Diskurs Muslimbilder in Deutschland - Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte

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Diskurs Muslimbilder in Deutschland - Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte
November 2012

Expertisen und Dokumentationen
zur Wirtschafts- und Sozialpolitik   Diskurs
                                     Muslimbilder in Deutschland

                                     Wahrnehmungen und
                                     Ausgrenzungen in
                                     der Integrationsdebatte

                                     Gesprächskreis
                                Migration und Integration

                                                                            I
Diskurs Muslimbilder in Deutschland - Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte
II
Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts-
und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Muslimbilder in Deutschland

Wahrnehmungen und
Ausgrenzungen in
der Integrationsdebatte

Naika Foroutan
WISO
 Diskurs                                                                                    Friedrich-Ebert-Stiftung

            Inhaltsverzeichnis

           Tabellen- und Abbildungsverzeichnis                                                                          3

           Abkürzungsverzeichnis                                                                                        5

           Vorbemerkung                                                                                                 6

           Zusammenfassung                                                                                              7

           1. Einleitung                                                                                                8

           2. Integration und Islam – Warum werden diese Begriffe so oft verkoppelt?                                   10
           3. Datenlage zu Islam und Muslimen in Deutschland                                                           13
              3.1 Publikationen-Verlauf im deutschsprachigen Raum                                                      13
              3.2 Erhebungen zu Islam und Muslimfeindlichkeit                                                          17

           4. Wahrnehmungen, Vorbehalte, Vorurteile gegenüber Muslimen in Deutschland                                  23
              4.1 Muslime = Migranten oder Ausländer ≠ Deutsche                                                        23
              4.2 Kopplung von ökonomisch schwachen Regionen mit Muslimen                                              26
              4.3 Fertilitätsvorwürfe und Unterwanderungsängste im Kontrast zur empirischen
                  Datenlage                                                                                            29
              4.4 Islamisierung Deutschlands? – Soziodemographische Daten im Vergleich                                 30
              4.5 Bildungsstagnation bei Muslimen? – Bildungsdaten im Vergleich                                        35
              4.6 Muslime als Sozialschmarotzer? – Arbeitsmarktdaten im Vergleich                                      38
              4.7 Muslime wollen sich nicht kulturell integrieren?
                  Parameter kultureller Integration im Vergleich                                                       43
                  Sprachkompetenz                                                                                      43
                  Kopftuch                                                                                             45
                  Schwimm- und Sportunterricht                                                                         47
                  Werte und Normen                                                                                     48
              4.8 Soziale Abschottung? Kontakthäufigkeiten und Vereinsmitgliedschaften
                  als Parameter sozialer Integration                                                                   50
              4.9 Keine Verbundenheit mit Deutschland? Rückzüge in der emotionalen Integration                         52

           5. Fazit: Die Wahrnehmung von Muslimen erschwert gesamtgesellschaftliche
              Integrationsprozesse                                                                                     55

           Literaturverzeichnis                                                                                        59

           Die Autorin                                                                                                 68

           Diese Expertise wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-
           Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind von der Autorin in
           eigener Verantwortung vorgenommen worden.

           Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung | Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der
           Friedrich-Ebert-Stiftung | Godesberger Allee 149 | 53175 Bonn | Fax 0228 883 9202 | www.fes.de/wiso |
           Gestaltung: pellens.de | Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei |
           ISBN: 978 - 3 - 86498 -340 - 5 |
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                       WISO
                                                                                                        Diskurs

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Tabelle 1:         Islamfeindliche Aussagen (Zustimmung in %)                                     21

Tabelle 2:         Wanderungssaldo einzelner Länder von 2007 bis 2011 (absolut)                   30

Tabelle 3:         Absolute Anzahl der muslimischen Bevölkerung im europäischen Ländervergleich   31

Tabelle 4:         Anteil der muslimischen Bevölkerung und Bevölkerungsentwicklung an der
                   Gesamtbevölkerung im Vergleich                                                 32

Tabelle 5:         Islamismuspotenzial                                                            33

Tabelle 6:         Deutschkenntnisse der Befragten mit Migrationshintergrund nach
                   Generationszugehörigkeit (in %)                                                44

Tabelle 7:         Deutschkenntnisse der befragten Zuwanderer                                     45

Abbildung 1: Publikationen zum Themenkomplex Islam und Muslimen in
             Deutschland zwischen 1961 und 2012                                                   13

Abbildung 2: Publikationen bei Google-Books zum Themenkomplex Islam
             zwischen 1978 und 2008                                                               16

Abbildung 3: Negative Haltungen gegenüber Muslimen, Hinduisten, Buddhisten
             und Juden                                                                            19

Abbildung 4: Woran denken Sie beim Stichwort Islam?                                               20

Abbildung 5: Anteil der Personen mit und ohne Migrationshintergrund unter
             6 Jahren in ausgewählten Städten 2008                                                23

Abbildung 6: Bevölkerung 2010 nach Migrationsstatus                                               24

Abbildung 7: Muslime nach Herkunftsregion (in %)                                                  26

Abbildung 8: Verteilung der Muslime auf die Bundesländer                                          27

Abbildung 9: Anteil der Personen mit und ohne Migrationshintergrund in
             ausgewählten Städten 2008                                                            28

Abbildung 10: Sorge um Ausbreitung des Islam in Deutschland                                       31

Abbildung 11: Jährliche Bevölkerungswachstumsraten von Muslimen in Regionen                       33

Abbildung 12: „(Fach-)Hochschulreife von Personen mit türkischem Migrationshintergrund
              und Personen ohne Migrationshintergrund im Vergleich                                37

Abbildung 13: Schulabschluss von Personen mit türkischem Migrationshintergrund
              (mit und ohne persönlicher Migrationserfahrung)                                     37

                                                                                                       3
WISO
 Diskurs                                                                                     Friedrich-Ebert-Stiftung

           Abbildung 14: „(Fach-)Hochschulreife von Frauen mit türkischem Migrationshintergrund
                         und ohne Migrationshintergrund im Alter zwischen 23 - 28 Jahren                        38

           Abbildung 15: Personen ohne Migrationshintergrund mit überwiegendem Lebensunterhalt                  39

           Abbildung 16: Personen mit türkischem Migrationshintergrund mit überwiegendem
                         Lebensunterhalt                                                                        39

           Abbildung 17: Anteil unqualifizierter Personen mit türkischem Migrationshintergrund
                         von 25 bis 34 Jahren nach Migrationsstatus 2010                                        40

           Abbildung 18: Erwerbstätigenquote der 26- bis 35-Jährigen nach Migrationsstatus
                         und Ausbildungsabschluss 2005 (in %)                                                   41

           Abbildung 19: Anteil unqualifizierter Personen mit türkischem Migrationshintergrund
                         nach Generationszugehörigkeit                                                          42

           Abbildung 20: Befragte Musliminnen im Alter ab 16 Jahren nach Häufigkeit
                         des Kopftuchtragens und Generationenzugehörigkeit (in %)                               46

           Abbildung 21: Teilnahme am gemischtgeschlechtlichen Sport- und Schwimmunterricht,
                         am Sexualkundeunterricht sowie an der letzten Klassenfahrt
                         bei Schülern mit den entsprechenden Unterrichtsangeboten nach
                         Religionszugehörigkeit und Geschlecht (in %)                                           47

           Abbildung 22: Wertevorstellungen                                                                     48

           Abbildung 23: Einstellungen zu tabuisierten Themen                                                   49

           Abbildung 24: Einstellungen zum Rollenverständnis von Mann und Frau                                  50

           Abbildung 25: Kontakthäufigkeit zu Deutschen im Alltag nach Nationalität und Alter                   51

           Abbildung 26: Mitgliedschaften der befragten Muslime in deutschen bzw.
                         herkunftslandbezogenen Vereinen (in %)                                                 51

           Abbildung 27: Verbindung zum Herkunftsland und zu Deutschland der Befragten
                         mit Migrationshintergrund nach Religionszugehörigkeit (in %)                           53

           Abbildung 28: Befürchten Sie weitere rassistisch motivierte Morde in Deutschland?                    54

      4
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                         WISO
                                                                                          Diskurs

Abkürzungsverzeichnis

      ALG       Arbeitslosengeld

     Bamf       Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

       BfV      Bundesamt für Verfassungsschutz

 Destatis       Statistisches Bundesamt

    DIHK        Deutsche Industrie- und Handelskammer

      DIK       Deutsche Islam Konferenz

      FRA       European Union Agency for Fundamental Rights

     GMF        The German Marshall Fund of the United States

      IKG       Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung

      MH        Migrationshintergrund

     MLD        Muslimisches Leben in Deutschland (Studie)

MLNRW           Muslimisches Leben in Nordrhein-Westfalen

       PM       Pressemitteilung

      SVR       Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration

    WDB         Wissenschaftliche Dienste des Bundestages

                                                                                         5
WISO
 Diskurs                                                                                      Friedrich-Ebert-Stiftung

           Vorbemerkung

           Seit dem 11. September 2001 hat sich der Diskurs    differenzierte Betrachtungsweise der unterschied-
           um die Integration von Muslimen verschärft.         lichen Gruppierungen und Religionsgemeinschaf-
           Ablehnende Einstellungen gegenüber dem „Islam“      ten innerhalb des Islam voraus und darf Kon-
           und den Muslimen sind in der Gesellschaft weit      fliktthemen nicht ausklammern.
           verbreitet. Oftmals wird undifferenziert unter-           Vor allem müssen aber die vielfältigen sozia-
           stellt, der Islam sei mit westlichen, demokrati-    len, kulturellen, ethnischen und religiösen Fakto-
           schen Grundwerten und Gesellschaftsordnungen        ren und ihre Wechselwirkungen bei der Beschrei-
           nicht vereinbar. Es entwickeln sich Ängste vor      bung und Analyse von Integrationsverläufen von
           einer „Überfremdung“ in breiten Bevölkerungs-       Einwanderinnen und Eiwanderern berücksichtigt
           gruppen, die den Islam und hier lebende Musli-      werden. Monokausale Erklärungen für gelingen-
           me als Bedrohung empfinden. Sie werden ver-         de oder misslingende Integrationsprozesse grei-
           stärkt durch öffentliche Debatten, die unter-       fen zu kurz. Insbesondere einzig aus der Reli-
           schiedliche Lebenschancen und Bildungserfolge       gionszugehörigkeit, hier des „Muslimischseins“,
           an angeblichen biologischen und genetischen         auf die Lebensverhältnisse und Wert- und Norm-
           Unterschieden von Zuwanderergruppen festma-         orientierungen zu schließen, wird der Komple-
           chen; und hier werden insbesondere jene Zuwan-      xität der Entwicklung von Lebenswelten in mo-
           derergruppen benannt, die aus islamisch gepräg-     dernen Gesellschaften nicht gerecht.
           ten Herkunftsregionen nach Deutschland einge-             Mit diesem Gutachten von Naika Foroutan
           wandert sind. Eine besondere Gefahr für unsere      wollen wir einen Beitrag zur Versachlichung der
           Demokratie stellen rechte Parteien und Gruppie-     gesellschaftlichen Diskussion leisten. Sie zeigt
           rungen dar, die Islamfeindlichkeit schüren, um      auf, wie verbreitet antiislamische Einstellungen
           Zuspruch für ihre nationalistischen Parolen zu      in der Bevölkerung sind. Vor allem analysiert sie,
           finden.                                             wie ausgrenzende Muslim- und Islambilder die
                 Notwendig ist deshalb eine sachgerechte       tatsächlichen Integrationsverläufe der Zuwande-
           Diskussion um die Stellung des Islam und von        rer negativ beeinflussen. Der Zusammenhalt in
           Muslimen im Einwanderungsland Deutschland.          Deutschland wird aber nur gesichert werden kön-
           Der in den letzten Jahren begonnene politische      nen, wenn Muslimen die gleichberechtigte Teil-
           Dialog mit muslimischen Organisationen muss         habe an der Gesellschaft ermöglicht wird.
           auf Augenhöhe fortgesetzt werden. Dies setzt eine

                                                                                                  Günther Schultze
                                                           Leiter des Gesprächskreises Migration und Integration
                                                                        Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                     der Friedrich-Ebert-Stiftung

      6
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                            WISO
                                                                                                             Diskurs

Zusammenfassung

Studien des Sachverständigenrates für Migration     text. Die Argumentationsmuster des Ausschlusses
und Integration (SVR) sowie die jährlichen Trans-   kreisen sowohl um Islamisierungs- und Unter-
atlantic Trends Erhebungen des German Marshall      wanderungsängste, als auch um fehlende Eman-
Funds belegen, dass es in Deutschland einen ver-    zipation und Frauenunterdrückung, die exempla-
haltenen Optimismus gegenüber Vielfalt und          risch immer wieder anhand von Kopftuchdebat-
Zuwanderung gibt. Gleichzeitig messen die Biele-    ten angesprochen werden, sowie um Terrorismus,
felder Sozialwissenschaftler um Wilhelm Heit-       Kriminalität und Gefährdung, die ein pauschales
meyer, ebenso wie die Münsteraner Studie von        Schreckensszenario muslimischer jugendlicher
Detlef Pollack zur religiösen Vielfalt, steigende   Männlichkeit entwerfen. Dabei können selbst
islamfeindliche Einstellungen in Deutschland. In    statistische Erhebungen und wissenschaftliche
der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur „Ab-    Analysen, die die zugeschriebenen Vorurteile als
wertung der Anderen“ kommen die Autoren Zick,       marginalisierte Randphänomene beschreiben, die
Küpper und Hövermann sogar zu der Erkenntnis,       gleichermaßen von Muslimen und Nichtmusli-
dass Deutschland im europäischen Vergleich mit      men abgelehnt werden, nicht die Vorurteile ge-
Italien, Ungarn und Polen an der Spitze islam-      genüber Islam und Muslimen in Deutschland ab-
feindlicher Einstellungen steht. Somit ist für      schwächen. Unter dem Deckmantel einer „Inte-
Deutschland ein Paradoxon des Pluralismus zu        grationsdebatte“ sickern stattdessen breitflächig
beobachten, wenn diese auf der einen Seite von      stereotype Wahrnehmungen über diese Gruppe
einer Bevölkerungsmehrheit begrüßt, gleichzeitig    in die Mitte der Gesellschaft und verhindern so-
aber für die größte Minderheitengruppe einge-       mit genau jenes Projekt, welches für die soziale
schränkt wird, nach dem Motto: Vielfalt ja – aber   Kohäsion einer pluralen Einwanderungsgesell-
ohne Muslime! Dieser ausgrenzende Diskurs hat       schaft zentral ist: Gesellschaftliche Integration als
im Zuge der Integrationsdebatten, die besonders     Teilhabe aller an gemeinschaftlichen Gütern,
abwertend seit dem Erscheinen von Thilo Sarra-      politischer Partizipation und identifikativer Zu-
zins Buch „Deutschland schafft sich ab“ im Jahr     gehörigkeit.
2010 geführt werden, eine Perpetuierung von             Aus diesem Grund setzt sich die vorliegende
Islam- und Muslimbildern als integrationsdistant    Untersuchung vor allem mit jenen Wahrneh-
und der deutschen Kultur widersprechend zur         mungen über Muslime in Deutschland auseinan-
Folge. Die Wahrnehmung von Islam und Musli-         der, die im Zuge der „Integrationsdebatten“ im-
men in Deutschland ist geprägt von Diskursen        mer wieder artikuliert worden sind, und kon-
der Inkompatibilität. Diese verweisen Muslime,      trastiert sie mit bestehenden wissenschaftlichen
die insgesamt fünf Prozent der deutschen Bevöl-     Studien und statistischen Daten, um ihre Wir-
kerung ausmachen, aufgrund unterschiedlichster      kungsmacht zu beschreiben.
Narrative aus dem deutschen Zugehörigkeitskon-

                                                                                                            7
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 Diskurs                                                                                           Friedrich-Ebert-Stiftung

           1. Einleitung

           In seinem letzten Jahresgutachten 2012 „Integra-         mit einem Mehrwert – vor allem im Sinne eines
           tion im föderalen System: Bund, Länder und die           ökonomischen Mehrwertes – für die Gesellschaft
           Rolle der Kommunen“ beschreibt der Sachver-              verbunden ist. Diesen Schluss legen jedenfalls die
           ständigenrat deutscher Stiftungen für Integration        Daten nahe, da laut dem Jahresgutachten des SVR
           und Migration (SVR) einen verhaltenen optimis-           knapp 60 Prozent der Befragten einer Zuwan-
           tischen Zuspruch der deutschen Bevölkerung ge-           derung von Hochqualifizierten zustimmen, fast
           genüber der Integrationspolitik. Demnach erwar-          70 Prozent jedoch gegen eine stärkere Zuwande-
           ten bzw. erkennen laut dem Bericht 50 Prozent            rung von Niedrigqualifizierten sind (SVR 2012:
           der Befragten mit und ohne Migrationshinter-             22). Auch wenn Vielfalt mit einem gewissen als
           grund in Ost- und Westdeutschland einen erfolg-          harmlos oder exotisch wahrgenommenen An-
           reich verlaufenden Integrationsprozess, nur etwa         derssein assoziiert wird, ist sie willkommen oder
           zehn bis 20 Prozent erwarten diesbezüglich Ver-          wird zumindest nicht abgelehnt. Ein Grund hier-
           schlechterungen (SVR 2012: 22).1                         für könnte sein, dass Deutschland trotz aller be-
                Ergebnisse der letzten Studie der Transatlan-       stehenden faktischen Heterogenität weiterhin als
           tic Trends 2011 decken diese optimistische Ana-          eine homogene Mehrheitsgesellschaft imaginiert
           lyse des SVR. Demnach beurteilen 48 Prozent der          wird.
           Befragten in Deutschland die Integration von Zu-              Auch der Integrationsbegriff suggeriert eine
           wanderern als positiv (GMF 2011: 22). Auch Wil-          bestehende deutsche Gemeinschaft, in die sich
           helm Heitmeyer misst in der letzten Auskopplung          die „Anderen“ mit maximalen Bemühungen hin-
           der „Deutschen Zustände“ mehrheitlich positive           ein zu integrieren haben, und wurde in den letz-
           Zusprüche zu der vorhandenen und sich weiter             ten Jahren verstärkt an eine Leitkulturdebatte
           fortsetzenden Diversität in Deutschland. „Es ist         gekoppelt. Dies wiederum wird von den zu inte-
           besser für ein Land, wenn es eine Vielfalt unter-        grierenden Subjekten kritisch betrachtet, da die
           schiedlicher Kulturen gibt“, sagen 76,8 Prozent          im letzten Jahrzehnt zu vernehmenden Integra-
           der Deutschen (42 Prozent stimmen dieser Aussa-          tionsfortschritte der Migranten auf struktureller,
           ge „eher“ und 34,8 Prozent „voll“ zu). Auch der          sozialer und kultureller Ebene die emotionale
           Aussage: „Verschiedene kulturelle Gruppen be-            Zugehörigkeit dieser Gruppe zu Deutschland
           reichern eine Gesellschaft“ stimmen 84,9 Pro-            nicht maßgeblich begünstigt haben (Foroutan
           zent der Deutschen zu (43 Prozent „eher“ und             2010: 9 - 15).
           41,9 Prozent „voll“). Diese Daten veranschauli-
           chen deutlich, dass Vielfalt innerhalb der deut-          So schreiben Böcker et al. (2010: 309):
           schen Gesellschaft offenbar mehrheitlich positiv          „Die Angehörigen der Dominanzgesellschaft neh-
           reflektiert wird (Zick/Küpper 2012: 165).                 men sich das Recht, Integrations-Förderung und
                Jedoch scheint es, als sei diese wohlwollende        Integrations-Programme zu schreiben. Sich selbst
           Akzeptanz einer zunehmend heterogenen Gesell-             als Norm setzend, werden aus der privilegierten
           schaft an eine bestimmte Bedingung geknüpft:              Position heraus Integrationsindikatoren und -ziele
           Vielfalt wird vor allem dann geschätzt, wenn sie          bestimmt, und so post/koloniale Modernisie-

           1   Die Einleitung orientiert sich an: Foroutan 2012b.

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Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                             WISO
                                                                                                                                              Diskurs

    rungs- und Erziehungsgedanken fortgeschrieben.                      faltsoptimismus anzuzweifeln, solange er die
    Für die Geanderten hat selbst die Erfüllung der in                  größte religiöse Minderheit in Deutschland nicht
    Integrationskriterien ausformulierten Normen                        mitdenkt, denn Vielfalt ohne Muslime wäre
    keine verbindlichen Konsequenzen, da die weiße                      schlussendlich ein inhärenter Widerspruch.
    Dominanzgesellschaft weiterhin das Privileg in-                          Da also ein Paradoxon entsteht, wenn auf
    nehält, diese Kriterien zu modifizieren.“2                          der einen Seite ein deutliches Bekenntnis zu Viel-
                                                                        falt und Heterogenität artikuliert wird, während
Innerhalb der deutschen Gesellschaft treten dort                        auf der anderen Seite Deutschland in den Mes-
Abwehrreflexe auf, wo Vielfalt auch Differenzen                         sungen zu islamfeindlichen Einstellungen seit
verdeutlicht – die im Diversity-Begriff bereits mit                     Jahren vorderste Plätze im europäischen Ver-
inbegriffen sind – und zeigen eine deutlich einge-                      gleich belegt, soll sich diese Analyse mit den
schränktere Sicht auf Vielfalt auf. Auf der einen                       Wahrnehmungen innerhalb der deutschen Ge-
Seite hielt der Deutsche Industrie- und Handels-                        sellschaft gegenüber Islam und Muslimen be-
kammertag (DIHK) in einer Analyse 2010 fest,                            schäftigen. Diese sollen vor dem Hintergrund der
dass Deutschland auf absehbare Zeit rund 30.000                         Debatten um gesellschaftliche Integration be-
Arbeitsplätze im Forschungs- und Entwicklungs-                          leuchtet werden, da sich die zentrale Argumen-
bereich nicht mehr besetzen könne (DIHK 2010:                           tation für die Nicht-Akzeptanz von Islam und
9). Gleichzeitig sagte z. B. Horst Seehofer im sel-                     Muslimen in Deutschland um den Kernvorwurf
ben Jahr, „dass sich Zuwanderer aus anderen                             der mangelnden Integrationsbereitschaft oder
Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen                         sogar dem der Integrationsunfähigkeit dreht.
Ländern insgesamt schwerer tun“ und schloss                             Hinzu kommen versteckt bis offen artikulierte
daraus, „dass wir keine zusätzliche Zuwanderung                         Ängste vor einer Unterwanderung und Islami-
aus anderen Kulturkreisen brauchen“ (Focus-On-                          sierung sowie versteckt bis offen artikulierte Vor-
line 2010). Die Debatte über die Grenzen der Viel-                      würfe der Radikalisierung und des Terrorismus
falt erfuhr im Jahr 2010, im Zuge der sogenann-                         (Schneiders 2010). Die Analyse geschieht unter
ten Sarrazin-Debatte, ihren vorläufigen Höhe-                           Einbezug zentraler Studien zu diesem Themen-
punkt. Stärker als die empirischen positiven Um-                        komplex. Hierzu soll zunächst ein Überblick über
fragewerte zu Einstellungen gegenüber Vielfalt                          die bestehende Forschung zu Islam und Musli-
vermuten lassen, verdeutlichte die im Anschluss                         men im letzten Jahrzehnt erfolgen, gekoppelt mit
an das veröffentlichte Buch („Deutschland schafft                       demographischen Daten zu Muslimen in Deutsch-
sich ab“) entbrannte Debatte Abwehrreaktionen                           land. Außerdem soll auf zentrale Studien näher
gegenüber Muslimen oder als muslimisch wahr-                            eingegangen werden, die islamfeindliche Einstel-
genommenen Menschen in Deutschland. Hier                                lungen in Deutschland thematisieren. Des Weite-
verlagern sich offenbar ehedem pauschal als                             ren sollen die Argumentationslinien im „Islam-
fremden- oder ausländerfeindlich bezeichnete                            Integrationsdiskurs“ auf ihre Ursachen und ihre
Einstellungen in Richtung einer religiösen Min-                         Haltbarkeit überprüft werden. Kernmotor ist die
derheit, wobei dieser auch Personen zugerechnet                         Kontrastierung der Wahrnehmung von Islam und
werden, die sich selbst nicht als religiös bezeich-                     Muslimen in Deutschland mit empirischen Da-
nen. Insofern ist der oben beschriebene Viel-                           ten, die diesbezüglich zur Verfügung stehen.

2    Im Original ist der Begriff Integration nur durch ein >I.< gekennzeichnet, da es sich um einen simulierten Lexikoneintrag handelt. Im
     Sinne der flüssigeren Lesbarkeit ist hier das Wort Integration ausgeschrieben.

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 Diskurs                                                                                       Friedrich-Ebert-Stiftung

           2. Integration und Islam – Warum werden diese Begriffe so oft verkoppelt?

           Der Integrationsbegriff wird in den Debatten, die     Staat, aber auch von Bürgerpflichten. Das Grund-
           diesbezüglich im letzten Jahrzehnt und beson-         gesetz ist damit wichtigster Ausdruck unserer
           ders im Verlauf der Reform des deutschen Staats-      Werteordnung und so Teil der deutschen kulturel-
           angehörigkeitsrechtes im Jahr 2000 geführt wur-       len Identität, die den inneren Zusammenhalt un-
           den, vor allem als eine Debatte um Zugehörigkeit      serer Gesellschaft erst möglich macht. Die deut-
           zu einem bestimmten kulturellen Kontext ver-          sche Kultur ist nach dem Zweiten Weltkrieg ent-
           standen. Spielhaus beklagt hier eine zu starke        scheidend von der europäischen Idee geprägt wor-
           Kopplung von Islam- und Integrationsthemen:           den. Deutschland als Land in der Mitte Europas
                                                                 und die Deutschen haben sich identifiziert mit
            „Im vergangenen Jahrzehnt ließ sich also ein in      der europäischen Integration, mit einem Europa
            politischen und Mediendebatten wie auch im aka-      in Frieden und Freiheit, basierend auf Demokra-
            demischen Feld wirksamer thematischer Schwenk        tie und sozialer Marktwirtschaft. Zur Identität
            beobachten, indem die Ausländerthematik in eine      unserer Freiheitsordnung gehört die in Jahren und
            neue Terminologie gefasst und die Integrationsde-    Jahrzehnten erkämpfte Stellung der Frau in unserer
            batte in einen engen Zusammenhang mit einer          Gesellschaft. Sie muss auch von denen akzeptiert
            bestimmten Religionszugehörigkeit gestellt wird:     werden, die ganz überwiegend aus religiösen Grün-
            der Zugehörigkeit zum Islam.“                        den ein ganz anderes Verständnis mitbringen.“
                                          (Spielhaus 2012)                                            (Merz 2000)

           Es ist nicht überraschend, dass in dem Moment, in    Merz beschrieb somit die Werte des Grundgeset-
           dem es von Seiten der Rechtsprechung leichter        zes, die europäische Integration und die Stellung
           wurde, einen deutschen Pass zu bekommen und          der Frau als zentrale Elemente einer deutschen
           somit laut Gesetz vom Ausländer zum Deutschen        Leitkultur. Mit seinem expliziten Verweis auf
           zu werden, parallel die Debatte um die deutsche      „andere Religionen“ stellte er hier die Muslime
           Leitkultur begann – nämlich im Jahr 2000 (Pautz      außerhalb dieses Kanons auf. Auch verstärkte sich
           2005). Seitdem wurde mit dem Begriff der Inte-       im Verlauf der Debatte die Diskussion um einen
           gration eine Erwartungshaltung an die – ehemals      deutschen Verfassungspatriotismus, was gleich-
           Ausländer – nun eingebürgerten Deutschen for-        zeitig die Unterstellung in sich trug, Muslime und
           muliert, die eine Annäherung an die in Deutsch-      Ausländer – von denen er in seinem Artikel im-
           land „gewachsenen kulturellen Grundvorstellun-       mer sprach – seien zunächst einmal weniger ver-
           gen voraussetzte“. Dabei wurde jedoch nicht for-     fassungstreu. Somit wurden Referenzsysteme auf-
           muliert, was man sich unter „kulturell gewachse-     gestellt, die kaum als etwas spezifisch Deutsches
           nen deutschen Grundvorstellungen“ tatsächlich        markiert werden können, denn weder Verfas-
           vorzustellen habe. Friedrich Merz formulierte        sungstreue, noch die Stellung der Frau, noch die
           dazu in einem Artikel in der WELT:                   europäische Integration können für sich rekla-
                                                                mieren, spezifisch deutsche Kulturwerte zu sein.
            „Zur freiheitlichen Kultur unseres Landes gehört    Gleichzeitig wurde mit diesem Claim suggeriert,
            ganz wesentlich die Verfassungstradition unseres    die anderen – in dem Fall die von ihm benannten
            Grundgesetzes. Sie ist geprägt von der unbeding-    Ausländer bzw. Gruppen, die aus religiösen Grün-
            ten Achtung vor der Würde des Menschen, von         den ein anderes Verständnis hätten, sprich Musli-
            seinen unveräußerlichen persönlichen Rechten,       me – würden zunächst einmal außerhalb dieser
            von den Freiheits- und Abwehrrechten gegen den      Wertevorstellungen stehen.

    10
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                              WISO
                                                                                                               Diskurs

     Es gibt weitere Referenzsysteme, die sich dis-    Muslime – kann hier eine Aufwertung der eige-
kursiv im Kanon von Werteverständnissen auszu-         nen Position als „aufgeklärte Europäer“ gewäh-
schließen scheinen, z. B.: individualistische ver-     ren, wie Iman Attia schreibt, quasi als „symme-
sus kollektivistische, freiheitliche versus kontrol-   trisches, verschobenes, verzerrtes o. a. – Spiegel-
lierende, moderne versus traditionale Referenz-        bild dessen, was als ‚Eigenes‘ imaginiert wird.
systeme. In dieser diskursiven Linie weitergedacht,    Das, was gesehen und wie es gesehen wird, wie es
wird eine Konstruktion zwischen einem ver-             bewertet und wie damit umgegangen wird, gibt
meintlich den ersten Modulen zugehörigen deut-         Auskünfte über diejenigen, die dies alles tun.“
schen Referenzsystem und einem den letzteren           (Attia 2009: 8) Die Zuschreibungen dienen auch
Modulen zugehörigen, muslimischen Referenz-            dazu, den diffusen Begriff der Leitkultur mit
system aufgebaut. In Folge wird der Islam als          Inhalt zu füllen, zumindest über einen antitheti-
etwas Konträres zum Deutschsein verstanden –           schen Weg, wenn schon die eigene inhaltliche
ergo ein Widerspruch zwischen Muslimisch-Sein          Füllung des Begriffes seit Beginn der Debatte
und Deutsch-Sein konstruiert. Dabei verändern          nicht gelungen ist. „Nachdenklich macht beson-
sich die Referenzsysteme nationaler und kulturel-      ders der Hinweis, die Kritik sei deshalb richtig
ler Wahrnehmungen über den Zeitkontext hin-            und verständlich, weil es – möglicherweise wegen
weg und mit ihnen verändern sich die Zuschrei-         einer seit Jahren versäumten Debatte um Wert-
bungen gegenüber den als „Anderen“ wahrge-             maßstäbe und einen allgemeinen gesellschaft-
nommenen. Galten die Anderen als unpünktlich,          lichen Minimalkonsens – gar keine allgemein
schmutzig und faul – wie die Gastarbeiter in den       akzeptierte Definition dessen mehr gibt, was wir
1960er Jahren beschrieben wurden (Hunn 2005:           unter unserer Kultur verstehen, ja, eine Begren-
292ff.; Delgado 1972) – bestätigte dies vor allem      zung gebe es nur noch durch die Gesetze, nicht
die durch Sekundärtugenden wahrgenommene               mehr durch einen gemeinsamen, wertorientier-
deutsche Identität als pünktlich, sauber und flei-     ten gesellschaftlichen Konsens. Wenn dieser Hin-
ßig. Beschreiben wir die deutsche Identität heute      weis richtig ist, dann sollten wir nicht über Be-
weniger über Sekundärtugenden, sondern einge-          griffe, sondern über Inhalte streiten. Nur wenn
bettet in einen europäischen Kontext als demo-         wir uns darüber Klarheit verschaffen, kann ein
kratisch, tolerant und aufgeklärt – so ist sein An-    Konzept zur Einwanderung und Integration wirk-
deres anti-demokratisch, intolerant und es hat         lich gelingen.“ (Merz 2000)
nicht die Phase der Aufklärung durchlaufen. Dies            Die als Kernprobleme der sozialen Kohäsion
sind Zuschreibungen, die besonders häufig mit          formulierten Vorhaltungen gegenüber Muslimen,
dem Islam und in Folge mit den Muslimen ver-           die aufgrund eines vermeintlich bestehenden
bunden werden (Weidner 2011: 188ff.). Die Auf-         kulturellen Kernproblems nicht hineinpassen
klärung wird hierbei wie eine Impfung dargestellt,     in den deutschen, wahlweise europäischen Leit-
die einmal verabreicht vor antidemokratischen          kultur-Kanon, sind wahlweise die der Integra-
und intoleranten Grundzügen grundsätzlich              tionsunfähigkeit, -unwilligkeit oder -verweige-
schütze – so als habe es Kolonialverbrechen,           rung. Dies wird häufig begründet mit der Inkom-
europäische Weltkriege und den Holocaust nicht         patibilität von bestimmten Kulturen zueinander.
nach der Aufklärung erst gegeben. Der Soziologe        „Dieser Topos bezog sich nicht nur auf Einzel-
Hans Joas beschreibt die Ausblendung der euro-         individuen, vornehmlich Migranten, sondern wur-
päischen Geschichte durch die Überbetonung der         de auch auf die soziale Ebene, auf eine (Werte-)
Aufklärung in einem Interview wie folgt: „Europa       Konfrontation der Aufnahme- und Entsendege-
ist auch der Mutterboden der modernen Totali-          sellschaften ausgeweitet.“ (Uslucan 2012: 277)
tarismen, der Ausgangspunkt auch von Kolonia-          Diese Inkompatibilität wird mit einem Antago-
lismus und Imperialismus. Ich halte ein Europa-        nismus in den Normen- und Wertestrukturen er-
Bild für irreführend, das so tut, als hätten diese     klärt, die sich seit Mitte der 1990er Jahre in einer
Phänomene mit der guten europäischen Ge-               konträren Gegenüberstellung einer „westlichen“
schichte nichts zu tun.“ (Joas 2012) Die Kon-          versus „islamischen Welt“ wiederfinden. Kultur
struktion der „Anderen“ – in diesem Falle der          wird zum Erklärungs- und Kristallisationspunkt

                                                                                                              11
WISO
 Diskurs                                                                                        Friedrich-Ebert-Stiftung

           von als sozialisationsrelevant anerkannten ge-          religiöse Konnotationen. „Islam“ wird dabei als
           sellschaftlichen Problemen: Dass junge Muslime          statische Kultur imaginiert und nicht als hete-
           häufiger die Schule abbrechen, weniger stark auf        rogene, religiöse, gesellschaftliche Werte- und
           dem Arbeitsmarkt vertreten sind, teilweise              Normen-Vorstellung, die sich immerfort verän-
           schlechter die deutsche Sprache sprechen oder           dert durch Kontakt, Reflexion, Geschichtsdeu-
           prozentual kriminell auffälliger sind als her-          tung und Zukunftsausblick. Die deutsche Kultur
           kunftsdeutsche Jugendliche wird ebenso mit ih-          und daran gekoppelt Integration als ein Rollen-
           rer kulturell-religiösen Disposition erklärt, wie       gefüge oder Wertekorsett zu deuten, in das man
           die für viele dieser Missstände relevante soziale       sich nur einfügen könne, wenn man die andere
           Segregation in sogenannte Parallelgesellschaften.       als starr wahrgenommene Kultur ablege, und auf
           Ursachen wie soziale Ungleichheit, Armut, Dis-          dessen Veränderung kein Anrecht bestünde,
           kriminierungserfahrungen bei der Bewerbung um           wenn man nicht aus diesem kulturellen Kanon
           Arbeitsplätze oder bei der Weiterempfehlung auf         stamme – dies kann wohl als eines der zentralen
           weitergehende Schulen werden hier ebenso aus-           Hindernisse auf dem Weg zu einer gleichberech-
           geblendet wie die Tatsache, dass zahlreiche se-         tigten, partizipativen Gesellschaftsstruktur ver-
           gregierte Stadtteile in deutschen Großstädten           standen werden. Zudem erinnert es an eine vor-
           auch deswegen entstanden sind, weil den Mi-             moderne Idee von Feudalstrukturen, in denen
           granten bei Zuzug in die Stadt zugewiesen wurde,        Menschen in bestimmte Gruppen und Rollen
           wo sie leben durften und mussten. Auch der              hineingeboren wurden – als Adelige, Bauern oder
           Faktor, dass eine emotionale und symbolische            Leibeigene – und sich aus diesen niemals in eine
           Zugehörigkeit schwierig zu empfinden ist, wenn          andere Gruppe „integrieren“ konnten (Couden-
           sie über drei Generationen hinweg nicht von der         hove-Kalergi 2012). Damals waren soziale Mobi-
           Mehrheitsgesellschaft angeboten wird, kommt             lität oder Aufstiege nicht mitgedacht, da es kein
           als Argumentationsbasis für eine diagnostizierte        Grundrecht auf Gleichheit gab – es gab auch kei-
           Integrations-Distanz selten ins Spiel. Es bleibt zu     ne Vorstellung von Gleichheit. Die entspricht
           oft bei dem Kernvorwurf der kulturellen Inkom-          selbstverständlich nicht unseren post-modernen
           patibilität „des“ Islam zum „Westen“, die eine In-      Gesellschaftsstrukturen, in denen Patchwork-
           tegration nicht glücken lasse. Viel zu selten wird      Identitäten (Keupp 2008) längst alltäglich gewor-
           hier auf die Verantwortung der Aufnahmegesell-          den sind: Man kann als Frau den gewachsenen
           schaft für bessere Integrationsmechanismen und          kulturellen Wertekanon verweigern und kinder-
           Steigerung der Partizipationschancen hingewie-          los bleiben und muss sich nicht den Vorwurf der
           sen. Die Studie „Lebenswelten Junger Muslime in         Integrationsverweigerung gefallen lassen. Die
           Deutschland“ (Frindte et al. 2011) nimmt hierzu         deutsche Gesellschaft spiegelt diesen selbstver-
           Stellung. Frindte et al. sagen dazu:                    ständlichen Umgang mit sozialer Veränderung
                                                                   tagtäglich wider. Aber diese Offenheit scheint
            „Erlebt sich die muslimische Gemeinschaft als          geringer zu sein, wenn es um das Thema Muslime
            durch die Aufnahmegesellschaft diskriminiert           geht. So beobachtet der Sachverständigenrat
            und stigmatisiert, so bedroht dies einerseits eine     deutscher Stiftungen für Integration und Mi-
            positive muslimische Identität und erschwert an-       gration (SVR) bei der Messung der Haltung der
            dererseits eine Identifizierung mit der Aufnahme-      deutschen Bevölkerung zu Integration „In den
            kultur. Dies birgt die Gefahr einer kulturellen Ent-   Meinungsspitzen (…) mehr Pessimismus bei den
            wurzelung und eines Identitätsverlusts, was dann       Zuwanderern und mehr Pragmatismus bei den
            die Wahrscheinlichkeit für Radikalisierung erhö-       Deutschen. Aber das breite Mittelfeld bleibt auf
            hen kann.“              (Frindte et al. 2011: 646)     beiden Seiten eher gelassen. Und das ist am
                                                                   wichtigsten.“ (SVR 2011) Diese Gelassenheit
               Soziale Konflikte, die ehedem auf Klassen-,         schwindet aber messbar und nachweisbar im
           Schicht- oder Milieuzugehörigkeiten zurückge-           konkreten Bezug auf die Gruppe der Muslime,
           führt wurden, erhalten durch die Kopplung von           wie im Folgenden aufgezeigt werden soll (Decker
           Integration und Islam kulturelle, ethnische und         et al. 2010; Zick et al. 2011; Pollack 2010).

    12
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                                                          WISO
                                                                                                                                                                           Diskurs

3. Datenlage zu Islam und Muslimen in Deutschland

3.1 Publikationen-Verlauf im deutsch-                                                                tet ist, nämlich: Das Interesse an Islam und Mus-
    sprachigen Raum                                                                                  limen habe nach dem 11. September erst begon-
                                                                                                     nen. Tatsächlich erlaubt eine Analyse der Publi-
Bei der Untersuchung der Publikationen, die es                                                       kationen zu diesem Themenkomplex – zumindest
zu dem Themenschwerpunkt Islam und Muslime                                                           was die Bücher und Studien angeht, die sich ex-
in Deutschland seit Beginn des Einwanderungs-                                                        plizit mit Islam und Muslimen in Deutschland
abkommens mit der Türkei gegeben hat, fällt auf,                                                     beschäftigen – nicht diesen deutlichen Rück-
dass eine Argumentationslinie sehr weit verbrei-                                                     schluss, wie die Abbildung 1 erkennen lässt.3

     Abbildung 1:

     Publikationen zum Themenkomplex Islam und Muslimen in Deutschland zwischen 1961 und 2012

              160                                                                                                                                           146
              140
              120
              100
                80                                                                                                                71             73

                60
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                20                                                    11                            12
                            1             0             2
                 0
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                            6

                                          1

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                                                                                     6

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                                                                                                                   6

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                        96

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                                                                                98

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               Publikationen (Monographien, Sammelbände, Arbeitshefte, Studien) zu Islam und Muslimen in Deutschland seit Beginn des
               Zuwanderungsabkommens mit der Türkei (1961) in 5-Jahres-Abschnitten. Eigene Grafik, basierend auf Literaturrecherchen
               in googlebooks, OPAC-FU, OPAC-HU, world-cat.org und diverser Literaturlisten.

    Quelle: Eigene Erhebung.

3     Die Liste der Publikationen umfasst ausschließlich Bücher, Monographien und Sammelbände, die Islam und/oder Muslime im Titel
      trugen und sich auf Deutschland beziehen. Journal- und sonstige Artikel wurden nicht mit einbezogen. Die Liste erhebt keineswegs den
      Anspruch auf Vollzähligkeit. Sie gibt aber einen Überblick über das Publikationsinteresse zu diesem Themengebiet im jeweiligen Jahr-
      zehnt. Die Zusammenstellung wurde auf Basis einer Recherche in den OPAC’s der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Univer-
      sität zu Berlin, bei Google-Books und Google-Scholar, bei Worldcat.org sowie in diversen Literaturlisten in gefundenen Artikeln und
      Büchern erstellt. Die Liste ist auf http://www.heymat.hu-berlin.de/dossiers (Bezeichnung: Publikationen zum Themenkomplex Islam und
      Muslime in Deutschland zwischen 1961 und 2012) zum Download verfügbar.

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 Diskurs                                                                                         Friedrich-Ebert-Stiftung

                 Die Abbildung 1 macht deutlich, dass die ers-    nen, die untereinander im Konflikt standen, das
           ten 30 Jahre der Einwanderung von einem relativ        20. Jahrhundert war bestimmt vom Konflikt der
           geringen Interesse für den Islam geprägt waren.        Ideologien, und das 21. Jahrhundert nun sieht er
           Tatsächlich erschienen in diesem Zeitraum von          bestimmt vom Konflikt zwischen den Zivilisatio-
           1961 bis 1991 nur 43 Publikationen, die sich ex-       nen. „Kultur und die Identität von Kulturen, auf
           plizit mit dem Themenfeld Islam in Deutschland         höchster Ebene also die Identität von Kulturkrei-
           beschäftigten. Das Publikationsinteresse beschränk-    sen, prägen heute, in der Welt nach dem Kalten
           te sich bis 1980 auf religionswissenschaftliche Ana-   Krieg, die Muster von Kohärenz, Desintegration
           lysen und Materialsammlungen zur Präsenz des           und Konflikt“ (Huntington 1996: 19).
           Islam in Deutschland (z. B. Schmidt 1965; Abdul-             Huntingtons Szenario, das er 1993 zunächst
           lah/Mildenberger 1974).                                als Aufsatz in der Zeitschrift Foreign Affairs vor-
                 Nach 1979, nach der islamischen Revolution       stellte und dem drei Jahre später das Buch folgte,
           im Iran, fand ein Wechsel in der Thematik statt.       zeigte zusammengefasst folgende Problematik
           Zum ersten Mal wurde explizit von einer isla-          auf: „In dieser Welt werden die hartnäckigsten,
           mischen Herausforderung gesprochen (Konzel-            wichtigsten und gefährlichsten Konflikte nicht
           mann 1980) und ein Zusammenleben aus dem               zwischen sozialen Klassen, Reichen und Armen
           religiösen Kontext heraus zu verstehen versucht,       oder anderen ökonomisch definierten Gruppen
           dort wo es zuvor vor allem ethnische und na-           stattfinden, sondern zwischen Völkern, die un-
           tional kategorisierte Fragemuster gab. Es gab viel-    terschiedlichen kulturellen Einheiten angehö-
           zählige Handreichungen zur Begegnung mitein-           ren.“ (Huntington 1996: 24; Tibi 1998) Diese so-
           ander und erste Kopplungen von Integration und         genannten Zivilisationen spiegelten laut Hun-
           Islam (vgl. Richter 1980; Micksch 1980; Elsas          tington die natürliche Fragmentierung der Welt
           1980).                                                 wider, im Gegensatz zu den drei Welten des
                 In den 1990er Jahren ist ein akuter Anstieg      Kalten Krieges. In seinem Aufsatz war die These
           der Literatur zu Islam und Muslimen in Deutsch-        vom „Zusammenprall der Zivilisationen“ noch
           land zu beobachten. Während in den Jahren zu-          prognostisch mit einem Fragezeichen versehen
           vor – berechnet seit 1979, da zuvor die Zahlen zu      („The Clash of Civilizations?“), wohingegen das
           gering sind – im Durchschnitt drei Publikationen       später erschienene Buch bereits den „Kampf
           pro Jahr erschienen waren, stieg die Zahl in dieser    der Kulturen“ dogmatisch als unumstößliches
           Dekade auf durchschnittlich zehn Publikationen         Merkmal der „Neugestaltung der Weltpolitik im
           pro Jahr an, mit einer Hochphase der Publikatio-       21. Jahrhundert“ – so der Untertitel seines Bu-
           nen im Jahr 1999 mit 24 Buchtiteln. Zu Beginn          ches – bezeichnete. In dieser post-bipolaren Phase
           der 1990er Jahre hatte der Politologe und Berater      der 1990er Jahre kann ein deutlicher Anstieg der
           des US-State-Departements Samuel Huntington            Kulturalisierung von Konflikten gesehen werden,
           mit seinem Essay zum „Clash of Civilizations“          der sich bis in unsere heutigen Debatten über so-
           den „Religious Turn“ in die Außenpolitik zurück-       ziale Konflikte und die Fragen der Zugehörigkeit
           gebracht und somit auch in zahlreiche mediale          des Islams zu Deutschland niederschlägt.
           Debatten. Huntington sagte dazu in einem Inter-              Huntington stellte in seinem Buch die These
           view in der ZEIT: „Die erste Hälfte des 20. Jahr-      auf, dass der Westen, der zwar derzeit auf dem
           hunderts war die Ära der Weltkriege, die zweite        Gipfel seiner Macht sei, wie jedes „Imperium“
           die Ära des Kalten Krieges. Im 21. hat die Ära der     Gefahr laufe, seinen Zenit bald zu überschreiten.
           Muslim-Kriege begonnen.“ (im Interview mit             Besonders eindringlich warnte Huntington den
           Joffe 2007) Jedes Jahrhundert scheint nach Hun-        Westen vor einer sinisch-muslimischen Achse
           tington von einer spezifischen Form der Konflikt-      und konkret vor der „islamischen Zivilisation“
           austragung geprägt zu sein: Im 18. Jahrhundert         und ihrem Universalismusanspruch. Die islami-
           gingen die Konfliktlinien durch die Herrscher-         sche Zivilisation kämpfe ebenso wie der Westen
           häuser, im 19. Jahrhundert waren es die Natio-         um die Vorherrschaft in der Welt, was dazu führe,

    14
Wirtschafts- und Sozialpolitik
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dass sie sich heute bereits mit allen angrenzenden      durch ein neues Feindbild ersetzt. Zu neuen
Zivilisationen in Konflikt befinde (Huntington          „Feinden“ hätten zu Beginn dieser Entwicklung
1996: 415 - 433). Hier wurde deutlich jene Dichoto-     auch China und Indien werden können – wie
mie aufgebaut, die auch in der derzeitigen Wahr-        Analysten zu Beginn des Zusammenbruchs der
nehmungsstruktur die Konfliktlinien der Außen           bipolaren Weltordnung signalisierten (Nirumand
und Innen- bzw. Integrationspolitik markiert.           1990; Waage 1991; Tibi 1992). Allerdings war dies
     Zudem, schrieb Huntington, weise die isla-         als Narrativ nicht besonders wirkungsvoll: In
mische Zivilisation das größte Bevölkerungs-            einem neuen System des Sieges der „Freien Welt“
wachstum auf, wirtschaftlich könne jedoch dieser        über die kommunistischen Blockstaaten und in
jugendliche Nachwuchs nicht aufgefangen wer-            einem Moment, in dem eine neoliberale freie
den, womit die Jugendlichen in Fundamentalis-           Marktwirtschaft als zentrales Gebot demokrati-
mus und Militarismus Zuflucht suchen würden,            scher Grundordnung propagiert wurde, konnte
was zu sozialem Sprengstoff in der Region mutie-        ein Feindbild China oder Indien zwar als Konkur-
re. Während ostasiatische Staaten durch ihr rela-       renz um Wirtschaftsmacht funktionieren, aber
tives wirtschaftliches Wachstum gestärkt werden         aufgrund des wirtschaftlichen Modellcharakters
und die demographische Explosion auffangen              dieser Länder und der bereits beginnenden Glo-
können, würde diese in der islamischen Welt zu          balisierung nicht als bedrohendes „Anderes“
einer „Gefahr für muslimische Regierungen und           etabliert werden.
nichtmuslimische Gesellschaften“ (Huntington                 Resultierend aus dieser politischen Polemik
1996: 156). Der demographische Faktor schaffe           gegenüber „dem Islam“ und „dem muslimischen
ein „Rekrutierungspotenzial für Fundamentalis-          Kulturkreis“ entstanden daher in den 1990er Jah-
mus, Terrorismus, Aufstände und Migration“              ren vielfach Gegenpublikationen, aber es kann
(Huntington 1996: 156) und werde langfristig eine       für dieses Jahrzehnt keine eindeutige, leitende
große Gefahrenquelle für den Westen darstellen,         Tendenz in den Publikationen festgehalten wer-
schrieb er bereits 1996. Diese demographische Pro-      den. So wurden bereits vor Huntington Bücher
blemlinie zwischen einer sich massiv und männ-          in Bezug auf einen ansteigenden und Europa
lich verjüngenden islamischen Welt und einer al-        gefährdenden islamischen Fundamentalismus
ternden europäischen Gesellschaft macht ein wei-        publiziert (vgl. Nirumand, hrsg. 1990; Normann
teres Gegensatzpaar auf, das den Antagonismus           1991; Tibi 1992). Islam und Muslime fanden erst-
zwischen „dem Westen“ und „der islamischen              mals Zugang in die Verfassungsschutzberichte
Welt“ furchtsam plakatiert und in Deutschland           bzw. in Publikationen des Verfassungsschutzes
auf die Wahrnehmung von männlichen musli-               (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 1995).
mischen Jugendlichen als Bedrohung abfärbt.             Gleichzeitig stiegen aber auch jene Publikationen
     Die zentralen Vorwürfe gegenüber Hunting-          an, welche die Sichtbarkeit und die Heterogenität
ton lauteten nicht nur auf self-fullfilling prophecy,   muslimischen Lebens in Deutschland verdeut-
da er als Sicherheitsberater des US-State-Depar-        lichten. So wurden Muslime im Stadtbild por-
tements eine strategische Ausrichtung der US-           traitiert (vgl. Schiffauer 1997; Geisler 1998; Höpp
militärischen Operationen auf seine Hypothesen          et al. 1996), muslimische Verbände analysiert
hin durchsetzen konnte, sondern vor allem auf           (vgl. Steinbach et al. 1997), muslimische Frauen,
die Erschaffung eines neuen Feindbildes, welches        muslimische Mode und muslimische Jugendliche
nach dem Zusammenfall des Ost-West-Konfliktes           als Akteure in den Blick genommen (vgl. Wiebke
die sicherheitspolitischen Strukturen des Westens       1997; Spuler-Stegemann 1998; Stöbe 1998). Es
nicht ins Leere laufen lassen sollte (Heine 1996:       gab in dieser Zeit trotz oder vielleicht auch wegen
13f., 187f.). Außenpolitisch wurde in dieser Zeit       der einseitigen Huntington-Debatte ein breites
jenes Ost-West-Feindbild, welches auf beiden            publizistisches Panorama zwischen Dialogstruk-
Seiten ein halbes Jahrhundert Erziehungsstile,          turen, Abschottung, Minderheitenumgang, All-
Ängste und Bedrohungsszenarien geprägt hatte,           tagsbeschreibung und Gefahrenabwehr.

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 Diskurs                                                                                                                 Friedrich-Ebert-Stiftung

                Im Jahr 2000 erschienen besonders viele                                Zwar kann in den Buchpublikationen in den
           Publikationen mit Bezug auf Islam und Muslimen                         Jahren zwischen 2001 und 2005 nicht von einem
           in Deutschland – es ging hier bereits um die Aus-                      signifikanten Anstieg der Literatur gesprochen
           handlung von Zugehörigkeiten und die Fragen                            werden. Eine google-research-Analyse, die auch
           nach einem deutschen Islam bzw. deutschen                              Journale und Zeitungspublikationen mit einrech-
           Muslimen (vgl. exemplarisch: Alacıoğlu 2000;                           net, liefert allerdings ein anderes Bild der öffent-
           Fritsch-Oppermann 2000; Hannemann 2000;                                lichen Wahrnehmung. Dieses Messinstrument ist
           Khoury/Heine/Oebbecke 2000; Lemmen 2000;                               ebenfalls nicht repräsentativ. Es misst nur das
           Mohr 2000; Palm 2000; Steinbach 2000;                                  Vorkommen von Begrifflichkeiten im digitalisier-
           Karakaşoğlu-Aydın 2000). Von den Publikationen                         ten Publikationskorpus von Google-Books. Den-
           des Jahres 2001 können noch keine direkten Be-                         noch veranschaulicht die Abbildung 2, dass nach
           züge zu den Terroranschlägen des 11. September                         dem 11. September in den Medien ein deutlich
           hergestellt werden, da davon auszugehen ist, dass                      erhöhter Anstieg von Themenbezügen zu Islam
           Buchpublikationen mit einem größeren Vorlauf                           und Muslimen nachweisbar ist, selbst wenn sich
           eingereicht wurden und daher die Anschläge kei-                        dies nicht primär in Buchpublikationen nieder-
           nen Eingang in diese Jahresfrist finden konnten.                       schlägt:
           Tatsächlich sind die Publikationen zu Islam und                             Ein sehr deutlicher Anstieg in den Publika-
           Muslimen im Jahr 2001 sehr gering. Auch in den                         tionen zu Islam und Muslimen in Deutschland ist
           nächsten fünf Jahren hält sich die Buchpublika-                        allerdings seit dem Jahr 2006 zu beobachten. Was
           tion an die durchschnittlich zehn Volumen jähr-                        in dem nachfolgenden Publikationszeitraum bis
           lich, so wie es bereits in den 1990er Jahren der                       heute auffällt, ist der hohe Anstieg wissenschaft-
           Fall war. Allerdings finden sich in dieser Periode                     licher, vor allem quantitativer Studien in Bezug
           deutlich mehr Titel, die Muslime als Bedrohung                         auf Islam und Muslime in Deutschland. Dies
           behandeln (vgl. exemplarisch: Schmitt 2003;                            kann zusammenhängen mit einem Wandel der
           Barth 2003; Fauzi 2003; Kandel 2004; Lachmann                          Förderstrukturen in der Wissenschaftspolitik. Es
           2006).                                                                 ist aber auch zurückzuführen auf die Deutsche

             Abbildung 2:

             Publikationen bei Google-Books zum Themenkomplex Islam zwischen 1978 und 2008

              0,002600 %
              0,002400 %
              0,002200 %
              0,002000 %
              0,001800 %
              0,001600 %
              0,001400 %
              0,001200 %
              0,001000 %
              0,000800 %
              0,000600 %
              0,000400 %                                                                                                         Islam
              0,000200 %
              0,000000 %
                        1978       1980     1982   1984   1986   1988   1990   1992   1994   1996   1998   2000   2002    2004     2006   2008

             Quelle: Google Books Ngram Viewer.

    16
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                            WISO
                                                                                                                                             Diskurs

Islam Konferenz, die ebenfalls erstmalig im Jahr                             Wie die Abbildung 1 auf S. 13 zeigt, sind in
2006 tagte und die damals einen quantitativen                          den folgenden Jahren nach 2006 weit mehr als
Datenmangel in Bezug auf jene Gruppe monierte,                         100 Publikationen und Studien zu Muslimen in
die in den zurückliegenden Jahren so stark pro-                        Deutschland erschienen. Es gibt Studien zur Reli-
blematisiert worden war. Tatsächlich ist die so-                       giosität von Menschen mit muslimischem Hin-
ziale Gruppe der Muslime in den folgenden fünf                         tergrund, ihrem Konsumverhalten, ihren sozialen
Jahren explizit beforscht worden. Als im Jahr                          Kontakten, ihrem Eheverhalten, Kriminalitäts-
2006 nach einer fünfjährigen Periode der Ent-                          raten, Einstellungsmessungen, politische Bin-
fremdung zwischen muslimischer und nicht-                              dung, Sprachkenntnisse, Integrationsdaten, zu
muslimischer Bevölkerung Wolfgang Schäuble                             ihrer Bildungsaspiration, ihrem Medienkonsum
als damaliger deutscher Innenminister die erste                        und vielem mehr.4
Deutsche Islam Konferenz eröffnete und zeit-                                 Was allerdings erschreckenderweise auffällt,
gleich die Bundeskanzlerin Angela Merkel den                           ist, dass dieses akkumulierte Wissen nicht zu ei-
Integrationsgipfel einberief, herrschte noch eine                      ner Veränderung der Einstellung auf Seiten der
relative Datenarmut. Aus diesem Grund wurde die                        nicht-muslimischen Bevölkerung geführt hat,
Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ (MLD                        wie Erhebungen zu Islam- und Muslimfeindlich-
2008) in Auftrag gegeben (Haug et al. 2009: 4).                        keit verdeutlichen.
     Die fünf Jahre zuvor (von 2001 bis 2006)
waren geprägt durch die Sicherheitsdiskurse nach
dem 11. September und die Unsicherheiten, wel-                         3.2 Erhebungen zu Islam und
che durch Rasterfahndung und die Sicherheits-                              Muslimfeindlichkeit
pakete des damaligen Innenministers Otto Schily
nicht hatten ausgeräumt werden können. Viel-                           Wie bereits erwähnt, beobachtet der Sachverstän-
mehr kann in dieser Zeit eine Manifestierung der                       digenrat deutscher Stiftungen für Integration und
medialen Stereotype und das breitflächige Ein-                         Migration (SVR) im Nachgang der Sarrazin-De-
sickern der bis heute wirkmächtigen Bilder der                         batte des Jahres 2010/2011 bei der Einstellung zur
unbekannten, verschleierten oder fanatischen                           Zuwanderung mehr Pessimismus bei den Zuwan-
Personen, gesehen werden (Geißler 2009). Im                            derern und mehr Pragmatismus bei den Deut-
Jahr 2006 wurde die Bedrohung dieser innerge-                          schen und ein hohes Maß an Gelassenheit im
sellschaftlichen Entfremdung für den sozialen                          breiten Mittelfeld auf beiden Seiten. Auch das
Frieden in Deutschland von Seiten des Bundes-                          Sozio-ökonomische Panel (SOEP) geht von mehr
ministeriums des Inneren erkannt. Mit dem Re-                          Offenheit in Deutschland gegenüber Zuwan-
gierungswechsel kam auch die Erkenntnis, dass                          derung aus. Die erhobenen SOEP-Daten lassen
nicht nur dem islamischen Fundamentalismus,                            die Analyse zu, dass sich im Messzeitraum von
sondern auch steigender Islamfeindlichkeit ent-                        zehn Jahren von 1999 bis 2009 der Pessimismus
gegengewirkt werden musste.                                            gegenüber der Zuwanderung reduziert hat: Wäh-

4   Hier sind einige Studien und Veröffentlichungen aufgeführt, um die Spannbreite der Themen zu verdeutlichen: http://www.bamf.de/
    SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/wp34-mediennutzung-von-migranten.html?nn=1362958; Bertelsmann-Stiftung
    (Hrsg.) 2008: Muslimische Religiosität in Deutschland – Überblick zu religiösen Einstellungen und Praktiken, Gütersloh; Gostomsky,
    Christian Babka 2010: Fortschritte der Integration. Zur Situation der fünf größten in Deutschland lebenden Ausländergruppen, Nürn-
    berg; Haug, Sonja 2010: Interethnische Kontakte, Freundschaften, Partnerschaften und Ehen von Migranten in Deutschland, Integra-
    tionsreport 7, Nürnberg; Frindte, Wolfgang; Boehnke, Klaus; Kreikenbom, Henry; Wagner, Wolfgang (Hrsg.) 2011: Lebenswelten junger
    Muslime in Deutschland, Nürnberg; Baier, Dirk; Pfeiffer, Christian; Rabold, Susann; Simonson, Julia; Kappes, Cathleen: Kinder und Ju-
    gendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum – Zweiter Bericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des
    Bundesministeriums des Innern und des KFN (KFN-Forschungsbericht Nr. 109), Hannover; Vodafone-Stiftung (Hrsg.): Verzerrte Bilder?
    Muslime in der europäischen Medienlandschaft, Düsseldorf; Brähler, Elmar; Decker, Oliver 2012: Die Parteien und das Wählerherz, on-
    line: http://medpsy.uniklinikum-leipzig.de/red_tools/dl_document.php?id=282 [26.9.2012]; Frindte, Wolfgang; Geschke, Daniel; Schurz,
    Katharina; Schmidt, Dajana: Integration und Fernsehnutzung junger Muslime in Deutschland, in: Politische Psychologie 2012(1):
    93 - 124.

                                                                                                                                            17
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 Diskurs                                                                                      Friedrich-Ebert-Stiftung

           rend sich 1999 noch ein Drittel der Bürger ohne      2012: 33; Gross et al. 2010). Bereits im Jahr 2006
           Migrationshintergrund große Sorgen diesbezüg-        beschrieb Heitmeyer diesen Trend: „[N]ormaler-
           lich machten, waren es 2009 nur noch ein Vier-       weise gilt: Je höher die Bildung, umso weniger
           tel. Im gleichen Zeitraum verdoppelte sich der       Abwertung. Das stimmt in Bezug auf Obdachlose,
           Anteil derer, die sich keine Sorgen über die Zu-     Homosexuelle, Juden, Fremdenfeindlichkeit,
           wanderung machten, von 16 auf 32 Prozent             Sexismus und Rassismus. Nur beim Islam ist das
           (Diehl/Tucci 2011: 5). Aber auch hier kommen         anders. Dort schützt Bildung weniger vor der
           die Autorinnen zu dem Schluss: „Immer mehr           generalisierten Abwertung der Kultur des Islam.“
           Deutsche glauben hingegen, dass vor allem das        (Heitmeyer im Interview mit Reinecke/Seidel
           Verhalten der Menschen für die Einbürgerung          2006) In seinem Resümee zu der zehnjährigen
           ausschlaggebend sein sollte. Ein Rückgang der        Forschungsarbeit und den repräsentativen Um-
           Fremdenfeindlichkeit ist damit jedoch nicht          fragen in Deutschland spricht Heitmeyer von
           zwangsläufig verbunden: Wer das Verhalten und        einer „verrohenden Bürgerlichkeit“ (Heitmeyer
           die kulturelle Anpassung als die wichtigeren Fak-    2012: 35f). „Zudem hat die Islamfeindlichkeit im
           toren erachtet, weist genauso häufig stark frem-     linken, politischen Milieu weiter kontinuierlich
           denfeindliche Einstellungen auf wie jemand, der      zugenommen […]“, so Wilhelm Heitmeyer in der
           ethnische Zugehörigkeit für bedeutsamer hält.“       zehnten Folge der Auskopplung (Heitmeyer 2012:
           (Diehl/Tucci 2011: 3)                                20). Unter diesem Phänomen fassen die Sozial-
                Die analysierte Gelassenheit und Offenheit      wissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen
           gegenüber Zuwanderung schwindet daher im             vom IKG „[…] Ablehnung und Angst vor Musli-
           konkreten Bezug auf die Gruppe der Muslime, de-      men, ihrer Kultur sowie ihren öffentlichen, poli-
           ren Verhalten und kulturelle Andersartigkeit im      tischen und religiösen Aktivitäten“ zusammen
           Diskurs hervorgehoben wird (Decker 2010; Zick        (Heitmeyer/Mansel 2008: 19). Sie untersuchen
           2011; Pollack 2010). Im Jahr 2007 hatte Heiner       pauschalisierende Bewertungen, die stark auf
           Bielefeld das Islambild in Deutschland untersucht    Stereotype basieren und stellen fest, dass dort,
           und dabei anhand einer Reihe von Meinungsum-         wo das Wissen fehlt, die höchsten abwertenden
           fragen, z. B. des Allensbach-Instituts aus dem       Einstellungen gemessen werden können, weil
           Jahre 2006 und aus Erhebungen und Analysen           automatisch ein Zugriff auf stereotypes Wissen
           des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung      erfolgt. Außerdem beobachten sie, dass es keine
           (IKG) in Bielefeld, ein deutlich negatives Islam-    etablierten Normen für Toleranzstrukturen ge-
           bild zusammengetragen. So fasste er zusammen:        genüber Muslimen gibt und dass diese grund-
           60 Prozent der Deutschen betrachteten den Islam      sätzlich als einer anderen Position zugehörig
           als undemokratisch, 83 Prozent hielten ihn für       wahrgenommen werden: „Erstens: Wenn Fakten-
           fanatisch, 62 Prozent für rückwärtsgewandt und       wissen fehlt, dann kann das zu Fremdenfeind-
           71 Prozent für intolerant (Bielefeld 2007: 4ff.).    lichkeit führen. Zweitens: Ganz grundsätzlich
                Im Messzeitraum von 2001 bis 2011 ist der       sichert die Abwertung anderer auch stets die eige-
           Zuspruch zu Islamfeindlichkeit in Deutschland        ne soziale Position. Dazu kommt drittens: Wenn
           stetig angestiegen und nach einer signifikanten      es um Muslime geht, haben sich soziale Normen
           Steigerung im Jahr 2010 wieder bei den konstant      für Toleranz und gegen Feindseligkeit in Deutsch-
           hohen Messdaten im Zehn-Jahreszeitraum an-           land noch nicht sehr weit entwickelt.“ (Küpper
           gekommen, wie Wilhelm Heitmeyer in seinen            im Interview mit Knaul 2010) Es findet eine
           Studien zur gruppenbezogenen Menschenfeind-          Überbetonung der kulturellen Differenz statt,
           lichkeit in Deutschland nachweisen konnte (IKG       analysieren die Bielefelder aus ihren Erhebungen,
           2011). Dabei haben die Autoren der „Deutschen        und ein Anlegen von Standards, denen man selbst
           Zustände“ vor allem festgestellt, dass Islamfeind-   nicht gerecht werde. Im Jahr 2011 antworteten
           lichkeit sich auch in den mittleren und hohen        im Rahmen der Studie „Deutsche Zustände“ auf
           Einkommensschichten stabilisiert (Heitmeyer          das Item „Muslimen sollte die Zuwanderung nach

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