DER AIDSHILFEN IN RHEINLAND-PFALZ - #34 - März 2021 - Foto von Alexander Schimmeck on Unsplash - Aids-Hilfe Mainz
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Impressum Mitwirkende am Newsletter Kaiserslautern: Robin Roth, Pascal Clemens, Daniel Bill Mainz: Thomas Becker, Frank Kürsten Kaiserslautern Trier: Bernd Geller Pariserstr. 23 (Eingang Bleichstr.) 67655 Kaiserslautern Landau: Ulrike Bischoff, Tel: 0631/18 09 9 - Fax: 0631/10 81 2 Weitere Infos zur Arbeit der AIDS-Hilfen in Rheinland-Pfalz unter www.aidshilfe-rlp.de Koblenz Moselweißer Str. 65 * 56073 Koblenz Tel: 0261/16699 - Fax: 0261/39499108 Landau Weißenburgerstraße 2b * 76829 Landau Tel: 06341/88688 - Fax: 06341/84386 Ludwigshafen Frankenthaler Str. 71 * 67059 Ludwigshafen Tel: 0621/685 675 21 - Fax: 0621/685 675 15 Mainz Mönchstraße 17 * 55130 Mainz Tel.: 06131/222275 - Fax: 06131/233874 Trier Saarstraße 55 * 54290 Trier Tel: 06 51 / 9 70 44-0 - Fax: 06 51 /9 70 44-12 IMPRESSUM AIDS-HILFEN IN RLP Foto von Ben Yang on Unsplash 2 3
INHALT Liebe Leser_innen, ein Jahr „Ausnahmezustand“ liegt hinter uns. Angesichts der großen Brisanz, die die Covid- 19-Pandemie weiterhin hat, tritt die sexuelle Gesundheit – DAS Thema der AIDS-Hilfen – Das bekommen Sie zu Lesen immer stärker in den Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit. Eine durchaus proble- IMPRESSUM 2 matische Entwicklung, gerade auch für Frauen*. Daher nehmen wir den Welt-Frauen*-Tag AIDS-HILFEN IN RLP 3 am 8. März zum Anlass, uns in diesem Newsletter verstärkt dieses Themas anzunehmen. RESPEKT UND SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT 6 Ein wichtiger Teilaspekt ist dabei die sexuelle Gesundheit von Sexarbeiter_innen. Denn FRAUEN: CORONA UND SEXUELLE GESUNDHEIT 8 schließlich sind der Großteil der Sexarbeitenden in Deutschland Frauen*. Auch für sie gibt RECHTE DER SEXARBEITENDEN? 12 TRANS*-SICHTBARKEIT IN DER AIDS-HILFE 16 es einen besonderen Aktionstag im März. Aber wohl die wenigsten von uns dürften den „In- EINTRETEN FÜR MENSCHLICHKEIT UND VIELFALT 18 ternational Sexworkers‘ Rights Day“, den Internationalen Tag für die Rechte von Sexarbei- DIE WÜRDE DES MENSCHEN - WAS IST DAS? 19 ARTIKEL 1 19 tenden, am 3. März überhaupt auf dem Schirm haben. Je länger der Corona-Lockdown an- WAS IST DAS? 19 hält, desto prekärer wird die Situation der Sexarbeiter_innen auch in Deutschland. Rettungs- LESE-TIPPS 22 IMPFUNG 24 schirm? Fehlanzeige! KRANKHEITEN BESTIMMEN DEN ABLAUF DER GESCHICHTE - AM BEISPIEL DER POCKEN 24 ANFANG IN ASIEN 27 Und noch einen weiteren wichtigen Aktionstag hat der März: Am 31.3. ist der International LADY MONTAGU 28 NEUE WELT 28 Transgender Day of Visibility oder auf Deutsch: der Internationale Tag für Trans*-Sichtbar- WER HAT’S ENTDECKT? 32 DAS GESCHÄFT MIT DEN POCKEN 32 keit. Trans*-Menschen sind seit jeher eine besonders vulnerable Gruppe in Hinblick auf HIV EDWARD JENNER UND DIE VACCINATION 34 POLIO 41 und sexuelle Gesundheit. Dass sie auch weiterhin diskriminiert werden, verdeutlicht bereits ANDERE ERKRANKUNGEN 42 ein flüchtiger Blick auf das noch heute in Deutschland geltende „Transsexuellengesetz“ IMPFKALENDER 44 EMPFEHLUNGEN FÜR HIV-POSITIVE 46 (TSG). Trotzdem hat sich auch die AIDS-Hilfe lange Zeit schwer damit getan, trans*-inklusi- TOLLWUT 48 ve Angebote zu schaffen und die eigenen Präventionsbotschaften auf Trans*-Affinität zu hin- IMPFTRAGÖDIEN UND BETRUG 49 terfragen. Es ist also an der Zeit hier etwas zu ändern. NEUES AUS DEN REGIONEN 56 KAISERSLAUTERN 58 #WISSENVERDOPPELN 58 Aus nachvollziehbarem Anlass widmet sich der Newsletter dem Schwerpunkt „Impfungen“. KLINIKSPRECHSTUNDE 61 ONLINE-MITGLIEDERVERSAMMLUNG DER DEUTSCHEN AIDS-HILFE UND DES LANDESVERBANDS RLP 62 Außerdem werfen wir noch einen Blick auf die Kampagne #positivarbeiten und nehmen die WELT-AIDS-TAG 2020 62 HIV-SCHNELLTEST-ANGEBOT (SCHNELLTESTS OHNE ARZTVORBEHALT) 63 PRÄVENTION UND "AUFKLÄRUNG MACHT SCHULE" 64 Unterzeichnung der Erklärung für Menschlichkeit und Vielfalt #wfmv2021 zum Anlass uns WEITERBILDUNGEN UND SEMINARE 65 ONLINE-SEMINARE UND WEITERBILDUNGEN FÜR UNSER TEAM 65 mit dem Thema „Menschenwürde“ vertiefend auseinanderzusetzen. ORIENTIERUNG FÜR NEUE 65 MÖGLICHE TERMINE BEI UNS/VON UNS 65 NEUER MITARBEITER 66 Selbstverständlich berichten wir auch über aktuelle und zurückliegende Termine, Veranstal- UNTERSTÜTZUNG VIA GOODING 67 tungen und sonstige Neuigkeiten aus den lokalen rheinland-pfälzischen AIDS-Hilfen. Und LANDAU 68 NACHLESE ZUM WAT 2020 – WAT ONLINE 68 auch unsere „Leseratte“ war wieder fleißig und hat die ein oder andere Buchempfehlung. TRIER 69 PRÄVENTIONSWORKSHOP 69 HIV-TEST & STI-CHECK 70 BEGLEITETER SELBSTTEST 72 EHRENAMT 2.0 72 MEDIZINISCHE RUNDREISE 73 HIV-INFEKTION & COVID 19 - NEUER TERMIN 74 Viel Spaß beim Lesen und bleiben bzw. werden Sie schnell wieder gesund! MAINZ 75 ABSAGE VON VERANSTALTUNGEN, AN DENEN DIE AIDS-HILFE MAINZ TEILGENOMMEN HÄTTE 75 IDAHOBIT 2021 AUF DEM DOMPLATZ 75 VERANSTALTUNG „SEHNSUCHT – RAUSCH - SPASS" 76 Ihr Newsletter-Team TIPPS VON DER LESERATTE 78 4 5
Respekt und Selbstverständlichkeit Am Vortag des Welt-Aids-Tages 2020 ha�e ich als Vorstandsmitglied der AIDS-Hilfe Rheinland- schen, die mit dem Virus infiziert sind, weniger leistungsfähig seien, häufiger krankgeschrie- Pfalz e.V. das Vergnügen, an der Unterzeichnung der Deklara�on „Posi�v Arbeiten“ der Deut- ben werden und vielleicht eine Gefahr für die anderen Mitarbeiter darstellen könnten und an- schen Aidshilfe e.V. durch die Liga der freien Wohlfahrtsverbände in RLP e.V. teilzunehmen. dererseits trauen sich die HIV-posi�ven Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nicht offen mit Durch Corona konnte die Unterzeichnung durch Herrn Andreas Zels, dem Vorsitzenden der ihrer Infek�on umzugehen, aus Angst vor Repressalien. LIGA, leider nur digital sta�inden – ursprünglich war ein offizieller Akt in Mainz geplant. Fakt ist jedoch – HIV-posi�ve Menschen unter erfolgreicher Therapie sind nicht infek�ös, kön- Die LIGA der Freien Wohlfahrtspflege in Rheinland-Pfalz e.V. ist ein Zusammenschluss der fünf nen jeden Beruf ausüben und sind nicht häufiger krank oder weniger belastbar als andere. Verbandsgruppen – Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Diakonie, Deutsches Rotes Kreuz und der Pari- Durch die Unterzeichnung der Deklara�on bietet die LIGA ihren Mitarbeitern die Möglichkeit, tä�sche – zu einem Spitzenverband auf Ebene des Landes Rheinland-Pfalz. Sie versteht sich sich nicht mehr verstecken zu müssen aus Angst ausgeschlossen, gemobbt oder sogar gekün- gesellscha�spoli�sch als Mitgestalter, was das Einstehen für ein gesellscha�liches Klima ohne digt zu werden. Somit kann die psychische Belastung für diese Mitarbeiter gesenkt werden, Ausgrenzung einschließt. was sich ganz sicher posi�v auf die Mitarbeiterzufriedenheit und somit auch auf die Produk�- vität des Arbeitgebers auswirkt. Eine Win-Win-Situa�on für alle. Mit der Unterzeichnung der Deklara�on verpflichtet sich die LIGA, einer der größten Arbeitge- ber in Rheinland-Pfalz, die Rechte HIV-posi�ver Mitarbeiter zu schützen und jegliche Art von Hoffen wir, dass dieses Beispiel Schule macht und sich noch andere Ins�tu�onen und Firmen Diskriminierung zu unterbinden. Sie gehört damit zu den über 100 Unternehmen, Städten, entschließen, ein Zeichen für den diskriminierungsfreien und respektvollen Umgang mit HI-po- Verbänden, Ministerien und Betrieben deutschlandweit, die die Deklara�on seit ihrer Einfüh- si�ven Mitarbeitern zu setzen! rung unterzeichnet haben. Menschen, die mit dem HI-Virus infiziert sind, können somit darauf zählen, dass sie durch ihre Arbeitgeber die Unterstützung und den Rückhalt erfahren, den sie Weitere Informa�onen zur Deklara�on finden Sie unter www.aidshilfe.de/posi�varbeiten . Die in ihrer Situa�on benö�gen. Denn einerseits gibt es leider immer noch die Ideen, dass Men- Pressemeldung und weiterführende Infos zur LIGA können Sie auf www.liga-rlp.de/aktuelles/ nachlesen. Ulrike Bischoff, Mitglied des Vorstands der AIDS-Hilfe Rheinland-Pfalz e.V. Andreas Zels, Vorsitzender der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege in Rheinland-Pfalz e.V. RESPEKT UND SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT 6 7
Corona und die sexuelle Gesundheit von Frauen Es ist fast schon eine Binsenweisheit, dass http://abtreibungen-wien.at/pille-danach.html Bildungsangebote weitgehend auf Null her- Corona uns alle betrifft, aber eben nicht untergefahren. Wohl nur die wenigsten alle im gleichen Maße. Vor allem Frauen* Lehrer_innen dürften sich dazu bereit er- haben – wie so oft in der Geschichte – die klären, in einer Videokonferenz oder gar größeren Lasten zu stemmen und bringen einem online-Video die Anwendung von „mal einfach so nebenher“ zu ihrer eigent- Kondomen am Holzpenis zu demonstrieren lichen Arbeit die Kinderbetreuung und das oder die HIV-Übertragungswahrscheinlich- Homeschooling unter einen Hut. Das hat keiten bei Anal-, Vaginal- und Oralsex zu nichts mit „Multitasking-Fähigkeit“ zu tun, erläutern. Doch fehlendes Wissen etwa sondern mit einer ungerechten Aufgaben- Es hat Seltenheitscharakter, wenn sich jun- über Verhütungsmittel, Chlamydien-Scree- verteilung und damit letztlich auch mit ei- ge Ärzt_innen dafür entscheiden, Frauen* nings und die HPV-Schutzimpfung hat nem strukturellen Machtungleichgewicht. einen Schwangerschaftsabbruch zu ermög- mitunter weitreichende lebenspraktische Da, wo es zu Gewalt innerhalb enger sozia- lichen. Zu groß ist etwa der empfundene Auswirkungen: Wer erst gar nicht erfährt, ler Beziehungen kommt, sind in der Regel Gegenwind durch Rechtspopulist_innen, andere Konzepte von Sexualität oder Part- dass es so etwas gibt, wird entsprechende wiederum Frauen* die und bei den vielen Krankenhäusern in nerschaft leben, geraten heute wieder Angebote auch zukünftig nicht in An- Leidtragenden. Home- konfessioneller Trägerschaft dürfte ein En- schnell in den Ruf eine „Virenschleuder“ spruch nehmen. © Sydney Sims on Unsplash working, Kurzarbeit und gagement für Frauen* im Schwanger- zu sein. Erinnert Sie das auch irgendwie an Am 8. März ist Welt-Frauen*-Tag. In frühe- Kontaktbeschränkungen schaftskonflikt wohl auch nicht gerade kar- die Anfänge der HIV-Pandemie? ren Jahren gab es zu diesem Anlass in eini- machen es schwer dem riereförderlich sein. Für Mädchen* und junge Frauen* – egal, gen rheinland-pfälzischen AIDS-Hilfen In- Partner_der Partnerin Es bleiben also nur die frauenrechtlich en- ob sexuell aktiv oder nicht – kommen wei- foabende und -aktionen zur sexuellen Ge- und möglichen Konflik- gagierten älteren Ärzt_innen. Die reduzie- tere Probleme hinzu: Corona-bedingten sundheit speziell für Frauen*. Da dies 2021 FRAUEN: CORONA UND SEXUELLE GESUNDHEIT ten aus dem Wege zu ge- ren aufgrund ihres höheren Risikos für ei- Schulschließungen haben die sexuellen nicht möglich sein wird, haben wir hier zu- hen. Gleichzeitig wird es nen schweren Covid-19-Verlauf jedoch oft mindest ein paar Empfehlungen zusam- für die betroffenen Men- die Zahl ihrer Patientinnen drastisch oder mengestellt, wie frau* auch in Corona-Zei- schen nahezu unmöglich, sich – vom Part- nehmen die Corona-Pandemie sogar zum ten ihre sexuelle Gesundheit im Blick be- ner_von der Partnerin unbemerkt – Hilfe Anlass, um sich in den wohlverdienten Ru- halten kann: bei der Polizei oder bei Beratungsstellen zu hestand zu begeben. 1. Sexualität ist ein Grundbedürfnis des Men- suchen. schen und lässt sich nicht einfach „aus- Doch auch für junge Frauen ist die Lock- knipsen“ – selbst nicht in einer Pandemie. Ähnlich schwierig ist die Situation für down-Situation nicht gerade leicht. Neue Es ist kein Grund sich zu schämen, wenn frau* trotz aller geltenden Kontaktbe- Frauen* im Schwangerschaftskonflikt. Die sexuelle und/oder romantische Kontakte schränkungen Sex hat – auch außerhalb ohnehin bereits defizitäre medizinische anzubahnen dürfte aktuell uns allen deut- einer festen monogamen Partnerscha�. Versorgung im ländlichen Bereich, zu dem lich schwerer fallen. So findet Sexualität in Es ist im Übrigen auch nicht verboten Sex zu haben. Daher kann frau* auch weiter- auch weite Teile von Rheinland-Pfalz gehö- Corona-Zeiten, wenn überhaupt, vor allem hin HIV/STI-Beratungen, eine PEP und ren, droht in Corona-Zeiten fast gänzlich in der (heterosexuellen) monogamen Paar- auch gynäkologische Vorsorgeuntersu- zusammenzubrechen. beziehung statt. Menschen, die dennoch 8 9
chungen in Anspruch nehmen, ohne sich AIDS-Hilfen gerne weiter. Auch die nied- Auch bei vielen anderen Aspekten rund um Unser Credo: Sexuelle Gesundheit ist ein für ihre Sexualität rech�er�gen zu müs- rigschwelligen Testmöglichkeiten der die weibliche* Sexualität können die regio- Menschenrecht. Das gilt auch in einer sen. AIDS-Hilfen finden – sofern es die Pande- mie irgendwie erlaubt – weiterhin sta�. nalen AIDS-Hilfen weiterhelfen oder ken- Pandemie! Und auch nicht nur zum Welt- nen zumindest die richtigen Ansprechpart- Frauen*-Tag! 4. Eltern sollten die Sorge um die sexuelle Ge- sundheit ihrer Kinder nicht auf „irgend- ner_innen. Wir beraten anonym, unvorein- wann nach Corona“ verschieben. Denken genommen und kostenfrei. Sie weiterhin an die HPV-Schutzimpfung für ihre Kinder zwischen 9 und 14 Jahren. Die Impfung ist für alle jungen Menschen empfohlen, unabhängig ihrer (späteren) sexuellen und geschlechtlichen Iden�tät. Wer dieses Zei�enster verpasst hat: Bis zum Alter von einschließlich 17 Jahren müssen die gesetzlichen Krankenkassen auch Nachholimpfungen bezahlen. Einige Krankenkassen kommen auch darüber hinaus noch für die Kosten der Schutz- impfung auf. 2. Sexuell übertragbare Infek�onen haben Vergessen Sie auch nicht, dass in Schulen auch nicht aufgehört zu exis�eren, nur aktuell das Thema „sexuelle Bildung“ weil sie jetzt „Konkurrenz“ durch Corona- nicht unbedingt oberste Priorität genießt. Foto von: Womanizer WOW Tech on Unsplash viren bekommen haben. HIV-Schutz Wenn Sie sich in der Rolle des „Dr. Som- durch Kondome, PrEP oder Schutz durch mers“ unsicher fühlen, fragen Sie in der Therapie bleiben weiterhin wich�g. Nach Schule nach, ob und wie das Thema Sexu- einer Risikositua�on sollte auch in der alität trotz Corona aufgegriffen wird. jetzigen Zeit ein HIV-Test durchgeführt Oder informieren Sie sich bei den AIDS- werden – was angesichts der starken Aus- Hilfen in Rheinland-Pfalz über altersge- lastung der Gesundheitsämter mitunter rechte Informa�onsbroschüren, Internet- nicht ganz einfach ist. Doch no�alls gibt und/oder Beratungsangebote. es weiterhin die Möglichkeit zum (beglei- teten) Selbs�est oder zum HIV-Test in ei- ner Arztpraxis. Bei Beschwerden, die auf eine sexuell übertragbare Infek�on zu- rückzuführen sein könnten, ist eine zeit- nahe Abklärung durch Hausarzt_-ärz�n, Gynäkolog_in oder Dermatolog_in sinn- voll. Auch Vorsorgeuntersuchungen wie das jährliche Chlamydien-Screening (für Frauen bis einschließlich 24 Jahren) oder das Gebärmu�erhalskrebs-Screening (für Frauen ab 20 Jahren) sollten weiterhin genutzt werden 3. Bei Fragen, welche STI-Tests oder -Screen- h�p://www.ifairer.com/ar�cles/hot-�ps-for-first-�me-in�macy-5-21892.html ings wann wie wo und für wen empfohlen h�ps://www.merkur.de/mul�media/papst-und-kondome-102865.html sind, helfen die rheinland-pfälzischen h�ps://www.fernarzt.com/krankheiten/�enitalwarzen/arten-ursachen/ h�ps://www.wunderweib.de/�rossbritannien-kinder-lernen-selbstbefriedi�un�-in-sexualkunde-108889.html 10 11
Rechte der sexarbeitenden? - Ach ja, da war doch was? „Kompromiss“ zumindest die Legalität von RECHTE DER SEXARBEITENDEN? Sexarbeit in Deutschland gesichert hat. Doch der Grundgedanke des Prostituiertenschutzge- setzes ist unverkennbar ein „Schutz der Frauen vor sich selbst“ durch Anmeldepflicht und Zwangsberatungen zur sexuellen Gesundheit. Zum Glück ist der von vielen Fachverbänden und auch von den AIDS-Hilfen vorhergesagte großflächige Rückzug von Sexarbeiter_innen in die Illegalität zunächst ausgeblieben. Die meisten Sexarbeiter_innen haben sich brav an- gemeldet und die alljährlichen Belehrungen Kurz vor dem Welt-Frauen*-Tag (8. Das bedeutet natürlich nicht, dass es in durch Sozialarbeiter_innen, wie etwa ein Kondom über einen März) findet am 3. März der Internatio- Deutschland keinerlei Ausbeutung von steifen Penis zu rollen sei, tapfer über sich ergehen lassen. nal Sexworkers‘ Rights Day statt. Wie Sexarbeiter_innen und keinen Men- der Name schon sagt, setzt sich dieser schenhandel gäbe – auch wenn die me- Doch dann kam Corona, und das Anbieten oder Inanspruchnehmen von Sexarbeit Tag für die Rechte aller Sexarbeitenden dial gerne aufgebauschten Extremfälle ein. sicherlich eine sehr verzerrte Sicht der war von heute auf morgen verboten. Natürlich haben die Corona-Maßnahmen viele Was deren Rechte betrifft, so hatte Dinge wiedergeben. Selbst vor der Ein- führung des „neuen“ Prostituierten- Branchen hart getroffen, aber leider hat sich doch wieder einmal gezeigt, dass die Deutschland lange Zeit eine Vorreiter- rolle. Prostitution ist hierzulande legal. schutzgesetzes 2017 gab es die gesetzli- Lobby für Sexarbeitende hierzulande nicht allzu groß ist. So wurden Prostitutionsbe- Mit dem Prostitutionsgesetz wurde chen Grundlagen gegen solche Fälle 2002 auch die Sittenwidrigkeit der Sex- vorzugehen, doch leider wurden diese triebe in Rheinland-Pfalz erst wieder Anfang Herbst 2020 geöffnet, also kurz vor dem arbeit abgeschafft und es wurden die Möglichkeiten nicht immer von den Rahmenbedingungen für ein legales, Strafverfolgungsbehörden in ausrei- erneuten Lockdown. selbstbestimmtes Arbeiten der Sexwor- chendem Maße ausgeschöpft. ker gesteckt. Die Folge der Legalität wa- Die Verabschiedung des Prostituierten- Zwar muss man dem Land Rheinland-Pfalz hoch anrechnen, dass über die drei Fach- ren (und sind bis heute) vergleichsweise schutzgesetzes hatte sicherlich auch beratungsstellen Roxanne in Koblenz, Luna Lu in Ludwigshafen und ara in Trier niedrige Infektionszahlen bezüglich zum Ziel, gegen bestehende Missstände HIV und anderen sexuell übertragba- in der Sexarbeit vorzugehen. Außerdem (letztere in Trägerschaft der AIDS-Hilfe Trier e.V.) für einige Sexarbeiter_innen ein- ren Infektionen sowie weniger Gewalt- mag man dem Gesetzgeber zugutehal- delikte gegen Sexarbeiter_innen, da ten, dass er mit dem Gesetz auch den malig Geldauszahlungen bis zu 400 € ermöglicht wurden, doch mit einem echten Sexworker mehr Möglichkeiten haben immer lauter werdenden Stimmen nach sich zu wehren oder Kund_innen abzu- Sexkaufverboten ein Stück weit entge- „Rettungsschirm“ hat das natürlich nicht viel zu tun. lehnen. gengekommen ist und durch diesen 12 13
Und auch die Jobcenter, die den nun ar- zu haben? Gehen sie einfach zum Ge- beitslosen Frauen im ersten Lockdown sundheitsamt und lassen sich dort tes- noch relativ unkompliziert Sozialleis- ten? Nein, denn zum einen sind die tungen ermöglicht haben, haben in vie- HIV/STI-Testangebote in den meisten len Fällen nach sechs Monaten wieder Gesundheitsämtern weiterhin geschlos- 3. März ihre Hilfsleistungen eingestellt. Für vie- sen. Zum anderen aber sind die Gesund- le Sexarbeitende ging es also schon bald heitsämter jene Behörden, bei denen die nicht mehr um die Frage, ob sie kurz Frauen vor Corona für ihre jährlichen vor einer Insolvenz stehen, sondern Pflichtberatungen auflaufen mussten. INTERNATIONAL SEXWORKERS’ RIGHTS DAY vielmehr darum, ob sie in der nächsten Und die Unterscheidung, ob sie gerade Woche überhaupt noch etwas zu essen namentlich nach Prostituiertenschutz- haben werden und ob sie ihre Wohnun- gesetz oder aber anonym nach Infekti- gen behalten können. onsschutzgesetz beraten und untersucht Es wundert daher nicht, dass ein sicher- werden, dürfte den wenigsten Sexarbei- 2. Juni lich nicht allzu kleiner Teil der Frauen tenden so einfach gelingen. Im Gesund- illegal weiterarbeitet. Und Illegalität heitsamt über illegales Arbeiten zu be- führt bekanntlich zu Erpressbarkeit. Ei- richten, ist für die meisten Sexarbeite- nige Frauen mussten auch schon saftige r_innen daher ein Tabu. INTERNATIONALER HURENTAG Geldstrafen wegen unerlaubter Prostitu- Es bleibt also nur das Prinzip Hoffnung, tion bezahlen. All das sind keine guten dass die Sexarbeitenden die Pandemie Voraussetzungen dafür, Sexarbeitende gesundheitlich wie finanziell irgendwie zum Schutz ihrer eigenen Gesundheit durchstehen und dass uns nicht durch und zum konsequenten Kondomge- die Corona-Hintertür doch die Errun- brauch zu bestärken. Und was tun illegale Sexarbeiter_innen, genschaften legaler Sexarbeit Stück für Stück verloren gehen werden. 17. Dezember die den Verdacht haben, sich eine sexu- Keine schönen Aussichten für den Sex- INTERNATIONALER TAG GEGEN GEWALT ell übertragbare Infektion eingefangen workers‘ Rights Day 2021! AN SEXARBEITERINNEN h�ps://presseportal.zdf.de/pm/an�ebote-rund-um-den-wel�rauenta�-2021/ h�ps://www.nord24.de/Bilder/Am-heu��en-Diensta�-ist-Interna�onaler-Hurenta�-In-der-54659o�.jp� h�ps://schloss-post.com/i-believe-this-is-whats-truly-immoral/sexworker/ h�ps://www.ines-schmidt.berlin/unterwe�s/2020/2juni-ist-interna�onaler-hurenta�/ h�ps://random-blather.com/2015/03/05/support-sex-workers-on-sex-worker-ri�hts-day-repost-from-facebook/ h�ps://www.voice4sexworkers.com/interna�onaler-ta�-�e�en-�ewalt-sexarbeiterinnen/ 14 15
Trans-Sichtbarkeit in der Aids-Hilfe — Darf’s ein bisschen mehr sein? Als ich 1997 ehrenamtlich in der AIDS- Penis und alle Frauen eine Vagina haben Trans*-Menschen wirklich anzusprechen – • Sind unsere Angebote wie begleitete HIV- Hilfe-Arbeit einstieg, lernte ich Hannah (oder dass alle Menschen mit Penis ein Selbs�ests, STI-Checks oder die Beratung sei es als Klient_innen oder als Mitarbei- für Sexarbeiter_innen auch für Trans*- kennen. Sie interessierte sich damals für Mann und alle Menschen mit Vagina eine tende. Menschen ansprechend? Berücksich�- die Mitarbeit in unserem Schulpräventi- Frau seien). gen wir die Zielgruppe der Trans*-Men- Der Transgender Day of Visibility, der am schen ausreichend bei der Bewerbung onsteam, so wie ich. Hannah war eine jun- Ganz so „vorurteilsfrei“ und trans*-inklu- 31. März begangen wird, ist ein passender unserer Angebote? Wir dürfen nicht ver- ge Trans*-Frau und auch der erste Trans*- siv, wie wir zu sein glaubten, waren wir gessen, dass viele Trans*-Menschen auch Anlass, die Trans*-Inklusivität unserer Be- in Beratungsstellen bereits mit Unwissen- Mensch, dem ich bewusst begegnet bin. offensichtlich nicht. Doch Hannah hatte gleitungs-, Beratungs- und Präventionsar- heit, Ablehnung und Diskriminierung Unser Ehrenamtlichenteam war sehr Geduld mit uns und wir konnten viel von konfron�ert worden sind und daher auch „bunt“ (heute würde man „vielfältig“ sa- beit noch einmal selbstkritisch zu reflektie- ihr für unsere Arbeit lernen. Nach Ende uns gegenüber zunächst einmal zurück- gen), jede_r konnte so sein, wie sie_er nun ren. Und es wundert nicht, dass es für uns haltend sind. ihres Studiums hat sie Trier verlassen und einmal ist. Das hat mich schon damals an noch viele Baustellen gibt: es sollte mehr als zwei Jahrzehnte dauern, Ich weiss was ich tu, die Präventionskampagne der Arbeit in der AIDS-Hilfe begeistert • Ist unsere Sprache gendersensibel genug? bis sich bei uns wieder Menschen engagier- der Deutschen Aidshilfe für Männer, die und tut es bis heute. Können sich darin immer alle Menschen ten, die offen zu ihrem Trans*-Sein stehen. wiederfinden, egal welche geschlechtli- Sex mit Männern haben, hat es mit ihrer Und doch gab es auch in der AIDS-Hilfe- AIDS-Hilfe und Trans*-Sichtbarkeit: Das che Iden�tät sie haben? Mikrokampagne Schwul, trans*, Teil der Szene Arbeit einige „cis-normative“ Fallstricke, ist so eine Geschichte! Einerseits sind vorgemacht: AIDS-Hilfe kann Trans*- • Ist unsere Begrifflichkeit wertschätzend und die uns erst durch Menschen wie Hannah Trans*-Menschen eine der fünf weltweiten „wissend“ genug? Oder verheddern wir Menschen mit ihren Botschaften errei- wirklich bewusst wurden. Dazu gehörten uns doch mal gerne in „Geschlechtsum- „key populations“, die in besonderem Maße chen, sie empowern und sich gegen Trans*- etwa der Sprachgebrauch (Es war damals wandlungs“-Phrasen oder den falschen von Stigmatisierung und in Folge dessen Pronomen? Diskriminierung stark machen, wenn sie es die Zeit des Binnen-I’s. Von Gender_gap auch von HIV-Infektionen betroffen sind. denn ernsthaft versucht. Und Trans*-Men- und -Sternchen hatten wir noch nie etwas • Wissen wir genug über die Situa�on von Trans*-Menschen erleben oft Diskriminie- schen können die AIDS-Hilfe-Teams durch Trans*-Menschen in Deutschland oder gehört.) oder die Selbstverständlichkeit, mit rung, sogar innerhalb der queeren Commu- anderswo auf der Welt? Sind wir uns der ihre Erfahrungen und ihre Persönlichkei- der wir annahmen, dass alle Männer einen nity. Auch damit wäre strukturellen Diskriminierung von Trans*- ten bereichern. Das galt schon in den 90er die AIDS-Hilfe eigent- Menschen durch das veraltete Transsexu- TRANS*-SICHTBARKEIT IN DER AIDS-HILFE Jahren für Menschen wie Hannah, und das ellengesetz bewusst? Kennen wir die be- lich als Verbündete von gilt heute erst recht. sonderen Schwierigkeiten, mit denen Trans*-Menschen prä- trans*-Refugees in Deutschland konfron- Bleiben wir also am Ball und machen in destiniert, schließlich �ert sind? Kennen wir die Unterschiede zwischen Vagina, Neovagina und der AIDS-Hilfe jeden Arbeitstag ein Stück ist der Umgang mit Fronthole, zwischen Penis und Penoid? weit zum Transgender Day of Visibility! Diskriminierung eines unserer Kernthemen. Doch andererseits scheinen Auftreten und Angebote der AIDS- Hilfe doch nicht trans*- http://www.montrosecenter.org affin genug zu sein, um 16 17
EINTRETEN FÜR (1) D i anta e Würde st d MENSCHLICHKEIT UND VIELFALT schü bar. Sie es Mens Art ikel tzen z u ac c h en is 1 staat i liche st Ver hte t un- n Ge pflic n und Als Initiativen, Einrichtungen und Verbände, die sich für Inklusion und Teilhabe walt htun . g a zu von Menschen mit Behinderung oder psychischer Beeinträchtigung einsetzen, ller wenden wir uns gegen jegliche Form von Ausgrenzung und Diskriminierung. Wir treten ein für Menschlichkeit und Vielfalt. Und wir sind nicht alleine: Wir stehen für Millionen Menschen in Deutschland, die das Auftreten und die Ziele von Parteien wie der Alternative für Deutschland und DIE WÜRDE DES MENSCHEN anderer rechter Bewegungen entschieden ablehnen. Die AfD hat vielfach gezeigt, WAS IST DAS? dass sie in ihren Reihen Menschen- und Lebensfeindlichkeit duldet. Sie fördert Na‐ Es ist der erste Satz in unserm Grundgesetz (aus dem Jahr 1949) unter der Überschrift tionalismus, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus. „Grundrechte“. Das Grundgesetz steht im Wust vieler anderen Gesetze, nach denen wir Diese Entwicklung macht uns große Sorgen. Denn heute ist wieder an der Tages‐ uns zu richten haben, an oberster Stelle. Dies bedeutet, dass sich alle anderen Gesetze, ordnung, was in Deutschland lange als überwunden galt: Hass und Gewalt gegen die bei uns Gültigkeit haben (also auch die europäischen), diesen Grundsätzen unterord- Menschen aufgrund von Behinderung, psychischer und physischer Krankheit, Re‐ nen müssen bzw. an ihnen gemessen werden. Die Rede ist in Artikel 1 von DEM Men- ligion oder Weltanschauung, sozialer oder ethnischer Herkunft, Alter, sexueller schen und DER Würde: Alles, was Mensch ist, hat eine Eigenschaft, die man mit „Wür- Identität sowie Orientierung und nicht zuletzt Personen, die sich für eine offene de“ bezeichnet. Und diese ist unantastbar, was man vielleicht damit umschreiben könnte, und vielfältige Gesellschaft engagieren. dass es sich hier um eine Eigenschaft handelt, die nicht verhandelbar ist. Es kann also nicht sein, dass irgendwer (der ein Mensch ist) keine Würde hat. Und doch sind diese drei Das ist nicht hinnehmbar und muss aufhören! Wir sagen NEIN zu jeglicher Ideolo‐ wichtigen Wörter (nämlich Würde, Mensch und unantastbar) nicht selbstverständlich gie der Ungleichwertigkeit von Menschen. Die Würde des Menschen ist unantast‐ und bedürfen der Auslegung. Ein Versuch: bar! Würde ist das, was einen Menschen erst zum Menschen macht. Dazu könnte gehören: • Fähigkeit zur Selbstbestimmung und zur Vernunft Wir setzen uns deshalb dafür ein, dass • Der freie Wille • Die Freiheit, Entscheidungen zu treffen und - sich Hass und Gewalt nicht weiter ausbreiten können, - niemand das Recht auf Leben von Menschen mit Behinderungen • Seine eigene Identität zu bestimmen. in Frage stellen darf und Hier kommt man ganz schnell zum Nachdenken. Ab wann ist denn ein Mensch ein - Menschen nicht ausgegrenzt, benachteiligt und diskriminiert Mensch? Beginnt der Mensch schon, wenn die Eizelle befruchtet wurde, oder erst wenn werden. er geboren wurde? Was ist mit Personen, die nicht über sich selbst bestimmen können, weil sie im Koma liegen oder demenzkrank sind? Zu all den Umschreibungen des Wortes „Würde“ muss zusätzlich noch hinzukommen, WIR LASSEN NICHT ZU, DASS IN DEUTSCHLAND EINE STIMMUNG ERZEUGT dass wir alle auch anerkennen, was wir da erklärt haben. Wir handeln uns damit die WIRD, DIE UNSERE GESELLSCHAFT SPALTET. WIR SETZEN UNS EIN FÜR EINE Verpflichtung ein, füreinander zu sorgen (besonders wenn der oder die Einzelne dies MENSCHLICHE UND LEBENSWERTE ZUKUNFT FÜR UNS ALLE! 18 19 EINTRETEN FÜR MENSCHLICHKEIT UND VIELFALT
selbst nicht mehr für sich kann). Die Achtung der Würde des Menschen muss unter drei (alles andere hat sich diesem Prinzip unterzuordnen und ist sie nicht verhandelbar). An- Aspekten betrachtet werden: dererseits ist sie aber auch weniger als ein Grundrecht, weil sich aus ihr keine konkreten 1. dem Schutz der Individualität Vorschriften ableiten lassen. Diese müssen in anderen, konkreten Vorschriften formuliert werden (zum Beispiel in Gesetzen). 2. der rechtliche Gleichbehandlung Der Staat ist also derjenige, der unsere Grundrechte und vor allem unsere Menschenwür- 3. dem Sichern des Überlebens. de zu schützen hat. Konkret bedeutet dies unter anderem: Halten wir auch hier einmal ein und denken nach: Überall auf der Welt werden diese 1. Jeder von uns hat ein Recht darauf, sein eigenes Leben im Privaten selbst zu gestalten drei wesentlichen Aspekte der Menschenwürde mit Füßen getreten (Diktaturen, wie die und muss dabei in Ruhe gelassen werden. Auf das Privatleben hat der Staat kei- in Nordkorea, Diskriminierung von Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung, nen Zugriff. (Siehe auch Artikel 10, 11, 12 und 13 GG). Ungleichbehandlung von Frauen und Behinderten). Ist unser Grundgesetz deshalb uto- pisch? Nein! Es wurde nach dem Ende des Nationalsozialismus, dem Krieg und dem Ho- 2. Alle Bürger müssen prinzipiell vor dem Gesetz gleich behandelt werden (Artikel 3 locaust formuliert. Es soll deshalb auch zum Ausdruck bringen, dass so etwas nicht noch GG). einmal passieren darf, nirgendwo und niemals, auch wenn wir mit der Umsetzung erst 3. Der Staat hat ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten. Er muss einmal im eigenen Land beginnen. also demjenigen helfen, der das alleine nicht mehr schafft (Artikel 1). Aber Vorsicht: Die Allgemeingültigkeit des ersten Artikels bedeutet auch, dass auch die Grundrechte können unter bestimmten Bedingungen eingeschränkt werden. Artikel 19 Würde des schlimmsten Verbrechers nicht antastbar und deshalb auch nicht verhandelbar des GG regelt, wie ein untergeordnetes Gesetz eines der Grundrechte einschränken darf. ist. Auch dem Kindesmörder kann und darf die Menschenwürde nicht abgesprochen wer- Und zum Schluss: den, was natürlich nicht bedeutet, dass dieser nicht bestraft werden kann. Artikel 79, Absatz 3 Grundgesetz: Das widerspricht unserem sittlichen Empfinden, liegt aber auch darin begründet, dass wir Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche […] die in den Gesetze als „Verhaltensnormen“ zu lesen gewohnt sind. Sie sollen zum Ausdruck bringen, Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist was man tun darf und was nicht, ohne dass man dafür bestraft wird. Dies ist jedoch ei- unzulässig. gentlich nicht der Zweck der Grundrechte. Bei ihnen handelt es sich um sogenannte „Ab- wehrrechte gegen den Staat“. Denn die Grundrechte sind überstaatlich, sie gelten un- abhängig von der Form des Zusammenlebens von Menschen. Die Aufgabe des Staats ist deshalb, die Grundrechte und damit auch die Würde des Menschen zu schützen und zu respektieren. So nämlich geht der Absatz 1 im Grundgesetz weiter: „Sie (nämlich die Wür- de des Menschen) zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Sämtliches Tun und Las- DIE WÜRDE DES MENSCHEN sen eines Staats und der von ihm erlassen Gesetze müssen den Grundsätzen der Grund- rechte entsprechen. Die Überprüfung obliegt bei uns dem Bundesverfassungsgericht. Nichts darf geschehen, was die Würde eines Menschen missachtet. Aus diesem Grunde ist bei uns die Todesstrafe abgeschafft (in Hessen wurde sie durch Änderung der Landes- UND DIE GRUNDRECHTE KÖNNEN verfassung erst im Jahr 2018 abgeschafft, aber bereits vorher nicht mehr angewendet), die Folter (aus welchen guten Gründen auch immer) verboten, genauso wie andere erniedri- gende und grausame Strafen (bei uns werden Diebe die Hände nicht mehr abgehackt). NICHT ABGESCHAFFT WERDEN . Die in Artikel 1 unseres Grundgesetzes formulierte „Menschenwürde“ ist mehr als ein Grundrecht, insofern sie das oberste Prinzip unserer gesamten Rechtsordnung darstellt 20 21
Wir leben in einer Welt voller Fehlinfor- Die meisten von uns gehen davon aus, dass un- sere Gedanken, Wünsche und Verhaltenswei- https://www.mercurynews.com/wp-content/uploads/2020/04/Flattened-Curve-or-Flat- mationen, Vorurteile und Mythen. Es gibt sen aus den trüben Tiefen unseres Geistes stam- Earth-by-Jeff-Koterba-Omaha-World-Herald-NE-.jpg?w=1290 men, und wenn wir nur auf diese innere Welt keine Quelle des Wissens, auf die wir uns zugreifen könnten, könnten wir uns selbst wirklich verstehen. Seit mehr als einem Jahr- stets verlassen können – nicht einmal Goo- hundert kämpfen Psychologen, Psychiater und Neurowissenschaftler mit Methoden von der gle. So bleibt uns nur, den eigenen Ver- 1919 tötete die spanische Grippe über 50 Millionen Men- Psychotherapie bis hin zu Gehirnscans darum, herauszufinden, was unter der Oberfläche un- LESE-TIPP stand zu nutzen, um alles kritisch zu hin- schen, es starben daran mehr als in beiden Weltkriegen seres Geistes liegt. zusammen. 1950 erkrankten weltweit schätzungsweise 50 terfragen. Der beliebte Podcast „The Skep- In einer gründlichen Neubewertung der Funk- tionsweise des Geistes zeigt der Verhaltensfor- Millionen Menschen an Pocken, von denen 10 Millionen tics’ Guide to the Universe“ kämpft mit lo- scher Nick Chater, dass dieses gesamte Unter- starben. 1980, bevor der Masernimpfstoff weit verbreitet nehmen fehlgeleitet ist: Wir haben keine men- gischem Denken, skeptischem Hinterfra- talen Tiefen, die wir ausloten könnten. „The war, starben jedes Jahr schätzungsweise 2,6 Millionen Mind Is Flat“ stützt sich auf erstaunliche neue Kinder an Masern. Vor weniger als 100 Jahren war der gen und einer guten Portion Humor gegen Forschungen in den Bereichen Neurowissen- schaften, Verhaltenspsychologie und Wahrneh- Verlust eines Kindes durch eine Infektion wie Diphthe- Aberglaube und Unwissen. mung und zeigt, dass wir keine innere Biblio- rie oder Polio eine gefürchtete, aber fast unvermeidliche thek von Überzeugungen, Werten und Wün- In diesem Buch entlarven die Macher des schen bei uns haben, sondern sie im Moment Trauer aller Eltern, von den reichsten bis zu den ärms- generieren und sie vollständig auf unseren frü- ten. Heute werden diese tödlichen Krankheiten dank der Podcasts Verschwörungstheorien und heren Erfahrungen basieren. Wie der Leser durch augenöffnende Experimente und umwer- Entwicklung von Impfstoffen in Industrieländern so gut Pseudowissenschaft. Ihr Leitfaden durch fende Beispiele entdeckt, sind wir alle Charak- wie nie gesehen. Die Impfung hat modernen Eltern tere unserer eigenen Schöpfung, die unser Ver- das Labyrinth des modernen Lebens gibt halten ständig improvisieren, und nicht das Ruhe gegeben, die sich ihre Vorfahren nicht vorstellen Spielzeug unbewusster Strömungen in uns. konnten. Die Geschichte der Impfung ist reich an Ver- dir nicht nur Hilfestellung beim klugen The Mind Is Flat ist mutig originell und abso- such, Irrtum, Sabotage und Erfolg. Sie umfasst die Tra- Denken, sondern eröffnet außerdem auf- lut überzeugend und zwingt uns, fast alles zu überdenken, was wir über uns selbst zu wissen gödie der verlorenen Leben, das Drama des Wettbewerbs schlussreiche Einblicke in die Funktions- glaubten, und zeigt, dass das Ergebnis befreiend und der Entdeckung, die Schuld an verpfuschten Tests sein kann. weise des Gehirns. und den Triumph einer wirksamen, lebenslangen Im- munität. Der ultimative Guide für alle, die nicht LESE-TIPPS nur lernen, sondern verstehen wollen! 22 23
machten. Marcus Antonius (der Philosoph unter den römischen Kaisern) soll sich in seinen „Meditationen“ darüber beschwert haben, dass die Krankheit an LESE-TIPP sich weniger tödlich gewesen sei, als die Lügen und bösen Absichten, mit denen Krankheiten bestimmen den Ablauf der Geschichte - am einige Kapital daraus schlagen würden. In den Geschichtsbüchern findet man Beispiel der Pocken diese Episode unter dem markanten Namen „Antoninische Pest“ (obgleich es sich wohl nicht um „die“ Pest des Mittelalters gehandelt haben wird). D nau, um welche Infektionen es sich letztlich damals gehandelt hat. For- ie Quellen dieser Ereignisse sind spärlich und so wissen wir nicht ge- WIE WÜRDE DIE WELT WOHL HEUTE AUSSEHEN, WENN ES KEINE KRANKHEITEN GEBEN WÜRDE? scher sind sich jedoch sicher, dass die Pocken vor etwa 16.000 bis 48.000 Jah- ren von Nagetieren auf den Menschen übergegangen sind. Die in historischen D en Vater Alexanders traf wohl noch ein „ehren- Quellen beschriebenen Zeichen und Symptome lassen nicht immer einen ein- haftes“ Ende (nämlich im deutigen Rückschluss auf die Erkrankung zu. Zumal sich Mensch und Mikrobe Kampf oder zumindest durch im Laufe der Zeit auch auf einander einstellen und wie beispielsweise im Falle einen Feind zu Tode gekom- der Syphilis heute bei weitem nicht mehr so tödlich verlau- men zu sein). Aber schon sei- fen wie noch im ausgehenden Mittelalter. Allerdings nen Sohn, den wir heute den sind Läsionen an den Überresten der Leiche des ägyp- „Großen“ nennen, ereilte Abb. 1 - Stern von Vergina - kö- tischen Pharaos Ramses V. wohl den Pocken zuzu- nigliches Emblem zur Zeit von sein Tod auf dem Kranken- Alexander d. Großen ordnen, und dieser regierte von 1149-1145 BCE. G Krieges (eine fast dreißig Jahre lang dau- bett in Babylon, zehn Jahre leich im ersten Jahr des Peloponnesischen nach seinen historischen Schlachten bei Issos (333 BCE) und ernde militärische Auseinandersetzung zwischen Gaugamela (331 BCE). Woran er Sparta (dem Peleponnesischen Bund) und Athen starb, bleibt unklar. Gehandelt wer- (dem Attischen Seebund), 431 - 404 BCE), brach den heute neben Malaria, Typhus in Athen eine Seuche aus, der etwa ein Viertel Abb. 2 - Alexander der Große - Schlacht bei Issos und dem West-Nil-Fieber auch eine der Einwohner zum Opfer fiel. Auch Perikles, schwere Entzündung der Bauchspeicheldrüse als Folge sei- der Athen in den Krieg geführt hatte, erlag nes zeitweise exzessiven Alkoholkonsums. Aber auch davor Abb. 4 - Kopf der Mumie des Ramses V. mit der Seuche, bei der es sich möglicherweise Anzeichen einer Pockenerkrankung wurde der Lauf der Geschichte durch Krankheiten „behin- um die aus Kleinasien eingeschleppten Po- dert“: Alexanders Indien-Feldzug wurde nie durchgeführt, cken gehandelt haben könnte, gleichzeitig weil große Teile seiner Truppen bereits bei der Vorberei- könnten aber auch wegen der beengten Lebensverhältnisse (viele Menschen tung im Tal des Flusses Tigris massenweise an einer Infek- waren wegen des Krieges aus dem Umland in das ummauerte Athen geflohen) tion erkrankten, die wir heute wohl als Pocken erkennen Typhus (durch Salmonellen verursacht) und Fleckfieber (durch Rickettsien ver- Abb. 5 - Thukydides - Teilnehmer und Berichterstatter des Peloponnesischen Kriegs (431-404 BCE) würden. ursacht) für die hohe Zahl an Todesfällen verantwortlich gewesen sein. Durch Seuchen und Erdbeben geschwächt, verlor Athen schließlich nach 27 zermür- W us (161-180 CE) führte eine Pandemie (bei der ährend der Regierungszeit von Marcus Aureli- benden Jahren seine Vormachtstellung auf der griechischen Halbinsel. Thuky- es sich wohl um eine gefährliche Form der Pocken oder dides nahm selbst an den Kämpfen teil und berichtete ausführlich davon. Von der Masern handelte) zu einem Massensterben im Römi- Bedeutung ist seine Beobachtung während der Zeit des Seuchenausbruchs: schen Reich. Allein in dessen Hauptstadt Rom sollen zeit- Diejenigen, die die Seuche durch- und überlebt hatten, konnten sie kein zwei- weilig bis zu 2000 Menschen täglich gestorben sein. tes Mal bekommen. Allerdings bedauert er ebenso, dass die Moral in Zeiten der Schuld war dabei auch die sehr hohe Bevölkerungsdichte Seuche sehr gelitten habe und sich die Menschen nicht mehr um kranke Fa- in der Stadt, die die schnelle Ausbreitung der Infektio- milienangehörige und Nachbarn gekümmert hätten. n(en) begünstigte. Schon damals jedoch gab es Menschen, die sich eine solche um sich greifende Krankheit zu nutze Abb. 3 - Marc Aurel Abb. 6 - Perikles, Staatsmann von Athen und Mit- verantwortlicher des Krieges gegen Sparta IMPFUNG 24 25
B ei einer Reihe von Epidemien mit den unter- dass der Amerikanische Kontinent von Norden nach schiedlichsten Erregern fielen Tausende Süden bevölkert wurde, als durch eine Kältezeit eine Menschen den Krankheitskeimen zum Opfer. Trotz- Landbrücke Sibirien mit Alaska verband. Neueren dem fand über die Jahrhunderte eine Form von evo- Erkenntnissen und genetischen Untersuchungen zu- lutionärer Anpassung zwischen Mensch und Mikro- folge fand eine Besiedelung bereits vor be statt. Dazu war (und ist) eine genetische Variabili- 130.000 Jahren statt, wobei die ersten Men- tät in einer Population von Menschen erforderlich. schen im Süden des Doppelkontinents die Denn dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, Neue Welt über die See erreichten. Ob nun dass es darin Individuen gibt, die eine Erkrankung über eine Landbrücke oder über die See: überstehen (immun werden) und die dafür verant- Falls diese Menschen zuvor keinen Kontakt wortlichen genetischen Merkmale an ihre Nachfah- mit Krankheitserregern hatten, mit denen ren weitergeben. Dadurch erhöht sich die Wahr- sich andere Menschen in Asien und Europa scheinlichkeit, dass sowohl Mensch als auch Mikro- später herumschlagen mussten, bedeutete Abb. 8 - Christopher Columbus (1451- be in der Zukunft überleben werden und sich anein- dies, dass sie dem ersten Kontakt mit den 1506) - Erstkontakt ander anpassen. Nach wie vor werden dann Men- Krankheitserregern schutzlos ausgesetzt schen zwar an der Erkrankung sterben, aber die waren. Menschheit als solche wird überleben. Dies ist mit D tigten „Kolumbianischen Aus- ies geschah aber ab 1492 im berüch- Abb. 11. - Einbringen von Pockenschorf in die Nase in der traditionellen chinesischen Medizin den vielen Infektionskrankheiten geschehen, die wir heute unter dem Begriff „Kinderkrankheiten“ ken- tausch“. Neben Tieren und Pflanzen Anfang in Asien nen (Masern, Röteln, Windpocken etc.), aber auch tauschten die Kontinente zu Leidwesen ih- D beispielsweise mit der Syphilis, an der im Mittelalter ie Idee, sich vor einer schweren Infektion mit Pocken zu schützen, rer Bevölkerung auch Krankheiten aus. noch sehr viele Menschen starben. war den Chinesen schon vor 3.000 Jahren gekommen. Dabei wurden Die Europäer brachten Tuberkulose, Cho- Partikel aus Pockenschorf (getrocknet und feingemahlen) von Patienten mit lera und Pest (Bakterien), Pocken, Gelbfie- Abb. 9 - Hernán Cortés einer relativ milden Verlaufsform mittels eines Blasrohrs in die Nase von ber und Masern (Viren) und Malaria (Para- (1485-1547) - Erobe- rer des Azteken- gesunden Menschen eingebracht (siehe Abb. 11). Dahinter steckte die Idee, siten) und bekamen dafür eine Form der Sy- reichs in Zentralme- xiko es werde dadurch nur ein milder Verlauf der Erkrankung ausgelöst (immer- philis und die Chagas-Krankheit (eine Pa- hin verwendete man ja noch echte Pockenviren). Dies scheint der Fall gewe- rasiten-Erkrankung, die durch den Kot von sen zu sein, denn diese Methode verbreitete sich über die Handelsstraßen Wanzen übertragen wird). Weil die ameri- (Seidenstraße) nach Westen, nur dass die Osmanen die Technik „verfeiner- kanische Urbevölkerung bis dahin noch ten“, indem sie die Pockenzellen nicht mehr durch die Nase, sondern durch keinen Kontakt mit diesen Erkrankungen einen Hauteinschnitt in den gesunden Menschen einbrachten. Dies wurde hatte, traf es sie besonders hart und so dau- später „Variolation“ genannt (lat. Variolus: Knötchen, Knöspchen, Bezeich- erte es nicht lange, bis fast alle von ihnen nung für die Pocken). der einen oder anderen Krankheit zum Op- fer fielen und ihre hochentwickelten Kul- turen vergingen und der der Europäer wei- Abb. 7 - Florentine Codex (1540-1585), Buch XII Folio 54 [Detail]. Auf Abb. 10 - Francisco Pi- der Abbildung sieht man Nahua-Indianer, die mit den Pocken infi- chen mussten. Ironischerweise hatte zu die- zarro (ca. 1471-1541) - ziert sind Bezwinger der Inkas sem Zeitpunkt in der Alten Welt schon eine Entwicklung eingesetzt, wie man solche Er- Variolation vaccination A Erkrankung in einer Population ausbricht, nders sieht es jedoch aus, wenn eine solche krankungen bekämpfen konnte. Genutzt hat dies den Ureinwohnern Amerikas allerdings nicht. Auch Inokulierung oder Inokulation. Infektion mit Kuhpocken, um eine Anste- ckung mit den Pocken zu verhindern. die nicht darauf vorbereitet ist. Lange glaubte man, Übertragung des Inhalts aus Pusteln von Pockenerkrankten auf einen andern Impfung im eigentlichen und heutigen Menschen. Sinne. Abgeschwächter Lebendimpfstoff, trotz- Mit Lebend- oder Totimpfstoff (Toxoid- dem kann dadurch eine Pockenepide- impfstoffe, z.B. bei Diphtherie oder Teta- mie ausgelöst werden. nus). Übertragung anderer Krankheiten mög- Namensherkunft: vacca �lat. Kuh lich (z.B. Syphilis oder Tuberkulose) 26 27
Lady Montagu N atürlich erreichte diese Methode auch den Westen. Be- sonders durch Lady Mary Wortley Montagu (1689-1762), deren Ehemann britischer Konsul in Konstantinopel gewesen war. Sie selbst war 1715 an den Pocken erkrankt, wobei schlimme Narben zurückblieben. Als sie in Konstantinopel von der Variolation hörte, ließ sie im Beisein ihres Arztes (Dr. Maitland) ihren vierjährigen Sohn Edward mit dieser Methode behandeln. Edward zeigte nach der „Impfung“ für eine Woche eine milde Reaktion, dann aber war die Gefahr vorüber. Er bekam zeit seines Lebens nicht mehr die Pocken. Z Wales von der Variolation überzeugen, und unter den wach- urück in England konnte Lady Montagu die Prinzessin von samen Augen von Medizinern der Royal Society verpasste Dr. Mait- land Lady Montagus vierjähriger Tochter auch eine Variolation. Die Prinzessin von Wales stieß daraufhin ein größeres „Experiment“ an. An einigen Gefangenen des Newgate Gefängnisses in London wurde diese Prozedur durchgeführt. Man hatte ihnen (im Falle ihres Über- lebens) die Freiheit versprochen. Die neunzehnjährige Elizabeth Harrison musste danach während eines besonders schlimmen Aus- bruchs der Pocken sechs Wochen lang ein infiziertes Kind betreuen Abb. 12 - Lady Wortley Montagu (und dabei auch im gleichen Bett schlafen wie das Kind). Sie über- lebte die Variolation und bekam auch anschließend im sehr engen Kontakt mit Infizierten keine Pocken. Sie wurde mit ihrer Freiheit belohnt! T rotz dieses Erfolgs konnte sich diese Methode zunächst Abb. 14 - Cotton Mather nicht richtig durchsetzen: Der Standesdünkel der britischen Abb. 15 - Onesimus Ärzte ließ es nicht zu, eine Methode gut zu heißen, die sie selbst nicht entdeckt hatten, und die zudem auch noch von den „Barbaren“ kam. Suspekt war ihnen auch der Umstand, „schmutzige“ Hautparti- kel von offensichtlich kranken Menschen zu verwenden, um sie Ge- dies in Boston bekannt zu machen, stieß aber wie Lady Montagu in England sunden unter die Haut zu ritzen. Und da lebende Viren verwendet auch auf Widerstand, bis schließlich der Bostoner Arzt Zabdiel Boylston wurden (Viren als Ursache waren zu diesem Zeitpunkt allerdings (Abb. 16) seinen sechsjährigen Sohn und zwei seiner Sklaven mit Erfolg in- noch nicht bekannt), kam es immer wieder auch zu Todesfällen. okulierte. Aber noch immer regte sich Protest und Mather entging nur Abb. 13 - 6th Earl of Lauderdale, Sir Charles knapp einem Mordanschlag. Schließlich unternahmen Mather und Boylston Maitland Neue Welt ca. 1721 einen groß angelegten Versuch an 280 (vermutlich freiwilligen) Per- sonen. Nur sechs von ihnen überlebten das Experiment nicht, ein erstaunli- Z ur gleichen Zeit in Nordamerika (Boston). ches Ergebnis, wenn man bedenkt, dass die richtigen Pocken eine wesentlich Cotton Mather (1663-1728) war Puritaner und bedeutender Politiker höhere Sterblichkeit hatten. Erst jetzt wurde die Variolation akzeptiert und in Neuengland, ein Muster religiöser Intoleranz, und sorgte 1688 dafür, dass verbreitete sich schnell in Amerika und Europa. Zumindest so lange, bis am Ann Glover als Hexe gehängt wurde. Mit einer Veröffentlichung über Hexen Abb. 16 - Dr. Zabdiel Boylston medizinischen Horizont eine Alternative auftauchte. und Besessenheit legte er den Grundstock für die Verfolgungen, die später in Salem stattfanden. Seine Gemeinde hatte ihm einen Sklaven geschenkt, dem er den Namen - nämlich den eines Sklaven aus der Bibel (Kolosser 4;9) - Onesimus gab. Auf seine Frage, ob Onesimus bereits an den Pocken erkrankt gewesen sei, habe dieser mit „Ja und Nein“ geantwortet und ihm von einer Methode der Variolation in seiner Heimat Afrika berichtet. Mather versuchte 28 29
Von der Variolation Abb. 17a - Shitala die Kühle, Indische Göttin der Pocken zu Vaccination Instrumente, die Zab- Abb. 17b - diel Boylston (ca. 1721) ca. 900 n.Chr. - Insufflation von Pocken in China zur Variolation ver- Abb. 17c - wendete. Al-Rhazi untersucht einen Jungen mit Pocken Abb. 17d - Lady Montagu erfährt von der Variolation in Konstantinopel Spitze einer Nadel, die für die Impfung gegen Pocken benutzt wurde. Zwischen den beiden Spitzen kann man einen Tropfen des Impfstoffs erkennen. Dabei handelt es sich nicht um den Pockenvi- rus (Variola), sondern um Partikel von (lebenden) Vaccinia - Viren. Abb. 17e - John Fewster - erster Franchisenehmer eines Gästehauses zur Pockenimpfung Abb. 17f - Benjamin Jesty - impfte 1774 seine Fami- lie mit Kuhpocken Abb. 17g - Edward Jenner, macht die Vaccination 1798 bekannt
D Das Geschäft mit den Pocken och seinen Experimenten kam der englische Landwirt Benjamin Jesty zuvor. Wie viele sei- ner Zeitgenossen war auch Jesty von der makellosen Haut der Milchmädchen beeindruckt. N der türkischen Methode „impfen“ ließ, und nach den erfolgreichen Tests an Strafgefan- achdem Lady Montagu (1689-1762) im Jahr 1717 ihren Sohn und 1721 ihre Tochter mit Selten lief man einem dieser Mädchen über den Weg, dessen Gesicht nach einem der zahlreichen Pockenausbrüche durch Narben entstellt gewesen wäre. Milchmädchen waren zu dieser Zeit auch genen und Verwandten des englischen Königs Georg I., verbreitete sich die Variolation (wenn auch beliebte Modelle von europäischen Malern. Eine von Jestys Milchmädchen (Anne Notley) hatte wäh- nicht ohne Widerstände) in England. Die Methode wurde 1762 vom englischen Arzt Robert Sutton rend eines Ausbruchs der Pocken einer Familie, für die sie gearbeitet hatte, geholfen, ohne selbst zu „verbessert“ (das hieß: die Hauteinschnitte wurden sehr oberflächlich geführt und man suchte nach erkranken. Jesty wusste allerdings, dass alle Milchmädchen zu Beginn ihrer Arbeit die Kuhpocken „Pockenspendern“ mit einem relativ milden Verlauf), besonders indem er sie den Bedürfnissen der bekamen, die einen den echten Pocken nicht unähnlichen Ausschlag verursachten, der jedoch auf englischen Oberschicht anpasste. Nach wie vor wurden ja bei der Variolation lebende Krankheitser- Hände und Arme beschränkt blieb. Während eines reger in den Körper gesunder Menschen eingebracht, die daraufhin an einer (wenn auch hoffentlich) Pockenausbruchs im Jahr 1774 entschied er sich da- milden Form der Pocken erkranken sollten. Dass sie für, seine Familie nicht auf die herkömmliche Art tatsächlich auch an den Pocken erkrankten, machte behandeln zu lassen, da dies eine längere Quaran- sich Sutton zu Nutze und bot in eigens dafür bereit- tänezeit und möglicherweise einen tödlichen Aus- gestellten Häusern Kuren bzw. „Wellness“-Urlaube gang bedeutet hätte. Stattdessen wollte er sich und an, in denen die behandelten und infektiösen Perso- seine Familie mit den Kuhpocken infizieren lassen. nen für etwa einen Monat ihre Quarantäne verbrin- Er reiste aus diesem Grund mit seiner Familie über gen konnten und es sich dabei gut gehen ließen Land, um einen Bauernhof zu finden, auf dem es (Wundversorgung, Ernährung, Freizeitangebote). Kühe mit einer entsprechenden Infektion gab. John Fewster griff diese Idee auf. Und (was wir Schließlich fand er solche Kühe, schabte ihnen in- heute vielleicht als Franchiseunternehmen bezeich- fektiöses Material vom Euter und ritzte dies seinen nen würden) eröffnete mehrere solcher Häuser in Familienmitgliedern und sich selbst in den Arm. England. Wer nicht so viel Geld hatte, konnte sich Als dies bekannt wurde, brach ein Sturm der Ent- immerhin in ein öffentliches Krankenhaus begeben Abb. 18 - Pockenkrankenhaus in London (18. Jahrhundert) rüstung über die Familie herein, weil viele seiner und dort eine Variolation erhalten, zum Beispiel in Zeitgenossen glaubten, durch das, was Jesty getan dem 1745 begründeten Middlesex County Hospi- hatte, könnte sich seine Familie in gehörnte Unge- tal for Smallpox and Inoculation (London Smallpox Hospital). heuer verwandeln. Die Familie musste schließlich aus ihrer gewohnten Gegend wegziehen. Die Ge- schichte jedoch gibt Jesty Recht: Keines seiner Fa- milienmitglieder erkrankte trotz mehrere Pocken- ausbrüche jemals an der Krankheit. Abb. 19 - Jan Vermeer - Dienstmagd mit Milchkrug(1660) A Wer hat’s entdeckt? uch aus Deutschland ist eine ähnliche Ge- schichte bekannt. Um etwa 1793 herum soll der Privatlehrer Peter Plett in Schleswig-Hols- D ie Frage, wer sich damit rühmen darf, eine wirksame Methode zu entdecken, der Ansteckung tein die beiden Töchter des Hauses Martini, in dem er angestellt war, mit den Kuhpocken inokuliert mit den oft noch immer tödlich verlaufenden Pocken zu entgehen, ist heute nicht mehr ganz haben. Während eines späteren Ausbruchs der Pocken blieben die beiden Kinder verschont. so einfach zu beantworten. 1798 hatte Edward Jenner seine Experimente mit der Vaccination von E allerdings das Verdienst, seine Experimente in den einschlägigen medizinischen Zeitschriften Kuhpocken veröffentlicht und er gilt nach (amerikanischem) Recht demnach auch als derjenige, dem rst im Jahr 1796 begann der Arzt Edward Jenner mit seinen Untersuchungen. Ihm gebührt das große Verdienst zusteht. Jedoch hatten vor ihm schon andere (zumindest) den Verdacht, dass eine Infektion mit Kuhpocken vor einer Infektion mit den richtigen Pocken schützte. dieser Zeit veröffentlicht zu haben. Seitdem gilt er als der „Entdecker“ der Vaccination (wir sagen heute Impfung). I m Jahr 1763 versuchte der bereits oben erwähnte John Fewster zwei Brüder mit Pocken zu impfen. Zu seiner Überraschung zeigten beide jedoch keine Reaktion an der Impfstelle. Eine Wiederholung der Impfung führte zum gleichen Ergebnis. Die Brüder gaben an, niemals an den Pocken erkrankt gewesen zu sein, dafür hätten beide jedoch früher die milderen Kuhpocken durch- gemacht. Es kam zum ersten Mal die Idee auf, dass eine Infektion mit den Kuhpocken vor einer Erkrankung mit den Pocken schützen konnte. Fewster diskutierte diesen scheinbaren Zusammen- hang mit seinen Kollegen bei regelmäßigen Treffen. Und zu dieser Zeit war Edward Jenner Lehrling bei einem der Ärzte, die Fewster eingeladen hatte. Jenner wurde offensichtlich hier das erste Mal auf einen Zusammenhang zwischen beiden Erkrankungen aufmerksam. 32 33
Sie können auch lesen