82 Vgl. Geschäftsbericht Kanton Zürich 2019 (Fn. 68), N 1646. (Fn. 81), S. 22. 78 MURER MIKOLÁSEK (Fn. 76), N 300. 83 MURER MIKOLÁSEK (Fn. 76), N 303. 11
cognitio 2021/1 Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern ten haben, da die Verjährung bereits nach Überführung der bundesgerichtlichen Recht- dem erstinstanzlichen Urteil nicht mehr ein- sprechung ins Gesetz.87 Einzig der Kanton treten kann und somit langen Rechtsmittel- Zürich äusserte sich detailliert zur Bestim- verfahren nicht Einhalt geboten wird. mung des Vorentwurfs. Im ersten Teil der von der Oberjugendanwaltschaft des Kan- tons Zürich verfassten Stellungnahme wird VI. Ausblick die Kodifikation der bundesgerichtlichen Rechtsprechung als sinnvoll erachtet, weil Von der geplanten Änderung der Strafpro- die Verjährungsfristen für Jugendliche ohne- zessordnung ist auch Art. 36 JStG einge- hin relativ kurz sind.88 Die als redaktionelle schlossen. Ziel ist es, die neue Rechtspre- Anpassungen qualifizierten Änderungen in chung des Bundesgerichts in Art. 36 Abs. 1bis Art. 36 Abs. 2 VE-JStG 2017 werden vom VE-JStG 2017 zu überführen: Wie in Art. 97 Verfasser darauf zurückgeführt, dass ur- Abs. 3 StGB soll die Verjährung nicht mehr sprünglich der Menschenhandel nach eintreten können, wenn ein erstinstanzliches Art. 182 StGB in Art. 196 aStGB platziert Urteil ergangen ist. Begründet wird dies in war, dieser aber im geltenden Recht die se- der Botschaft mit der stossenden Tatsache, xuellen Handlungen mit Minderjährigen dass durch das Ergreifen eines Rechtsmittels gegen Entgelt regelt.89 Die aus diesen Grün- oder das Verzögern eines Mediationsverfah- den resultierende Anpassung des Deliktska- rens die Verjährung herbeigeführt werden talogs wird zwar als nachvollziehbar emp- kann.84 Indes wird auf einen Verweis auf das funden, jedoch ergibt diese Änderung mate- Erwachsenenstrafrecht der Klarheit halber riell wenig Sinn. So kommt Menschenhandel verzichtet und es wird eigens ein neuer Ab- bei Jugendlichen äusserst selten vor, weshalb satz eingegliedert.85 Ebenfalls von einer Mo- sich die Aufnahme der Bestimmung nicht difikation betroffen ist Art. 36 Abs. 2 JStG. offensichtlich aufdrängt.90 Wiederum kann Einerseits soll eine verlängerte Verjährungs- auch bei den sexuellen Handlungen mit frist bei unter 16-jährigen Opfern nun auch Minderjährigen gegen Entgelt nicht von für Menschenhandel (Art. 182 StGB) gelten, grosser praktischer Bedeutung gesprochen andererseits soll die Bestimmung der sexuel- werden. Dennoch ist es denkbar, dass bei- len Handlungen mit Minderjährigen gegen spielsweise ein 17-Jähriger von einer 15- Entgelt (Art. 196 StGB) entfernt werden. In Jährigen sexuelle Leistungen gegen Entgelt der Botschaft werden die Anpassungen in erhält und sich das Opfer erst im Erwachse- Absatz 2 als rein redaktioneller Natur dekla- nenalter zu einer Strafanzeige überwinden riert.86 kann.91 Gleiches kann für das Fehlen der Sowohl die Kantone wie auch die Organisa- sexuellen Handlungen mit Kindern nach tionen und Parteien äusserten sich grössten- Art. 187 StGB gesagt werden: Im Gegensatz teils nicht zu den geplanten Änderungen von zur erwachsenenstrafrechtlichen Bestim- Art. 36 JStG. Vereinzelte Kantone wie Basel- mung nach Art. 97 Abs. 2 StGB wurde die- Stadt, St. Gallen oder Solothurn sowie Or- ser Artikel nicht in den Deliktskatalog auf- ganisationen wie die Vereinigung für Jugend- strafrechtspflege und die Universität Genf 87 Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, begrüssten in knappen Ausführungen die Zusammenfassung der Ergebnisse des Ver- nehmlassungsverfahrens über den Bericht und den Vorentwurf zur Änderung der Strafprozess- 84 AEBERSOLD (Fn. 6), N 649. ordnung, Bern 2019, S. 26. 85 Bundesrat, Botschaft zur Änderung der Straf- 88 Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, prozessordnung vom 28. August 2019, Stellungnahmen Kantone, Bern 2018, S. 303. BBl 2019 6697 ff., S. 6774 f. 89 Stellungnahmen Kantone (Fn. 88), S. 303. 86 Botschaft Änderung Strafprozessordnung 90 Stellungnahmen Kantone (Fn. 88), S. 303. (Fn. 85), S 6775. 91 Stellungnahmen Kantone (Fn. 88), S. 303. 12
cognitio 2021/1 Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern genommen, obschon sich auch jugendliche pensieren.94 Andererseits durchlebt eine Ju- Straftäterinnen nach Art. 187 StGB strafbar gendliche verschiedene entwicklungspsycho- machen können.92 logische Phasen, weshalb eine stark verzö- gerte Straffällung der Entwicklungsphase Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich zum Tatzeitpunkt nicht genügend Rechnung der Kanton Zürich für ein Nichteintritt der tragen kann.95 Aus den genannten Gründen Verjährung nach einem erstinstanzlichen ist es also hinsichtlich der Rückfallgefahr Urteil nach Art. 36 Abs. 1bis VE-JStG 2017 von grosser Wichtigkeit, möglichst zeitnah ausspricht.93 Wiederum finden die geplanten erzieherisch auf den Jugendlichen einzuwir- Änderungen in Art. 36 Abs. 2 VE-JStG 2017 ken und das Verfahren zum Abschluss zu nur bedingt Anklang. So sollen sowohl die bringen. Werden diese Elemente ausser Acht sexuellen Handlungen mit Kindern (Art. 187 gelassen, verfehlt die Strafe ihre spezialprä- StGB), die sexuellen Handlungen mit Min- ventive Wirkung und weist nur noch vergel- derjährigen gegen Entgelt (Art. 196 StGB) tenden Charakter auf, was dem Jugendstraf- sowie der Menschenhandel (Art. 182 StGB) recht im Sinne eines Täterstrafrechts diamet- mit verlängerten Fristen einhergehen, wenn ral widerspräche. sie gegen unter 16-Jährige verübt wurden. In Anbetracht obiger Argumente ist es umso Die Kritik des Kantons Zürich wurde ledig- erstaunlicher, dass das Bundesgericht in sei- lich in der Zusammenfassung der Vernehm- nem Entscheid 2017 die Anwendung von lassung aufgegriffen, jedoch in der Botschaft Art. 97 Abs. 3 StGB im Jugendstrafrecht und dem Entwurf des Bundesrates (Art. 36 bejaht.96 Auch wenn das Urteil in der Praxis Abs. 2 E-JStG 2019) kommentarlos ausge- mehrheitlich begrüsst wird, kann es zweifel- lassen. los als ambivalent betrachtet werden: Zum einen zeigt eine historische Beleuchtung der VII. Zusammenfassung und Fazit Bestimmungen auf, dass der Gesetzgeber die durch die Absolutheit der Fristen erzeugte Wie im Beitrag verdeutlicht, ist Art. 36 JStG erneute Verkürzung der Fristen wohl nicht stark vom Gedanken des Täterstrafrechts beabsichtigt hatte. Dies ist vor allem im geprägt. So ergeben sich die im Vergleich Hinblick auf die einjährige Frist nachvoll- zum Erwachsenenstrafrecht massiv verkürz- ziehbar, da jene Delikte leichthin in die Ver- ten Fristen nur bedingt aus den allgemeinen jährung getrieben werden können. Hier stellt Begründungstheorien. Vielmehr steht der das Bundesgericht auch einen weiteren Kri- einzelne Jugendliche und die Reaktion auf tikpunkt fest: Kurze Verjährungsfristen sein Fehlverhalten in spezialpräventiver Wei- können den Anreiz schaffen, sich durch se im Vordergrund. Funktionell liegt der «Taktieren» im Sinne eines Rechtsmittel- Schwerpunkt von Art. 36 JStG im Ziel kur- oder Mediationsverfahrens in die Verjährung zer Verfahrensdauern; die Sanktion soll der zu retten.97 Wiederum führt der Nichteintritt Tat möglichst auf dem Fusse folgen. Dies ist der Verjährung nach einem erstinstanzlichen aus mehreren Gründen sinnvoll: Einerseits Urteil zu einem entgegengesetzten Problem. versucht der adoleszente Straftäter mit zu- Die Anwendung von Art. 97 Abs. 3 StGB nehmendem Zeitablauf seit der Straftat das ebnet den Weg für lange Rechtsmittelverfah- dadurch entstandene innere Ungleichgewicht ren, welche aus erzieherischer Sicht wenig durch Neutralisierungstechniken zu kom- sinnvoll sind. Das Bundesgericht sieht je- doch im Beschleunigungsgebot einen genü- 94 SYKES/MATZA (Fn. 30), S. 360 ff. 92 Stellungnahmen Kantone (Fn. 88), S. 303. 95 SESSAR (Fn. 37), S. 116. 93 Zusammenfassung Stellungnahmen (Fn. 87), 96 Vgl. BGE 143 IV 49. S. 26. 97 BGE 143 IV 49 E. 1.7.3 S. 60. 13
cognitio 2021/1 Reggiani, Kurze Verjährungsfristen bei jugendlichen Straftätern genden zeitlichen Schutz vor übermässig es auch in Zukunft zu verhindern, das Ju- langen Verfahren. Mit einem Blick auf die gendstrafrecht in ein vergeltendes Tatstraf- gesamtschweizerischen Verfahrensdauern recht umzuwandeln. lässt sich trotzdem feststellen, dass die Ju- gendstrafverfahren mit rund 3.5 Monaten tendenziell zu lang sind.98 Gerade im er- wähnten Bundesgerichtsentscheid wurde das Delikt 2005 von einem 17-jährigen Täter begangen; jedoch wurde 2017 das Urteil zum dritten Mal an die kantonale Instanz zurück- gewiesen. Obschon es sich vorliegend um schwere Straftaten gehandelt hat, scheint es dennoch aus sozialpädagogischer Sicht frag- würdig, einen 29-Jährigen für ein in der Ju- gend begangenes Delikt zu bestrafen. Frag- lich ist auch, ob bei Art. 1 Abs. 2 lit. j JStG eine echte Gesetzeslücke vorliegt. Obschon die Anwendung der Bestimmung hinsicht- lich des historischen Kontexts berechtigt ist, muss die Qualifizierung als echte Lücke kri- tisch beäugt werden. Auch wenn die ver- kürzten Fristen aus praktischem Standpunkt als unbefriedigend erscheinen, muss bei logi- scher Betrachtungsweise anerkannt werden, dass das Gesetz auch bei Nichtanwendung von Art. 97 Abs. 3 StGB eine Antwort auf die Fragestellung bereithält.99 Ein Blick auf die Zukunft von Art. 36 JStG, lässt erkennen, dass der Bundesgerichtsent- scheid auch Einzug in die Bestimmung fin- den wird. Dies stösst in der Praxis auf grosse Zustimmung. In einer Gesamtbetrachtung des Art. 36 JStG zeigt sich, dass kurze Verjährungsfris- ten eine wichtige Funktion erfüllen. Insofern müssen gegenläufige Bestrebungen wie der Bundesgerichtsentscheid und dessen Kodifi- kation kritisch betrachtet werden. Umso mehr sind die Behörden angehalten, dem Beschleunigungsgebot besondere Aufmerk- samkeit zu widmen und ihre mittleren Ver- fahrensdauern weiterhin zu senken, um der erzieherischen Funktion des Jugendstraf- rechts genügend Rechnung zu tragen. So gilt 98 Geschäftsbericht Kanton Zürich 2019 (Fn. 81), S. 21. 99 RIEDO/GROSSENBACHER (Fn. 60), S. 1363. 14
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