Lampedusa - als Tor zu Europa oder Endstation?

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Lampedusa - als Tor zu Europa oder Endstation?
Lampedusa

 – als Tor zu Europa oder Endstation?

                Diplomarbeit

      zur Erlangung des akademischen Grades

           einer Magistra der Philosophie

       an der Karl-Franzens-Universität Graz

                   vorgelegt von

              Mariell SCHMÖLZER

             am Institut für Romanistik
Begutachter: Univ.-Prof. Dr.phil. Steffen SCHNEIDER

                  Graz, Juni 2021
Lampedusa - als Tor zu Europa oder Endstation?
Danksagung

An dieser Stelle möchte ich mich bei all jenen Menschen bedanken, die mich auf meinem Weg
während des Studiums an der Karl-Franzens-Universität begleitet haben. Mein größter Dank gilt
von ganzem Herzen meinen Eltern, Barbara und Wolfgang, die mich während meines gesamten
Studiums bedingungslos unterstützt haben. Ich danke euch dafür, dass ihr immer hinter mir
gestanden seid und mich aufgefangen habt, wenn ich Kummer hatte. Ich bin sehr dankbar, euch
als Eltern zu haben.

Außerdem danke ich meinem großen Bruder, der seine Vorbildfunktion absolut erfüllt und mich
durch seine eigenen Erfolge stets motiviert hat weiterzumachen. Ich bin sehr stolz auf dich.

Ein besonderer Dank gilt meinem geliebten Partner und besten Freund Wolfgang, der mich
während des Schreibprozesses unterstützt hat und in schwierigen Phasen immer hinter mir
gestanden ist. Ich danke dir für dein Verständnis, deine Liebe, deine Ermutigungen und dass du
immer für mich da bist. Danke, dass du mir bei jeglichen Fragen stets zur Verfügung gestanden
bist und meine Diplomarbeit Korrektur gelesen hast.

Außerdem möchte ich mich bei all meinen Freundinnen bedanken, die immer an mich geglaubt
haben und mir die schönste Studienzeit meines Lebens beschert haben. Ich danke euch für eure
Freundschaft und euer Sein.

Ihr alle macht mein Leben um ein großes Stück bunter, fröhlicher und liebevoller.

Last but not least möchte ich mich bei Herrn Prof. Schneider bedanken. Durch Ihre positive,
kompetente und wertschätzende Unterstützung während des Entstehungsprozesses konnte ich
immer wieder neue Anregungen einholen und sichergehen, dass ich auf dem richtigen Weg bin.
Ich bin sehr dankbar, dass ich meine abschließende Arbeit mit Ihnen als Betreuer verfassen durfte
und wünsche Ihnen von Herzen nur das Allerbeste.

                                                I
Lampedusa - als Tor zu Europa oder Endstation?
Eidesstattliche Erklärung

Ich erkläre hiermit ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig
und ohne unerlaubte fremde Hilfe verfasst und keine anderen als die in der Diplomarbeit
angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus
primären oder sekundären Quellen entnommen wurden, habe ich als solche kenntlich
gemacht. Die hier vorliegende Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner
anderen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende
Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Version.

                                 Gleichheitsgrundsatz

Um den Lesefluss nicht durch eine ständige Nennung beider Geschlechter zu stören, wird in dieser
Arbeit ausschließlich die maskuline Form verwendet. Dies impliziert aber immer auch die
feminine Form.

Mariell Schmölzer                                                           Graz, Juni 2021

                                               II
Lampedusa - als Tor zu Europa oder Endstation?
Abstract
Lampedusa gilt auf dem Seeweg vom afrikanischen Kontinent über das Mittelmeer als
letzte Station bei der Reise für flüchtende Menschen nach Europa. Dort befindet sich das
Tor zu Europa, welches als Symbol der Hoffnung auf ein friedvolles und besseres Leben
gilt. In der vorliegenden Diplomarbeit rückt das Leben der Inselbewohner und deren
Alltag, der sich direkt dort gestaltet, neben der Ankunft der Flüchtlinge in den Fokus.
Lampedusa ist ein touristisches Paradies das zwischen kontinuierlich ankommenden
Flüchtlingen sowie politischen und sozialen Hindernissen versuchen muss, die physische
Distanz zu Italien und Europa auszugleichen, in dem die Bewohner jeden Tag aufs Neue
für sich selbst und für Humanität kämpfen. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, zu
beantworten, ob das Eingangstor zu Europa für Flüchtlinge als auch Inselbewohner
wirklich zugänglich ist. Dies impliziert nicht nur die geographische, sondern ebenso die
politische und soziale Ebene. Dazu wird die folgende Forschungsfrage gestellt: Fungiert
Lampedusa als Tor zu Europa oder als Endstation? Ausgehend von einer Einführung in
die Flüchtlingskrise Europas mit einer näheren Definition zu Flüchtlingen, werden
darauffolgend die geographischen Gegebenheiten sowie kurze historische und
migrationspolitische Fakten zu Lampedusa erläutert. Die Analyse dieser Arbeit basiert
auf den ausgewählten Dokumentarfilmen Fuocoammare und Lampedusa im Winter,
woraufhin vorab eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Genre des
Dokumentarfilms stattfindet, gefolgt von einer theoretischen Aufbereitung der
Filmanalyse. Die Filmanalyse wird durch eine Szenenauswahl bestimmt und an Hand von
Bildern aufbereitet. Diese werden entlang der Theorie der Filmanalyse durchleuchtet,
bevor eine kurze Gegenüberstellung beider Filme folgt. Es wird im Wesentlichen
untersucht, inwiefern für die Flüchtlinge und Inselbewohner eine imaginäre Brücke zu
Europa besteht, welche ihnen von Lampedusa aus, einen problemlosen Zugang gewährt.

                                          III
Lampedusa - als Tor zu Europa oder Endstation?
Abstract
Lampedusa is thought to be the last stop on the sea route from the African continent across
the Mediterranean Sea for people fleeing to Europe. There is the ‘gateway to Europe’,
which is considered a symbol of hope for a peaceful and better life. In this thesis, the life
of the islanders and their everyday life, which takes place directly there, is the focus of
attention, in addition to the arrival or onward journey of the arriving refugees. Lampedusa
is a tourist paradise that, between the continuous arrival of refugees, political and social
obstacles, must try to balance the physical distance with Italy and Europe, where the
inhabitants fight every day anew for themselves and for humanity. The aim of the present
work is to answer whether the gateway to Europe is accessible for refugees as well as
islanders. This implies not only the geographical level, but also the political and social
level. For that purpose, the following research question is posed: Does Lampedusa
function as a gateway to Europe or as a terminus? Starting with an introduction to the
refugee crisis in Europe with a more detailed definition of refugees, the geographic
conditions as well as brief historical and migration policy facts about Lampedusa are
explained. The analysis of this thesis is based on the selected documentary films
Fuocoammare and Lampedusa in Winter, whereupon a theoretical discussion of the genre
documentary film takes place in advance, followed by a theoretical preparation of the film
analysis. The film analysis is determined by a selection of scenes and prepared based on
images. These are examined along the theory of film analysis before a brief comparison
of the two films follows. Ultimately, it is examined to what extent an imaginary bridge to
Europe exists for the refugees and islanders, which grants them easy access from
Lampedusa.

                                             IV
Lampedusa - als Tor zu Europa oder Endstation?
Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ....................................................................................................................................... 1

2 Flüchtlingskrise in Europa ........................................................................................................... 4

2.1       Definition Flüchtling ............................................................................................................... 5

2.2       Beweggründe, um eine Flucht anzutreten ............................................................................... 7

3 Lampedusa ..................................................................................................................................... 9

3.1       Geographische Lage Lampedusas ........................................................................................... 9

3.2       Historische Kurzfassung.......................................................................................................... 9

3.3       Fakten der Migrationspolitik auf Lampedusa........................................................................ 10

3.4       Literarische Einblicke in das Leben auf Lampedusa ............................................................. 14

  3.4.1          Pietro Bartolo – zwischen Leben und Tod .................................................................... 16

4 Der Dokumentarfilm ................................................................................................................... 18

4.1       Abgrenzung und Definition ................................................................................................... 18

4.2       Historischer Abriss des Dokumentarfilms in Italien ............................................................. 21

4.3       Filmanalyse ........................................................................................................................... 22

  4.3.1          Klassifizierung nach Kammerer & Kepser .................................................................... 22

  4.3.2          Authentizitätssignale ..................................................................................................... 24

  4.3.3          Relevante Bauformen .................................................................................................... 25

  4.3.4          Figurenanalyse nach Jens Eder ...................................................................................... 30

5 Vorstellung der Regisseure & Filme .......................................................................................... 36

  5.1.1          Jakob Brossmann ........................................................................................................... 36

  5.1.2          Gianfranco Rosi ............................................................................................................. 39

6 Lampedusa als Endstation oder Lampedusa als Tor zu Europa ............................................ 42

6.1       Die Analyse ........................................................................................................................... 43

  6.1.1          Abschließende Gegenüberstellung der Dokumentarfilme ............................................. 82

7 Conclusio ...................................................................................................................................... 84

8 Filmographie ................................................................................................................................ 87

9 Literaturverzeichnis .................................................................................................................... 87

                                                                       V
Lampedusa - als Tor zu Europa oder Endstation?
Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: La porta d'Europa ......................................................................................................... VIII
Abbildung 2: Statistik: Ankunft der Migranten auf Lampedusa/in Italien ............................................ 13
Abbildung 3: Interne Authentizitätssignale. .......................................................................................... 24
Abbildung 4: Figurenanalyse nach Eder I ............................................................................................. 31
Abbildung 5: Figurenanalyse nach Eder II ............................................................................................ 32
Abbildung 6: Lampedusa im Winter 0:00:29 ........................................................................................ 43
Abbildung 7: Fuocoammare 0:00:50 ..................................................................................................... 45
Abbildung 8: Fuocoammare 1:41:08 ..................................................................................................... 46
Abbildung 9: Fuocoammare 1:40:39 ..................................................................................................... 46
Abbildung 10: Fuocoammare 1:40:51 ................................................................................................... 47
Abbildung 11: Fuocoammare 1:41:13 ................................................................................................... 48
Abbildung 12: Fuocoammare 1:01:23 ................................................................................................... 49
Abbildung 13: Fuocoammare 0:33:58 ................................................................................................... 52
Abbildung 14: Fuocoammare 0:36:19 ................................................................................................... 52
Abbildung 15: Fuocoammare 0:36:36 ................................................................................................... 53
Abbildung 16: Fuocoammare 0:36:52 ................................................................................................... 53
Abbildung 17: Fuocoammare 0:51:58 ................................................................................................... 55
Abbildung 18: Fuocoammare 0:50:27 ................................................................................................... 55
Abbildung 19: Lampedusa im Winter 0:37:31 ...................................................................................... 56
Abbildung 20: Fuocoammare 0:45:10 ................................................................................................... 57
Abbildung 21: Fuocoammare 0:41:13 ................................................................................................... 59
Abbildung 22: Fuocoammare 0:54:17 ................................................................................................... 60
Abbildung 23: Fuocoammare 0:58:13 ................................................................................................... 61
Abbildung 24: Fuocoammare 0:10:43 ................................................................................................... 62
Abbildung 25: Fuocoammare 0:27:20 ................................................................................................... 62
Abbildung 26: Fuocoammare 0:27:42 ................................................................................................... 63
Abbildung 27: Fuocoammare 0:29:00 ................................................................................................... 64
Abbildung 28: Lampedusa im Winter 0:14:37 ...................................................................................... 65
Abbildung 29: Lampedusa im Winter 0:23:16 ...................................................................................... 68
Abbildung 30: Lampedusa im Winter 0:33:46 ...................................................................................... 70
Abbildung 31: Lampedusa im Winter 0:52:48 ...................................................................................... 73
Abbildung 32: Lampedusa im Winter 0:52:46 ...................................................................................... 73
Abbildung 33: Lampedusa im Winter 0:53:55 ...................................................................................... 75
Abbildung 34: Lampedusa im Winter 0:54:08 ...................................................................................... 75
Abbildung 35: Lampedusa im Winter 0:54:45 ...................................................................................... 76
Abbildung 36: Lampedusa im Winter 0:35:39 ...................................................................................... 78

                                                                    VI
Lampedusa - als Tor zu Europa oder Endstation?
Abbildung 37: Fuocoammare 0:46:55 ................................................................................................... 80
Abbildung 38: Fuocoammare: 0:46:36 .................................................................................................. 81

                                                                 VII
Lampedusa - als Tor zu Europa oder Endstation?
La porta d’Europa

Abbildung 1: La porta d'Europa
Quelle: https://www.caveri.it/blog/2011/03/20/la-porta-deuropa [09.06.2021]

                                                 VIII
Lampedusa - als Tor zu Europa oder Endstation?
1      Einleitung

Im Mittelmeer, das sich im Süden Italiens zwischen Sizilien und der tunesischen Küste
erstreckt, gibt es eine Gruppe kleinerer Inseln, die physisch als Erweiterung des
afrikanischen Kontinents zu betrachten sind, aber aus historischen und politischen
Gründen ein integraler Bestandteil von Italien sind. Diese Inseln, das Pelagische
Archipel, stellen rechtlich gesehen das europäische Territorium dar, das dem
afrikanischen Kontinent am nächsten liegt. Aus diesem Grund wird die größte von
ihnen, Lampedusa, mittlerweile als "Tor zu Europa" bezeichnet. Lampedusa
repräsentiert eine enorme Vielfalt an Kontrasten, das Leben steht zeitgleich dem Tod
gegenüber sowie die Hoffnung der Verzweiflung. Für viele Menschen beginnt die
Zukunft ab dem Zeitpunkt der Ankunft auf der Insel, denn das Mittelmeer definiert die
letzte große Hürde vor der Ankunft beim „Tor nach Europa“, der Insel Lampedusa.

Dieser symbolische Name wurde von Mimo Paladino künstlerisch aufgearbeitet und
findet in dem Kunstwerk Porta d’europa1 seine Bedeutung wieder. Fünf Meter hoch und
drei Meter breit, aus feuerfester Keramik und verzinktem Eisen – seit 2008 ein Symbol
der Hoffnung. Es ist wie ein Bogen, der vom Festland aus gesehen auf das Meer und den
Himmel schaut und vom Meer aus gesehen den Zugang zum Inneren der Insel anzeigt.
Die Porta d’europa wurde bewusst als Durchgang ohne Tür konstruiert, da weder die
Möglichkeit auf Öffnen noch auf Schließen gegeben werden soll, um einen Raum des
„Willkommenseins“ und der Begegnung zu ermöglichen, den man ohne Hindernisse
durchqueren kann. In der kollektiven Vorstellung, die größtenteils durch Medien
verbreitet wird, ist Lampedusa das Symbol für Einwanderung, Leid und Tod und wird
zunehmend als eine Insel dargestellt, die in einer humanitären Notlage versinkt.2

Im Fokus stehen die ankommenden Flüchtlinge und deren Weiterreise nach Europa. Wie
sich die Ankunft oder die Bedingungen für die Weiterreise nach Europa auf Lampedusa
gestaltet oder mit welchen Hindernissen die lampedusani selbst im Alltag konfrontiert
werden, wird hingegen kaum von Medien aufgegriffen. Ob Lampedusa für Flüchtlinge,
als auch für Inselbewohner, als Tor zu Europa oder als Endstation gesehen werden kann

1
    S. Abb. 1
2
    Vgl. Fiz (2020).

                                           1
und wie sich diese Frage direkt anhand einer Analyse im Lebensraum der Insel
Lampedusa beantworten lässt, wird in der vorliegenden Diplomarbeit behandelt.

Als Grundlage dafür dienen die zwei ausgewählten Dokumentarfilme Lampedusa im
Winter und Fuocoammare, deren Regisseure sich diesem Thema angenommen haben.
Sie möchten einen realitätsgetreuen Einblick schaffen, wie der Alltag bzw. das Schicksal
der Flüchtlinge und Inselbewohner aussehen. Dabei wird nicht nur die Sicht der
Flüchtlinge, sondern auch der Lampedusaner als betroffene Einwohner dargestellt, die
den politischen Auswirkungen und der geographischen Abgeschiedenheit zu Italien
beziehungsweise Europa ausgesetzt sind.

Die selektierten Filme geben authentische Einblicke in das Leben auf Lampedusa und
die Ankunft von Migranten. Einblicke, die kaum über andere Medien vermittelt
werden. In den Filmszenen steht nicht nur das Flüchtlingselend im Fokus, welches sich
bereits auf dem Mittelmeer ereignet, sondern viel mehr konzentriert sich der
Blickwinkel auf die Bewohner vor Ort, welche hautnah miterleben, ob Lampedusa die
Funktion als Zugang zu Europa oder als Endstation übernimmt. In diesem Kontext
werden explizit die Schwierigkeiten und hoffnungstragenden Aspekte der Bewohner
der Insel Lampedusa und der dort ankommenden Flüchtlinge thematisiert, die mit
mehreren Problemen gleichzeitig konfrontiert werden.

In der ersten Phase der Arbeit, wird das Thema der Flüchtlingskrise in Europa als
Ausgangspunkt genommen. Unter diesem Aspekt erfolgt die detaillierte Eingrenzung von
Menschen, die sich auf die Flucht begeben und ab wann die Bezeichnung „Flüchtling“
Verwendung findet. Weiterführend werden Beweggründe für den Antritt einer Flucht
dargelegt.

Im darauffolgenden Abschnitt wird ein Einblick über die geographische Lage im
Mittelmeer und der daraus resultierenden Zusammenkunft vieler Kulturen gegeben.
Außerdem werden historisch erwähnenswerte Ereignisse erläutert und abschließend die
lokale Migrationspolitik behandelt.

Der Hauptteil der Arbeit beschäftigt sich mit der Analyse der Dokumentarfilme
Lampedusa im Winter und Fuocoammare, die sich der Thematik auf Lampedusa
angenommen haben und direkt vor Ort gedreht wurden. Dafür bedarf es vorab einer
Abgrenzung und Definition des Begriffs ‚Dokumentarfilm‘, sowie einer historischen
Aufarbeitung der Einführung von Dokumentarfilmen in der italienischen Filmindustrie.

                                           2
Darauffolgend wird die Filmanalyse nach der Klassifizierung von Kammerer & Kepser,
definierte Authentizitätssignalen, ausgewählte Bauformen sowie die Figurenanalyse nach
Jens Eder theoretisch aufgearbeitet und dargestellt.

Um auf die Fragestellung, ob das Leben auf Lampedusa als Tor zu Europa oder als
Endstation fungiert, eine Antwort geben zu können, werden ausgewählte Szenen der
bereits erwähnten Dokumentarfilme betrachtet und analysiert. Dabei werden Bilder aus
unterschiedlichsten Filmausschnitten in die Analyse eingegliedert, um unterschiedliche
Aspekte auf mehreren Ebenen in den Fokus zu stellen.

                                            3
2       Flüchtlingskrise in Europa
         Das Jahr 2015 hat die Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft, auf Krisen und die massenhafte
         Vertreibung von Menschen zu reagieren, auf eine harte Probe gestellt und dabei massive Defizite
         offenbart. Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht
         mehr. […]. Alle Versuche, diesen Konflikt zu beenden, haben bislang lediglich die Differenzen auf
         internationaler Ebene und in der Region selbst hervortreten lassen. 3

Mit dem Ausbruch der Flüchtlingskrise im Jahre 2015 und der andauernden Ankunft von
Flüchtlingen im Jahr 2016 und 2017 befinden sich viele Länder in einer Notsituation. Die
Flüchtlingskrise hat sich nicht nur in Deutschland, Österreich oder Italien zugespitzt,
sondern ganz Europa ist davon betroffen. Diese vorherrschende Extremsituation und das
inadäquate europäische Asylverfahren ermöglichen es kaum, die grundlegenden und
allgemeingültigen Menschenrechte für die Schutzsuchenden zu gewähren. Gründe für
diese Welle, die Europa überflutet hat, sind menschenfeindliche Bedingungen und Kriege
in den Ländern des Nahen Ostens und vielen anderen afrikanischen Ländern. Die letzte
Chance, die den Bewohnern das Leben retten kann, ist die Flucht in ein benachbartes
Land oder sogar über die Grenzen hinaus, in die EU. Zudem sind viele Menschen auf
Grund von ökonomischen Gründen die Überfahrt auf die Insel Lampedusa angetreten.
Man spricht von einer der größten Flüchtlingskrisen des 20. und 21. Jahrhunderts.4 Diese
Flucht ist nur durch illegale Reiserouten möglich und bringt somit eine große
Lebensgefahr mit sich. Eine dieser illegalen Strecken führt direkt über das Mittelmeer.
Als Ziel und Auffangstellen gelten die Insel Malta und Italien, insbesondere die Insel
Lampedusa. Lampedusa – einerseits das Touristenparadies Italiens schlechthin und
andererseits die Verkörperung der Flüchtlingskrise im Mittelmeer. Einerseits die Insel
wunderschöner Landschaften, andererseits die Insel unzähliger Leichen. Einerseits die
Insel fröhlicher italienischer Mentalität, andererseits die Insel der Trauer und des
Unbekannten. Es gibt keine andere Migrationsroute weltweit, auf der so viele Menschen
sterben wie auf dem Seeweg von Nordafrika nach Italien oder Malta. Diese kleine Insel
steht besonders im Sommer im Rampenlicht der medialen Berichterstattung. Das ist nicht
verwunderlich, denn im Sommer begeben sich die meisten Flüchtlinge auf den Weg nach
Lampedusa beziehungsweise Europa.5

3
    Vgl. Salil (2016).
4
    Vgl. ebd.
5
    Vgl Kastenhofer (2015).

                                                      4
Aktuell6 befinden sich im Flüchtlingslager Lampedusas über tausend Migranten, die
darauf warten weiterreisen zu können. Seit dem Jahresbeginn 2020 bis Herbst 2020 sind
21.4177 Migranten über den Seeweg in Italien eingetroffen. Im selben Zeitraum wurden
2019 bis zu diesem Zeitpunkt 6.543 Flüchtlinge gezählt.8

2.1 Definition Flüchtling
Die Genfer Flüchtlings Konvention (GFK), deren Definitionen und Kriterien immer noch
als Grundlage für das internationale Flüchtlingsrecht verwendet werden, wurde im Jahre
1951 in Genf auf der UN-Konferenz vom Hochkommissariat für Flüchtlinge der
Vereinten Nationen9 verabschiedet. Laut der Flüchtlingskonvention werden jene
Menschen als Flüchtlinge bezeichnet, die

            aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu
            einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des
            Landes befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, und den Schutz dieses Landes nicht in
            Anspruch nehmen können oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen wollen.10

Die Entstehung der Genfer Flüchtlingskonvention11 und ihre Umsetzung müssen kritisch
untersucht werden, da sie einerseits eine mit Europa verbundene Form des
Flüchtlingsschutzes darstellt und andererseits nicht alle Formen der Flucht in ihr vertreten
sind. Die GFK bezog sich ursprünglich auf europäische Flüchtlinge, die während des
Zweiten Weltkriegs flohen und wurde später durch das Zusatzprotokoll 1967 erneuert.12

Diese         beiden     Verträge      definieren    die    Bezeichnung       "Flüchtling"      auf    einer
völkerrechtlichen Ebene und dadurch auch die Rechte und Pflichten einer solchen Person.
Zu den Rechten eines Flüchtlings gehören neben den grundlegenden Bürgerrechten wie
Bewegungsfreiheit und Schutz vor Folter auch das Recht auf non-refoulement. Dies

6
    Stand: September 2020.
7
    Stand: 21. September, 2020.
8
    Vgl. Seminara (2020).
9
    Vgl. UNHCR (1997) S.55.
10
     Ebd.
11
     Abk. GFK.
12
     Vgl. Tosic et al. (2009) S.112.

                                                        5
impliziert das Verbot, Flüchtlinge in ihr Herkunftsland zurückzuführen, solange dort die
Gefahr der Verfolgung besteht.13

Darüber hinaus haben Flüchtlinge Anspruch auf medizinische Versorgung, Schulbildung
sowie Zugang zum Arbeitsmarkt. Infolge der Entwicklungen während der
Entkolonialisierung Afrikas war die Zahl der Flüchtlinge stark angestiegen. Infolgedessen
erweiterte die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) die Definition des
Flüchtlingsbegriffs und fügte Bürgerkrieg oder bürgerkriegsähnliche Zustände als
Fluchtgrund hinzu. Auch in Lateinamerika wurde die Flüchtlingsdefinition 1984 mit der
Erklärung von Cartagena erweitert.14

Der Großteil der Flüchtlinge sucht Schutz in Ländern in der Nähe ihres Herkunftslandes,
aus dem sie geflohen sind und in das sie zurückkehren wollen.15 Laut UNHCR-Zählungen
waren im Jahr 2019 weltweit etwa 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht, davon flohen
26 Millionen auf Grund von Konflikten, schweren Menschenrechtsverletzungen und
Verfolgung aus ihrem Heimatland, 45,7 Millionen Menschen flohen innerhalb ihrer
Heimat und 40% aller Flüchtlinge weisen ein Lebensalter unter 18 Jahren auf. Während
die Industrieländer den Großteil der Kosten von Organisationen und Behörden tragen,
nehmen die sogenannten Entwicklungsländer die Mehrheit der Flüchtlinge der Welt auf.
Flüchtlinge von den Kontinenten Asien und Afrika machen etwa 75% aus.16

Im allgemeinen Sprachgebrauch umfasst die Bezeichnung "Flüchtling" auch Vertriebene
und Personen, die in die Kategorie der Zwangsmigration fallen. Zur erzwungenen
Migration gehören verschiedene Faktoren wie Sklaverei, Zwangsumsiedlung, Migration
aufgrund         von      Umweltkatastrophen,       Menschenhandel         und     unter    anderem
"Wirtschaftsflüchtlinge". Nur ein kleiner Teil von ihnen sind Konventionsflüchtlinge.17

Das vorherrschende Auswahlverfahren in den verschiedenen Ländern wird von Klepp18
stark kritisiert, da die Entscheidung, ob eine Person als Flüchtling in Frage komme oder
nicht, letztlich von den Behörden getroffen werde. Diese berücksichtigen dabei weder die

13
     Vgl. ebd., S. 111.
14
     Vgl. ebd., S. 111.
15
     Vgl. Goldin et al (2011) S. 148.
16
     Vgl. UNHCR, Statistiken - 79,5 Millionen Menschen waren Ende 2019 weltweit auf der Flucht, 2020)
17
     Vgl. Tosic et al. (2009) S. 112.
18
     Vgl. Klepp (2011) S. 101.

                                                   6
Hintergründe einzelner Flüchtlinge noch die Komplexität der Migrationsbewegungen
und treffen ihr Urteil in der Regel willkürlich. Es ist schwierig, klare Grenzen zwischen
Flüchtlingen und Arbeitsmigranten, sowie zwischen erzwungener und freiwilliger
Migration zu ziehen, da diese viel komplexer sind und im Allgemeinen oft nicht der
Realität entsprechen.19

2.2 Beweggründe, um eine Flucht anzutreten
Laut UNHCR werden alle Menschen als Flüchtling bezeichnet, die aus dem Heimatland
fliehen oder vertrieben werden, ganz unabhängig aus welchem Antrieb die Flucht
stattfindet. In vorherrschenden soziologischen Theorien wurden mehrere Beweggründe
für Emigration erforscht.20

Für viele Wissenschafter scheint die Suche nach einem höheren wirtschaftlichen
Wohlstand als jener im Heimatland, die Hauptursache zu sein. Diese Motivation wird als
sehr typisch für die aktuelle Wirtschaftstheorie definiert, jedoch wird sie den unzähligen
Realitäten, die in dieser Definition enthalten sind, nicht gerecht. Es gibt Menschen deren
Entscheidung auszuwandern, mit der Suche nach Glück begründet werden kann. Einige
Familien versuchen vor dem totalen Elend zu fliehen oder hoffen auf bessere
Lebensbedingungen auf unternehmerischer als auch auf privater Ebene. Andere
Menschen werden von der Familie angewiesen das Land zu verlassen, um in Zukunft mit
finanziellen Überweisungen vor Ort unterstützen zu können. Viele Kinder von Familien
aus den Mittelmeerstädten, die Italien über die Flüchtlingsroute erreicht haben, warten
nur auf die Opportunität in (wirtschaftlich) attraktivere Länder wie Frankreich, etc.
weiterzuziehen. Sie möchten in diesen Ländern neue Erfahrungen sammeln sowie die
Ressourcen und Möglichkeiten des Gastlandes ausnutzen, um sich dem Vergnügen und
dem schnellen Geld hinzugeben. Die zeitliche Variabilität des Aufenthaltes kann
entweder vorübergehend, saisonal oder endgültig sein. Eine temporäre Beschränkung
kommt meist genauso oft vor, wie ein endgültiger Aufenthalt im Einwanderungsland.21
Ein weiterer dominierender Beweggrund ist die Familienzusammenführung oder die
Wiedervereinigung mit bekannten, verwandten oder liebenden Menschen. Daraus

19
     Vgl. ebd., S. 154.
20
     Vgl. ebd., S. 153
21
     Vgl. ebd.

                                            7
entstehen die sogenannten „Migrationsketten“. Einst galten die Migranten als Pioniere,
die zum Großteil dem maskulinen Geschlecht angehörten. In den letzten Jahrzehnten ist
eine neue Bewegung entstanden, in der die Migration durch Beziehungsnetzwerke
innerhalb der Familie oder Menschen mit gemeinsamer Herkunft angetrieben wird.
Dadurch wurden einige Individuen zu Vermittlern für ankommende Flüchtlinge, man
spricht sogar von einer eigenen Einwanderungsindustrie, die von Rechtsanwälten,
Personalagenturen oder Dolmetschern regiert wird.22
Zur nächsten Kategorie werden Asylsuchende gezählt, deren Flucht politisch begründet
ist. Denn gemäß der Konvention der Vereinten Nationen von 1951 bekommen jene
Menschen diesen Flüchtlingsstatus anerkannt, wenn sie in einem fremden Staat wohnen
und auf Grund einer begründeten Furcht vor persönlicher Verfolgung nicht in die Heimat
zurückkehren können. Die Unterzeichner der Konvention sind verpflichtet die
Flüchtlinge zu schützen, indem sie ihnen Hilfe leisten sowie einen langfristigen oder
vorübergehenden Aufenthalt gewähren.23
Politische Asylsuchende sind Personen, die auf der Suche nach Schutz die Landesgrenzen
überschreiten, aber nicht die strengen Kriterien der Definition erfüllen, die in der besagten
Konvention niedergeschrieben sind. Tatsächlich ist es schwierig eine klare
Unterscheidung zu treffen, wer zu dieser Flüchtlingskategorie zählt und wer nicht. Aus
diesem Grund wurde eine allgemeinere Definition für all jene Personen verlautbart, die
zwar nicht direkt verfolgt werden, aber aus unzumutbaren und unerträglichen Zuständen
fliehen. Außerdem zählen Naturkatastrophen wie Tsunamis, Erdbeben, etc. zu weiteren
Ursachen, die eine zwanghafte Migration auslösen können.24

22
     Vgl. ebd., S: 156
23
     Vgl. ebd., S: 157
24
     Vgl. ebd., S. 158

                                             8
3       Lampedusa
Die Namensfindung der heutigen Insel Lampedusa zog sich über Jahrhunderte hinweg.
Lipadusa, Lopedosa, Lapadusa, Lipidusa oder Lopadusa waren nur einige Varianten, die
als Namensgeber der Insel dienten. Schlussendlich war es der Geograph Nubiese, welcher
der Insel den Namen Lampedusa gab.25

3.1 Geographische Lage Lampedusas
Lampedusa gilt mit einer Fläche von 20,2 km² und 6.494 Einwohner26 als die größte der
zu Sizilien gehörenden Pelagischen Inseln. Sie ist nicht nur die größte des Pelagie-
Archipels im Mittelmeer sondern auch das absolut südlichste Territorium Italiens. Albero
Sole erreicht mit 112 Metern über dem Meeresspiegel den höchsten Punkt der Insel.27

Verwaltungstechnisch bildet Lampedusa zusammen mit Linosa die Gemeinde
„Lampedusa und Linosa“ mit Zugehörigkeit zur sizilianischen Provinz Agrigento. Auf
geologischer         Ebene        werden   Lampedusa   und   Lampione   der   afrikanischen
Kontinentalplatte zugewiesen. Linosa hingegen ist eine Insel vulkanischen Ursprungs und
gehört zur europäischen Kontinentalplatte. Tunesien befindet sich 110 km von
Lampedusa entfernt und die Insel Malta weist eine Distanz von 90 km auf. Die Überfahrt
von Lampedusa nach Sizilien findet täglich statt und dauert acht Stunden. Zusätzlich legt
im Sommer ein Tragflächenboot zur Überfahrt nach Sizilien ab, dass innerhalb von 4
Stunden die Insel erreicht. In den kalten Wintermonaten oder bei einem unruhigen
Seegang fällt die Fährenüberfahrt tagelang, teilweise sogar wochenlang aus. Eine weitere
Anbindung an das Festland bietet ein kleiner Flughafen, dessen Flugzeuge zwei
Verbindungen pro Tag nach Palermo und zwei Flüge pro Woche nach Catania anbieten.28

3.2 Historische Kurzfassung
Lampedusa diente im Laufe der Zeit immer wieder als Anlegeplatz und maritimer
Stützpunkt für phönizische, griechische, römische sowie arabische Völker. Die Insel blieb

25
     Vgl. Ladurner (2014) S. 9.
26
     Stand 2019
27
     Vgl. Reckinger (2015) S. 13
28
     Vgl. Reckinger (2015) S. 13-14

                                                 9
für sehr lange Zeit unbewohnt, da es immer wieder zu zahlreichen Piratenüberfällen kam.
1843 kaufte das Königreich der beiden Sizilien die Insel von der Familie Tomasi ab, kurz
daraufhin wurde der Entschluss gefasst, die Insel zu kolonisieren. Hauptmann
Sanvincente machte sich am 18. September 1843 mit 120 anderen Menschen auf den Weg
nach Lampedusa, um dort einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.29 Friese30
beschreibt, dass Fürst Tomasi zum Zeitpunkt des Verkaufes ein Memorandum
niederschrieb, indem er die besondere strategische Situierung der Insel aufzeigte:

     • Sie bietet einen großen Vorteil für das Königreich Sizilien, da die Insel ein sicherer
        Stützpunkt für etwaige Angriffe gegen Boote war, die sich in diesem Teil des
        Mittelmeeres aufhielten.
     • Große Schiffe sowie kleine Boote, die in Seenot gerieten, fanden auf der Insel
        Zuflucht und waren dort in Sicherheit.
     • Neapolitaner sowie Sizilianer baten Lampedusa eine sichere Basis um Handel zu
        betreiben und der Insel somit zu einem wirtschaftlichen Aufschwung zu verhelfen.

Lampedusa galt damals schon als Zufluchtsort für Menschen in Seenot und gleichzeitig
als wichtiger Handelsplatz. Während des Kalten Krieges wurde 1972 auf Lampedusa die
NATO-Abhörstation Loran C installiert und wurde anschließend als Zufluchtsort für
minderjährige Flüchtlinge und Frauen genutzt. Bis in die 1980er Jahre lebten die
Bewohner der Insel hauptsächlich vom Fischfang und der Landwirtschaft. Im Jahr 1986
erfolgten Ereignisse, die für die Zukunft Lampedusas ausschlaggebend waren. Die
NATO-Abhörstation wurde als Reaktion auf die US-Angriffe auf Tripolis und Bengali,
im Rahmen der Operation El Dorado Canyon, zum Ziel lybischer Raketen. Ab diesem
Zeitpunkt wurde die Insel zum ersten Mal in das Blickfeld der Medien katapultiert. In
Folge der Berichterstattung entwickelte sich ein wahrer Tourismusboom und bis zu 11
Tausend Menschen verbrachten ihren sommerlichen Aufenthalt auf Lampedusa.31

3.3 Fakten der Migrationspolitik auf Lampedusa
Aufgrund ihrer Lage zwischen der nordafrikanischen Küste und dem Süden Europas ist
die Insel Lampedusa im letzten Jahrzehnt zu einem der Hauptziele der Routen

29
     Vgl. Friese (1996) S. 10f
30
     Vgl. ebd., S. 27f
31
     Vgl. Friese (1996) S. 59

                                                 10
afrikanischer Migranten im Mittelmeerraum geworden. Gegenüber befindet sich Libyen,
auch bekannt als ein Ort der Verwaltungshaft, Gewalt, starker Einschränkung der
Menschenrechte und Unterdrückung von Individualität.

Die Pelagischen Inseln sind das, dem afrikanischen Kontinent rechtlich, am nächsten
gelegene europäische Territorium. Die Insel weist eine afrikanische Flora auf, wird von
italienischen Bürgern als auch von Migranten temporär beziehungsweise permanent
bewohnt und steht direkt im Mittelpunkt des Kontaktes zweier Kontinente.32

Lampedusa wird in der Tat oft als Felsen inmitten des Mittelmeers definiert, als ein Stück
Land von außerordentlicher Schönheit. Im Laufe der Jahre wurde sie zum Anhaltspunkt
für die Rettung tausender Menschen, die als Schiffbrüchige auf offener See auf der
kleinen Insel willkommen geheißen wurden. Lampedusa taucht mittlerweile seit einiger
Zeit sowohl in der italienischen als auch in der europäischen Gedankenkraft als die
Verkörperung einer Grenze auf; der Grenze Italiens, der Grenze Europas, der Grenze des
Meeres. Ihr Name wird mit Begriffen wie „Schiffbruch“, „illegale Einwanderer“ und
„Tod auf dem Mittelmeer“ in Verbindung gebracht. Genauso wird auf der
gegenüberliegenden Seite des Mittelmeeres Lampedusa mit Synonymen wie Freiheit,
Unterstützung und vor allem Hoffnung auf ein friedvolleres und leichteres Leben
konnotiert.33

Lampedusa repräsentiert geographisch gesehen, den letzten Teil der europäischen Union
im afrikanischen Meer und ist nicht nur Mittelpunkt vieler Kulturen, sondern stellt einen
Schmelztiegel dar, in dem sich die unterschiedlichsten Menschen, Ideen, Gedanken,
Religionen und Wertevorstellungen sammeln. Das reicht von Migranten über
Schmugglern, von humanitären Helfern über Polizeikräften, von Einheimischen und
Fischern über Patrouillenbooten und von Polizeibeamten aus Auswanderungs- und
Transitländern bis hin zu denen der Vereinten Nationen.34

Das erste Aufnahmezentrum Lampedusas wurde 1998 gegründet. Das damalige Zentrum
war in der Nähe des Flughafens situiert, in welchem ca. 186 Menschen aufgenommen
und vorübergehend beherbergt werden konnten. Es sollte als CPTO - Centro di
Permanenza Temporanea ed Assistenza dienen, also als Zentrum für eine vorübergehende

32
     Vgl. Sciurba (2009) S. 154
33
     Vgl Cuttitta (2012) S. 187-189. [07.09.2020]
34
     Vgl ebd. [07.09.2020]

                                                    11
Unterbringung und Versorgung. Jedoch war es unmöglich, diese Masse an Flüchtlingen
angemessen zu versorgen. Daher wurde es 2006 zum CSPA - Centro di Soccorso e Prima
Accoglienza umfunktioniert.35 Im Allgemeinen sollte die Verweilzeit der Flüchtlinge im
CSPA nicht länger als 48 Stunden dauern. Die verantwortlichen Mitarbeiter der Behörde
hatten während der Aufenthaltsdauer der Migranten die Möglichkeit die Daten für das
Aufnahmeverfahren zu dokumentieren, bevor diese in weiterer Folge anderen
Aufnahmezentren zugewiesen wurden.36

Am 1. August 2007 wurde ein neues Gebäude eröffnet, welches über eine Kapazität für
381 Personen verfügt und im Notfall sogar über 804 Migranten aufnehmen könnte. Im
Zuge des Standortwechsels wurde vom Management des Zentrums ein Modell
entwickelt, um die Struktur und Verwaltung des Aufnahmezentrums darzustellen.
Basierend auf der Zusammenarbeit mit NGOs, Vereinen und Organisationen wurde es als
Lampedusa-Modell bezeichnet, in dem der Fokus auf folgende Themen gesetzt werden
soll37:

         •      24 Stunden Pflege und medizinische Betreuung
         •      Psychologische Unterstützung
         •      Translation
         •      Information, Beratung und Begleitung bei rechtlichen Schwierigkeiten
         •      Kultursensibilisierung
         •      Nahrungsversorgung
         •      Verteilung von Tabak, Hygieneartikel, Kleidung, Telefonkarten
         •      Enge Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden für die Ausstellung
                einer Aufenthaltserlaubnis

35
     Vgl. Ciuni (2015) S. 113 [14.09.2020]
36
     Vgl. ebd. [14.09.2020]
37
     Vgl. Galipò & Miragliotta (2009)

                                               12
Abbildung 2: Statistik: Ankunft der Migranten auf Lampedusa/in Italien
Quelle: Surico 2020: 232

Die Abbildung 2 gestattet einen Überblick über die Anzahl von Flüchtlingen, die von
1999 bis 2019 irregulär auf Lampedusa bzw. in Italien angekommen sind.38

38
     Vgl. Surico 2020: 232

                                                  13
Man kann der Tabelle entnehmen, dass die Zahl der ankommenden Migranten auf
Lampedusa sehr unterschiedlich hoch ist, es ist keine Konstanz erkenntlich. Ein
markanter Anstieg fand bereits 2008 statt, gefolgt vom Jahr 2011, in dem das bisherige
Maximum an Flüchtlingen innerhalb eines Jahres auf Lampedusa ankam. Surico39 erklärt,
dass sich die geflüchteten Menschen auf dem gesamten Areal von Lampedusa aufhielten.
In jedem freien Raum in der Nähe der Stadt lagerten die Menschen in einem extremen
Durcheinander, in einer unsäglichen Unordnung.

3.4 Literarische Einblicke in das Leben auf Lampedusa
Im folgenden Abschnitt liegt der Fokus auf den Menschen vor Ort. Wie gestaltet sich das
Leben der lampedusani, beziehungsweise welche Lebensbedingungen herrschen generell
auf dieser kleinen Insel? Dadurch sollen ein Einblick und ein Verständnis für die
Lebensumstände der Menschen dargelegt werden.

Man kann feststellen, dass trotz zahlreicher Berichterstattung über Lampedusa, es in
diesen Beiträgen nie beziehungsweise kaum um das Leben der Menschen vor Ort geht –
die Bewohner Lampedusas. Weder die Probleme noch mögliche Lösungsvorschläge
werden in den Medien aufgegriffen. Für die Bewohner aus Lampedusa ist das Leben auf
der Insel eine große Herausforderung. Sie müssen tagtäglich Hindernisse überwinden, die
für jeden anderen italienischen oder europäischen Bewohner unvorstellbar sind. Diese
Herausforderungen beginnen bereits bei der Geburt eines Menschen und enden beim Tod
— sie ziehen sich durch alle möglichen Lebensbereiche hindurch.

„Ich habe ein Kind verloren, weil die Gynäkologin nur dienstags hier ist. Und ich habe
an einem Donnerstag Abtreibungswehen bekommen“40 erzählt Mariella, eine Mutter aus
Lampedusa.          Die       medizinische   Unterversorgung   vor   Ort   bringt   leidtragende
Konsequenzen mit sich. Mariella litt unter starken Schmerzen und konnte auf Grund der
Abwesenheit einer Gynäkologin keine Ultraschalluntersuchung durchführen lassen. So
wurden ihr vom Rettungsnotdienst Injektionen verabreicht, um den Herzschlag des Fetus
aufrecht zu erhalten. Sie erfuhr, dass das Baby bereits verstorben war, als sie durch
Beziehungen schlussendlich doch eine Ultraschalluntersuchung bekam. Um eine Blutung
zu vermeiden, wurde ihr geraten mit dem nächstmöglichen Flugzeug ins Krankenhaus

39
     Vgl. Surico (2020) S. 233.
40
     Reckinger (2015) S.76.

                                                  14
nach Palermo zu fliegen. Da der Flug nach Palermo bereits ausgebucht war, bekamen sie
und ihr Mann erneut ausschließlich durch Beziehungen zwei Plätze im Flieger nach
Catania, ohne medizinischem Personal an Board.41

Auf Grund der mangelhaften Krankenversorgung und einer fehlenden Geburtenstation
auf Lampedusa, müssen viele Inselbewohner nach Sizilien transportiert werden. Dadurch
entstehen neben finanziellen Belastungen außerdem gesundheitliche Risiken. Für die
lampedusani ist das die Realität, die unter den Bewohnern als normal wahrgenommen
wird. Menschen, die dort aufwachsen und leben, wissen nicht was es bedeutet die
Möglichkeit zu haben, rund um die Uhr fachärztliche Hilfe heranzuziehen. Diese
angebliche Normalität lässt sich im Bereich der Schulbildung, des Freizeitangebotes,
Straßen, der Anbindung zum Festland, etc. ebenso wiederfinden. „Man schämt sich dafür,
etwas einzufordern. So als wäre es ein Gefallen, um den man bittet. Dabei ist es ein
Recht.“42

Nicht ohne Grund beschreibt Reckinger43 Lampedusa als „Welt des Mangels“. Trotzdem
scheint es, als würden die lampedusani mit wenig Geld und einem Dach über den Kopf
halbwegs gut leben können. Als die ertragreichste Einnahmequelle gilt der Tourismus,
neben dem Fischfang und einigen Geschäften und Unternehmen.44 Trotzdem ist die
Zirkulation von Geld gering. Reckinger45 erklärt

          Vielmehr besteht eine komplizierte Verflechtung des Gebens und Nehmens, die einerseits dafür
          sorgt, dass jede und jeder einen angemessenen Gegenwert für das bekommt, was er oder sie gibt,
          andererseits aber vor allem die Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern in der
          Gemeinschaft steuert und reproduziert. In diesem Sinne findet man heute auf dieser italienischen
          Insel ein System, von dem man versucht wäre, es mit den von Ethnologen des frühen 20.
          Jahrhunderts beschriebenen Gegebenheiten in Gesellschaften gleichzusetzen, die wenig Kontakt
          zum Westen hatten.

Dieses Tauschprinzip nimmt starken Einfluss auf die zwischenmenschlichen
Beziehungen zueinander. Es stärkt das Zugehörigkeitsgefühl und das Vertrauen auf

41
     Vgl. ebd.
42
     Ebd.
43
     Vgl. ebd., S. 134.
44
     Vgl. ebd.
45
     Ebd. S. 135.

                                                     15
Verlässlichkeit zu den Mitmenschen. Diese Werte sind wichtig für ein gutes Miteinander
in einem sozialen Umfeld.

Lampedusa ist ein Ort der Bewegung, an dem manchmal trotzdem alles still zu stehen
scheint. Auf Grund der identitären, politischen und örtlichen Bedingungen empfindet
Reckinger46 die Bezeichnung der Insel als terre de migrations sehr treffend. Menschen
kommen an und ziehen weiter, andere befinden sich auf der Durchreise, einige Bewohner
gehen nie von der Insel weg und leiden darunter und andere gehen fort und kommen
sehnsüchtig wieder zurück.47 Die Wege sind in viele Richtungen frei, es stellt sich nur die
Frage welche Hindernisse dahinter warten.

3.4.1 Pietro Bartolo – zwischen Leben und Tod
          „Io sono lampedusano. Lampedusa è una porta sembra aperta. La Porta d’europa. L’isola è stata
          abbandonata. È stata dimenticata da tutti.”48

Pietro Bartolo ist ein Inselbewohner, der am 10. Februar 1956 in Lampedusa geboren und
studierte an der Universität in Catania Medizin, mit der Spezialisierung auf Gynäkologie.
Seit seinem Abschluss leistet er für das gesamte Volk auf Lampedusa medizinische
Hilfestellung, aber nicht nur für die Bewohner, sondern auch für die unzähligen
Flüchtlinge, die seit Jahrzehnten das Mittelmeer überqueren und auf Lampedusa
ankommen.49
Er setzt sich Tag für Tag mit dem humanen Leid auseinander und schaut dem Tod viel zu
oft in die Augen. Viele Menschen meinen, dass sich der medico bereits an den Anblick
von Tod und Leid gewöhnt hätte, doch das kann Bartolo nur kopfschüttelnd negieren.
Manchmal befinden sich unter den Flüchtlingen Frauen, die noch das neugeborene Baby
an der Nabelschnur mittragen und oft sind die Migranten durch Misshandlungen,
Verstümmelungen und Gewalt gebrandmarkt, sodass man nur erahnen kann, was diesen
Menschen vor der Überfahrt über das Mittelmeer zugestoßen sein muss. Um einer

46
     Vgl. ebd., S. 27.
47
     Vgl. ebd.
48
     Bartolo (2019) 0:02 – 0:10 [30.03.2021].
49
     Vgl. Bartolo (2020) [04.03.2021].

                                                      16
Dehydration entgegenzuwirken, trinken die Flüchtlinge ihren eigenen Urin, damit sie
ihren Körper mit einem minimalen Anteil an Flüssigkeit versorgen können.50

Er kennt unzählige Geschichten von Menschen, die ihr Leben riskieren und auf die Probe
stellen, um auf der Suche nach einer besseren Zukunft das Mittelmeer zu überqueren und
von dort aus nach Europa gelangen zu können. Geschichten von Frauen und Männern,
die zu oft Opfer von Gewalt und Missbrauch werden. Geschichten von Flüchtlingen,
deren gefährliche Reise nicht erst bei der Überfahrt nach Lampedusa beginnt, sondern
schon viel früher. Geschichten von teilweise noch sehr jungen Kindern, die meist allein
auf der Insel ankamen. Das Einzige, das in deren Köpfen zählt, ist es lebendig
anzukommen und auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Denn die Chronik ist voll von
Menschen, die auf See den Tod fanden. Aufgrund seines eigenen Schiffbruchs weiß
Pietro Bartolo wirklich, was es bedeutet, auf See zu sterben und sieht es als seine
Aufgabe, den geschundenen, zerrissenen und verzehrten Körpern seine Würde
zurückzugeben.51

Als junger Mann war Pietro Bartolo selbst Fischer und erlitt einen Schiffbruch, daher
weiß er, wie traumatisch und schrecklich es ist, eine solche Erfahrung zu machen. Damals
konnte er noch nicht wissen, wie stark dieser Vorfall sein Leben prägen würde:

         Ciò che non potevo sapere allora è che non solo quella notte sarebbe rimasta per sempre impressa
         nella mia mente ma che la mia esistenza sarebbe stata segnata da un mare che restituisce corpi e
         vite e che sarebbe toccato proprio a me salvare quelle vite e toccare per ultimo quei corpi.52

Bartolo trieb damals 3 Stunden allein im Meer, nachdem er inmitten der Nacht über Bord
fiel. Zuerst bemerkte niemand den Sturz, deswegen musste er sehr lange auf Hilfe warten.
Nach der Rettung vergingen Tage bis er wieder Zugang zu seiner verbalen Artikulation
fand. Ab diesem Moment an konnte er nachvollziehen wie es sich anfühlen würde im
Meer und ohne jegliche Hilfe zu verenden. Er kann sich selbst in vielen Geschichten der
Emigranten wiederfinden und fühlt mit ihnen mit. Er kann diese Menschen verstehen und

50
     Vgl. Bartolo & Tilotta (2017) S. 18.
51
     Vgl. Sabbatini (2020) [18.03.2021].
52
     Bartolo & Tilotta (2017) S. 12.

                                                      17
er kann ihnen helfen. Deshalb hat er sich damals dazu entschlossen, nach dem Studium
auf seine Heimatinsel zurückzukehren.53
         Il primo sbarco è stato nel 1991, erano appena in tre persone e, da quel momento, mi sono, come
         dire, dedicato anche a loro. Perché avevano bisogno e io da medico ovviamente, ma anche da uomo
         penso che, che ho fatto quello che si doveva fare, ho fatto quello che era il mio dovere. 54

4       Der Dokumentarfilm
Für die Analyse der ausgewählten Dokumentarfilme ist es notwendig sich zuerst der
Theorie anzunähern, um ein Verständnis für das Genre Dokumentarfilm zu erlangen. Da
in diesem Bereich viele Unstimmigkeiten und Meinungsverschiedenheiten vorherrschen,
wurden ausschließlich solche Aspekte der Theorie herangezogen, die für die
Fragestellung dieser Untersuchung relevant sind. Neben einer eingrenzenden und
definitorischen Abhandlung werden außerdem historische Fakten erwähnt, welche sich
ausschließlich auf die Anfänge und die Entwicklung des Dokumentarfilms in Italien
beziehen.

4.1 Abgrenzung und Definition
         „Documentary“ can be no more easier defined than „love“ or „culture“. 55

Bei dem Versuch eine konkrete Definition sowie klar formulierte Grenzen für das Genre
„Dokumentarfilm“ festzulegen, gehen die Meinungen der Experten teilweise weit
auseinander. Laut der Definition von Decker ist ein Dokumentarfilm eine „Filmform, die
eine möglichst wirklichkeitsnahe Darstellung anstrebt. [...]. Anspruch ist es, einen realen
Sachverhalt in seinen wesentlichen Aspekten zu entfalten.“56

Kammerer und Kepser definieren den Dokumentarfilm wie folgt:

         Dokumentarische Filme unterbreiten ein plausibles filmisch gestaltetes Angebot über
         Naturphänomene, Vorkommnisse, Situationen und Ereignisse. Die gezeigte Welt wird behauptet als
         eine natürliche und historische, die auf prinzipiell nachprüfbaren Fakten basiert. Dieser wird nichts
         Neues und Unüberprüfbares hinzugefügt. Sofern darin Personen auftreten, handelt es sich

53
     Vgl. ebd., S.11.
54
     Vgl. Martinez (2020) [21.03.2021].
55
     Nichols (2001) S. 20.
56
     Decker (1997) S.61.

                                                       18
normalerweise um reale Persönlichkeiten in ihren üblichen sozialen Rollen und nicht um Berufs-
         und Laienschauspieler. [...].57

Diese beiden Definitionen entsprechen dem Bestreben ein reales Fundament in einen
Kontext einzubetten, um wirklich vorgefallene Geschehnisse zu dokumentieren und die
Geschichte von Menschen zu erzählen, die hautnah dabei waren. Es gilt eine Situation,
ein Geschehnis, so nah an der Realität wie möglich nachzustellen.

John Grierson Erwartung an einen Dokumentarfilm ist „die kreative Behandlung der
aktuellen Wirklichkeit.“58 Es geht in den erläuterten Definitionen also darum, etwas
Wirkliches, eine reale Situation filmisch nachzustellen. Dabei wird der Anspruch auf
Realität, Wirklichkeit und Nichtfiktion erhoben.

Zunächst möchte jedoch geklärt werden welche Bedeutung dem Terminus „Dokument“
im Dokumentarfilm zugeschrieben wird. Ein Dokument symbolisiert in erster Linie eine
Urkunde, ein Schriftstück oder auch einen Beweis.59 Die Intention bei der Umsetzung
einer Dokumentarfilm-Produktion ist es also, ein zeitgenössisches Dokument oder einen
zeitgenössischen Beweis zu erschaffen. Dies kann beim Publikum zur Annahme führen,
dass in solchen Produktionen absolut realitätsgetreue Szenen vermittelt werden — was
jedoch falsch ist. Dafür steht die Meinung von Michael Barker, denn er sagt, dass Filme
aus diesem Genre solch große Erfolge erzielen, weil „die strikte Regel, dass
Dokumentarfilme pure Realität sein müssten nicht mehr gilt. Die Definition von
Dokumentarfilm ist heute viel flexibler […].60 Deshalb betont der Filmemacher Erwin
Leiser, dass der Begriff „Dokumentarfilm“ nicht adäquat verwendet wird. Er bevorzugt
hingegen das Wort nonfictionfilm und intendiert damit, dass diese Filmproduktionen der
Ausdruck von Authentizität und nichts Erfundenem sind.61

Hattendorf62 definiert Authenizität als “a result of applying cinematic techniques.
“Credibility” of depicted events depends on the influence that the cinematic strategies
exert on viewers. Authenticity is grounded equally in form and in reception“.
Authentizität bedeutet Situationen und Geschichten so nah wie möglich an der Realität

57
     Kammerer & Kepser (2014) S. 30.
58
     Grierson (1998) S. 109.
59
     Vgl. Wermke (2007) S.151.
60
     Was dürfen Dokumentarfilme? Nr. 31/2004, (2004) S.29.
61
     Vgl Leiser (1994) S.37.
62
     Hattendorf (1999) S. 67.

                                                   19
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