Lampedusa - als Tor zu Europa oder Endstation?
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Lampedusa – als Tor zu Europa oder Endstation? Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz vorgelegt von Mariell SCHMÖLZER am Institut für Romanistik Begutachter: Univ.-Prof. Dr.phil. Steffen SCHNEIDER Graz, Juni 2021
Danksagung An dieser Stelle möchte ich mich bei all jenen Menschen bedanken, die mich auf meinem Weg während des Studiums an der Karl-Franzens-Universität begleitet haben. Mein größter Dank gilt von ganzem Herzen meinen Eltern, Barbara und Wolfgang, die mich während meines gesamten Studiums bedingungslos unterstützt haben. Ich danke euch dafür, dass ihr immer hinter mir gestanden seid und mich aufgefangen habt, wenn ich Kummer hatte. Ich bin sehr dankbar, euch als Eltern zu haben. Außerdem danke ich meinem großen Bruder, der seine Vorbildfunktion absolut erfüllt und mich durch seine eigenen Erfolge stets motiviert hat weiterzumachen. Ich bin sehr stolz auf dich. Ein besonderer Dank gilt meinem geliebten Partner und besten Freund Wolfgang, der mich während des Schreibprozesses unterstützt hat und in schwierigen Phasen immer hinter mir gestanden ist. Ich danke dir für dein Verständnis, deine Liebe, deine Ermutigungen und dass du immer für mich da bist. Danke, dass du mir bei jeglichen Fragen stets zur Verfügung gestanden bist und meine Diplomarbeit Korrektur gelesen hast. Außerdem möchte ich mich bei all meinen Freundinnen bedanken, die immer an mich geglaubt haben und mir die schönste Studienzeit meines Lebens beschert haben. Ich danke euch für eure Freundschaft und euer Sein. Ihr alle macht mein Leben um ein großes Stück bunter, fröhlicher und liebevoller. Last but not least möchte ich mich bei Herrn Prof. Schneider bedanken. Durch Ihre positive, kompetente und wertschätzende Unterstützung während des Entstehungsprozesses konnte ich immer wieder neue Anregungen einholen und sichergehen, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Ich bin sehr dankbar, dass ich meine abschließende Arbeit mit Ihnen als Betreuer verfassen durfte und wünsche Ihnen von Herzen nur das Allerbeste. I
Eidesstattliche Erklärung Ich erkläre hiermit ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne unerlaubte fremde Hilfe verfasst und keine anderen als die in der Diplomarbeit angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus primären oder sekundären Quellen entnommen wurden, habe ich als solche kenntlich gemacht. Die hier vorliegende Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Version. Gleichheitsgrundsatz Um den Lesefluss nicht durch eine ständige Nennung beider Geschlechter zu stören, wird in dieser Arbeit ausschließlich die maskuline Form verwendet. Dies impliziert aber immer auch die feminine Form. Mariell Schmölzer Graz, Juni 2021 II
Abstract Lampedusa gilt auf dem Seeweg vom afrikanischen Kontinent über das Mittelmeer als letzte Station bei der Reise für flüchtende Menschen nach Europa. Dort befindet sich das Tor zu Europa, welches als Symbol der Hoffnung auf ein friedvolles und besseres Leben gilt. In der vorliegenden Diplomarbeit rückt das Leben der Inselbewohner und deren Alltag, der sich direkt dort gestaltet, neben der Ankunft der Flüchtlinge in den Fokus. Lampedusa ist ein touristisches Paradies das zwischen kontinuierlich ankommenden Flüchtlingen sowie politischen und sozialen Hindernissen versuchen muss, die physische Distanz zu Italien und Europa auszugleichen, in dem die Bewohner jeden Tag aufs Neue für sich selbst und für Humanität kämpfen. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, zu beantworten, ob das Eingangstor zu Europa für Flüchtlinge als auch Inselbewohner wirklich zugänglich ist. Dies impliziert nicht nur die geographische, sondern ebenso die politische und soziale Ebene. Dazu wird die folgende Forschungsfrage gestellt: Fungiert Lampedusa als Tor zu Europa oder als Endstation? Ausgehend von einer Einführung in die Flüchtlingskrise Europas mit einer näheren Definition zu Flüchtlingen, werden darauffolgend die geographischen Gegebenheiten sowie kurze historische und migrationspolitische Fakten zu Lampedusa erläutert. Die Analyse dieser Arbeit basiert auf den ausgewählten Dokumentarfilmen Fuocoammare und Lampedusa im Winter, woraufhin vorab eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Genre des Dokumentarfilms stattfindet, gefolgt von einer theoretischen Aufbereitung der Filmanalyse. Die Filmanalyse wird durch eine Szenenauswahl bestimmt und an Hand von Bildern aufbereitet. Diese werden entlang der Theorie der Filmanalyse durchleuchtet, bevor eine kurze Gegenüberstellung beider Filme folgt. Es wird im Wesentlichen untersucht, inwiefern für die Flüchtlinge und Inselbewohner eine imaginäre Brücke zu Europa besteht, welche ihnen von Lampedusa aus, einen problemlosen Zugang gewährt. III
Abstract Lampedusa is thought to be the last stop on the sea route from the African continent across the Mediterranean Sea for people fleeing to Europe. There is the ‘gateway to Europe’, which is considered a symbol of hope for a peaceful and better life. In this thesis, the life of the islanders and their everyday life, which takes place directly there, is the focus of attention, in addition to the arrival or onward journey of the arriving refugees. Lampedusa is a tourist paradise that, between the continuous arrival of refugees, political and social obstacles, must try to balance the physical distance with Italy and Europe, where the inhabitants fight every day anew for themselves and for humanity. The aim of the present work is to answer whether the gateway to Europe is accessible for refugees as well as islanders. This implies not only the geographical level, but also the political and social level. For that purpose, the following research question is posed: Does Lampedusa function as a gateway to Europe or as a terminus? Starting with an introduction to the refugee crisis in Europe with a more detailed definition of refugees, the geographic conditions as well as brief historical and migration policy facts about Lampedusa are explained. The analysis of this thesis is based on the selected documentary films Fuocoammare and Lampedusa in Winter, whereupon a theoretical discussion of the genre documentary film takes place in advance, followed by a theoretical preparation of the film analysis. The film analysis is determined by a selection of scenes and prepared based on images. These are examined along the theory of film analysis before a brief comparison of the two films follows. Ultimately, it is examined to what extent an imaginary bridge to Europe exists for the refugees and islanders, which grants them easy access from Lampedusa. IV
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ....................................................................................................................................... 1 2 Flüchtlingskrise in Europa ........................................................................................................... 4 2.1 Definition Flüchtling ............................................................................................................... 5 2.2 Beweggründe, um eine Flucht anzutreten ............................................................................... 7 3 Lampedusa ..................................................................................................................................... 9 3.1 Geographische Lage Lampedusas ........................................................................................... 9 3.2 Historische Kurzfassung.......................................................................................................... 9 3.3 Fakten der Migrationspolitik auf Lampedusa........................................................................ 10 3.4 Literarische Einblicke in das Leben auf Lampedusa ............................................................. 14 3.4.1 Pietro Bartolo – zwischen Leben und Tod .................................................................... 16 4 Der Dokumentarfilm ................................................................................................................... 18 4.1 Abgrenzung und Definition ................................................................................................... 18 4.2 Historischer Abriss des Dokumentarfilms in Italien ............................................................. 21 4.3 Filmanalyse ........................................................................................................................... 22 4.3.1 Klassifizierung nach Kammerer & Kepser .................................................................... 22 4.3.2 Authentizitätssignale ..................................................................................................... 24 4.3.3 Relevante Bauformen .................................................................................................... 25 4.3.4 Figurenanalyse nach Jens Eder ...................................................................................... 30 5 Vorstellung der Regisseure & Filme .......................................................................................... 36 5.1.1 Jakob Brossmann ........................................................................................................... 36 5.1.2 Gianfranco Rosi ............................................................................................................. 39 6 Lampedusa als Endstation oder Lampedusa als Tor zu Europa ............................................ 42 6.1 Die Analyse ........................................................................................................................... 43 6.1.1 Abschließende Gegenüberstellung der Dokumentarfilme ............................................. 82 7 Conclusio ...................................................................................................................................... 84 8 Filmographie ................................................................................................................................ 87 9 Literaturverzeichnis .................................................................................................................... 87 V
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: La porta d'Europa ......................................................................................................... VIII Abbildung 2: Statistik: Ankunft der Migranten auf Lampedusa/in Italien ............................................ 13 Abbildung 3: Interne Authentizitätssignale. .......................................................................................... 24 Abbildung 4: Figurenanalyse nach Eder I ............................................................................................. 31 Abbildung 5: Figurenanalyse nach Eder II ............................................................................................ 32 Abbildung 6: Lampedusa im Winter 0:00:29 ........................................................................................ 43 Abbildung 7: Fuocoammare 0:00:50 ..................................................................................................... 45 Abbildung 8: Fuocoammare 1:41:08 ..................................................................................................... 46 Abbildung 9: Fuocoammare 1:40:39 ..................................................................................................... 46 Abbildung 10: Fuocoammare 1:40:51 ................................................................................................... 47 Abbildung 11: Fuocoammare 1:41:13 ................................................................................................... 48 Abbildung 12: Fuocoammare 1:01:23 ................................................................................................... 49 Abbildung 13: Fuocoammare 0:33:58 ................................................................................................... 52 Abbildung 14: Fuocoammare 0:36:19 ................................................................................................... 52 Abbildung 15: Fuocoammare 0:36:36 ................................................................................................... 53 Abbildung 16: Fuocoammare 0:36:52 ................................................................................................... 53 Abbildung 17: Fuocoammare 0:51:58 ................................................................................................... 55 Abbildung 18: Fuocoammare 0:50:27 ................................................................................................... 55 Abbildung 19: Lampedusa im Winter 0:37:31 ...................................................................................... 56 Abbildung 20: Fuocoammare 0:45:10 ................................................................................................... 57 Abbildung 21: Fuocoammare 0:41:13 ................................................................................................... 59 Abbildung 22: Fuocoammare 0:54:17 ................................................................................................... 60 Abbildung 23: Fuocoammare 0:58:13 ................................................................................................... 61 Abbildung 24: Fuocoammare 0:10:43 ................................................................................................... 62 Abbildung 25: Fuocoammare 0:27:20 ................................................................................................... 62 Abbildung 26: Fuocoammare 0:27:42 ................................................................................................... 63 Abbildung 27: Fuocoammare 0:29:00 ................................................................................................... 64 Abbildung 28: Lampedusa im Winter 0:14:37 ...................................................................................... 65 Abbildung 29: Lampedusa im Winter 0:23:16 ...................................................................................... 68 Abbildung 30: Lampedusa im Winter 0:33:46 ...................................................................................... 70 Abbildung 31: Lampedusa im Winter 0:52:48 ...................................................................................... 73 Abbildung 32: Lampedusa im Winter 0:52:46 ...................................................................................... 73 Abbildung 33: Lampedusa im Winter 0:53:55 ...................................................................................... 75 Abbildung 34: Lampedusa im Winter 0:54:08 ...................................................................................... 75 Abbildung 35: Lampedusa im Winter 0:54:45 ...................................................................................... 76 Abbildung 36: Lampedusa im Winter 0:35:39 ...................................................................................... 78 VI
Abbildung 37: Fuocoammare 0:46:55 ................................................................................................... 80 Abbildung 38: Fuocoammare: 0:46:36 .................................................................................................. 81 VII
La porta d’Europa Abbildung 1: La porta d'Europa Quelle: https://www.caveri.it/blog/2011/03/20/la-porta-deuropa [09.06.2021] VIII
1 Einleitung Im Mittelmeer, das sich im Süden Italiens zwischen Sizilien und der tunesischen Küste erstreckt, gibt es eine Gruppe kleinerer Inseln, die physisch als Erweiterung des afrikanischen Kontinents zu betrachten sind, aber aus historischen und politischen Gründen ein integraler Bestandteil von Italien sind. Diese Inseln, das Pelagische Archipel, stellen rechtlich gesehen das europäische Territorium dar, das dem afrikanischen Kontinent am nächsten liegt. Aus diesem Grund wird die größte von ihnen, Lampedusa, mittlerweile als "Tor zu Europa" bezeichnet. Lampedusa repräsentiert eine enorme Vielfalt an Kontrasten, das Leben steht zeitgleich dem Tod gegenüber sowie die Hoffnung der Verzweiflung. Für viele Menschen beginnt die Zukunft ab dem Zeitpunkt der Ankunft auf der Insel, denn das Mittelmeer definiert die letzte große Hürde vor der Ankunft beim „Tor nach Europa“, der Insel Lampedusa. Dieser symbolische Name wurde von Mimo Paladino künstlerisch aufgearbeitet und findet in dem Kunstwerk Porta d’europa1 seine Bedeutung wieder. Fünf Meter hoch und drei Meter breit, aus feuerfester Keramik und verzinktem Eisen – seit 2008 ein Symbol der Hoffnung. Es ist wie ein Bogen, der vom Festland aus gesehen auf das Meer und den Himmel schaut und vom Meer aus gesehen den Zugang zum Inneren der Insel anzeigt. Die Porta d’europa wurde bewusst als Durchgang ohne Tür konstruiert, da weder die Möglichkeit auf Öffnen noch auf Schließen gegeben werden soll, um einen Raum des „Willkommenseins“ und der Begegnung zu ermöglichen, den man ohne Hindernisse durchqueren kann. In der kollektiven Vorstellung, die größtenteils durch Medien verbreitet wird, ist Lampedusa das Symbol für Einwanderung, Leid und Tod und wird zunehmend als eine Insel dargestellt, die in einer humanitären Notlage versinkt.2 Im Fokus stehen die ankommenden Flüchtlinge und deren Weiterreise nach Europa. Wie sich die Ankunft oder die Bedingungen für die Weiterreise nach Europa auf Lampedusa gestaltet oder mit welchen Hindernissen die lampedusani selbst im Alltag konfrontiert werden, wird hingegen kaum von Medien aufgegriffen. Ob Lampedusa für Flüchtlinge, als auch für Inselbewohner, als Tor zu Europa oder als Endstation gesehen werden kann 1 S. Abb. 1 2 Vgl. Fiz (2020). 1
und wie sich diese Frage direkt anhand einer Analyse im Lebensraum der Insel Lampedusa beantworten lässt, wird in der vorliegenden Diplomarbeit behandelt. Als Grundlage dafür dienen die zwei ausgewählten Dokumentarfilme Lampedusa im Winter und Fuocoammare, deren Regisseure sich diesem Thema angenommen haben. Sie möchten einen realitätsgetreuen Einblick schaffen, wie der Alltag bzw. das Schicksal der Flüchtlinge und Inselbewohner aussehen. Dabei wird nicht nur die Sicht der Flüchtlinge, sondern auch der Lampedusaner als betroffene Einwohner dargestellt, die den politischen Auswirkungen und der geographischen Abgeschiedenheit zu Italien beziehungsweise Europa ausgesetzt sind. Die selektierten Filme geben authentische Einblicke in das Leben auf Lampedusa und die Ankunft von Migranten. Einblicke, die kaum über andere Medien vermittelt werden. In den Filmszenen steht nicht nur das Flüchtlingselend im Fokus, welches sich bereits auf dem Mittelmeer ereignet, sondern viel mehr konzentriert sich der Blickwinkel auf die Bewohner vor Ort, welche hautnah miterleben, ob Lampedusa die Funktion als Zugang zu Europa oder als Endstation übernimmt. In diesem Kontext werden explizit die Schwierigkeiten und hoffnungstragenden Aspekte der Bewohner der Insel Lampedusa und der dort ankommenden Flüchtlinge thematisiert, die mit mehreren Problemen gleichzeitig konfrontiert werden. In der ersten Phase der Arbeit, wird das Thema der Flüchtlingskrise in Europa als Ausgangspunkt genommen. Unter diesem Aspekt erfolgt die detaillierte Eingrenzung von Menschen, die sich auf die Flucht begeben und ab wann die Bezeichnung „Flüchtling“ Verwendung findet. Weiterführend werden Beweggründe für den Antritt einer Flucht dargelegt. Im darauffolgenden Abschnitt wird ein Einblick über die geographische Lage im Mittelmeer und der daraus resultierenden Zusammenkunft vieler Kulturen gegeben. Außerdem werden historisch erwähnenswerte Ereignisse erläutert und abschließend die lokale Migrationspolitik behandelt. Der Hauptteil der Arbeit beschäftigt sich mit der Analyse der Dokumentarfilme Lampedusa im Winter und Fuocoammare, die sich der Thematik auf Lampedusa angenommen haben und direkt vor Ort gedreht wurden. Dafür bedarf es vorab einer Abgrenzung und Definition des Begriffs ‚Dokumentarfilm‘, sowie einer historischen Aufarbeitung der Einführung von Dokumentarfilmen in der italienischen Filmindustrie. 2
Darauffolgend wird die Filmanalyse nach der Klassifizierung von Kammerer & Kepser, definierte Authentizitätssignalen, ausgewählte Bauformen sowie die Figurenanalyse nach Jens Eder theoretisch aufgearbeitet und dargestellt. Um auf die Fragestellung, ob das Leben auf Lampedusa als Tor zu Europa oder als Endstation fungiert, eine Antwort geben zu können, werden ausgewählte Szenen der bereits erwähnten Dokumentarfilme betrachtet und analysiert. Dabei werden Bilder aus unterschiedlichsten Filmausschnitten in die Analyse eingegliedert, um unterschiedliche Aspekte auf mehreren Ebenen in den Fokus zu stellen. 3
2 Flüchtlingskrise in Europa Das Jahr 2015 hat die Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft, auf Krisen und die massenhafte Vertreibung von Menschen zu reagieren, auf eine harte Probe gestellt und dabei massive Defizite offenbart. Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. […]. Alle Versuche, diesen Konflikt zu beenden, haben bislang lediglich die Differenzen auf internationaler Ebene und in der Region selbst hervortreten lassen. 3 Mit dem Ausbruch der Flüchtlingskrise im Jahre 2015 und der andauernden Ankunft von Flüchtlingen im Jahr 2016 und 2017 befinden sich viele Länder in einer Notsituation. Die Flüchtlingskrise hat sich nicht nur in Deutschland, Österreich oder Italien zugespitzt, sondern ganz Europa ist davon betroffen. Diese vorherrschende Extremsituation und das inadäquate europäische Asylverfahren ermöglichen es kaum, die grundlegenden und allgemeingültigen Menschenrechte für die Schutzsuchenden zu gewähren. Gründe für diese Welle, die Europa überflutet hat, sind menschenfeindliche Bedingungen und Kriege in den Ländern des Nahen Ostens und vielen anderen afrikanischen Ländern. Die letzte Chance, die den Bewohnern das Leben retten kann, ist die Flucht in ein benachbartes Land oder sogar über die Grenzen hinaus, in die EU. Zudem sind viele Menschen auf Grund von ökonomischen Gründen die Überfahrt auf die Insel Lampedusa angetreten. Man spricht von einer der größten Flüchtlingskrisen des 20. und 21. Jahrhunderts.4 Diese Flucht ist nur durch illegale Reiserouten möglich und bringt somit eine große Lebensgefahr mit sich. Eine dieser illegalen Strecken führt direkt über das Mittelmeer. Als Ziel und Auffangstellen gelten die Insel Malta und Italien, insbesondere die Insel Lampedusa. Lampedusa – einerseits das Touristenparadies Italiens schlechthin und andererseits die Verkörperung der Flüchtlingskrise im Mittelmeer. Einerseits die Insel wunderschöner Landschaften, andererseits die Insel unzähliger Leichen. Einerseits die Insel fröhlicher italienischer Mentalität, andererseits die Insel der Trauer und des Unbekannten. Es gibt keine andere Migrationsroute weltweit, auf der so viele Menschen sterben wie auf dem Seeweg von Nordafrika nach Italien oder Malta. Diese kleine Insel steht besonders im Sommer im Rampenlicht der medialen Berichterstattung. Das ist nicht verwunderlich, denn im Sommer begeben sich die meisten Flüchtlinge auf den Weg nach Lampedusa beziehungsweise Europa.5 3 Vgl. Salil (2016). 4 Vgl. ebd. 5 Vgl Kastenhofer (2015). 4
Aktuell6 befinden sich im Flüchtlingslager Lampedusas über tausend Migranten, die darauf warten weiterreisen zu können. Seit dem Jahresbeginn 2020 bis Herbst 2020 sind 21.4177 Migranten über den Seeweg in Italien eingetroffen. Im selben Zeitraum wurden 2019 bis zu diesem Zeitpunkt 6.543 Flüchtlinge gezählt.8 2.1 Definition Flüchtling Die Genfer Flüchtlings Konvention (GFK), deren Definitionen und Kriterien immer noch als Grundlage für das internationale Flüchtlingsrecht verwendet werden, wurde im Jahre 1951 in Genf auf der UN-Konferenz vom Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen9 verabschiedet. Laut der Flüchtlingskonvention werden jene Menschen als Flüchtlinge bezeichnet, die aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen können oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen wollen.10 Die Entstehung der Genfer Flüchtlingskonvention11 und ihre Umsetzung müssen kritisch untersucht werden, da sie einerseits eine mit Europa verbundene Form des Flüchtlingsschutzes darstellt und andererseits nicht alle Formen der Flucht in ihr vertreten sind. Die GFK bezog sich ursprünglich auf europäische Flüchtlinge, die während des Zweiten Weltkriegs flohen und wurde später durch das Zusatzprotokoll 1967 erneuert.12 Diese beiden Verträge definieren die Bezeichnung "Flüchtling" auf einer völkerrechtlichen Ebene und dadurch auch die Rechte und Pflichten einer solchen Person. Zu den Rechten eines Flüchtlings gehören neben den grundlegenden Bürgerrechten wie Bewegungsfreiheit und Schutz vor Folter auch das Recht auf non-refoulement. Dies 6 Stand: September 2020. 7 Stand: 21. September, 2020. 8 Vgl. Seminara (2020). 9 Vgl. UNHCR (1997) S.55. 10 Ebd. 11 Abk. GFK. 12 Vgl. Tosic et al. (2009) S.112. 5
impliziert das Verbot, Flüchtlinge in ihr Herkunftsland zurückzuführen, solange dort die Gefahr der Verfolgung besteht.13 Darüber hinaus haben Flüchtlinge Anspruch auf medizinische Versorgung, Schulbildung sowie Zugang zum Arbeitsmarkt. Infolge der Entwicklungen während der Entkolonialisierung Afrikas war die Zahl der Flüchtlinge stark angestiegen. Infolgedessen erweiterte die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) die Definition des Flüchtlingsbegriffs und fügte Bürgerkrieg oder bürgerkriegsähnliche Zustände als Fluchtgrund hinzu. Auch in Lateinamerika wurde die Flüchtlingsdefinition 1984 mit der Erklärung von Cartagena erweitert.14 Der Großteil der Flüchtlinge sucht Schutz in Ländern in der Nähe ihres Herkunftslandes, aus dem sie geflohen sind und in das sie zurückkehren wollen.15 Laut UNHCR-Zählungen waren im Jahr 2019 weltweit etwa 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht, davon flohen 26 Millionen auf Grund von Konflikten, schweren Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung aus ihrem Heimatland, 45,7 Millionen Menschen flohen innerhalb ihrer Heimat und 40% aller Flüchtlinge weisen ein Lebensalter unter 18 Jahren auf. Während die Industrieländer den Großteil der Kosten von Organisationen und Behörden tragen, nehmen die sogenannten Entwicklungsländer die Mehrheit der Flüchtlinge der Welt auf. Flüchtlinge von den Kontinenten Asien und Afrika machen etwa 75% aus.16 Im allgemeinen Sprachgebrauch umfasst die Bezeichnung "Flüchtling" auch Vertriebene und Personen, die in die Kategorie der Zwangsmigration fallen. Zur erzwungenen Migration gehören verschiedene Faktoren wie Sklaverei, Zwangsumsiedlung, Migration aufgrund von Umweltkatastrophen, Menschenhandel und unter anderem "Wirtschaftsflüchtlinge". Nur ein kleiner Teil von ihnen sind Konventionsflüchtlinge.17 Das vorherrschende Auswahlverfahren in den verschiedenen Ländern wird von Klepp18 stark kritisiert, da die Entscheidung, ob eine Person als Flüchtling in Frage komme oder nicht, letztlich von den Behörden getroffen werde. Diese berücksichtigen dabei weder die 13 Vgl. ebd., S. 111. 14 Vgl. ebd., S. 111. 15 Vgl. Goldin et al (2011) S. 148. 16 Vgl. UNHCR, Statistiken - 79,5 Millionen Menschen waren Ende 2019 weltweit auf der Flucht, 2020) 17 Vgl. Tosic et al. (2009) S. 112. 18 Vgl. Klepp (2011) S. 101. 6
Hintergründe einzelner Flüchtlinge noch die Komplexität der Migrationsbewegungen und treffen ihr Urteil in der Regel willkürlich. Es ist schwierig, klare Grenzen zwischen Flüchtlingen und Arbeitsmigranten, sowie zwischen erzwungener und freiwilliger Migration zu ziehen, da diese viel komplexer sind und im Allgemeinen oft nicht der Realität entsprechen.19 2.2 Beweggründe, um eine Flucht anzutreten Laut UNHCR werden alle Menschen als Flüchtling bezeichnet, die aus dem Heimatland fliehen oder vertrieben werden, ganz unabhängig aus welchem Antrieb die Flucht stattfindet. In vorherrschenden soziologischen Theorien wurden mehrere Beweggründe für Emigration erforscht.20 Für viele Wissenschafter scheint die Suche nach einem höheren wirtschaftlichen Wohlstand als jener im Heimatland, die Hauptursache zu sein. Diese Motivation wird als sehr typisch für die aktuelle Wirtschaftstheorie definiert, jedoch wird sie den unzähligen Realitäten, die in dieser Definition enthalten sind, nicht gerecht. Es gibt Menschen deren Entscheidung auszuwandern, mit der Suche nach Glück begründet werden kann. Einige Familien versuchen vor dem totalen Elend zu fliehen oder hoffen auf bessere Lebensbedingungen auf unternehmerischer als auch auf privater Ebene. Andere Menschen werden von der Familie angewiesen das Land zu verlassen, um in Zukunft mit finanziellen Überweisungen vor Ort unterstützen zu können. Viele Kinder von Familien aus den Mittelmeerstädten, die Italien über die Flüchtlingsroute erreicht haben, warten nur auf die Opportunität in (wirtschaftlich) attraktivere Länder wie Frankreich, etc. weiterzuziehen. Sie möchten in diesen Ländern neue Erfahrungen sammeln sowie die Ressourcen und Möglichkeiten des Gastlandes ausnutzen, um sich dem Vergnügen und dem schnellen Geld hinzugeben. Die zeitliche Variabilität des Aufenthaltes kann entweder vorübergehend, saisonal oder endgültig sein. Eine temporäre Beschränkung kommt meist genauso oft vor, wie ein endgültiger Aufenthalt im Einwanderungsland.21 Ein weiterer dominierender Beweggrund ist die Familienzusammenführung oder die Wiedervereinigung mit bekannten, verwandten oder liebenden Menschen. Daraus 19 Vgl. ebd., S. 154. 20 Vgl. ebd., S. 153 21 Vgl. ebd. 7
entstehen die sogenannten „Migrationsketten“. Einst galten die Migranten als Pioniere, die zum Großteil dem maskulinen Geschlecht angehörten. In den letzten Jahrzehnten ist eine neue Bewegung entstanden, in der die Migration durch Beziehungsnetzwerke innerhalb der Familie oder Menschen mit gemeinsamer Herkunft angetrieben wird. Dadurch wurden einige Individuen zu Vermittlern für ankommende Flüchtlinge, man spricht sogar von einer eigenen Einwanderungsindustrie, die von Rechtsanwälten, Personalagenturen oder Dolmetschern regiert wird.22 Zur nächsten Kategorie werden Asylsuchende gezählt, deren Flucht politisch begründet ist. Denn gemäß der Konvention der Vereinten Nationen von 1951 bekommen jene Menschen diesen Flüchtlingsstatus anerkannt, wenn sie in einem fremden Staat wohnen und auf Grund einer begründeten Furcht vor persönlicher Verfolgung nicht in die Heimat zurückkehren können. Die Unterzeichner der Konvention sind verpflichtet die Flüchtlinge zu schützen, indem sie ihnen Hilfe leisten sowie einen langfristigen oder vorübergehenden Aufenthalt gewähren.23 Politische Asylsuchende sind Personen, die auf der Suche nach Schutz die Landesgrenzen überschreiten, aber nicht die strengen Kriterien der Definition erfüllen, die in der besagten Konvention niedergeschrieben sind. Tatsächlich ist es schwierig eine klare Unterscheidung zu treffen, wer zu dieser Flüchtlingskategorie zählt und wer nicht. Aus diesem Grund wurde eine allgemeinere Definition für all jene Personen verlautbart, die zwar nicht direkt verfolgt werden, aber aus unzumutbaren und unerträglichen Zuständen fliehen. Außerdem zählen Naturkatastrophen wie Tsunamis, Erdbeben, etc. zu weiteren Ursachen, die eine zwanghafte Migration auslösen können.24 22 Vgl. ebd., S: 156 23 Vgl. ebd., S: 157 24 Vgl. ebd., S. 158 8
3 Lampedusa Die Namensfindung der heutigen Insel Lampedusa zog sich über Jahrhunderte hinweg. Lipadusa, Lopedosa, Lapadusa, Lipidusa oder Lopadusa waren nur einige Varianten, die als Namensgeber der Insel dienten. Schlussendlich war es der Geograph Nubiese, welcher der Insel den Namen Lampedusa gab.25 3.1 Geographische Lage Lampedusas Lampedusa gilt mit einer Fläche von 20,2 km² und 6.494 Einwohner26 als die größte der zu Sizilien gehörenden Pelagischen Inseln. Sie ist nicht nur die größte des Pelagie- Archipels im Mittelmeer sondern auch das absolut südlichste Territorium Italiens. Albero Sole erreicht mit 112 Metern über dem Meeresspiegel den höchsten Punkt der Insel.27 Verwaltungstechnisch bildet Lampedusa zusammen mit Linosa die Gemeinde „Lampedusa und Linosa“ mit Zugehörigkeit zur sizilianischen Provinz Agrigento. Auf geologischer Ebene werden Lampedusa und Lampione der afrikanischen Kontinentalplatte zugewiesen. Linosa hingegen ist eine Insel vulkanischen Ursprungs und gehört zur europäischen Kontinentalplatte. Tunesien befindet sich 110 km von Lampedusa entfernt und die Insel Malta weist eine Distanz von 90 km auf. Die Überfahrt von Lampedusa nach Sizilien findet täglich statt und dauert acht Stunden. Zusätzlich legt im Sommer ein Tragflächenboot zur Überfahrt nach Sizilien ab, dass innerhalb von 4 Stunden die Insel erreicht. In den kalten Wintermonaten oder bei einem unruhigen Seegang fällt die Fährenüberfahrt tagelang, teilweise sogar wochenlang aus. Eine weitere Anbindung an das Festland bietet ein kleiner Flughafen, dessen Flugzeuge zwei Verbindungen pro Tag nach Palermo und zwei Flüge pro Woche nach Catania anbieten.28 3.2 Historische Kurzfassung Lampedusa diente im Laufe der Zeit immer wieder als Anlegeplatz und maritimer Stützpunkt für phönizische, griechische, römische sowie arabische Völker. Die Insel blieb 25 Vgl. Ladurner (2014) S. 9. 26 Stand 2019 27 Vgl. Reckinger (2015) S. 13 28 Vgl. Reckinger (2015) S. 13-14 9
für sehr lange Zeit unbewohnt, da es immer wieder zu zahlreichen Piratenüberfällen kam. 1843 kaufte das Königreich der beiden Sizilien die Insel von der Familie Tomasi ab, kurz daraufhin wurde der Entschluss gefasst, die Insel zu kolonisieren. Hauptmann Sanvincente machte sich am 18. September 1843 mit 120 anderen Menschen auf den Weg nach Lampedusa, um dort einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.29 Friese30 beschreibt, dass Fürst Tomasi zum Zeitpunkt des Verkaufes ein Memorandum niederschrieb, indem er die besondere strategische Situierung der Insel aufzeigte: • Sie bietet einen großen Vorteil für das Königreich Sizilien, da die Insel ein sicherer Stützpunkt für etwaige Angriffe gegen Boote war, die sich in diesem Teil des Mittelmeeres aufhielten. • Große Schiffe sowie kleine Boote, die in Seenot gerieten, fanden auf der Insel Zuflucht und waren dort in Sicherheit. • Neapolitaner sowie Sizilianer baten Lampedusa eine sichere Basis um Handel zu betreiben und der Insel somit zu einem wirtschaftlichen Aufschwung zu verhelfen. Lampedusa galt damals schon als Zufluchtsort für Menschen in Seenot und gleichzeitig als wichtiger Handelsplatz. Während des Kalten Krieges wurde 1972 auf Lampedusa die NATO-Abhörstation Loran C installiert und wurde anschließend als Zufluchtsort für minderjährige Flüchtlinge und Frauen genutzt. Bis in die 1980er Jahre lebten die Bewohner der Insel hauptsächlich vom Fischfang und der Landwirtschaft. Im Jahr 1986 erfolgten Ereignisse, die für die Zukunft Lampedusas ausschlaggebend waren. Die NATO-Abhörstation wurde als Reaktion auf die US-Angriffe auf Tripolis und Bengali, im Rahmen der Operation El Dorado Canyon, zum Ziel lybischer Raketen. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Insel zum ersten Mal in das Blickfeld der Medien katapultiert. In Folge der Berichterstattung entwickelte sich ein wahrer Tourismusboom und bis zu 11 Tausend Menschen verbrachten ihren sommerlichen Aufenthalt auf Lampedusa.31 3.3 Fakten der Migrationspolitik auf Lampedusa Aufgrund ihrer Lage zwischen der nordafrikanischen Küste und dem Süden Europas ist die Insel Lampedusa im letzten Jahrzehnt zu einem der Hauptziele der Routen 29 Vgl. Friese (1996) S. 10f 30 Vgl. ebd., S. 27f 31 Vgl. Friese (1996) S. 59 10
afrikanischer Migranten im Mittelmeerraum geworden. Gegenüber befindet sich Libyen, auch bekannt als ein Ort der Verwaltungshaft, Gewalt, starker Einschränkung der Menschenrechte und Unterdrückung von Individualität. Die Pelagischen Inseln sind das, dem afrikanischen Kontinent rechtlich, am nächsten gelegene europäische Territorium. Die Insel weist eine afrikanische Flora auf, wird von italienischen Bürgern als auch von Migranten temporär beziehungsweise permanent bewohnt und steht direkt im Mittelpunkt des Kontaktes zweier Kontinente.32 Lampedusa wird in der Tat oft als Felsen inmitten des Mittelmeers definiert, als ein Stück Land von außerordentlicher Schönheit. Im Laufe der Jahre wurde sie zum Anhaltspunkt für die Rettung tausender Menschen, die als Schiffbrüchige auf offener See auf der kleinen Insel willkommen geheißen wurden. Lampedusa taucht mittlerweile seit einiger Zeit sowohl in der italienischen als auch in der europäischen Gedankenkraft als die Verkörperung einer Grenze auf; der Grenze Italiens, der Grenze Europas, der Grenze des Meeres. Ihr Name wird mit Begriffen wie „Schiffbruch“, „illegale Einwanderer“ und „Tod auf dem Mittelmeer“ in Verbindung gebracht. Genauso wird auf der gegenüberliegenden Seite des Mittelmeeres Lampedusa mit Synonymen wie Freiheit, Unterstützung und vor allem Hoffnung auf ein friedvolleres und leichteres Leben konnotiert.33 Lampedusa repräsentiert geographisch gesehen, den letzten Teil der europäischen Union im afrikanischen Meer und ist nicht nur Mittelpunkt vieler Kulturen, sondern stellt einen Schmelztiegel dar, in dem sich die unterschiedlichsten Menschen, Ideen, Gedanken, Religionen und Wertevorstellungen sammeln. Das reicht von Migranten über Schmugglern, von humanitären Helfern über Polizeikräften, von Einheimischen und Fischern über Patrouillenbooten und von Polizeibeamten aus Auswanderungs- und Transitländern bis hin zu denen der Vereinten Nationen.34 Das erste Aufnahmezentrum Lampedusas wurde 1998 gegründet. Das damalige Zentrum war in der Nähe des Flughafens situiert, in welchem ca. 186 Menschen aufgenommen und vorübergehend beherbergt werden konnten. Es sollte als CPTO - Centro di Permanenza Temporanea ed Assistenza dienen, also als Zentrum für eine vorübergehende 32 Vgl. Sciurba (2009) S. 154 33 Vgl Cuttitta (2012) S. 187-189. [07.09.2020] 34 Vgl ebd. [07.09.2020] 11
Unterbringung und Versorgung. Jedoch war es unmöglich, diese Masse an Flüchtlingen angemessen zu versorgen. Daher wurde es 2006 zum CSPA - Centro di Soccorso e Prima Accoglienza umfunktioniert.35 Im Allgemeinen sollte die Verweilzeit der Flüchtlinge im CSPA nicht länger als 48 Stunden dauern. Die verantwortlichen Mitarbeiter der Behörde hatten während der Aufenthaltsdauer der Migranten die Möglichkeit die Daten für das Aufnahmeverfahren zu dokumentieren, bevor diese in weiterer Folge anderen Aufnahmezentren zugewiesen wurden.36 Am 1. August 2007 wurde ein neues Gebäude eröffnet, welches über eine Kapazität für 381 Personen verfügt und im Notfall sogar über 804 Migranten aufnehmen könnte. Im Zuge des Standortwechsels wurde vom Management des Zentrums ein Modell entwickelt, um die Struktur und Verwaltung des Aufnahmezentrums darzustellen. Basierend auf der Zusammenarbeit mit NGOs, Vereinen und Organisationen wurde es als Lampedusa-Modell bezeichnet, in dem der Fokus auf folgende Themen gesetzt werden soll37: • 24 Stunden Pflege und medizinische Betreuung • Psychologische Unterstützung • Translation • Information, Beratung und Begleitung bei rechtlichen Schwierigkeiten • Kultursensibilisierung • Nahrungsversorgung • Verteilung von Tabak, Hygieneartikel, Kleidung, Telefonkarten • Enge Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden für die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis 35 Vgl. Ciuni (2015) S. 113 [14.09.2020] 36 Vgl. ebd. [14.09.2020] 37 Vgl. Galipò & Miragliotta (2009) 12
Abbildung 2: Statistik: Ankunft der Migranten auf Lampedusa/in Italien Quelle: Surico 2020: 232 Die Abbildung 2 gestattet einen Überblick über die Anzahl von Flüchtlingen, die von 1999 bis 2019 irregulär auf Lampedusa bzw. in Italien angekommen sind.38 38 Vgl. Surico 2020: 232 13
Man kann der Tabelle entnehmen, dass die Zahl der ankommenden Migranten auf Lampedusa sehr unterschiedlich hoch ist, es ist keine Konstanz erkenntlich. Ein markanter Anstieg fand bereits 2008 statt, gefolgt vom Jahr 2011, in dem das bisherige Maximum an Flüchtlingen innerhalb eines Jahres auf Lampedusa ankam. Surico39 erklärt, dass sich die geflüchteten Menschen auf dem gesamten Areal von Lampedusa aufhielten. In jedem freien Raum in der Nähe der Stadt lagerten die Menschen in einem extremen Durcheinander, in einer unsäglichen Unordnung. 3.4 Literarische Einblicke in das Leben auf Lampedusa Im folgenden Abschnitt liegt der Fokus auf den Menschen vor Ort. Wie gestaltet sich das Leben der lampedusani, beziehungsweise welche Lebensbedingungen herrschen generell auf dieser kleinen Insel? Dadurch sollen ein Einblick und ein Verständnis für die Lebensumstände der Menschen dargelegt werden. Man kann feststellen, dass trotz zahlreicher Berichterstattung über Lampedusa, es in diesen Beiträgen nie beziehungsweise kaum um das Leben der Menschen vor Ort geht – die Bewohner Lampedusas. Weder die Probleme noch mögliche Lösungsvorschläge werden in den Medien aufgegriffen. Für die Bewohner aus Lampedusa ist das Leben auf der Insel eine große Herausforderung. Sie müssen tagtäglich Hindernisse überwinden, die für jeden anderen italienischen oder europäischen Bewohner unvorstellbar sind. Diese Herausforderungen beginnen bereits bei der Geburt eines Menschen und enden beim Tod — sie ziehen sich durch alle möglichen Lebensbereiche hindurch. „Ich habe ein Kind verloren, weil die Gynäkologin nur dienstags hier ist. Und ich habe an einem Donnerstag Abtreibungswehen bekommen“40 erzählt Mariella, eine Mutter aus Lampedusa. Die medizinische Unterversorgung vor Ort bringt leidtragende Konsequenzen mit sich. Mariella litt unter starken Schmerzen und konnte auf Grund der Abwesenheit einer Gynäkologin keine Ultraschalluntersuchung durchführen lassen. So wurden ihr vom Rettungsnotdienst Injektionen verabreicht, um den Herzschlag des Fetus aufrecht zu erhalten. Sie erfuhr, dass das Baby bereits verstorben war, als sie durch Beziehungen schlussendlich doch eine Ultraschalluntersuchung bekam. Um eine Blutung zu vermeiden, wurde ihr geraten mit dem nächstmöglichen Flugzeug ins Krankenhaus 39 Vgl. Surico (2020) S. 233. 40 Reckinger (2015) S.76. 14
nach Palermo zu fliegen. Da der Flug nach Palermo bereits ausgebucht war, bekamen sie und ihr Mann erneut ausschließlich durch Beziehungen zwei Plätze im Flieger nach Catania, ohne medizinischem Personal an Board.41 Auf Grund der mangelhaften Krankenversorgung und einer fehlenden Geburtenstation auf Lampedusa, müssen viele Inselbewohner nach Sizilien transportiert werden. Dadurch entstehen neben finanziellen Belastungen außerdem gesundheitliche Risiken. Für die lampedusani ist das die Realität, die unter den Bewohnern als normal wahrgenommen wird. Menschen, die dort aufwachsen und leben, wissen nicht was es bedeutet die Möglichkeit zu haben, rund um die Uhr fachärztliche Hilfe heranzuziehen. Diese angebliche Normalität lässt sich im Bereich der Schulbildung, des Freizeitangebotes, Straßen, der Anbindung zum Festland, etc. ebenso wiederfinden. „Man schämt sich dafür, etwas einzufordern. So als wäre es ein Gefallen, um den man bittet. Dabei ist es ein Recht.“42 Nicht ohne Grund beschreibt Reckinger43 Lampedusa als „Welt des Mangels“. Trotzdem scheint es, als würden die lampedusani mit wenig Geld und einem Dach über den Kopf halbwegs gut leben können. Als die ertragreichste Einnahmequelle gilt der Tourismus, neben dem Fischfang und einigen Geschäften und Unternehmen.44 Trotzdem ist die Zirkulation von Geld gering. Reckinger45 erklärt Vielmehr besteht eine komplizierte Verflechtung des Gebens und Nehmens, die einerseits dafür sorgt, dass jede und jeder einen angemessenen Gegenwert für das bekommt, was er oder sie gibt, andererseits aber vor allem die Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern in der Gemeinschaft steuert und reproduziert. In diesem Sinne findet man heute auf dieser italienischen Insel ein System, von dem man versucht wäre, es mit den von Ethnologen des frühen 20. Jahrhunderts beschriebenen Gegebenheiten in Gesellschaften gleichzusetzen, die wenig Kontakt zum Westen hatten. Dieses Tauschprinzip nimmt starken Einfluss auf die zwischenmenschlichen Beziehungen zueinander. Es stärkt das Zugehörigkeitsgefühl und das Vertrauen auf 41 Vgl. ebd. 42 Ebd. 43 Vgl. ebd., S. 134. 44 Vgl. ebd. 45 Ebd. S. 135. 15
Verlässlichkeit zu den Mitmenschen. Diese Werte sind wichtig für ein gutes Miteinander in einem sozialen Umfeld. Lampedusa ist ein Ort der Bewegung, an dem manchmal trotzdem alles still zu stehen scheint. Auf Grund der identitären, politischen und örtlichen Bedingungen empfindet Reckinger46 die Bezeichnung der Insel als terre de migrations sehr treffend. Menschen kommen an und ziehen weiter, andere befinden sich auf der Durchreise, einige Bewohner gehen nie von der Insel weg und leiden darunter und andere gehen fort und kommen sehnsüchtig wieder zurück.47 Die Wege sind in viele Richtungen frei, es stellt sich nur die Frage welche Hindernisse dahinter warten. 3.4.1 Pietro Bartolo – zwischen Leben und Tod „Io sono lampedusano. Lampedusa è una porta sembra aperta. La Porta d’europa. L’isola è stata abbandonata. È stata dimenticata da tutti.”48 Pietro Bartolo ist ein Inselbewohner, der am 10. Februar 1956 in Lampedusa geboren und studierte an der Universität in Catania Medizin, mit der Spezialisierung auf Gynäkologie. Seit seinem Abschluss leistet er für das gesamte Volk auf Lampedusa medizinische Hilfestellung, aber nicht nur für die Bewohner, sondern auch für die unzähligen Flüchtlinge, die seit Jahrzehnten das Mittelmeer überqueren und auf Lampedusa ankommen.49 Er setzt sich Tag für Tag mit dem humanen Leid auseinander und schaut dem Tod viel zu oft in die Augen. Viele Menschen meinen, dass sich der medico bereits an den Anblick von Tod und Leid gewöhnt hätte, doch das kann Bartolo nur kopfschüttelnd negieren. Manchmal befinden sich unter den Flüchtlingen Frauen, die noch das neugeborene Baby an der Nabelschnur mittragen und oft sind die Migranten durch Misshandlungen, Verstümmelungen und Gewalt gebrandmarkt, sodass man nur erahnen kann, was diesen Menschen vor der Überfahrt über das Mittelmeer zugestoßen sein muss. Um einer 46 Vgl. ebd., S. 27. 47 Vgl. ebd. 48 Bartolo (2019) 0:02 – 0:10 [30.03.2021]. 49 Vgl. Bartolo (2020) [04.03.2021]. 16
Dehydration entgegenzuwirken, trinken die Flüchtlinge ihren eigenen Urin, damit sie ihren Körper mit einem minimalen Anteil an Flüssigkeit versorgen können.50 Er kennt unzählige Geschichten von Menschen, die ihr Leben riskieren und auf die Probe stellen, um auf der Suche nach einer besseren Zukunft das Mittelmeer zu überqueren und von dort aus nach Europa gelangen zu können. Geschichten von Frauen und Männern, die zu oft Opfer von Gewalt und Missbrauch werden. Geschichten von Flüchtlingen, deren gefährliche Reise nicht erst bei der Überfahrt nach Lampedusa beginnt, sondern schon viel früher. Geschichten von teilweise noch sehr jungen Kindern, die meist allein auf der Insel ankamen. Das Einzige, das in deren Köpfen zählt, ist es lebendig anzukommen und auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Denn die Chronik ist voll von Menschen, die auf See den Tod fanden. Aufgrund seines eigenen Schiffbruchs weiß Pietro Bartolo wirklich, was es bedeutet, auf See zu sterben und sieht es als seine Aufgabe, den geschundenen, zerrissenen und verzehrten Körpern seine Würde zurückzugeben.51 Als junger Mann war Pietro Bartolo selbst Fischer und erlitt einen Schiffbruch, daher weiß er, wie traumatisch und schrecklich es ist, eine solche Erfahrung zu machen. Damals konnte er noch nicht wissen, wie stark dieser Vorfall sein Leben prägen würde: Ciò che non potevo sapere allora è che non solo quella notte sarebbe rimasta per sempre impressa nella mia mente ma che la mia esistenza sarebbe stata segnata da un mare che restituisce corpi e vite e che sarebbe toccato proprio a me salvare quelle vite e toccare per ultimo quei corpi.52 Bartolo trieb damals 3 Stunden allein im Meer, nachdem er inmitten der Nacht über Bord fiel. Zuerst bemerkte niemand den Sturz, deswegen musste er sehr lange auf Hilfe warten. Nach der Rettung vergingen Tage bis er wieder Zugang zu seiner verbalen Artikulation fand. Ab diesem Moment an konnte er nachvollziehen wie es sich anfühlen würde im Meer und ohne jegliche Hilfe zu verenden. Er kann sich selbst in vielen Geschichten der Emigranten wiederfinden und fühlt mit ihnen mit. Er kann diese Menschen verstehen und 50 Vgl. Bartolo & Tilotta (2017) S. 18. 51 Vgl. Sabbatini (2020) [18.03.2021]. 52 Bartolo & Tilotta (2017) S. 12. 17
er kann ihnen helfen. Deshalb hat er sich damals dazu entschlossen, nach dem Studium auf seine Heimatinsel zurückzukehren.53 Il primo sbarco è stato nel 1991, erano appena in tre persone e, da quel momento, mi sono, come dire, dedicato anche a loro. Perché avevano bisogno e io da medico ovviamente, ma anche da uomo penso che, che ho fatto quello che si doveva fare, ho fatto quello che era il mio dovere. 54 4 Der Dokumentarfilm Für die Analyse der ausgewählten Dokumentarfilme ist es notwendig sich zuerst der Theorie anzunähern, um ein Verständnis für das Genre Dokumentarfilm zu erlangen. Da in diesem Bereich viele Unstimmigkeiten und Meinungsverschiedenheiten vorherrschen, wurden ausschließlich solche Aspekte der Theorie herangezogen, die für die Fragestellung dieser Untersuchung relevant sind. Neben einer eingrenzenden und definitorischen Abhandlung werden außerdem historische Fakten erwähnt, welche sich ausschließlich auf die Anfänge und die Entwicklung des Dokumentarfilms in Italien beziehen. 4.1 Abgrenzung und Definition „Documentary“ can be no more easier defined than „love“ or „culture“. 55 Bei dem Versuch eine konkrete Definition sowie klar formulierte Grenzen für das Genre „Dokumentarfilm“ festzulegen, gehen die Meinungen der Experten teilweise weit auseinander. Laut der Definition von Decker ist ein Dokumentarfilm eine „Filmform, die eine möglichst wirklichkeitsnahe Darstellung anstrebt. [...]. Anspruch ist es, einen realen Sachverhalt in seinen wesentlichen Aspekten zu entfalten.“56 Kammerer und Kepser definieren den Dokumentarfilm wie folgt: Dokumentarische Filme unterbreiten ein plausibles filmisch gestaltetes Angebot über Naturphänomene, Vorkommnisse, Situationen und Ereignisse. Die gezeigte Welt wird behauptet als eine natürliche und historische, die auf prinzipiell nachprüfbaren Fakten basiert. Dieser wird nichts Neues und Unüberprüfbares hinzugefügt. Sofern darin Personen auftreten, handelt es sich 53 Vgl. ebd., S.11. 54 Vgl. Martinez (2020) [21.03.2021]. 55 Nichols (2001) S. 20. 56 Decker (1997) S.61. 18
normalerweise um reale Persönlichkeiten in ihren üblichen sozialen Rollen und nicht um Berufs- und Laienschauspieler. [...].57 Diese beiden Definitionen entsprechen dem Bestreben ein reales Fundament in einen Kontext einzubetten, um wirklich vorgefallene Geschehnisse zu dokumentieren und die Geschichte von Menschen zu erzählen, die hautnah dabei waren. Es gilt eine Situation, ein Geschehnis, so nah an der Realität wie möglich nachzustellen. John Grierson Erwartung an einen Dokumentarfilm ist „die kreative Behandlung der aktuellen Wirklichkeit.“58 Es geht in den erläuterten Definitionen also darum, etwas Wirkliches, eine reale Situation filmisch nachzustellen. Dabei wird der Anspruch auf Realität, Wirklichkeit und Nichtfiktion erhoben. Zunächst möchte jedoch geklärt werden welche Bedeutung dem Terminus „Dokument“ im Dokumentarfilm zugeschrieben wird. Ein Dokument symbolisiert in erster Linie eine Urkunde, ein Schriftstück oder auch einen Beweis.59 Die Intention bei der Umsetzung einer Dokumentarfilm-Produktion ist es also, ein zeitgenössisches Dokument oder einen zeitgenössischen Beweis zu erschaffen. Dies kann beim Publikum zur Annahme führen, dass in solchen Produktionen absolut realitätsgetreue Szenen vermittelt werden — was jedoch falsch ist. Dafür steht die Meinung von Michael Barker, denn er sagt, dass Filme aus diesem Genre solch große Erfolge erzielen, weil „die strikte Regel, dass Dokumentarfilme pure Realität sein müssten nicht mehr gilt. Die Definition von Dokumentarfilm ist heute viel flexibler […].60 Deshalb betont der Filmemacher Erwin Leiser, dass der Begriff „Dokumentarfilm“ nicht adäquat verwendet wird. Er bevorzugt hingegen das Wort nonfictionfilm und intendiert damit, dass diese Filmproduktionen der Ausdruck von Authentizität und nichts Erfundenem sind.61 Hattendorf62 definiert Authenizität als “a result of applying cinematic techniques. “Credibility” of depicted events depends on the influence that the cinematic strategies exert on viewers. Authenticity is grounded equally in form and in reception“. Authentizität bedeutet Situationen und Geschichten so nah wie möglich an der Realität 57 Kammerer & Kepser (2014) S. 30. 58 Grierson (1998) S. 109. 59 Vgl. Wermke (2007) S.151. 60 Was dürfen Dokumentarfilme? Nr. 31/2004, (2004) S.29. 61 Vgl Leiser (1994) S.37. 62 Hattendorf (1999) S. 67. 19
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