Diskurs Muslimbilder in Deutschland - Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte
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November 2012 Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik Diskurs Muslimbilder in Deutschland Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte Gesprächskreis Migration und Integration I
Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Muslimbilder in Deutschland Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte Naika Foroutan
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Inhaltsverzeichnis Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 3 Abkürzungsverzeichnis 5 Vorbemerkung 6 Zusammenfassung 7 1. Einleitung 8 2. Integration und Islam – Warum werden diese Begriffe so oft verkoppelt? 10 3. Datenlage zu Islam und Muslimen in Deutschland 13 3.1 Publikationen-Verlauf im deutschsprachigen Raum 13 3.2 Erhebungen zu Islam und Muslimfeindlichkeit 17 4. Wahrnehmungen, Vorbehalte, Vorurteile gegenüber Muslimen in Deutschland 23 4.1 Muslime = Migranten oder Ausländer ≠ Deutsche 23 4.2 Kopplung von ökonomisch schwachen Regionen mit Muslimen 26 4.3 Fertilitätsvorwürfe und Unterwanderungsängste im Kontrast zur empirischen Datenlage 29 4.4 Islamisierung Deutschlands? – Soziodemographische Daten im Vergleich 30 4.5 Bildungsstagnation bei Muslimen? – Bildungsdaten im Vergleich 35 4.6 Muslime als Sozialschmarotzer? – Arbeitsmarktdaten im Vergleich 38 4.7 Muslime wollen sich nicht kulturell integrieren? Parameter kultureller Integration im Vergleich 43 Sprachkompetenz 43 Kopftuch 45 Schwimm- und Sportunterricht 47 Werte und Normen 48 4.8 Soziale Abschottung? Kontakthäufigkeiten und Vereinsmitgliedschaften als Parameter sozialer Integration 50 4.9 Keine Verbundenheit mit Deutschland? Rückzüge in der emotionalen Integration 52 5. Fazit: Die Wahrnehmung von Muslimen erschwert gesamtgesellschaftliche Integrationsprozesse 55 Literaturverzeichnis 59 Die Autorin 68 Diese Expertise wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert- Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind von der Autorin in eigener Verantwortung vorgenommen worden. Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung | Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung | Godesberger Allee 149 | 53175 Bonn | Fax 0228 883 9202 | www.fes.de/wiso | Gestaltung: pellens.de | Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei | ISBN: 978 - 3 - 86498 -340 - 5 |
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tabelle 1: Islamfeindliche Aussagen (Zustimmung in %) 21 Tabelle 2: Wanderungssaldo einzelner Länder von 2007 bis 2011 (absolut) 30 Tabelle 3: Absolute Anzahl der muslimischen Bevölkerung im europäischen Ländervergleich 31 Tabelle 4: Anteil der muslimischen Bevölkerung und Bevölkerungsentwicklung an der Gesamtbevölkerung im Vergleich 32 Tabelle 5: Islamismuspotenzial 33 Tabelle 6: Deutschkenntnisse der Befragten mit Migrationshintergrund nach Generationszugehörigkeit (in %) 44 Tabelle 7: Deutschkenntnisse der befragten Zuwanderer 45 Abbildung 1: Publikationen zum Themenkomplex Islam und Muslimen in Deutschland zwischen 1961 und 2012 13 Abbildung 2: Publikationen bei Google-Books zum Themenkomplex Islam zwischen 1978 und 2008 16 Abbildung 3: Negative Haltungen gegenüber Muslimen, Hinduisten, Buddhisten und Juden 19 Abbildung 4: Woran denken Sie beim Stichwort Islam? 20 Abbildung 5: Anteil der Personen mit und ohne Migrationshintergrund unter 6 Jahren in ausgewählten Städten 2008 23 Abbildung 6: Bevölkerung 2010 nach Migrationsstatus 24 Abbildung 7: Muslime nach Herkunftsregion (in %) 26 Abbildung 8: Verteilung der Muslime auf die Bundesländer 27 Abbildung 9: Anteil der Personen mit und ohne Migrationshintergrund in ausgewählten Städten 2008 28 Abbildung 10: Sorge um Ausbreitung des Islam in Deutschland 31 Abbildung 11: Jährliche Bevölkerungswachstumsraten von Muslimen in Regionen 33 Abbildung 12: „(Fach-)Hochschulreife von Personen mit türkischem Migrationshintergrund und Personen ohne Migrationshintergrund im Vergleich 37 Abbildung 13: Schulabschluss von Personen mit türkischem Migrationshintergrund (mit und ohne persönlicher Migrationserfahrung) 37 3
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Abbildung 14: „(Fach-)Hochschulreife von Frauen mit türkischem Migrationshintergrund und ohne Migrationshintergrund im Alter zwischen 23 - 28 Jahren 38 Abbildung 15: Personen ohne Migrationshintergrund mit überwiegendem Lebensunterhalt 39 Abbildung 16: Personen mit türkischem Migrationshintergrund mit überwiegendem Lebensunterhalt 39 Abbildung 17: Anteil unqualifizierter Personen mit türkischem Migrationshintergrund von 25 bis 34 Jahren nach Migrationsstatus 2010 40 Abbildung 18: Erwerbstätigenquote der 26- bis 35-Jährigen nach Migrationsstatus und Ausbildungsabschluss 2005 (in %) 41 Abbildung 19: Anteil unqualifizierter Personen mit türkischem Migrationshintergrund nach Generationszugehörigkeit 42 Abbildung 20: Befragte Musliminnen im Alter ab 16 Jahren nach Häufigkeit des Kopftuchtragens und Generationenzugehörigkeit (in %) 46 Abbildung 21: Teilnahme am gemischtgeschlechtlichen Sport- und Schwimmunterricht, am Sexualkundeunterricht sowie an der letzten Klassenfahrt bei Schülern mit den entsprechenden Unterrichtsangeboten nach Religionszugehörigkeit und Geschlecht (in %) 47 Abbildung 22: Wertevorstellungen 48 Abbildung 23: Einstellungen zu tabuisierten Themen 49 Abbildung 24: Einstellungen zum Rollenverständnis von Mann und Frau 50 Abbildung 25: Kontakthäufigkeit zu Deutschen im Alltag nach Nationalität und Alter 51 Abbildung 26: Mitgliedschaften der befragten Muslime in deutschen bzw. herkunftslandbezogenen Vereinen (in %) 51 Abbildung 27: Verbindung zum Herkunftsland und zu Deutschland der Befragten mit Migrationshintergrund nach Religionszugehörigkeit (in %) 53 Abbildung 28: Befürchten Sie weitere rassistisch motivierte Morde in Deutschland? 54 4
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Abkürzungsverzeichnis ALG Arbeitslosengeld Bamf Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BfV Bundesamt für Verfassungsschutz Destatis Statistisches Bundesamt DIHK Deutsche Industrie- und Handelskammer DIK Deutsche Islam Konferenz FRA European Union Agency for Fundamental Rights GMF The German Marshall Fund of the United States IKG Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung MH Migrationshintergrund MLD Muslimisches Leben in Deutschland (Studie) MLNRW Muslimisches Leben in Nordrhein-Westfalen PM Pressemitteilung SVR Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration WDB Wissenschaftliche Dienste des Bundestages 5
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Vorbemerkung Seit dem 11. September 2001 hat sich der Diskurs differenzierte Betrachtungsweise der unterschied- um die Integration von Muslimen verschärft. lichen Gruppierungen und Religionsgemeinschaf- Ablehnende Einstellungen gegenüber dem „Islam“ ten innerhalb des Islam voraus und darf Kon- und den Muslimen sind in der Gesellschaft weit fliktthemen nicht ausklammern. verbreitet. Oftmals wird undifferenziert unter- Vor allem müssen aber die vielfältigen sozia- stellt, der Islam sei mit westlichen, demokrati- len, kulturellen, ethnischen und religiösen Fakto- schen Grundwerten und Gesellschaftsordnungen ren und ihre Wechselwirkungen bei der Beschrei- nicht vereinbar. Es entwickeln sich Ängste vor bung und Analyse von Integrationsverläufen von einer „Überfremdung“ in breiten Bevölkerungs- Einwanderinnen und Eiwanderern berücksichtigt gruppen, die den Islam und hier lebende Musli- werden. Monokausale Erklärungen für gelingen- me als Bedrohung empfinden. Sie werden ver- de oder misslingende Integrationsprozesse grei- stärkt durch öffentliche Debatten, die unter- fen zu kurz. Insbesondere einzig aus der Reli- schiedliche Lebenschancen und Bildungserfolge gionszugehörigkeit, hier des „Muslimischseins“, an angeblichen biologischen und genetischen auf die Lebensverhältnisse und Wert- und Norm- Unterschieden von Zuwanderergruppen festma- orientierungen zu schließen, wird der Komple- chen; und hier werden insbesondere jene Zuwan- xität der Entwicklung von Lebenswelten in mo- derergruppen benannt, die aus islamisch gepräg- dernen Gesellschaften nicht gerecht. ten Herkunftsregionen nach Deutschland einge- Mit diesem Gutachten von Naika Foroutan wandert sind. Eine besondere Gefahr für unsere wollen wir einen Beitrag zur Versachlichung der Demokratie stellen rechte Parteien und Gruppie- gesellschaftlichen Diskussion leisten. Sie zeigt rungen dar, die Islamfeindlichkeit schüren, um auf, wie verbreitet antiislamische Einstellungen Zuspruch für ihre nationalistischen Parolen zu in der Bevölkerung sind. Vor allem analysiert sie, finden. wie ausgrenzende Muslim- und Islambilder die Notwendig ist deshalb eine sachgerechte tatsächlichen Integrationsverläufe der Zuwande- Diskussion um die Stellung des Islam und von rer negativ beeinflussen. Der Zusammenhalt in Muslimen im Einwanderungsland Deutschland. Deutschland wird aber nur gesichert werden kön- Der in den letzten Jahren begonnene politische nen, wenn Muslimen die gleichberechtigte Teil- Dialog mit muslimischen Organisationen muss habe an der Gesellschaft ermöglicht wird. auf Augenhöhe fortgesetzt werden. Dies setzt eine Günther Schultze Leiter des Gesprächskreises Migration und Integration Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung 6
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Zusammenfassung Studien des Sachverständigenrates für Migration text. Die Argumentationsmuster des Ausschlusses und Integration (SVR) sowie die jährlichen Trans- kreisen sowohl um Islamisierungs- und Unter- atlantic Trends Erhebungen des German Marshall wanderungsängste, als auch um fehlende Eman- Funds belegen, dass es in Deutschland einen ver- zipation und Frauenunterdrückung, die exempla- haltenen Optimismus gegenüber Vielfalt und risch immer wieder anhand von Kopftuchdebat- Zuwanderung gibt. Gleichzeitig messen die Biele- ten angesprochen werden, sowie um Terrorismus, felder Sozialwissenschaftler um Wilhelm Heit- Kriminalität und Gefährdung, die ein pauschales meyer, ebenso wie die Münsteraner Studie von Schreckensszenario muslimischer jugendlicher Detlef Pollack zur religiösen Vielfalt, steigende Männlichkeit entwerfen. Dabei können selbst islamfeindliche Einstellungen in Deutschland. In statistische Erhebungen und wissenschaftliche der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur „Ab- Analysen, die die zugeschriebenen Vorurteile als wertung der Anderen“ kommen die Autoren Zick, marginalisierte Randphänomene beschreiben, die Küpper und Hövermann sogar zu der Erkenntnis, gleichermaßen von Muslimen und Nichtmusli- dass Deutschland im europäischen Vergleich mit men abgelehnt werden, nicht die Vorurteile ge- Italien, Ungarn und Polen an der Spitze islam- genüber Islam und Muslimen in Deutschland ab- feindlicher Einstellungen steht. Somit ist für schwächen. Unter dem Deckmantel einer „Inte- Deutschland ein Paradoxon des Pluralismus zu grationsdebatte“ sickern stattdessen breitflächig beobachten, wenn diese auf der einen Seite von stereotype Wahrnehmungen über diese Gruppe einer Bevölkerungsmehrheit begrüßt, gleichzeitig in die Mitte der Gesellschaft und verhindern so- aber für die größte Minderheitengruppe einge- mit genau jenes Projekt, welches für die soziale schränkt wird, nach dem Motto: Vielfalt ja – aber Kohäsion einer pluralen Einwanderungsgesell- ohne Muslime! Dieser ausgrenzende Diskurs hat schaft zentral ist: Gesellschaftliche Integration als im Zuge der Integrationsdebatten, die besonders Teilhabe aller an gemeinschaftlichen Gütern, abwertend seit dem Erscheinen von Thilo Sarra- politischer Partizipation und identifikativer Zu- zins Buch „Deutschland schafft sich ab“ im Jahr gehörigkeit. 2010 geführt werden, eine Perpetuierung von Aus diesem Grund setzt sich die vorliegende Islam- und Muslimbildern als integrationsdistant Untersuchung vor allem mit jenen Wahrneh- und der deutschen Kultur widersprechend zur mungen über Muslime in Deutschland auseinan- Folge. Die Wahrnehmung von Islam und Musli- der, die im Zuge der „Integrationsdebatten“ im- men in Deutschland ist geprägt von Diskursen mer wieder artikuliert worden sind, und kon- der Inkompatibilität. Diese verweisen Muslime, trastiert sie mit bestehenden wissenschaftlichen die insgesamt fünf Prozent der deutschen Bevöl- Studien und statistischen Daten, um ihre Wir- kerung ausmachen, aufgrund unterschiedlichster kungsmacht zu beschreiben. Narrative aus dem deutschen Zugehörigkeitskon- 7
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung 1. Einleitung In seinem letzten Jahresgutachten 2012 „Integra- mit einem Mehrwert – vor allem im Sinne eines tion im föderalen System: Bund, Länder und die ökonomischen Mehrwertes – für die Gesellschaft Rolle der Kommunen“ beschreibt der Sachver- verbunden ist. Diesen Schluss legen jedenfalls die ständigenrat deutscher Stiftungen für Integration Daten nahe, da laut dem Jahresgutachten des SVR und Migration (SVR) einen verhaltenen optimis- knapp 60 Prozent der Befragten einer Zuwan- tischen Zuspruch der deutschen Bevölkerung ge- derung von Hochqualifizierten zustimmen, fast genüber der Integrationspolitik. Demnach erwar- 70 Prozent jedoch gegen eine stärkere Zuwande- ten bzw. erkennen laut dem Bericht 50 Prozent rung von Niedrigqualifizierten sind (SVR 2012: der Befragten mit und ohne Migrationshinter- 22). Auch wenn Vielfalt mit einem gewissen als grund in Ost- und Westdeutschland einen erfolg- harmlos oder exotisch wahrgenommenen An- reich verlaufenden Integrationsprozess, nur etwa derssein assoziiert wird, ist sie willkommen oder zehn bis 20 Prozent erwarten diesbezüglich Ver- wird zumindest nicht abgelehnt. Ein Grund hier- schlechterungen (SVR 2012: 22).1 für könnte sein, dass Deutschland trotz aller be- Ergebnisse der letzten Studie der Transatlan- stehenden faktischen Heterogenität weiterhin als tic Trends 2011 decken diese optimistische Ana- eine homogene Mehrheitsgesellschaft imaginiert lyse des SVR. Demnach beurteilen 48 Prozent der wird. Befragten in Deutschland die Integration von Zu- Auch der Integrationsbegriff suggeriert eine wanderern als positiv (GMF 2011: 22). Auch Wil- bestehende deutsche Gemeinschaft, in die sich helm Heitmeyer misst in der letzten Auskopplung die „Anderen“ mit maximalen Bemühungen hin- der „Deutschen Zustände“ mehrheitlich positive ein zu integrieren haben, und wurde in den letz- Zusprüche zu der vorhandenen und sich weiter ten Jahren verstärkt an eine Leitkulturdebatte fortsetzenden Diversität in Deutschland. „Es ist gekoppelt. Dies wiederum wird von den zu inte- besser für ein Land, wenn es eine Vielfalt unter- grierenden Subjekten kritisch betrachtet, da die schiedlicher Kulturen gibt“, sagen 76,8 Prozent im letzten Jahrzehnt zu vernehmenden Integra- der Deutschen (42 Prozent stimmen dieser Aussa- tionsfortschritte der Migranten auf struktureller, ge „eher“ und 34,8 Prozent „voll“ zu). Auch der sozialer und kultureller Ebene die emotionale Aussage: „Verschiedene kulturelle Gruppen be- Zugehörigkeit dieser Gruppe zu Deutschland reichern eine Gesellschaft“ stimmen 84,9 Pro- nicht maßgeblich begünstigt haben (Foroutan zent der Deutschen zu (43 Prozent „eher“ und 2010: 9 - 15). 41,9 Prozent „voll“). Diese Daten veranschauli- chen deutlich, dass Vielfalt innerhalb der deut- So schreiben Böcker et al. (2010: 309): schen Gesellschaft offenbar mehrheitlich positiv „Die Angehörigen der Dominanzgesellschaft neh- reflektiert wird (Zick/Küpper 2012: 165). men sich das Recht, Integrations-Förderung und Jedoch scheint es, als sei diese wohlwollende Integrations-Programme zu schreiben. Sich selbst Akzeptanz einer zunehmend heterogenen Gesell- als Norm setzend, werden aus der privilegierten schaft an eine bestimmte Bedingung geknüpft: Position heraus Integrationsindikatoren und -ziele Vielfalt wird vor allem dann geschätzt, wenn sie bestimmt, und so post/koloniale Modernisie- 1 Die Einleitung orientiert sich an: Foroutan 2012b. 8
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs rungs- und Erziehungsgedanken fortgeschrieben. faltsoptimismus anzuzweifeln, solange er die Für die Geanderten hat selbst die Erfüllung der in größte religiöse Minderheit in Deutschland nicht Integrationskriterien ausformulierten Normen mitdenkt, denn Vielfalt ohne Muslime wäre keine verbindlichen Konsequenzen, da die weiße schlussendlich ein inhärenter Widerspruch. Dominanzgesellschaft weiterhin das Privileg in- Da also ein Paradoxon entsteht, wenn auf nehält, diese Kriterien zu modifizieren.“2 der einen Seite ein deutliches Bekenntnis zu Viel- falt und Heterogenität artikuliert wird, während Innerhalb der deutschen Gesellschaft treten dort auf der anderen Seite Deutschland in den Mes- Abwehrreflexe auf, wo Vielfalt auch Differenzen sungen zu islamfeindlichen Einstellungen seit verdeutlicht – die im Diversity-Begriff bereits mit Jahren vorderste Plätze im europäischen Ver- inbegriffen sind – und zeigen eine deutlich einge- gleich belegt, soll sich diese Analyse mit den schränktere Sicht auf Vielfalt auf. Auf der einen Wahrnehmungen innerhalb der deutschen Ge- Seite hielt der Deutsche Industrie- und Handels- sellschaft gegenüber Islam und Muslimen be- kammertag (DIHK) in einer Analyse 2010 fest, schäftigen. Diese sollen vor dem Hintergrund der dass Deutschland auf absehbare Zeit rund 30.000 Debatten um gesellschaftliche Integration be- Arbeitsplätze im Forschungs- und Entwicklungs- leuchtet werden, da sich die zentrale Argumen- bereich nicht mehr besetzen könne (DIHK 2010: tation für die Nicht-Akzeptanz von Islam und 9). Gleichzeitig sagte z. B. Horst Seehofer im sel- Muslimen in Deutschland um den Kernvorwurf ben Jahr, „dass sich Zuwanderer aus anderen der mangelnden Integrationsbereitschaft oder Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen sogar dem der Integrationsunfähigkeit dreht. Ländern insgesamt schwerer tun“ und schloss Hinzu kommen versteckt bis offen artikulierte daraus, „dass wir keine zusätzliche Zuwanderung Ängste vor einer Unterwanderung und Islami- aus anderen Kulturkreisen brauchen“ (Focus-On- sierung sowie versteckt bis offen artikulierte Vor- line 2010). Die Debatte über die Grenzen der Viel- würfe der Radikalisierung und des Terrorismus falt erfuhr im Jahr 2010, im Zuge der sogenann- (Schneiders 2010). Die Analyse geschieht unter ten Sarrazin-Debatte, ihren vorläufigen Höhe- Einbezug zentraler Studien zu diesem Themen- punkt. Stärker als die empirischen positiven Um- komplex. Hierzu soll zunächst ein Überblick über fragewerte zu Einstellungen gegenüber Vielfalt die bestehende Forschung zu Islam und Musli- vermuten lassen, verdeutlichte die im Anschluss men im letzten Jahrzehnt erfolgen, gekoppelt mit an das veröffentlichte Buch („Deutschland schafft demographischen Daten zu Muslimen in Deutsch- sich ab“) entbrannte Debatte Abwehrreaktionen land. Außerdem soll auf zentrale Studien näher gegenüber Muslimen oder als muslimisch wahr- eingegangen werden, die islamfeindliche Einstel- genommenen Menschen in Deutschland. Hier lungen in Deutschland thematisieren. Des Weite- verlagern sich offenbar ehedem pauschal als ren sollen die Argumentationslinien im „Islam- fremden- oder ausländerfeindlich bezeichnete Integrationsdiskurs“ auf ihre Ursachen und ihre Einstellungen in Richtung einer religiösen Min- Haltbarkeit überprüft werden. Kernmotor ist die derheit, wobei dieser auch Personen zugerechnet Kontrastierung der Wahrnehmung von Islam und werden, die sich selbst nicht als religiös bezeich- Muslimen in Deutschland mit empirischen Da- nen. Insofern ist der oben beschriebene Viel- ten, die diesbezüglich zur Verfügung stehen. 2 Im Original ist der Begriff Integration nur durch ein >I.< gekennzeichnet, da es sich um einen simulierten Lexikoneintrag handelt. Im Sinne der flüssigeren Lesbarkeit ist hier das Wort Integration ausgeschrieben. 9
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung 2. Integration und Islam – Warum werden diese Begriffe so oft verkoppelt? Der Integrationsbegriff wird in den Debatten, die Staat, aber auch von Bürgerpflichten. Das Grund- diesbezüglich im letzten Jahrzehnt und beson- gesetz ist damit wichtigster Ausdruck unserer ders im Verlauf der Reform des deutschen Staats- Werteordnung und so Teil der deutschen kulturel- angehörigkeitsrechtes im Jahr 2000 geführt wur- len Identität, die den inneren Zusammenhalt un- den, vor allem als eine Debatte um Zugehörigkeit serer Gesellschaft erst möglich macht. Die deut- zu einem bestimmten kulturellen Kontext ver- sche Kultur ist nach dem Zweiten Weltkrieg ent- standen. Spielhaus beklagt hier eine zu starke scheidend von der europäischen Idee geprägt wor- Kopplung von Islam- und Integrationsthemen: den. Deutschland als Land in der Mitte Europas und die Deutschen haben sich identifiziert mit „Im vergangenen Jahrzehnt ließ sich also ein in der europäischen Integration, mit einem Europa politischen und Mediendebatten wie auch im aka- in Frieden und Freiheit, basierend auf Demokra- demischen Feld wirksamer thematischer Schwenk tie und sozialer Marktwirtschaft. Zur Identität beobachten, indem die Ausländerthematik in eine unserer Freiheitsordnung gehört die in Jahren und neue Terminologie gefasst und die Integrationsde- Jahrzehnten erkämpfte Stellung der Frau in unserer batte in einen engen Zusammenhang mit einer Gesellschaft. Sie muss auch von denen akzeptiert bestimmten Religionszugehörigkeit gestellt wird: werden, die ganz überwiegend aus religiösen Grün- der Zugehörigkeit zum Islam.“ den ein ganz anderes Verständnis mitbringen.“ (Spielhaus 2012) (Merz 2000) Es ist nicht überraschend, dass in dem Moment, in Merz beschrieb somit die Werte des Grundgeset- dem es von Seiten der Rechtsprechung leichter zes, die europäische Integration und die Stellung wurde, einen deutschen Pass zu bekommen und der Frau als zentrale Elemente einer deutschen somit laut Gesetz vom Ausländer zum Deutschen Leitkultur. Mit seinem expliziten Verweis auf zu werden, parallel die Debatte um die deutsche „andere Religionen“ stellte er hier die Muslime Leitkultur begann – nämlich im Jahr 2000 (Pautz außerhalb dieses Kanons auf. Auch verstärkte sich 2005). Seitdem wurde mit dem Begriff der Inte- im Verlauf der Debatte die Diskussion um einen gration eine Erwartungshaltung an die – ehemals deutschen Verfassungspatriotismus, was gleich- Ausländer – nun eingebürgerten Deutschen for- zeitig die Unterstellung in sich trug, Muslime und muliert, die eine Annäherung an die in Deutsch- Ausländer – von denen er in seinem Artikel im- land „gewachsenen kulturellen Grundvorstellun- mer sprach – seien zunächst einmal weniger ver- gen voraussetzte“. Dabei wurde jedoch nicht for- fassungstreu. Somit wurden Referenzsysteme auf- muliert, was man sich unter „kulturell gewachse- gestellt, die kaum als etwas spezifisch Deutsches nen deutschen Grundvorstellungen“ tatsächlich markiert werden können, denn weder Verfas- vorzustellen habe. Friedrich Merz formulierte sungstreue, noch die Stellung der Frau, noch die dazu in einem Artikel in der WELT: europäische Integration können für sich rekla- mieren, spezifisch deutsche Kulturwerte zu sein. „Zur freiheitlichen Kultur unseres Landes gehört Gleichzeitig wurde mit diesem Claim suggeriert, ganz wesentlich die Verfassungstradition unseres die anderen – in dem Fall die von ihm benannten Grundgesetzes. Sie ist geprägt von der unbeding- Ausländer bzw. Gruppen, die aus religiösen Grün- ten Achtung vor der Würde des Menschen, von den ein anderes Verständnis hätten, sprich Musli- seinen unveräußerlichen persönlichen Rechten, me – würden zunächst einmal außerhalb dieser von den Freiheits- und Abwehrrechten gegen den Wertevorstellungen stehen. 10
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Es gibt weitere Referenzsysteme, die sich dis- Muslime – kann hier eine Aufwertung der eige- kursiv im Kanon von Werteverständnissen auszu- nen Position als „aufgeklärte Europäer“ gewäh- schließen scheinen, z. B.: individualistische ver- ren, wie Iman Attia schreibt, quasi als „symme- sus kollektivistische, freiheitliche versus kontrol- trisches, verschobenes, verzerrtes o. a. – Spiegel- lierende, moderne versus traditionale Referenz- bild dessen, was als ‚Eigenes‘ imaginiert wird. systeme. In dieser diskursiven Linie weitergedacht, Das, was gesehen und wie es gesehen wird, wie es wird eine Konstruktion zwischen einem ver- bewertet und wie damit umgegangen wird, gibt meintlich den ersten Modulen zugehörigen deut- Auskünfte über diejenigen, die dies alles tun.“ schen Referenzsystem und einem den letzteren (Attia 2009: 8) Die Zuschreibungen dienen auch Modulen zugehörigen, muslimischen Referenz- dazu, den diffusen Begriff der Leitkultur mit system aufgebaut. In Folge wird der Islam als Inhalt zu füllen, zumindest über einen antitheti- etwas Konträres zum Deutschsein verstanden – schen Weg, wenn schon die eigene inhaltliche ergo ein Widerspruch zwischen Muslimisch-Sein Füllung des Begriffes seit Beginn der Debatte und Deutsch-Sein konstruiert. Dabei verändern nicht gelungen ist. „Nachdenklich macht beson- sich die Referenzsysteme nationaler und kulturel- ders der Hinweis, die Kritik sei deshalb richtig ler Wahrnehmungen über den Zeitkontext hin- und verständlich, weil es – möglicherweise wegen weg und mit ihnen verändern sich die Zuschrei- einer seit Jahren versäumten Debatte um Wert- bungen gegenüber den als „Anderen“ wahrge- maßstäbe und einen allgemeinen gesellschaft- nommenen. Galten die Anderen als unpünktlich, lichen Minimalkonsens – gar keine allgemein schmutzig und faul – wie die Gastarbeiter in den akzeptierte Definition dessen mehr gibt, was wir 1960er Jahren beschrieben wurden (Hunn 2005: unter unserer Kultur verstehen, ja, eine Begren- 292ff.; Delgado 1972) – bestätigte dies vor allem zung gebe es nur noch durch die Gesetze, nicht die durch Sekundärtugenden wahrgenommene mehr durch einen gemeinsamen, wertorientier- deutsche Identität als pünktlich, sauber und flei- ten gesellschaftlichen Konsens. Wenn dieser Hin- ßig. Beschreiben wir die deutsche Identität heute weis richtig ist, dann sollten wir nicht über Be- weniger über Sekundärtugenden, sondern einge- griffe, sondern über Inhalte streiten. Nur wenn bettet in einen europäischen Kontext als demo- wir uns darüber Klarheit verschaffen, kann ein kratisch, tolerant und aufgeklärt – so ist sein An- Konzept zur Einwanderung und Integration wirk- deres anti-demokratisch, intolerant und es hat lich gelingen.“ (Merz 2000) nicht die Phase der Aufklärung durchlaufen. Dies Die als Kernprobleme der sozialen Kohäsion sind Zuschreibungen, die besonders häufig mit formulierten Vorhaltungen gegenüber Muslimen, dem Islam und in Folge mit den Muslimen ver- die aufgrund eines vermeintlich bestehenden bunden werden (Weidner 2011: 188ff.). Die Auf- kulturellen Kernproblems nicht hineinpassen klärung wird hierbei wie eine Impfung dargestellt, in den deutschen, wahlweise europäischen Leit- die einmal verabreicht vor antidemokratischen kultur-Kanon, sind wahlweise die der Integra- und intoleranten Grundzügen grundsätzlich tionsunfähigkeit, -unwilligkeit oder -verweige- schütze – so als habe es Kolonialverbrechen, rung. Dies wird häufig begründet mit der Inkom- europäische Weltkriege und den Holocaust nicht patibilität von bestimmten Kulturen zueinander. nach der Aufklärung erst gegeben. Der Soziologe „Dieser Topos bezog sich nicht nur auf Einzel- Hans Joas beschreibt die Ausblendung der euro- individuen, vornehmlich Migranten, sondern wur- päischen Geschichte durch die Überbetonung der de auch auf die soziale Ebene, auf eine (Werte-) Aufklärung in einem Interview wie folgt: „Europa Konfrontation der Aufnahme- und Entsendege- ist auch der Mutterboden der modernen Totali- sellschaften ausgeweitet.“ (Uslucan 2012: 277) tarismen, der Ausgangspunkt auch von Kolonia- Diese Inkompatibilität wird mit einem Antago- lismus und Imperialismus. Ich halte ein Europa- nismus in den Normen- und Wertestrukturen er- Bild für irreführend, das so tut, als hätten diese klärt, die sich seit Mitte der 1990er Jahre in einer Phänomene mit der guten europäischen Ge- konträren Gegenüberstellung einer „westlichen“ schichte nichts zu tun.“ (Joas 2012) Die Kon- versus „islamischen Welt“ wiederfinden. Kultur struktion der „Anderen“ – in diesem Falle der wird zum Erklärungs- und Kristallisationspunkt 11
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung von als sozialisationsrelevant anerkannten ge- religiöse Konnotationen. „Islam“ wird dabei als sellschaftlichen Problemen: Dass junge Muslime statische Kultur imaginiert und nicht als hete- häufiger die Schule abbrechen, weniger stark auf rogene, religiöse, gesellschaftliche Werte- und dem Arbeitsmarkt vertreten sind, teilweise Normen-Vorstellung, die sich immerfort verän- schlechter die deutsche Sprache sprechen oder dert durch Kontakt, Reflexion, Geschichtsdeu- prozentual kriminell auffälliger sind als her- tung und Zukunftsausblick. Die deutsche Kultur kunftsdeutsche Jugendliche wird ebenso mit ih- und daran gekoppelt Integration als ein Rollen- rer kulturell-religiösen Disposition erklärt, wie gefüge oder Wertekorsett zu deuten, in das man die für viele dieser Missstände relevante soziale sich nur einfügen könne, wenn man die andere Segregation in sogenannte Parallelgesellschaften. als starr wahrgenommene Kultur ablege, und auf Ursachen wie soziale Ungleichheit, Armut, Dis- dessen Veränderung kein Anrecht bestünde, kriminierungserfahrungen bei der Bewerbung um wenn man nicht aus diesem kulturellen Kanon Arbeitsplätze oder bei der Weiterempfehlung auf stamme – dies kann wohl als eines der zentralen weitergehende Schulen werden hier ebenso aus- Hindernisse auf dem Weg zu einer gleichberech- geblendet wie die Tatsache, dass zahlreiche se- tigten, partizipativen Gesellschaftsstruktur ver- gregierte Stadtteile in deutschen Großstädten standen werden. Zudem erinnert es an eine vor- auch deswegen entstanden sind, weil den Mi- moderne Idee von Feudalstrukturen, in denen granten bei Zuzug in die Stadt zugewiesen wurde, Menschen in bestimmte Gruppen und Rollen wo sie leben durften und mussten. Auch der hineingeboren wurden – als Adelige, Bauern oder Faktor, dass eine emotionale und symbolische Leibeigene – und sich aus diesen niemals in eine Zugehörigkeit schwierig zu empfinden ist, wenn andere Gruppe „integrieren“ konnten (Couden- sie über drei Generationen hinweg nicht von der hove-Kalergi 2012). Damals waren soziale Mobi- Mehrheitsgesellschaft angeboten wird, kommt lität oder Aufstiege nicht mitgedacht, da es kein als Argumentationsbasis für eine diagnostizierte Grundrecht auf Gleichheit gab – es gab auch kei- Integrations-Distanz selten ins Spiel. Es bleibt zu ne Vorstellung von Gleichheit. Die entspricht oft bei dem Kernvorwurf der kulturellen Inkom- selbstverständlich nicht unseren post-modernen patibilität „des“ Islam zum „Westen“, die eine In- Gesellschaftsstrukturen, in denen Patchwork- tegration nicht glücken lasse. Viel zu selten wird Identitäten (Keupp 2008) längst alltäglich gewor- hier auf die Verantwortung der Aufnahmegesell- den sind: Man kann als Frau den gewachsenen schaft für bessere Integrationsmechanismen und kulturellen Wertekanon verweigern und kinder- Steigerung der Partizipationschancen hingewie- los bleiben und muss sich nicht den Vorwurf der sen. Die Studie „Lebenswelten Junger Muslime in Integrationsverweigerung gefallen lassen. Die Deutschland“ (Frindte et al. 2011) nimmt hierzu deutsche Gesellschaft spiegelt diesen selbstver- Stellung. Frindte et al. sagen dazu: ständlichen Umgang mit sozialer Veränderung tagtäglich wider. Aber diese Offenheit scheint „Erlebt sich die muslimische Gemeinschaft als geringer zu sein, wenn es um das Thema Muslime durch die Aufnahmegesellschaft diskriminiert geht. So beobachtet der Sachverständigenrat und stigmatisiert, so bedroht dies einerseits eine deutscher Stiftungen für Integration und Mi- positive muslimische Identität und erschwert an- gration (SVR) bei der Messung der Haltung der dererseits eine Identifizierung mit der Aufnahme- deutschen Bevölkerung zu Integration „In den kultur. Dies birgt die Gefahr einer kulturellen Ent- Meinungsspitzen (…) mehr Pessimismus bei den wurzelung und eines Identitätsverlusts, was dann Zuwanderern und mehr Pragmatismus bei den die Wahrscheinlichkeit für Radikalisierung erhö- Deutschen. Aber das breite Mittelfeld bleibt auf hen kann.“ (Frindte et al. 2011: 646) beiden Seiten eher gelassen. Und das ist am wichtigsten.“ (SVR 2011) Diese Gelassenheit Soziale Konflikte, die ehedem auf Klassen-, schwindet aber messbar und nachweisbar im Schicht- oder Milieuzugehörigkeiten zurückge- konkreten Bezug auf die Gruppe der Muslime, führt wurden, erhalten durch die Kopplung von wie im Folgenden aufgezeigt werden soll (Decker Integration und Islam kulturelle, ethnische und et al. 2010; Zick et al. 2011; Pollack 2010). 12
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 3. Datenlage zu Islam und Muslimen in Deutschland 3.1 Publikationen-Verlauf im deutsch- tet ist, nämlich: Das Interesse an Islam und Mus- sprachigen Raum limen habe nach dem 11. September erst begon- nen. Tatsächlich erlaubt eine Analyse der Publi- Bei der Untersuchung der Publikationen, die es kationen zu diesem Themenkomplex – zumindest zu dem Themenschwerpunkt Islam und Muslime was die Bücher und Studien angeht, die sich ex- in Deutschland seit Beginn des Einwanderungs- plizit mit Islam und Muslimen in Deutschland abkommens mit der Türkei gegeben hat, fällt auf, beschäftigen – nicht diesen deutlichen Rück- dass eine Argumentationslinie sehr weit verbrei- schluss, wie die Abbildung 1 erkennen lässt.3 Abbildung 1: Publikationen zum Themenkomplex Islam und Muslimen in Deutschland zwischen 1961 und 2012 160 146 140 120 100 80 71 73 60 40 33 29 17 20 11 12 1 0 2 0 1 12 6 1 6 1 6 1 6 1 6 01 96 97 97 98 98 99 99 00 00 20 -2 -1 -1 -1 -1 -1 -1 -1 -2 -2 07 62 67 72 77 82 87 92 97 02 20 19 19 19 19 19 19 19 19 20 Publikationen (Monographien, Sammelbände, Arbeitshefte, Studien) zu Islam und Muslimen in Deutschland seit Beginn des Zuwanderungsabkommens mit der Türkei (1961) in 5-Jahres-Abschnitten. Eigene Grafik, basierend auf Literaturrecherchen in googlebooks, OPAC-FU, OPAC-HU, world-cat.org und diverser Literaturlisten. Quelle: Eigene Erhebung. 3 Die Liste der Publikationen umfasst ausschließlich Bücher, Monographien und Sammelbände, die Islam und/oder Muslime im Titel trugen und sich auf Deutschland beziehen. Journal- und sonstige Artikel wurden nicht mit einbezogen. Die Liste erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollzähligkeit. Sie gibt aber einen Überblick über das Publikationsinteresse zu diesem Themengebiet im jeweiligen Jahr- zehnt. Die Zusammenstellung wurde auf Basis einer Recherche in den OPAC’s der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Univer- sität zu Berlin, bei Google-Books und Google-Scholar, bei Worldcat.org sowie in diversen Literaturlisten in gefundenen Artikeln und Büchern erstellt. Die Liste ist auf http://www.heymat.hu-berlin.de/dossiers (Bezeichnung: Publikationen zum Themenkomplex Islam und Muslime in Deutschland zwischen 1961 und 2012) zum Download verfügbar. 13
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Die Abbildung 1 macht deutlich, dass die ers- nen, die untereinander im Konflikt standen, das ten 30 Jahre der Einwanderung von einem relativ 20. Jahrhundert war bestimmt vom Konflikt der geringen Interesse für den Islam geprägt waren. Ideologien, und das 21. Jahrhundert nun sieht er Tatsächlich erschienen in diesem Zeitraum von bestimmt vom Konflikt zwischen den Zivilisatio- 1961 bis 1991 nur 43 Publikationen, die sich ex- nen. „Kultur und die Identität von Kulturen, auf plizit mit dem Themenfeld Islam in Deutschland höchster Ebene also die Identität von Kulturkrei- beschäftigten. Das Publikationsinteresse beschränk- sen, prägen heute, in der Welt nach dem Kalten te sich bis 1980 auf religionswissenschaftliche Ana- Krieg, die Muster von Kohärenz, Desintegration lysen und Materialsammlungen zur Präsenz des und Konflikt“ (Huntington 1996: 19). Islam in Deutschland (z. B. Schmidt 1965; Abdul- Huntingtons Szenario, das er 1993 zunächst lah/Mildenberger 1974). als Aufsatz in der Zeitschrift Foreign Affairs vor- Nach 1979, nach der islamischen Revolution stellte und dem drei Jahre später das Buch folgte, im Iran, fand ein Wechsel in der Thematik statt. zeigte zusammengefasst folgende Problematik Zum ersten Mal wurde explizit von einer isla- auf: „In dieser Welt werden die hartnäckigsten, mischen Herausforderung gesprochen (Konzel- wichtigsten und gefährlichsten Konflikte nicht mann 1980) und ein Zusammenleben aus dem zwischen sozialen Klassen, Reichen und Armen religiösen Kontext heraus zu verstehen versucht, oder anderen ökonomisch definierten Gruppen dort wo es zuvor vor allem ethnische und na- stattfinden, sondern zwischen Völkern, die un- tional kategorisierte Fragemuster gab. Es gab viel- terschiedlichen kulturellen Einheiten angehö- zählige Handreichungen zur Begegnung mitein- ren.“ (Huntington 1996: 24; Tibi 1998) Diese so- ander und erste Kopplungen von Integration und genannten Zivilisationen spiegelten laut Hun- Islam (vgl. Richter 1980; Micksch 1980; Elsas tington die natürliche Fragmentierung der Welt 1980). wider, im Gegensatz zu den drei Welten des In den 1990er Jahren ist ein akuter Anstieg Kalten Krieges. In seinem Aufsatz war die These der Literatur zu Islam und Muslimen in Deutsch- vom „Zusammenprall der Zivilisationen“ noch land zu beobachten. Während in den Jahren zu- prognostisch mit einem Fragezeichen versehen vor – berechnet seit 1979, da zuvor die Zahlen zu („The Clash of Civilizations?“), wohingegen das gering sind – im Durchschnitt drei Publikationen später erschienene Buch bereits den „Kampf pro Jahr erschienen waren, stieg die Zahl in dieser der Kulturen“ dogmatisch als unumstößliches Dekade auf durchschnittlich zehn Publikationen Merkmal der „Neugestaltung der Weltpolitik im pro Jahr an, mit einer Hochphase der Publikatio- 21. Jahrhundert“ – so der Untertitel seines Bu- nen im Jahr 1999 mit 24 Buchtiteln. Zu Beginn ches – bezeichnete. In dieser post-bipolaren Phase der 1990er Jahre hatte der Politologe und Berater der 1990er Jahre kann ein deutlicher Anstieg der des US-State-Departements Samuel Huntington Kulturalisierung von Konflikten gesehen werden, mit seinem Essay zum „Clash of Civilizations“ der sich bis in unsere heutigen Debatten über so- den „Religious Turn“ in die Außenpolitik zurück- ziale Konflikte und die Fragen der Zugehörigkeit gebracht und somit auch in zahlreiche mediale des Islams zu Deutschland niederschlägt. Debatten. Huntington sagte dazu in einem Inter- Huntington stellte in seinem Buch die These view in der ZEIT: „Die erste Hälfte des 20. Jahr- auf, dass der Westen, der zwar derzeit auf dem hunderts war die Ära der Weltkriege, die zweite Gipfel seiner Macht sei, wie jedes „Imperium“ die Ära des Kalten Krieges. Im 21. hat die Ära der Gefahr laufe, seinen Zenit bald zu überschreiten. Muslim-Kriege begonnen.“ (im Interview mit Besonders eindringlich warnte Huntington den Joffe 2007) Jedes Jahrhundert scheint nach Hun- Westen vor einer sinisch-muslimischen Achse tington von einer spezifischen Form der Konflikt- und konkret vor der „islamischen Zivilisation“ austragung geprägt zu sein: Im 18. Jahrhundert und ihrem Universalismusanspruch. Die islami- gingen die Konfliktlinien durch die Herrscher- sche Zivilisation kämpfe ebenso wie der Westen häuser, im 19. Jahrhundert waren es die Natio- um die Vorherrschaft in der Welt, was dazu führe, 14
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs dass sie sich heute bereits mit allen angrenzenden durch ein neues Feindbild ersetzt. Zu neuen Zivilisationen in Konflikt befinde (Huntington „Feinden“ hätten zu Beginn dieser Entwicklung 1996: 415 - 433). Hier wurde deutlich jene Dichoto- auch China und Indien werden können – wie mie aufgebaut, die auch in der derzeitigen Wahr- Analysten zu Beginn des Zusammenbruchs der nehmungsstruktur die Konfliktlinien der Außen bipolaren Weltordnung signalisierten (Nirumand und Innen- bzw. Integrationspolitik markiert. 1990; Waage 1991; Tibi 1992). Allerdings war dies Zudem, schrieb Huntington, weise die isla- als Narrativ nicht besonders wirkungsvoll: In mische Zivilisation das größte Bevölkerungs- einem neuen System des Sieges der „Freien Welt“ wachstum auf, wirtschaftlich könne jedoch dieser über die kommunistischen Blockstaaten und in jugendliche Nachwuchs nicht aufgefangen wer- einem Moment, in dem eine neoliberale freie den, womit die Jugendlichen in Fundamentalis- Marktwirtschaft als zentrales Gebot demokrati- mus und Militarismus Zuflucht suchen würden, scher Grundordnung propagiert wurde, konnte was zu sozialem Sprengstoff in der Region mutie- ein Feindbild China oder Indien zwar als Konkur- re. Während ostasiatische Staaten durch ihr rela- renz um Wirtschaftsmacht funktionieren, aber tives wirtschaftliches Wachstum gestärkt werden aufgrund des wirtschaftlichen Modellcharakters und die demographische Explosion auffangen dieser Länder und der bereits beginnenden Glo- können, würde diese in der islamischen Welt zu balisierung nicht als bedrohendes „Anderes“ einer „Gefahr für muslimische Regierungen und etabliert werden. nichtmuslimische Gesellschaften“ (Huntington Resultierend aus dieser politischen Polemik 1996: 156). Der demographische Faktor schaffe gegenüber „dem Islam“ und „dem muslimischen ein „Rekrutierungspotenzial für Fundamentalis- Kulturkreis“ entstanden daher in den 1990er Jah- mus, Terrorismus, Aufstände und Migration“ ren vielfach Gegenpublikationen, aber es kann (Huntington 1996: 156) und werde langfristig eine für dieses Jahrzehnt keine eindeutige, leitende große Gefahrenquelle für den Westen darstellen, Tendenz in den Publikationen festgehalten wer- schrieb er bereits 1996. Diese demographische Pro- den. So wurden bereits vor Huntington Bücher blemlinie zwischen einer sich massiv und männ- in Bezug auf einen ansteigenden und Europa lich verjüngenden islamischen Welt und einer al- gefährdenden islamischen Fundamentalismus ternden europäischen Gesellschaft macht ein wei- publiziert (vgl. Nirumand, hrsg. 1990; Normann teres Gegensatzpaar auf, das den Antagonismus 1991; Tibi 1992). Islam und Muslime fanden erst- zwischen „dem Westen“ und „der islamischen mals Zugang in die Verfassungsschutzberichte Welt“ furchtsam plakatiert und in Deutschland bzw. in Publikationen des Verfassungsschutzes auf die Wahrnehmung von männlichen musli- (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 1995). mischen Jugendlichen als Bedrohung abfärbt. Gleichzeitig stiegen aber auch jene Publikationen Die zentralen Vorwürfe gegenüber Hunting- an, welche die Sichtbarkeit und die Heterogenität ton lauteten nicht nur auf self-fullfilling prophecy, muslimischen Lebens in Deutschland verdeut- da er als Sicherheitsberater des US-State-Depar- lichten. So wurden Muslime im Stadtbild por- tements eine strategische Ausrichtung der US- traitiert (vgl. Schiffauer 1997; Geisler 1998; Höpp militärischen Operationen auf seine Hypothesen et al. 1996), muslimische Verbände analysiert hin durchsetzen konnte, sondern vor allem auf (vgl. Steinbach et al. 1997), muslimische Frauen, die Erschaffung eines neuen Feindbildes, welches muslimische Mode und muslimische Jugendliche nach dem Zusammenfall des Ost-West-Konfliktes als Akteure in den Blick genommen (vgl. Wiebke die sicherheitspolitischen Strukturen des Westens 1997; Spuler-Stegemann 1998; Stöbe 1998). Es nicht ins Leere laufen lassen sollte (Heine 1996: gab in dieser Zeit trotz oder vielleicht auch wegen 13f., 187f.). Außenpolitisch wurde in dieser Zeit der einseitigen Huntington-Debatte ein breites jenes Ost-West-Feindbild, welches auf beiden publizistisches Panorama zwischen Dialogstruk- Seiten ein halbes Jahrhundert Erziehungsstile, turen, Abschottung, Minderheitenumgang, All- Ängste und Bedrohungsszenarien geprägt hatte, tagsbeschreibung und Gefahrenabwehr. 15
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Im Jahr 2000 erschienen besonders viele Zwar kann in den Buchpublikationen in den Publikationen mit Bezug auf Islam und Muslimen Jahren zwischen 2001 und 2005 nicht von einem in Deutschland – es ging hier bereits um die Aus- signifikanten Anstieg der Literatur gesprochen handlung von Zugehörigkeiten und die Fragen werden. Eine google-research-Analyse, die auch nach einem deutschen Islam bzw. deutschen Journale und Zeitungspublikationen mit einrech- Muslimen (vgl. exemplarisch: Alacıoğlu 2000; net, liefert allerdings ein anderes Bild der öffent- Fritsch-Oppermann 2000; Hannemann 2000; lichen Wahrnehmung. Dieses Messinstrument ist Khoury/Heine/Oebbecke 2000; Lemmen 2000; ebenfalls nicht repräsentativ. Es misst nur das Mohr 2000; Palm 2000; Steinbach 2000; Vorkommen von Begrifflichkeiten im digitalisier- Karakaşoğlu-Aydın 2000). Von den Publikationen ten Publikationskorpus von Google-Books. Den- des Jahres 2001 können noch keine direkten Be- noch veranschaulicht die Abbildung 2, dass nach züge zu den Terroranschlägen des 11. September dem 11. September in den Medien ein deutlich hergestellt werden, da davon auszugehen ist, dass erhöhter Anstieg von Themenbezügen zu Islam Buchpublikationen mit einem größeren Vorlauf und Muslimen nachweisbar ist, selbst wenn sich eingereicht wurden und daher die Anschläge kei- dies nicht primär in Buchpublikationen nieder- nen Eingang in diese Jahresfrist finden konnten. schlägt: Tatsächlich sind die Publikationen zu Islam und Ein sehr deutlicher Anstieg in den Publika- Muslimen im Jahr 2001 sehr gering. Auch in den tionen zu Islam und Muslimen in Deutschland ist nächsten fünf Jahren hält sich die Buchpublika- allerdings seit dem Jahr 2006 zu beobachten. Was tion an die durchschnittlich zehn Volumen jähr- in dem nachfolgenden Publikationszeitraum bis lich, so wie es bereits in den 1990er Jahren der heute auffällt, ist der hohe Anstieg wissenschaft- Fall war. Allerdings finden sich in dieser Periode licher, vor allem quantitativer Studien in Bezug deutlich mehr Titel, die Muslime als Bedrohung auf Islam und Muslime in Deutschland. Dies behandeln (vgl. exemplarisch: Schmitt 2003; kann zusammenhängen mit einem Wandel der Barth 2003; Fauzi 2003; Kandel 2004; Lachmann Förderstrukturen in der Wissenschaftspolitik. Es 2006). ist aber auch zurückzuführen auf die Deutsche Abbildung 2: Publikationen bei Google-Books zum Themenkomplex Islam zwischen 1978 und 2008 0,002600 % 0,002400 % 0,002200 % 0,002000 % 0,001800 % 0,001600 % 0,001400 % 0,001200 % 0,001000 % 0,000800 % 0,000600 % 0,000400 % Islam 0,000200 % 0,000000 % 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 Quelle: Google Books Ngram Viewer. 16
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Islam Konferenz, die ebenfalls erstmalig im Jahr Wie die Abbildung 1 auf S. 13 zeigt, sind in 2006 tagte und die damals einen quantitativen den folgenden Jahren nach 2006 weit mehr als Datenmangel in Bezug auf jene Gruppe monierte, 100 Publikationen und Studien zu Muslimen in die in den zurückliegenden Jahren so stark pro- Deutschland erschienen. Es gibt Studien zur Reli- blematisiert worden war. Tatsächlich ist die so- giosität von Menschen mit muslimischem Hin- ziale Gruppe der Muslime in den folgenden fünf tergrund, ihrem Konsumverhalten, ihren sozialen Jahren explizit beforscht worden. Als im Jahr Kontakten, ihrem Eheverhalten, Kriminalitäts- 2006 nach einer fünfjährigen Periode der Ent- raten, Einstellungsmessungen, politische Bin- fremdung zwischen muslimischer und nicht- dung, Sprachkenntnisse, Integrationsdaten, zu muslimischer Bevölkerung Wolfgang Schäuble ihrer Bildungsaspiration, ihrem Medienkonsum als damaliger deutscher Innenminister die erste und vielem mehr.4 Deutsche Islam Konferenz eröffnete und zeit- Was allerdings erschreckenderweise auffällt, gleich die Bundeskanzlerin Angela Merkel den ist, dass dieses akkumulierte Wissen nicht zu ei- Integrationsgipfel einberief, herrschte noch eine ner Veränderung der Einstellung auf Seiten der relative Datenarmut. Aus diesem Grund wurde die nicht-muslimischen Bevölkerung geführt hat, Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ (MLD wie Erhebungen zu Islam- und Muslimfeindlich- 2008) in Auftrag gegeben (Haug et al. 2009: 4). keit verdeutlichen. Die fünf Jahre zuvor (von 2001 bis 2006) waren geprägt durch die Sicherheitsdiskurse nach dem 11. September und die Unsicherheiten, wel- 3.2 Erhebungen zu Islam und che durch Rasterfahndung und die Sicherheits- Muslimfeindlichkeit pakete des damaligen Innenministers Otto Schily nicht hatten ausgeräumt werden können. Viel- Wie bereits erwähnt, beobachtet der Sachverstän- mehr kann in dieser Zeit eine Manifestierung der digenrat deutscher Stiftungen für Integration und medialen Stereotype und das breitflächige Ein- Migration (SVR) im Nachgang der Sarrazin-De- sickern der bis heute wirkmächtigen Bilder der batte des Jahres 2010/2011 bei der Einstellung zur unbekannten, verschleierten oder fanatischen Zuwanderung mehr Pessimismus bei den Zuwan- Personen, gesehen werden (Geißler 2009). Im derern und mehr Pragmatismus bei den Deut- Jahr 2006 wurde die Bedrohung dieser innerge- schen und ein hohes Maß an Gelassenheit im sellschaftlichen Entfremdung für den sozialen breiten Mittelfeld auf beiden Seiten. Auch das Frieden in Deutschland von Seiten des Bundes- Sozio-ökonomische Panel (SOEP) geht von mehr ministeriums des Inneren erkannt. Mit dem Re- Offenheit in Deutschland gegenüber Zuwan- gierungswechsel kam auch die Erkenntnis, dass derung aus. Die erhobenen SOEP-Daten lassen nicht nur dem islamischen Fundamentalismus, die Analyse zu, dass sich im Messzeitraum von sondern auch steigender Islamfeindlichkeit ent- zehn Jahren von 1999 bis 2009 der Pessimismus gegengewirkt werden musste. gegenüber der Zuwanderung reduziert hat: Wäh- 4 Hier sind einige Studien und Veröffentlichungen aufgeführt, um die Spannbreite der Themen zu verdeutlichen: http://www.bamf.de/ SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/wp34-mediennutzung-von-migranten.html?nn=1362958; Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.) 2008: Muslimische Religiosität in Deutschland – Überblick zu religiösen Einstellungen und Praktiken, Gütersloh; Gostomsky, Christian Babka 2010: Fortschritte der Integration. Zur Situation der fünf größten in Deutschland lebenden Ausländergruppen, Nürn- berg; Haug, Sonja 2010: Interethnische Kontakte, Freundschaften, Partnerschaften und Ehen von Migranten in Deutschland, Integra- tionsreport 7, Nürnberg; Frindte, Wolfgang; Boehnke, Klaus; Kreikenbom, Henry; Wagner, Wolfgang (Hrsg.) 2011: Lebenswelten junger Muslime in Deutschland, Nürnberg; Baier, Dirk; Pfeiffer, Christian; Rabold, Susann; Simonson, Julia; Kappes, Cathleen: Kinder und Ju- gendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum – Zweiter Bericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN (KFN-Forschungsbericht Nr. 109), Hannover; Vodafone-Stiftung (Hrsg.): Verzerrte Bilder? Muslime in der europäischen Medienlandschaft, Düsseldorf; Brähler, Elmar; Decker, Oliver 2012: Die Parteien und das Wählerherz, on- line: http://medpsy.uniklinikum-leipzig.de/red_tools/dl_document.php?id=282 [26.9.2012]; Frindte, Wolfgang; Geschke, Daniel; Schurz, Katharina; Schmidt, Dajana: Integration und Fernsehnutzung junger Muslime in Deutschland, in: Politische Psychologie 2012(1): 93 - 124. 17
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung rend sich 1999 noch ein Drittel der Bürger ohne 2012: 33; Gross et al. 2010). Bereits im Jahr 2006 Migrationshintergrund große Sorgen diesbezüg- beschrieb Heitmeyer diesen Trend: „[N]ormaler- lich machten, waren es 2009 nur noch ein Vier- weise gilt: Je höher die Bildung, umso weniger tel. Im gleichen Zeitraum verdoppelte sich der Abwertung. Das stimmt in Bezug auf Obdachlose, Anteil derer, die sich keine Sorgen über die Zu- Homosexuelle, Juden, Fremdenfeindlichkeit, wanderung machten, von 16 auf 32 Prozent Sexismus und Rassismus. Nur beim Islam ist das (Diehl/Tucci 2011: 5). Aber auch hier kommen anders. Dort schützt Bildung weniger vor der die Autorinnen zu dem Schluss: „Immer mehr generalisierten Abwertung der Kultur des Islam.“ Deutsche glauben hingegen, dass vor allem das (Heitmeyer im Interview mit Reinecke/Seidel Verhalten der Menschen für die Einbürgerung 2006) In seinem Resümee zu der zehnjährigen ausschlaggebend sein sollte. Ein Rückgang der Forschungsarbeit und den repräsentativen Um- Fremdenfeindlichkeit ist damit jedoch nicht fragen in Deutschland spricht Heitmeyer von zwangsläufig verbunden: Wer das Verhalten und einer „verrohenden Bürgerlichkeit“ (Heitmeyer die kulturelle Anpassung als die wichtigeren Fak- 2012: 35f). „Zudem hat die Islamfeindlichkeit im toren erachtet, weist genauso häufig stark frem- linken, politischen Milieu weiter kontinuierlich denfeindliche Einstellungen auf wie jemand, der zugenommen […]“, so Wilhelm Heitmeyer in der ethnische Zugehörigkeit für bedeutsamer hält.“ zehnten Folge der Auskopplung (Heitmeyer 2012: (Diehl/Tucci 2011: 3) 20). Unter diesem Phänomen fassen die Sozial- Die analysierte Gelassenheit und Offenheit wissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen gegenüber Zuwanderung schwindet daher im vom IKG „[…] Ablehnung und Angst vor Musli- konkreten Bezug auf die Gruppe der Muslime, de- men, ihrer Kultur sowie ihren öffentlichen, poli- ren Verhalten und kulturelle Andersartigkeit im tischen und religiösen Aktivitäten“ zusammen Diskurs hervorgehoben wird (Decker 2010; Zick (Heitmeyer/Mansel 2008: 19). Sie untersuchen 2011; Pollack 2010). Im Jahr 2007 hatte Heiner pauschalisierende Bewertungen, die stark auf Bielefeld das Islambild in Deutschland untersucht Stereotype basieren und stellen fest, dass dort, und dabei anhand einer Reihe von Meinungsum- wo das Wissen fehlt, die höchsten abwertenden fragen, z. B. des Allensbach-Instituts aus dem Einstellungen gemessen werden können, weil Jahre 2006 und aus Erhebungen und Analysen automatisch ein Zugriff auf stereotypes Wissen des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung erfolgt. Außerdem beobachten sie, dass es keine (IKG) in Bielefeld, ein deutlich negatives Islam- etablierten Normen für Toleranzstrukturen ge- bild zusammengetragen. So fasste er zusammen: genüber Muslimen gibt und dass diese grund- 60 Prozent der Deutschen betrachteten den Islam sätzlich als einer anderen Position zugehörig als undemokratisch, 83 Prozent hielten ihn für wahrgenommen werden: „Erstens: Wenn Fakten- fanatisch, 62 Prozent für rückwärtsgewandt und wissen fehlt, dann kann das zu Fremdenfeind- 71 Prozent für intolerant (Bielefeld 2007: 4ff.). lichkeit führen. Zweitens: Ganz grundsätzlich Im Messzeitraum von 2001 bis 2011 ist der sichert die Abwertung anderer auch stets die eige- Zuspruch zu Islamfeindlichkeit in Deutschland ne soziale Position. Dazu kommt drittens: Wenn stetig angestiegen und nach einer signifikanten es um Muslime geht, haben sich soziale Normen Steigerung im Jahr 2010 wieder bei den konstant für Toleranz und gegen Feindseligkeit in Deutsch- hohen Messdaten im Zehn-Jahreszeitraum an- land noch nicht sehr weit entwickelt.“ (Küpper gekommen, wie Wilhelm Heitmeyer in seinen im Interview mit Knaul 2010) Es findet eine Studien zur gruppenbezogenen Menschenfeind- Überbetonung der kulturellen Differenz statt, lichkeit in Deutschland nachweisen konnte (IKG analysieren die Bielefelder aus ihren Erhebungen, 2011). Dabei haben die Autoren der „Deutschen und ein Anlegen von Standards, denen man selbst Zustände“ vor allem festgestellt, dass Islamfeind- nicht gerecht werde. Im Jahr 2011 antworteten lichkeit sich auch in den mittleren und hohen im Rahmen der Studie „Deutsche Zustände“ auf Einkommensschichten stabilisiert (Heitmeyer das Item „Muslimen sollte die Zuwanderung nach 18
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