PARITÄT inform - SYSTEMRELEVANT SOZIALE ARBEIT IN DER CORONA-KRISE - Der Paritätische Baden-Württemberg
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PARITÄTinform BADEN-WÜ RT T E MB E RG | September 2020 SYSTEMRELEVANT SOZIALE ARBEIT IN DER CORONA-KRISE E 13795 ISSN 2198-9575
EDITORIAL Impressum INHALT KRISENMANAGEMENT IN CORONA-ZEITEN PARITÄTinform 4 · SOZIALE ARBEIT IN DER CORONA -KRISE Das Nachrichtenmagazin des PARITÄTISCHEN ■ Soziale Arbeit in der Krise? – Gedanken zur Systemrelevanz infolge der Pandemie Der 15. März 2020 war für mich ein Sonntag, den ich nie medizinisch orientierten Kran- ISSN 2198-9575 ■ Zur Bedeutung des Sozialstaats für Wirtschaft und Gesellschaft mehr vergessen werde. Ein neues Virus pandemischen Aus- kenhaus- und Pflegebereich ■ Zwischenbilanz: Eine wirksamere Jugendpolitik ist notwendig maßes ließ alle Alarmglocken bei mir schrillen. Ich musste gleichgestellt. Herausgeber ■ Berufstätige Frauen zwischen Kindern, Karriere und Corona die Mitarbeiter*innen in den Geschäftsstellen schützen und Deutscher Paritätischer ■ Teilhabe und Transformation als Herausforderung für den gleichzeitig die Sozialwirtschaft in Baden-Württemberg Die ersten Wochen waren lehrreich, da man sich aufeinander Wohlfahrtsverband Landesverband Arbeits- und Ausbildungsmarkt „retten“. verlassen musste und konnte. Vertrauensvolle Zusammen Baden-Württemberg e. V. ■ Familien: Größter Pflegedienst in Deutschland arbeit über den eigenen Verband hinaus, unkomplizierte Hauptstraße 28 · 70563 Stuttgart ■ Auswirkungen der Pandemie auf die Freiwilligendienste Ab dem darauffolgenden Montag mussten alle Beschäf- Arbeitsteilung, enorm beschleunigte Abstimmungspro- Tel. 0711 2155-0 · info@paritaet-bw.de ■ Herausforderungen und Erfahrungen der Schulsozialarbeit im Lockdown tigten aus dem Homeoffice heraus arbeiten. Das ist uns zesse waren nach kurzer Erprobung selbstverständlicher www.paritaet-bw.de ■ Die jetzige Zeit zur besten machen – Kreativität überwindet social-distancing dank der guten digitalen Infrastruktur und den schon er- Arbeitsalltag. Digitale Tools lösten die nervenaufreibenden Verantwortlich ■ Das „Wir“ als Erfolgsfaktor – Tübinger Modell für eine nachhaltige worbenen individuellen digitalen Kompetenzen sehr gut Telefonkonferenzen ab und das Arbeiten unabhängig von Ursel Wolfgramm, Finanzierung Freier Kita-Träger gelungen. Doch mussten unzählige Forderungen intern Zeit und Raum fanden ganz selbstverständlich Einzug in Vorstandsvorsitzende ■ Mütter- und Familienzentren setzen auf Vernetzung, Beratung und Bildung und mit den anderen Verbänden abgestimmt, formuliert den Alltag. Redaktion ■ Kontaktbeschränkungen erhöhen Face-to-Face Beratungsbedarf bei Jugendlichen und adressiert und die Mitgliedsorganisationen passgenau Rolf Schaible (Gesamtredaktion), ■ RehaVerein Ulm: Wo es anonym zugeht, leiden die Menschen am meisten und zeitnah informiert, eingebunden und beraten werden. Und die ersten Wochen waren erlebnisreich. Unser erster Dr. Hermann Frank, Dr. Steffi Hunnius, ■ Die Familien brauchen uns – Familienentlastung und Betreuung für Familien sozialer Hackathon ausschließlich im digitalen Raum hat Katrin Joret, Hina Marquart, mit Kindern mit Behinderung Die ersten Wochen waren beklemmend, da das Virus mit viel Spaß gebracht und uns aus der passiven Starre und Barbara Meier, Petra Mostbacher-Dix (MD), Ralf Nuglisch, Torsten Rothfuss, ■ Gemeinschaftsunterkünfte sind keine Lernorte – Bildungsrückstände dem Namen Corona, die Ansteckungsgefahr, das Erkran- später dem reaktiven Handeln in die Selbstwirksamkeit Sabine Oswald, Angela Querfurth, werden verschärft kungsrisiko und die Krankheitsverläufe noch nicht bekannt zurückgeholt. Wir haben in interdisziplinären Teams an Christina Rüdenauer, Karin Seng, ■ Corona ein Anlass zum Querdenken – Nachtrag zum ersten Ersten Hackathon waren. innovativen Lösungen von sozialen Problemen, die in der Michael Tränkle u.v.a. ■ Lernbrücken gab es nicht für alle – Familienzentrum Au kümmert sich Corona-Pandemie wie in einem Brennglas hervorgetreten Satz, Gestaltung um Migrantinnen und ihre Kinder Die ersten Wochen waren anklagend, da wir befürchteten, sind, in einer 24-Stunden-Schicht gearbeitet. Dabei ist trotz und Anzeigenmarketing ■ Mitgliederversammlung in Corona-Zeiten dass die Ärmsten, Obdachlose, Haftentlassene, Alleinerzie- der räumlichen Distanz viel persönliche Nähe entstanden. Kreativ plus, Gesellschaft für Werbung Die Pandemie ist keine Rechtfertigung für einen Komplettausfall hende mit mehreren Kindern u.v.a.m. im Lockdown nicht Menschen, die sich nicht kannten, Freiwillige mit unter- und Kommunikation mbH, Stuttgart Tel. 0711 2155-105 mitgedacht wurden. Ausgangssperren und Besuchsverbote schiedlichen Perspektiven und Kompetenzen haben an help@kreativplus.com 33 · L ANDESVERBAND schränkten die Grundrechte unserer Bewohner*innen mas- neuen Ideen getüftelt und Lösungen entwickelt, die vor- ■ Neue Arbeitshilfe – Wie der Vorstandswechsel im Verein gelingt siv ein, Teilhabe fand nicht statt. her als nicht möglich erschienen. Unbekannte haben sich Druck ■ 1,3 Millionen Schutzmasken für soziale Einrichtungen gefunden – teilweise arbeiten diese noch heute eng zusam- Druckerei Raisch GmbH + Co. KG Reutlingen ■ Weltkindertag: Kinderschutzbund und PARITÄTISCHER starten landesweite Die ersten Wochen waren kräftezehrend, da zu Recht die men. Diesen Schwung konnten wir in die „normale“ Arbeit Corona-Dankeschön-Aktion für Kinder Befürchtung im Raum stand, dass die gemeinnützigen so mitnehmen und haben für diese viele neue Anregungen Erscheinungsweise ■ Aufsichtsrat tagt digital zialen Einrichtungen bei den diversen Rettungsschirmen gewonnen. vierteljährlich ■ Neue Online-Vortragsreihe: Brainfood – Impulse zur Mittagspause nicht berücksichtigt werden würden. Unzählige Telefona- Bezugspreis ■ Paritätische Akademie Süd: Fortbildung zum/zur Sozialwirt*in te, Brandbriefe, Social-Media Kampagnen und später auch Und wie geht es weiter? Die zweite Welle wird befürchtet. In Im Mitgliedsbeitrag enthalten. Videokonferenzen waren nötig, um die Sozialwirtschaft zu anderen europäischen Ländern ist sie schon angekommen. Jahresabonnement 8 Euro für Nichtmitglieder 38 · NACHRICHTEN UND SCHL AGLICHTER AUS DEM VERBAND stützen und vor dem wirtschaftlichen Ruin zu bewahren. In Ich hoffe, wir haben aus der Krise gelernt und sind besser einigen Angebotssegmenten und bei den Corona-beding- vorbereitet. Vieles muss und darf sich nicht wiederholen. Auflage 40 · NEUE MITGLIEDSORGANISATIONEN ten Mehrkosten und Mindereinnahmen insbesondere der 4.500 Exemplare Eingliederungshilfe sind wir immer noch nicht dem eher Applaus war und ist nicht genug. Fotos 42 · PARITÄT VOR ORT Titelbild: Tutatamafilm · Shutterstock ■ Pforzheim: Sozialer Austausch – Unsicherheit in der Soziallandschaft bleibt Ihre Archiv, Mitgliedsorganisationen, ■ Bodenseekreis: Hilfe für Vereine bei der Digitalisierung Photocase, iStockphoto, Shutterstock, AdobeStock, Pixabay, Freepik und Unsplash Sonderheft zum Hackathon Ursel Wolfgramm Vorstandsvorsitzende Die Sonderausgabe von PARITÄTinform unter https://www.paritaet-bw.de/node/13185 Bitte beachten Sie die Beilage der sowohl als interaktive pdf-Datei als auch Paritätischen Akademie Süd. als epub-Datei. | PARITÄTinform | September 2020 | 3
SOZIALE ARBEIT IN DER CORONA-KRISE Arbeitnehmer*innen in der Automobilindustrie 1,75 Mio. Im Gegensatz zu kommerziellen Anbietern sind die zentra- Arbeitnehmer*innen len Akteure der Sozialwirtschaft dem Gemeinwohl streng in der Sozialwirtschaft 5,7 Mio. verpflichtet und dürfen kaum Risikorücklagen bilden. Sie orientieren sich unabhängig von ihrer religiösen oder welt- anschaulichen Überzeugung an der Würde des Menschen, der sozialen Gerechtigkeit, der Solidarität und der Subsidi- Männer Sozial- Frauen arität. Die Träger der Dienste und Einrichtungen tun dies 25% wirtschaft 75% auch nicht um ihrer selbst willen – der Sozialstaat ist im Grundgesetz verankert. Quelle: https://www.mehr-wert-als-ein-danke.de/sozialwirtschaft/ Menschen in Notlagen unterstützen Ziel des modernen Sozialstaates ist es, Menschen in Notla- dass dies eine „Klausel ist, die für Wirtschaftsunternehmen gen zu helfen und diese, wenn möglich erst gar nicht ent- nicht besteht“.1 In Baden-Württemberg werden einige Be- stehen zu lassen. Trotz dieser Tatsachen und dem Wissen, reiche inzwischen der kritischen Infrastruktur zugerechnet, dass Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung andere bleiben außen vor. Warum? betroffen sind oder in prekären Beschäftigungsverhältnis- sen arbeiten, in Krisen besonders leiden und obwohl eine Es steht außer Frage, die Träger der sozialen Dienste und Vielzahl von Menschen täglich die Dienstleistungen und Einrichtungen haben in den letzten Monaten Unglaubliches Einrichtungen von gemeinnützigen Trägern in Anspruch geleistet und das im Spannungsfeld zwischen dem Wohl- Walling · Unsplash SOZIALE ARBEIT nehmen bzw. auf diese angewiesen sind, wurden sie erst ergehen der Adressant*innen, der Sorge um Mitarbeitende spät Teil des staatlichen Rettungsschirms. Ohne die Arbeit und die der eigenen wirtschaftlichen Existenz. Sie waren für der Wohlfahrtsverbände, allen voran der des PARITÄTI- die Menschen da und haben vielfach kreative Lösungen für IN DER KRISE? SCHEN, der als Erstes auf die Auswirkungen der Kontakt- Probleme gefunden. Sie haben durch ihre professionelle beschränkungen für die Träger der sozialen Einrichtungen Unterstützung alles dafür getan, dass die Krise die Men- und Dienste aufmerksam machte, wären sie es vielleicht schen nicht noch härter trifft und das, obwohl die Branche heute noch nicht. vielfach mit Niedriglöhnen und Personalmangel kämpft. Gedanken zur Systemrelevanz Was ist diese Tätigkeit, wenn nicht „systemrelevant“? infolge der Pandemie Ein starker Sozialstaat in der Zeit der Krise? Was bedeutet dies für die Zukunft? Mittlerweile wurden mehrere Schutzpakete verabschiedet und die Beantragung von Leistungen für Adressat*innen er- Es gilt, weiter aufmerksam zu sein und sehr genau zu be STUTTGART Seit Monaten herrscht infolge der Corona-Pandemie in der Gesellschaft der Ausnahmezustand. leichtert. Leistungsträger für die sozialen Dienste, die ihren obachten, welche Folgen und Konsequenzen das Krisenma- Weltweit greifen umfangreiche Maßnahmen, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Das öffentliche Leben Bestand nicht mit vorrangig verfügbaren Mitteln absichern nagement im Zuge der Corona-Pandemie für die Dienste stand zeitweise nahezu still. Ausgangsbeschränkungen, Grenzkontrollen, Verhaltensregeln, die vorübergehende können, haben die Möglichkeit, einen Antrag auf einen Zu- und Einrichtungen der sozialen Arbeit, aber auch für die Einstellung des Betriebs an Schulen und Kindertageseinrichtungen, die Schließung von sozialen und öffentlichen schuss nach dem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) Profession selbst hat. Klar ist allerdings schon jetzt, dass Diensten und Einrichtungen und die Frage der Aufrechterhaltung der kritischen Infrastruktur haben in den letzten zu stellen und erstmals wurde ein KfW-Sonderkreditpro- es stärker denn je nötig sein wird, sich politisch zu posi- Monaten nahezu alle Handlungsfelder der sozialen Arbeit betroffen. gramm zur Liquiditätssicherung speziell für gemeinnützige tionieren und sich Gehör zu verschaffen. Die bestehende I Organisationen aufgelegt. Die Programme sind ein erster soziale Infrastruktur muss auf jeden Fall erhalten bleiben. Schritt. Klar ist aber auch, nicht alle werden ohne weiteres Mehr noch: Sie muss im Zuge der weiteren Bekämpfung an diesen Programmen teilhaben können und wie es mit der Krise gestärkt und ausgebaut werden. Soziale Arbeit n der Krise wurde wieder einmal deutlich, dass die Unterschätzt und fast vergessen den nicht in den Sozialgesetzbüchern verankerten Leistun- ist systemrelevant! Arbeit der Sozialwirtschaft in der politischen Diskus- gen weiter geht, ist offen. Im Zuge der Ökonomisierung sion kaum Beachtung findet und auch ihre Relevanz Die Sozialwirtschaft und hier auch der gemeinnützige der Krise wird sich unter anderem auch zeigen, welche » Kontakt immer wieder infrage gestellt wird. Das zeigt sich zum Bei- Sektor ist in Baden-Württemberg eine dynamische und Relevanz die Soziale Arbeit in unserem Sozialstaat erfährt. Sabine Oswald, Leitung Bereich spiel daran, dass nur wenige Bereiche der sozialen Arbeit als wachsende Branche, die auf Veränderungen reagiert. Der Krisenintervention und Existenzsicherung „systemrelevant“ anerkannt sind bzw. zur „kritischen Infra- Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz, das En- Systemrelevant oder irrelevant? Der PARITÄTISCHE Baden-Württemberg struktur“ gehören und die Branche erst durch den Einfluss gagement zur Integration von geflüchteten Menschen, die oswald@paritaet-bw.de der Wohlfahrtsverbände überhaupt in ein soziales Schutz- steigende Nachfrage infolge der Alterung der Gesellschaft Unter anderem anhand des Beispiels der Förderpraxis des www.paritaet-bw.de paket aufgenommen wurde. Verantwortliche in Politik und oder auch zunehmende soziale Probleme führen zum Rettungsschirmes lässt sich aufzeigen, dass soziale Arbeit Gesellschaft müssten ein deutliches Interesse daran haben, weiteren Ausbau des Angebots. Durch die Schaffung von nicht ohne weiteres als „systemrelevant“ anerkannt wird. die Relevanz der professionellen sozialen Arbeit und damit Arbeitsplätzen und den stetigen Anstieg der Wirtschafts- Wer am Rettungsschirm partizipieren will, muss sicherstel- 1 HAWK: Prof. Dr. Leonie Wagner (3. APRIL 2020). Zu den sozialen Folgen des Coronavirus. auch der Sozialwirtschaft insgesamt zu erkennen und die leistung gewinnt die Sozialwirtschaft auch mit Blick auf die len, dass die Tätigkeit zur Bekämpfung der Pandemiefolgen Abgerufen 14.04.2020 von https://www.hawk.de/de/newsportal/pressemeldungen/ soziale Infrastruktur im Land zu sichern und auszubauen. Gesamtwirtschaft an Bedeutung (siehe Diagramm S. 5). beiträgt. Prof. Dr. Leonie Wagner weist zurecht darauf hin, soziale-arbeit-muss-als-systemrelevant-eingestuft-werden. 4 | PARITÄTinform | September 2020 | | PARITÄTinform | September 2020 | 5
SOZIALE ARBEIT IN DER CORONA-KRISE CORONA UND SOZIALSTAAT JUNGE MENSCHEN Garidy Sanders · Unsplash STABILITÄT IN DER KRISE? IN DEN BLICK NEHMEN UND STÄRKEN Zur Bedeutung des Sozialstaats für Wirtschaft und Gesellschaft Zwischenbilanz in Corona-Zeiten: Eine wirksamere Jugendpolitik ist notwendig DÜSSELDORF Der Sozialstaat zeigt in der gegenwärtigen Corona-Krise seine Stärken: Er sichert Menschen im Falle STUTTGART Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beeinflussen seit Mitte März 2020 das des Verlustes ihres Erwerbseinkommens ab und trägt durch das Kurzarbeitergeld zur Beschäftigungssicherung soziale und wirtschaftliche Leben und damit auch das Leben von jungen Menschen. Doch wie ging es ihnen bei. In der Krise wurden einzelne Sozialleistungen ausgebaut oder einfacher zugänglich gemacht. Beispiele sind in der Zeit des Lockdowns? Was ist in der momentanen Phase der Öffnung für die Entwicklung von Jugendli- die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes oder der vereinfachte Zugang zur Grundsicherung. chen und jungen Erwachsenen notwendig? Was muss zukünftig beachtet werden? Ein kurzer Rück- und Aus- Die Rentenanpassung wurde dagegen im Sommer ganz normal umgesetzt – trotz Warnungen vor vermeintlichen blick zeigt, wie junge Menschen die Corona-Zeit erlebt haben und welche Anliegen in den Blick genommen Ungerechtigkeiten und Finanzierungsproblemen. werden müssen. Aus Sicht der Bürger*innen sorgt der Sozialstaat damit für Diese Arbeitsteilung ist angesichts der Schließung von Erste Studien und Aussagen von jungen Menschen geben Der PARITÄTISCHE Baden-Württemberg begrüßt, dass die Sicherheit – materiell, aber auch indem er zu einem Gefühl Schulen und Kindergärten für eine Zeit lang ausgesetzt einen Einblick in ihre Situation. Lange Zeit fühlten sie sich Landespolitik den Blick auf junge Menschen über das Da- von Stabilität beiträgt. Volkswirtschaftlich trägt er durch sei- worden. Und auch die gewohnten Abläufe in der Alten- auf politischer Ebene nur als Schüler*in bzw. Studierende sein als reine Schüler*innen hinaus erweitert und sich in ne Leistungen dazu bei, dass die Nachfrage nach Gütern und Krankenpflege waren betroffen: Der gewohnte fa- wahrgenommen. Die Regelung des Schulbesuchs hinterließ einem ersten Schritt für die Öffnung der Angebote der und Dienstleistungen stabil bleibt. Auch die Beschäftigung miliäre Umgang wurde etwa durch Besuchssperren in den Eindruck, dass es weniger um ihre Bildungssituation, Jugendarbeit sowie der Freizeiten in den Sommerferien in Pflegediensten, Krankenhäusern, Schulen oder Kinderta- Seniorenheimen unterbrochen. Das Zusammenspiel von sondern vielmehr um die Ermöglichung der Berufstätigkeit eingesetzt hat. gesstätten ist ein Teil dieses Stabilisierungsmechanismus. staatlich regulierten und finanzierten Dienstleistungen der Eltern ging. Ihre jugendspezifischen Lebensstile sind Und die Neuregelungen von Sozialleistungen – über die im und familiärer Sorgearbeit ist durcheinander gewirbelt weggefallen, der Kontakt zu Peers eingeschränkt. Gerade Ernsthafte Jugendpolitik in Krisenzeiten Detail sicher gestritten werden kann – zeigen, dass Sozial- worden. Was daraus folgt, ist alles andere als klar, au- die Jugendphase hat massive Einschnitte erfahren. Wenn politik flexibel auf Krisen reagieren kann. Der Sozialstaat ßer dem Wunsch nach der Rückkehr zur Normalität bei man bedenkt, dass diese Phase entscheidend für die eigene Es ist grundsätzlich notwendig, die Lebenswelten, Interes- ist damit ein wichtiges Instrument der Krisenbewältigung. vielen Menschen. Persönlichkeitsentwicklung, die schulische bzw. berufliche sen und Bedarfe von jungen Menschen ernst zu nehmen, Qualifizierung und die Verselbstständigung ist, verwundert auch und insbesondere in der Pandemiezeit. Der PARITÄTI- Die Corona-Krise ist anders als bisherige Krisen Was nehmen wir in die „neue Normalität“ mit? es nicht, dass die Zielgruppe der jungen Menschen durch SCHE Baden-Württemberg fordert deshalb eine wirksamere die Pandemie verunsichert und belastet ist. Zudem ist noch Jugendbeteiligung und eine Jugendpolitik, die Perspekti- Aber: Die aktuelle Krise hat besondere Auswirkungen, In der Krise wird damit nicht nur sichtbar, welche Rolle der unbekannt, wie die familiäre Situation erlebt wurde bzw. ob ven und Anliegen von jungen Menschen ernsthaft einbe- denn sie beeinträchtigt nicht nur die Wirtschaft und lässt – Sozialstaat für die ökonomische und gesellschaftliche Sta- und inwieweit junge Menschen in der Zeit der Kontaktbe- zieht. Durch die Corona-Pandemie wurden grundlegende schlimm genug – Menschen um ihren Arbeitsplatz und ihr bilität spielt. Sichtbar wird auch, welche Bedeutung soziale schränkungen verstärkt häusliche Gewalt erfahren haben. gesellschaftliche Veränderungsprozesse angestoßen, die Einkommen fürchten. Die Sorge um die Gesundheit (auch Dienstleistungen für das alltägliche Leben der Menschen eine stärkere Digitalisierung sowie ein größeres Nachhal- um die Gesundheit anderer) und die politischen Maßnah- haben. Es wäre wichtig und wünschenswert, diese Erfah- Wirksamere Jugendbeteiligung tigkeitsbewusstsein mit sich bringen werden. Bei diesen men zur Eindämmung des Virus beeinträchtigen den Um- rung in die „neue Normalität“ mitzunehmen und den so- Zukunftsfragen ist die besondere Perspektive der jungen gang der Menschen miteinander. Und damit ist ein Teil des zialen Dienstleistungen die Wertschätzung und finanzielle Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf junge Men- Menschen zu berücksichtigen. Folglich muss Jugendpolitik Sozialstaats tatsächlich in die Krise geraten. Der Sozialstaat Ausstattung zu geben, die ihrer Rolle entsprechen. schen verdienen somit mehr Aufmerksamkeit. Aktuell und weitergedacht und -entwickelt werden, um grundsätzlich steht nicht neben der Gesellschaft. Durch Angebote zur perspektivisch ist es zwingend notwendig, sie in politische auch in Krisenzeiten wirksam zu sein. Kinderbetreuung aber auch durch die Finanzierung und und gesellschaftliche Prozesse verstärkt miteinzubezie- Bereitstellung professioneller Alten- und Krankenpflege » Kontakt hen. Die für die Entwicklung der jungen Menschen not- » Kontakt formt der Sozialstaat die Art und Weise, wie Familien leben. Dr. Florian Blank, Wirtschafts- und wendigen Lebenswelten, der Austausch mit Gleichaltrigen Barbara Meier Fotograf: Karsten Schöne Der Ausbau der Kinderbetreuung ermöglicht es Müttern Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) oder der Zugang zu Vertrauenspersonen außerhalb des Leitung Jugend und Bildung (und Vätern) beispielsweise, stärker am Erwerbsleben teil- der Hans-Böckler-Stiftung familiären Umfelds waren zu wenig im Blickfeld. Umso Der PARITÄTISCHE Baden-Württemberg zunehmen. Sozialpolitik beeinflusst, was in einem Haushalt florian-blank@boeckler.de wichtiger ist es, junge Menschen zu beteiligen und ihre meier@paritaet-bw.de erledigt werden muss und wer dafür zuständig ist. www.wsi.de Stimme zu hören. www.paritaet-bw.de 6 | PARITÄTinform | September 2020 | | PARITÄTinform | September 2020 | 7
SOZIALE ARBEIT IN DER CORONA-KRISE BERUFSTÄTIGE FRAUEN ZWISCHEN KINDERN, KARRIERE UND CORONA Wie mit der Ungewissheit umgehen? Vor dem Hintergrund der drei Belastungsdimensionen von Einkommen, Arbeitsteilung und Bildung der Kinder über- Frauen müssen durch die finanzielle Aufwertung rascht es nicht, dass vorrangig berufstätige Mütter nach den systemrelevanter Berufe gestärkt werden ersten Monaten der Pandemie von Erschöpfung, Schuldge- fühlen und Überforderung berichten (Andresen et al. 2020). Auch die Ungewissheit, ob und für wie lange in den kom- menden Monaten mit weiteren Kita- und Schulschließungen LUDWIGSBURG Die in vielen Familien fragile Balance von Kindern und Karriere ist in den letzten Monaten zu rechnen ist, beschäftigt viele weiterhin. Hier braucht es stark durch die Corona-Pandemie aus dem Gleichgewicht gebracht worden. Schon vor COVID-19 zeigten Studien, Konzepte, um flächendeckende Schließungen zu verhindern wie sehr Eltern unter Druck stehen, berufliche Verpflichtungen mit ihrer Sorgeverantwortung für Kinder zu und Quarantäneregelungen lokal zu beschränken. vereinbaren. Im eng getakteten Familienalltag erlebte ein Teil der Eltern die Monate des „Lockdowns“ daher als willkommene Entlastung, da berufliche, schulische oder private Termine sowie Wegezeiten Mittelfristig ist es geboten, Frauen durch eine finanzielle entfielen (Andresen et al. 2020). Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die negativen Aufwertung systemrelevanter Berufe in Pflege, Erziehung, Auswirkungen der Corona-Krise vor allem für berufstätige Mütter überwiegen. Sozialer Arbeit und Gesundheit zu stärken und Männer mehr in die Sorgearbeit einzubinden. Es bleibt zu hoffen, D dass wenigstens ein paar der männlichen „Hoffnungsträ- ger“ in ihrer Homeoffice-Zeit auf den Geschmack einer gleichberechtigten Arbeitsteilung gekommen sind. ies gilt zunächst für die Einkommenssitua- reduziert haben (Bünning et al. 2020). Die Sorge vor einem tion vieler Mütter, die auch schon vor der „Backlash“, einer „entsetzlichen Retraditionalisierung“ (All- Pandemie durch familienbedingte Teilzeit- mendinger 2020) der elterlichen Arbeitsteilung ist damit beschäftigungen ein großes Armutsrisiko eingegangen begründet. Allerdings scheint es eine potenzielle Chance Literatur sind. Zusätzlich hat COVID-19 eindrücklich vor Augen ge- für mehr Gleichverteilung der elterlichen Sorgearbeit vor al- Allmendinger, Jutta (2020): Die Frauen verlieren ihre Würde. In: Zeit Online, 12.05.2020. führt, dass es vor allem Frauen sind, die in systemrelevanten lem in den Familien zu geben, in denen die Mutter in einem Andresen, Sabine; Lips, Anna; Möller, Renate; Rusack, Tanja; Schröer, Wolfgang; Thomas, Branchen wie Pflege, Gesundheit, soziale Arbeit, Erziehung systemrelevanten Beruf außer Haus tätig ist, während der Severine; Wilmes, Johanna (2020): Kinder, Eltern und ihre Erfahrungen während der oder dem Einzelhandel tätig sind. Trotz ihres Einsatzes an im Homeoffice tätige Vater zuhause die Kinderbetreuung Corona-Pandemie. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie KiCo. Hildesheim. „vorderster Front“ zählen die Beschäftigten dieser Berufe leistet. Gleiches gilt für Paare, in denen beide im ähnlichen Boll, Christina; Schüller, Simone (2020): Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos – oft zu den „Working Poor“, für die das Einkommen kaum Arbeitsumfang zuhause im Homeoffice arbeiten. Anlass empirisch gestützte Überlegungen zur elterlichen Aufteilung der Kinderbetreuung vor, während und nach dem COVID-19 Lockdown. Hg. v. Deutsches Institut für Wirtschafts zum Leben reicht. Der Hoffnung, Corona könnte diesen ge- zur Euphorie ist trotzdem nicht geboten, denn je nach forschung. Berlin (SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Research, 1089). sellschaftlich zentralen Tätigkeiten auch monetär zu mehr Berechnung zählen gerade einmal sechs bis acht Prozent Bünning, Mareike; Hipp, Lena; Munnes, Stefan (2020): Erwerbsarbeit in Zeiten von Coro- Wertschätzung verhelfen, sind bislang keine Taten gefolgt. aller Paare zu diesen „Hoffnungsträgern“ (Boll und Schüller na. Hg. v. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Berlin (WZB Ergebnisbericht). Neben diesen systemrelevanten Bereichen arbeiten Frauen 2020). Durch die Kita- und Schulschließungen wurden zu- Müller, Kai-Uwe; Samtleben, Claire; Schmieder, Julia; Wrohlich, Katharina (2020): überwiegend in Branchen, die derzeit von Kurzarbeit oder dem Alleinerziehende besonders hart getroffen, die selte- Corona-Krise erschwert Vereinbarkeit von Beruf und Familie vor allem für Mütter. Er- Entlassungen betroffen sind, wie z.B. der Gastronomie oder ner in Homeoffice-fähigen Berufen tätig sind als Mütter in werbstätige Eltern sollten entlastet werden. In: DIW Wochenbericht 87 (19), S. 331–340. Kunst und Kultur. Insbesondere die angespannte Einkom- Paarfamilien und damit zunächst ohne jegliche Betreuung Porsch, Raphaela; Porsch, Torsten (2020): Fernunterricht als Ausnahmesituation. Befunde Walter de Gonflat · freepik einer bundesweiten Befragung von Eltern mit Kindern in der Grundschule. In: Detlef menssituation der 1,4 Millionen alleinerziehenden Mütter auskommen mussten, bis erste Angebote für Notbetreuung Fickermann und Benjamin Edelstein (Hg.): „Langsam vermisse ich die Schule…“. Schule in Deutschland dürfte sich dadurch weiter verschärfen. wieder öffneten (Müller et al. 2020). Welche Auswirkungen während und nach der Corona-Pandemie. Münster: Waxmann, S. 61–78. Aktuell gibt ein Drittel der Familien an, aufgrund der Pan- die Pandemie langfristig auf die Arbeitsteilung von Müttern Zinn, Sabine; Bayer, Michael (2020): Subjektive Belastungen der Eltern durch Schulschlie- demie größere Geldsorgen zu haben (Andresen et al. 2020). und Vätern hat, bleibt abzuwarten. ßungen zu Zeiten des Corona-bedingten Lockdowns. Deutsches Institut für Wirtschafts- forschung. Berlin (SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Research). ihnen Erfahrungen mit E-Mail-Kommunikation oder Textver- Spagat zwischen Beruf und Familie Homeoffice und Homeschooling arbeitung fehlten. Zudem hatten viele Kinder kaum persönli- chen Kontakt zu Lehrer*innen. Hauptansprechpartner*innen Als zweiter Belastungsfaktor erweist sich derzeit die Ar- Ganz neue Herausforderungen stellen sich für Eltern auch bei Fragen waren vor allem die Eltern. Gerade Alleinerziehen- beitsteilung von Eltern beim täglichen Spagat zwischen durch das Homeschooling von Kindern. Aufgrund mangeln de sowie Eltern mit einem niedrigen Bildungsabschluss fühl- » Kontakt Beruf und Familie. Pandemiebedingt wurden Kitas und der digitaler Schullernplattformen sowie mangelnder digitaler ten sich in dieser Situation im Stich gelassen (Zinn und Bayer Prof. Dr. Johanna Possinger, Professorin Schulen geschlossen; auch die Kinderbetreuung durch Kenntnisse vieler Lehrer*innen erhielten die meisten Schul- 2020). Der vielfach vorhandene Anspruch von Eltern, ihre für Frauen und Geschlechterfragen in Großeltern entfiel in vielen Fällen komplett. Beides stellte kinder ihre Aufgaben in Form von E-Mails, die das Lehrperso- Kinder bestmöglich zu fördern, erwies sich in der Pandemie der Sozialen Arbeit an der Evangelischen berufstätige Eltern vor die gewaltige Frage, wie sie für un- nal an die Eltern verschickte (Porsch und Porsch 2020). Selbst oft als nicht umsetzbar, auch wenn Arbeitgeber und Medien Hochschule Ludwigsburg absehbare Zeit ihren Alltag organisieren sollen. Als Reak- Kinder, die versiert mit dem Smartphone oder dem Tablet kolportierten, die Gleichzeitigkeit von Homeoffice und Home- j.possinger@eh-ludwigsburg.de tion sind es vor allem die Mütter, die ihre Arbeitsstunden umgehen, hatten Probleme mit dem Lernen auf Distanz, da schooling sei nur eine Frage der Organisation. www.eh-ludwigsburg.de 8 | PARITÄTinform | September 2020 | | PARITÄTinform | September 2020 | 9
SOZIALE ARBEIT IN DER CORONA-KRISE BENACHTEILIGTE SIND BESONDERS BETROFFEN Teilhabe und Transformation als Herausforderung I n Baden-Württemberg waren im August rund 294.000 Menschen arbeitslos gemeldet. Fast 85.000 Menschen mehr als im Vorjahresmonat sind betrof- fen. Ein Anstieg um rund 40 Prozent. Bei jungen Menschen bis 25 Jahre, die den Einstieg in Arbeit suchen, gar um 45 Prozent. Die kritische Situation am Arbeitsmarkt wird Beschäftigungs- und Qualifizierungsunternehmen (SBU). Für benachteiligte Menschen spielen SBU dabei die zentrale Rolle. Umso gravierender ist es, dass gerade die SBU selbst durch die Auswirkungen der Covid-19-Krise in Existenznöte geraten sind. für den Arbeits- und Ausbildungsmarkt durch die historisch hohe Kurzarbeit im Land verschärft. Gerade in der Krise zeigt sich, dass die Strukturpolitik im Im Mai dieses Jahres bezogen nach der Hochrechnung Bereich der Beschäftigungs- und Qualifizierungsförde- der Bundesagentur für Arbeit (BA) fast 900.000 Menschen rung falsch ausgerichtet ist. SBU müssen unter äußerst konjunkturelles Kurzarbeitergeld. Für März bis August 2020 unsicheren strukturellen und wirtschaftlichen Rahmen- verzeichnet die BA über zwei Millionen Menschen, die von bedingungen agieren. In der Krise werden die negativen Betrieben für eine mögliche Kurzarbeit angezeigt wurden. Auswirkungen dieser fehlenden Verankerung der SBU als Zum Vergleich: In der Wirtschaftskrise 2008/09 betraf der Teil der sozialen Infrastruktur deutlich. Bisher ist es nur mit Spitzenwert der realisierten Kurzarbeit im Mai 2009 rund größter Mühe gelungen, die staatlichen Corona-Hilfen für 330.000 Menschen. soziale Einrichtungen auf die Erfordernisse der SBU anzu- passen. Ohne weitere finanzielle Hilfen rechneten im Mai Auch am Ausbildungsmarkt ist die Krise angekommen. rund 40 Prozent der SBU im PARITÄTISCHEN mit der end- Für endgültige Aussagen ist es hier noch zu früh. Aber die gültigen Schließung von Betriebsteilen oder des gesamten Tendenz zeigt ebenfalls eine deutliche Negativentwicklung. Unternehmens, bedingt durch die finanziellen Einbußen in Die Industrie- und Handelskammern sowie die Handwerks- Folge der Corona-Krise. kammern im Land melden zu Beginn des Ausbildungsjah- res einen Rückgang von rund 7.300 Neuverträgen. Krise als Chance? Benachteiligte sind besonders betroffen Das Bild der Krise als Chance wird derzeit häufig bemüht. Ob sich dieser positive Blick auf die künftige soziale Arbeits- Die Krise betrifft gering qualifizierte und prekär beschäf- marktpolitik übertragen lassen wird, ist offen. Für eine po- tigte Menschen besonders. Viele von ihnen können kein sitive Wendung müssen für Betroffene mehr und zukunfts- Kurzarbeitergeld in Anspruch nehmen und verlieren ihren fähige Angebote zur Teilhabe an Arbeit und Ausbildung Arbeitsplatz. Junge Menschen mit schlechteren Ausgangs- geschaffen werden. Dafür brauchen SBU einen sicheren bedingungen haben deutlich geringere Chancen auf eine und nachhaltigen Handlungsrahmen als Teil der sozialen Berufsausbildung. Diese Gruppen sind auf mehr Förderung Infrastruktur. angewiesen. Doch die Entwicklungen der letzten Jahre und Monate weisen in die andere Richtung. Die öffentlich ge- Der finanzielle Kahlschlag in der sozialen Arbeitsmarktpoli- förderte Beschäftigung stagniert seit Jahren auf einem viel tik in der Wirtschaftskrise 2008/09 darf sich trotz absehbar zu niedrigen Niveau, nachdem sie seit der Wirtschaftskrise angespannter öffentlicher Haushalte nicht wiederholen. Im 2009 um mehr als siebzig Prozent zurückgefahren wurde. Gegenteil, notwendig ist eine Beschäftigungs-, Qualifizie- Rund 65.000 langzeitarbeitslosen Menschen im Land stan- rungs- und Infrastrukturoffensive. Diese darf sich keinesfalls den im August noch rund 5.000 Menschen gegenüber, die allein auf Menschen beschränken, die (noch) in Arbeit sind öffentlich geförderte Arbeitsgelegenheiten oder Beschäf- und arbeitslose Menschen aus den Augen verlieren. Das tigungsverhältnisse in Anspruch nehmen konnten. Auch Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der BA hat die Förderung von Berufsausbildungen ist rückläufig. Die dazu die Richtung klar aufgezeigt: „Entscheidend wird sein, Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zeigen wie ein dauerhafte Schäden zu vermeiden. Neben den Maßnahmen Brennglas, dass in der sozialen Arbeitsmarktpolitik viel zu zum Erhalt von Betrieben und Jobs kommt es daher darauf wenig getan wurde und wird. Nimmt man dazu die digita- an, die Arbeitslosigkeit zügig wieder abzubauen und einer le und ökologische Transformation der Wirtschaft in den ansonsten drohenden Verfestigung entgegenzuwirken.“ STUTTGART Der Arbeits- und Ausbildungsmarkt ist in der Corona-Krise eingebrochen. Allein die Blick, wird deutlich, vor welchen enormen Herausforde- (vgl. https://www.iab-forum.de/der-arbeitsmarkt-in-der- Eindämmung durch den massiven Einsatz von Kurzarbeit und Prämien für Ausbildungsbetriebe rungen die Arbeitsmarktpolitik gerade für benachteiligte schwersten-rezession-der-nachkriegsgeschichte/) konnte bislang Schlimmeres verhindern. Förderungen für bereits arbeitslose Menschen und Jugend- Menschen steht. liche ohne Ausbildung stagnieren auf niedrigem Niveau oder gehen zurück. Gleichzeitig müssen » Kontakt viele soziale Beschäftigungs- und Qualifizierungsunternehmen ums Überleben kämpfen. Die Politik Soziale Beschäftigungs- und Ralf Nuglisch, Leitung Bereich muss darauf schnell reagieren, zumal die ökologische und digitale Transformation auch in der Arbeit und Qualifizierung Qualifizierungsunternehmen in der Krise sozialen Arbeitsmarktpolitik erhebliche Anstrengungen fordert. Der PARITÄTISCHE Baden-Württemberg Teilhabe an Erwerbsarbeit, Ausbildung und berufliche nuglisch@paritaet-bw.de Qualifizierung und Integration sind Aufgabe der sozialen www.paritaet-bw.de 10 | PARITÄTinform | September 2020 | | PARITÄTinform | September 2020 | 11
SOZIALE ARBEIT IN DER CORONA-KRISE FAMILIEN: GRÖSSTER PFLEGEDIENST IN DEUTSCHLAND Corona-Pandemie bremst Unterstützungs- Foto: Tagespflege und Entlastungsangebote Ostfildern In der Zeit, in der meine Mutter Die bekannten in der Betreuungsgruppe In der Sitztanzgruppe Gesichter und ist, kann ich nun wieder haben wir immer viel freundlichen Mitarbeiter in Ruhe einkaufen gehen.“ Spaß. Endlich können wir haben mir gefehlt.“ wieder zusammen lachen, Foto: free to use sounds · unsplash Ich bin froh, auch wenn wir Abstand dass ich nach der halten müssen.“ Corona-Zwangspause die Tagespflege wieder besuchen kann, um unter meines gleichen zu sein. Das finde Mein Vater vermisst Ich freue mich, dass ich sehr schön!“ die Betreuungsgruppe. die Tagespflege wieder Leider bekommt er geöffnet hat. Endlich wieder Foto: ASB Luftnot mit der Maske.“ ein Stück Normalität und Abwechslung im Alltag.“ Foto: Joachim Schwarz, Tagespflege Ostfildern STUTTGART In Deutschland werden laut statistischem Lockdown hinterlässt Spuren einer Herausforderung Diese Angebote sind jedoch gesetzlich an fes- Bundesamt 76 Prozent der pflegebedürftigen Menschen wurden. Dabei spielen, te Erbringungsorte gebunden. Es müssen also in der eigenen Häuslichkeit gepflegt. Alleine in Baden- Mit dem Lockdown und Sozial Distancing der Corona- neben der Angst vor Anste- zukünftig im Rahmen von Pandemieplänen Wege Württemberg entspricht dies 302.290 Menschen. Davon Pandemie wurden die Unterstützungs- und Entlastungs- ckung, emotionale Beziehungen geschaffen werden, die Angebote, wie beispielsweise werden 226.987 ausschließlich von Angehörigen gepflegt. angebote sowie die Förderung von Fähigkeiten, z. B. durch und Kohärenz innerhalb der Fami Tagespflege-„Zuhause“ oder spezielle Betreuungseinheiten Betreuungsgruppen, Tagespflege und Pflegekurse, weitge- lien eine Rolle. zur Förderung von Fähigkeiten „zuhause“, als professionelle Die Pflegeversicherung folgt dem Grundsatz, pflegebe- hend stillgelegt, bestenfalls konnten sie nur in sehr einge- Leistungen in der Häuslichkeit zu ermöglichen. Neben der dürftigen Bürger*innen so lange wie möglich ein Leben schränktem Maße durchgeführt werden. Blick in die Zukunft dauerhaften Aufwertung der Pflegeberufe ist auch an den zu Hause zu ermöglichen. Unterstützung erhalten sie von größten „Pflegedienst“ in Deutschland – die pflegenden pflegenden Angehörigen. Zur Entlastung und Stabilisie- Die Pandemie-Maßnahmen zum Schutz der vulnerablen Ri- Das Wegbrechen elementarer stabilisierender Strukturen Angehörigen – zu denken. rung der häuslichen Pflegesituationen wurde innerhalb sikogruppe der älteren und pflegebedürftigen Menschen in der häuslichen Pflege und Betreuung muss zukünftig der Pflegeversicherung ein Netzwerk von Beratungs-, haben Spuren hinterlassen. In der Gruppe der pflegebe- vermieden werden, um stabile Pflegesituationen in der Schulungs-, Betreuungs- und Unterstützungsangeboten dürftigen Menschen zeigen sich Rückschritte der kogniti- Häuslichkeit zu gewährleisten. In Lockdown-Zeiträumen » Kontakt aufgebaut. Der Besuch einer Tagespflege oder einer spezi- ven und körperlichen Fähigkeiten, die im Besonderen in der für soziale Einrichtungen wäre gerade für Menschen mit Angela Querfurth, Leitung Bereich alisierten Betreuungsgruppe (z. B. für Menschen mit einer Kommunikations- und Bewegungsfähigkeit der Betroffenen einer demenziellen Erkrankung der Kontakt sowie die För- Ältere Menschen und Pflege Demenzerkrankung) dienen neben der Entlastung pflegen- sichtbar werden. Pflegende Angehörige berichten, dass die derung und Erhaltung von Fähigkeiten durch qualifiziertes Der PARITÄTISCHE Baden-Württemberg der Angehöriger der Förderung von kognitiven und phy veränderten Routinen innerhalb der Familien und des All- Betreuungs- und Pflegepersonal der Tagespflege oder spe- querfurth@paritaet-bw.de sischen Fähigkeiten pflegebedürftiger Menschen. tags sowie die fehlenden Förderungen von Fähigkeiten zu zialisierter Betreuungsgruppen wichtig. www.paritaet-bw.de 12 | PARITÄTinform | September 2020 | | PARITÄTinform | September 2020 | 13
SOZIALE ARBEIT IN DER CORONA-KRISE AUSWIRKUNGEN DER CORONA-PANDEMIE AUF DIE FREIWILLIGENDIENSTE Durch eine persönliche und zugewandte Begrüßung Erfahrungen der PARITÄTISCHEN Trägerorganisationen am Telefon oder über videobasierte Gespräche können die Freiwilligen unsere Haltung ihnen gegenüber – STUTTGART Im Bereich des PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg leisten jedes Jahr rund 3.500 „Sie sind uns wichtig, wir sind für Sie auch virtuell da“ – meist junge Menschen einen Freiwilligendienst. Freiwillige im FSJ und im Bundesfreiwilligendienst erfahren und damit Vertrauen aufbauen. Auch bei haben in der schwierigen Corona-Zeit in vielen Bereichen mitgeholfen, die verschiedensten Perso- Bewerber*innen mit hohem Unterstützungsbedarf lassen nengruppen in der sozialen Arbeit mitzuversorgen, zu betreuen und zu begleiten. Zugleich mussten sich in ausführlichen Gesprächen Lösungen finden, welche sie selbst wie auch die Einsatzstellen und die sieben PARITÄTISCHEN Träger der Freiwilligendienste Einsatzstelle geeignet sein könnte. Diese Gesprächskultur ist mit vielen Einschränkungen und Veränderungen fertig werden. Informationen zum FSJ/BFD beim PARITÄTISCHEN unter www.paritaet-bw/freiwilligendienste oder #jetzterstrechtfreiwillig. für den Träger mit Mehraufwand verbunden. Die obligatori- schen Hospitationen in den Einsatzstellen werden derzeit meist durch Einzelgespräche oder Skype-Gespräche mit den Einsatzstellen ersetzt – ein weiterer Nachteil.“ W Gisela Gölz Gesamtleitung Freiwilligendienste Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg ie in vielen anderen Bereichen mussten die Zeit der Reduzierung oder Freistellung zu gewähren. sich die Freiwilligen, die Einsatzstellen Eine Beschäftigung in anderen, nicht betroffenen Einsatz- und die Träger von heute auf morgen bereichen der Einsatzstelle ist möglich. Sind Freiwillige und und täglich aufs Neue bisher nicht bekannten Herausfor- die Einsatzstelle einverstanden, ist ein Einsatz auch außer- derungen stellen. Von Anfang an galt es dabei zu beherzi- halb der Einsatzstelle in einem erweiterten Einsatzbereich gen, dass die Sicherheit der Freiwilligen ebenso wie die des möglich. anderen Personals und der Adressaten der sozialen Arbeit absolut im Vordergrund steht. Unter den Teilnehmer*innen ist es nur ganz vereinzelt zu Kommunikation im virtuellen Raum Auswirkungen auf die Freiwilligendienste Infektionen gekommen, nur wenige haben den Dienst Keine Entbindung von der Dienstpflicht abgebrochen und sind ausgeschieden. Einige mussten Wegen der Kontaktbeschränkungen war ein Ersatz für die Inzwischen sind bei allen Trägern umfangreiche Erfahrun- auf andere Einsatzstellen umgesetzt werden. Zu großen begleitenden pädagogischen Seminare eine ganz beson- gen im Umgang mit den Auswirkungen der Corona-Pan- In den Freiwilligendiensten war und ist von den zuständi- Problemen ist es wegen Ein-/Ausreisebeschränkungen bei dere Herausforderung. Hier musste in sehr kurzer Zeit auf demie gesammelt worden, sodass die Dienste bei ihrem gen Behörden vorgegeben, dass die Freiwilligen während ausländischen Teilnehmer*innen gekommen. „Online-Seminarbetrieb“ umgestellt werden, d. h. geeignete zukünftigen Tun weiterhin Lernchancen, Hilfsbereitschaft, der aktuellen Ausnahmesituation nicht grund- Plattformen mussten gefunden und erprobt, das pädagogi- Solidarität und Engagement für den Zusammenhalt der sätzlich von der Dienstpflicht entbunden sind. sche Personal eingewiesen, Inhalte der Seminar-Curricula Gesellschaft praktizieren und in den Vordergrund stellen Wenn Einsatzstellen jedoch aufgrund behörd- Eindringlich war die Situation bei zwei sehr engagierten teilweise mit viel Improvisation onlinetauglich umgestrickt, können. Die Inlandsfreiwilligendienste, so das vorläufige licher Auflagen oder eigener Entscheidungs- Incomern, die im Heimaturlaub waren, im Lockdown nicht möglichst interaktive Kommunikationsformen gefunden Fazit von Britta Möller, Projektleitung FSJ bei den Freunden befugnis ihren Betrieb einstellen oder die und die Einsatzstellen mit ihrem Praxisbezug einbezogen der Erziehungskunst Rudolf Steiners, sind quasi „mit einem zurück nach Deutschland kamen und Sorge hatten um ihren Platz Gesamtsituation ein Gefährdungspotenzial werden. blauen Auge“ davongekommen. Anders sieht es bei den erkennen lässt, das die ordnungsgemäße in der Einsatzstelle, um ihren Sprachkurs und die 12-monatige Auslandsfreiwilligendiensten aus: Dort kann der Betrieb, je Durchführung des Freiwilligendienstes in praktische Tätigkeit, was sie beides für die angestrebte Ausbildung Vorübergehend war die Gesamtsituation der Dienste nach Empfehlung des Auswärtigen Amtes voraussichtlich Frage stellt, kann der Dienst reduziert oder in Deutschland benötigten. Letztendlich stiegen sie nach einer durchaus als recht problematisch einzuschätzen. Nach im Herbst wieder aufgenommen werden. durch Freistellung unterbrochen werden. Bei temporären Einbrüchen haben zwischenzeitlich die Be längeren Pause wieder in den Dienst ein, nachdem sie per Fähre, einer Reduzierung oder Freistellung können werber*innenzahlen für die Freiwilligendienste ab Herbst » Kontakt Bus und Bahn nach Europa zurückkehren konnten. Sie verlängern die Freiwilligen nicht verpflichtet werden, 2020 wieder den Vorjahresstand erreicht, teilweise lie- Dr. Hermann Frank den ausgefallenen Dienst nachzuholen oder nun ihre Dienstzeit und planen ihre berufliche Zukunft weiter. gen sie sogar darüber. Doch bei Kontakten mit den neu- Freiwilligenengagement für diese Zeit Urlaub zu nehmen. Die mit en Interessent*innen tun sich ebenfalls Hürden auf. Hier Der PARITÄTISCHE Baden-Württemberg den Freiwilligen vereinbarten Leistungen (Ta- Rahel Röhner spielt sich nun die Kommunikation vor allem im virtuellen engagement@paritaet-bw.de schengeld, Sozialversicherung) sind auch für Betriebsleitung Freiwilligendienste Reha Südwest Raum ab. www.paritaet-bw.de 14 | PARITÄTinform | September 2020 | | PARITÄTinform | September 2020 | 15
SOZIALE ARBEIT IN DER CORONA-KRISE VON GARTENZAUN-PÄDAGOGIK UND KOOPERATIONEN Herausforderungen und Erfahrungen der Schulsozialarbeit im Lockdown Reproduktions-Faktor unter 1 • Soziale Distanz • Hygienemaßnahmen TÜBINGEN Schulschließungen, Kontaktverbote und ständig wechselnde Vorgaben haben besonders in der Hoch- Letzter Schultag • Raum- und Gruppenkonzepte Schulen phase der Pandemie im April dieses Jahres die Träger und Mitarbeiter*innen der Schulsozialarbeit und Sozialer schritt- und • Herden-Immunität? Schulen Schulschließung Shut Down stufenweise wieder für • Medikamente Gruppenarbeit vor Herausforderungen gestellt. Die Aufgabe war klar: Der Kontakt zu den Schüler*innen muss • Impfstoff angekündigt Schulen zu Osterferien geöffnet alle geöffnet gehalten werden – um Notlagen zu erkennen, Familien zu entlasten und schnelle, unbürokratische Hilfe leisten zu können. D 13.3.2020 16.3.2020 17.3.2020 6.4.2020 - 18.4.2020 4.5.2020 ................. 2021 ................. 2022 Eintritt in den „Krisenmodus“ er bisher gewohnte Rahmen war von einem Neue Formen des Miteinanders schaffen Orientierung, Analyse, Anpassung Bedarfe und Angebote auf den anderen Tag nicht mehr gegeben. Der persönlicher Austausch, kurze Gesprä- Um in der herausfordernden Zeit dennoch weiterhin Ge- Metaperspektive, Restrukturierung zur strategischen Neuausrichtung che und ausgiebige Beratungssituationen mit meinschaft zu erleben, wurden offene, pro- Transformationsprozesse und Auswirkungen der Krise einzelnen Schüler*innen sowie präven- jektartige Angebote entwickelt und in tive Angebote fielen weg. Neue Zu- ihrer Wirkung ausgewertet. Mit viel gangswege und Angebotsformen Kreativität und Fantasie wurden mussten entwickelt, ausprobiert Angebote zur aktiven Kontakt- • Emotionale Begleitung der Kinder und Eltern • Teamkommunikation • Orientierung und Neu- • Gesamtgesellschaftliche Folgen • Vorbereitung krisenbegleitender Maßnahmen per Videokonferenz ausrichtung anhand der • Sozialpolitische Folgen und ständig weiterentwickelt aufnahme entwickelt, auspro- • Bedarfsermittlung bestehenden Leitlinien • Psychosoziale Folgen werden. Das erwies sich häu- biert und bei Erfolg verbreitet. • Priorisierung und Konzeptionsbausteine • Finanzielle Folgen fig als ein Spagat zwischen Ein tolles Beispiel: In Zusam- • Reflexion von Angebots- • Strategische Chancen und • Sozialräumliche Folgen strukturen, Kontakte zu Risiken • Individuelle Veränderungsprozesse in Lebensläufen den gesetzlichen Vorgaben, menarbeit mit der Kollegin Kindern, Jugendlichen • Handlungsrahmen professionellen Einstellun- des von der Kinderlandstif- und Familien • Handlungsmöglichkeiten • Maßnahmen und Ziele gen, persönlichen Möglich- tung Baden-Württemberg keiten und pragmatischen geförderten Projektes zur Gegebenheiten. Förderung von Teilhabe und Chancengleichheit „Muki (Mu- unersetzlich. Die Investitionen und Zeit, die in den letzten Armutsbelastung als zentrale Herausforderung Brücken bauen trotz tige Kinder)“ haben die Fachkräf- Jahren in das „Tübinger BUS-Konzept“ geflossen sind, ha- te der schulbezogenen Angebote ben sich in der Krise ausgezahlt. Im Brennglas der Pandemie und in der aufsuchenden Ar- sozialer Distanz die Plattform einer Kinderzeitung beit wurde deutlich, dass wir es verstärkt mit einer großen Sorgentelefone, die rund um die Uhr genutzt, um Ammerbucher Kinder die Sorgen der Fachkräfte ernst nehmen Bandbreite an – auch digitalen – Armutsbelastungen von erreichbar waren, Besuche am Gartenzaun Möglichkeit zu geben, ihre Gedanken und Kindern, Jugendlichen und Familien zu tun haben. Vor al- der Familien, kleine Päckchen mit Bastel-, Spiel- Bilder zu Corona auszudrücken. Das Ergebnis ist be- Sozialpädagogische Fachkräfte sind selbst Menschen mit lem diese Familien sahen sich in der Krise oft mit massiven und Informationsmaterial, aber auch die Versorgung mit eindruckend: ihren jeweiligen Grundkonstitutionen. Während der Pande- Zukunftsängsten konfrontiert. Die Auswirkungen bei den Mund-Nasen-Schutz-Masken für die Kinder und Hilfe im http://www.grundschule-poltringen.de/wp-content/up- mie-Krise mussten sich die Fachkräfte mit eigenen Ängsten Kindern und Jugendlichen: fehlende Lernmotivation und Umgang mit sowie bei der Beschaffung von digitalen Me- loads/2020/05/2.Ammerbucher-Kinderzeitung_HP.pdf. und Unsicherheiten beschäftigen. Sorgen um gefährdete Absentismus auch im Fernunterricht. Viele Familien verfü- dien beschäftigte die Kolleg*innen in der ersten Zeit. Eini- Angehörige, die eigene Gesundheit sowie familiäre Her- gen nicht einmal über einen Zugang zum Internet, um die ges konnte aus dem Homeoffice erledigt werden – Anrufe Kooperation als Basis erfolgreicher Arbeit ausforderungen im Homeoffice mit den eigenen Kindern digitalen Angebote zu nutzen. Aufgabe von Schulsozialar- bei einzelnen Kindern, Austausch mit Lehrkräften und der auf dem Schoß oder die Angst vor Kurzarbeit beschäftigten beit wird es in Zukunft auch sein müssen, Familien diesbe- Austausch im Team. Basis der Arbeit ist – und war in dieser Zeit deutlich zu viele Kolleg*innen. Diesen Sorgen immer wieder Raum zu züglich zu unterstützen und den Diskurs über Teilhabe und spüren – die gelingende Kooperation zwischen Schule geben, war notwendig, um die herausfordernde Arbeit un- Chancengerechtigkeit voranzubringen. So gelang es, die Kontakte zu und zwischen den Kindern zu und Jugendhilfe. Die Ausgestaltung der schulbezogenen ter den gegebenen Umständen professionell und mit Erfolg halten und Möglichkeiten zu bieten, Alltagserfahrungen mit- Angebote unter diesen besonderen Rahmenbedingungen leisten zu können. Hilfreich waren dabei der einrichtungs- » Kontakt einander zu teilen und ein Gemeinschaftsgefühl zu erhalten. konnte nur in einer kontinuierlichen Verständigung mit der interne sowie überregionale Austausch im Einzelgespräch, Axel Eisenbraun-Mann, Bereichsleitung Wichtig dafür war der direkte, aufsuchende Kontakt auch zu Schulleitung, Lehrerkolleg*innen und den Betreuungsfach- im Team und mit externer Beratung. Belastungen der Fach- schul- und gemeinwesenbezogene Angebote den Eltern, der während der ersten Monate der Schulschlie- kräften vor Ort gelingen. Mit Blick auf das gemeinsame kräfte und Herausforderungen des Kinderschutzes während kit-jugendhilfe (ehemals Martin-Bonhoeffer-Häuser) ßung deutlich intensiviert wurde und der in vielen Fällen Ziel, „gefährdete“ Schüler*innen nicht zu übersehen, ist der Schulschließungen müssen Beachtung finden und im axel.eisenbraun-mann@kit-jugendhilfe.de über die Sommerwochen positiv und nachhaltig wirkt. eine gewachsene Vertrauensbasis in der Zusammenarbeit Ausgleich zueinander stehen. www.kit-jugendhilfe.de 16 | PARITÄTinform | September 2020 | | PARITÄTinform | September 2020 | 17
SOZIALE ARBEIT IN DER CORONA-KRISE DIE JETZIGE ZEIT ZUR B E S T E N MACHEN S chon früh wurden mögliche Szenarien und ge- eignete Maßnahmen bedacht. Der Lockdown in Baden-Württemberg mit Schulschließungen etc. kam dann doch so kurzfristig, dass es nur wenig Vorberei- tungszeit gab. Schnell wurde deutlich, dass social-distancing nicht zur Arbeit der Einrichtung passt. Das Kindersolbad Lockdowns in ihren Familien verbringen, auch aus Aspekten des Kinderschutzes. Sie blieben in der Einrichtung, ihr Bewe- gungsspielraum musste sehr stark eingeschränkt werden, weil aus Sicherheitsgründen keine Kontakte zwischen den Wohngruppen und keine Kontakte nach außen während der ersten Phase zugelassen wurden. Die Gruppen waren auf sich wollte nicht wie die Schulen einfach „schließen“, sondern selbst zurückgeworfen und mussten sich neu organisieren. Mit viel Kreativität social-distancing überwinden Wege finden, die notwendige Einschränkung persönlicher Kontakte möglichst auf andere Weise auszugleichen. Wohl Kontakt per Gruppenolympiade dem, der kreative, engagierte und unerschrockene Mitar- HEILBRONN Wie alle gesellschaftlichen Bereiche wurde auch das Kinder- beitende hat, die oft bereit sind, ihre persönliche Sicherheit Die Wohngruppe Delphine sah ihren Alltag ganz schön auf solbad vor Herausforderungen gestellt, mit denen noch niemand in der hinter den Bedürfnissen der jungen Menschen anzustellen. den Kopf gestellt. Die größte Herausforderung war das Home- Weise konfrontiert war. Vieles musste schnell entschieden und organisiert schooling mit unzähligen E-Mails von Lehrer*innen und Unter- werden und man konnte besonders zu Anfang wenig auf Hilfe anderer JuLe bringt Überraschungstüten richt per Videokonferenz, was sich aber recht bald eingespielt Institutionen und Systeme hoffen, auch wenn alle ihr Bestes gaben. hatte. Auch wenn es den Jugendlichen oft schwerfiel, sich an Für die Kinder in den JuLe-Angeboten (soziale Gruppenar- die strengen Ausgangsbeschränkungen zu halten und ihre beit) und in der Erziehungsbeistandschaft (EBS) bedeutete Schulaufgaben selbstständig zu organisieren, gaben alle ihr der Lockdown von heute auf morgen keine Schule, keine Bestes. Um die Zeit der reduzierten Kontakte für den Zusam- Vereine, keine Treffen mit Freunden und erst mal auch keine menhalt der Gruppe zu nutzen, wurde der Dachterrasse neu- JuLe oder EBS wie gewohnt. Es war eine besondere Heraus- er Glanz verliehen und viele Ausflüge in die Natur gemacht. forderung den Kontakt zu jungen Menschen und Familien Corona-Zeit bedeutet für die Gruppe Durchhalten, neue zu halten. Trotzdem sollte überall „präsent“ geblieben wer- Wege gehen und gemeinsam Verantwortung übernehmen. den, wo Aspekte von Kindeswohlgefährdung eine wesentli- che Rolle spielen bzw. sich solche Gefährdungslagen durch Eine Gruppenolympiade hat geholfen, den Kontakt zwi- die soziale Isolierung ergeben könnten. schen den Wohngruppen zu halten. Mit sehr abwechs- lungsreichen Aufgaben waren die jungen Menschen und Es galt „Corona-taugliche“ Alternativen zu schaffen. Regel- die Pädagog*innen gefordert, in unterschiedlichen Konstel- mäßiger, teilweise intensiver telefonischer Kontakt mit Eltern lationen mit- und gegeneinander im Wettkampf anzutreten. und Kindern war selbstverständlich. Um auch persönlich in Neben schönen gemeinsamen Erlebnissen als Gruppe sind Kontakt zu bleiben, ließ sich die JuLe etwas Besonderes ein- z. B. Corona-Raps, Gedichte oder witzige Fotos entstanden. fallen: Zweimal erhielten die Familien Überraschungstüten mit einem kleinen Briefchen mit der JuLe-Handynummer für Digitale Medien haben vieles erleichtert Notfälle und bei Gesprächsbedarf, mit Süßigkeiten, Spiel- und Bastelideen, Anregungen für gemeinsame Aktionen, „Corona“ hat den ewigen Streit um das Ausmaß der Nut- mit Rezepten, Rätseln, Bastelmaterial, Spielen, Farbstiften, zung digitaler Medien eindeutig in Richtung Digitalisierung Malpapier und einer kleinen „Auszeit“ für die Eltern – Tee verschoben und das nicht nur bei den Professionellen. Diese und Schokolade mit der Anleitung für eine kleine Pause, die Medien wurden intensiv genutzt, um den Kontakt der jun- an die Haustür gebracht wurden. Kinder und Eltern freuten gen Menschen zu Eltern, Familie und Freunden zu halten sich riesig über die kleinen Besuche, die Gespräche auf Ab- und um auch selbst mit den Familien in engem Austausch stand und natürlich die „tollen Wundertüten“! zu bleiben. Dennoch waren alle froh, nach und nach wieder persönliche Kontakte unter entsprechenden Hygiene- und Nach dem Motto: „Nicht warten, bis die beste Zeit kommt, Sicherheitsvorkehrungen in der Einrichtung und Beurlau- sondern die jetzige zur besten machen“ hat sich die EBS bungen zu den Familien ermöglichen zu können. den Herausforderungen gestellt. Anfangs fanden die Termi- ne über (Video)Anruf statt. Dann gab es persönliche Termine Das Kindersolbad hofft, dass nicht noch einmal intensivere im Freien, im frisch bepflanzten JuLe-Garten, gemeinsame Einschränkungen notwendig werden. Falls doch, kann es Spaziergänge auch mit Regenschirm. Neuaufnahmen und auf die Erfahrungen aus der Vergangenheit zurückgreifen, Hilfeplanfortschreibungen auf Parkbänken, in Gärten der Fa- um auch kommende Anforderungen zusammen mit jungen milien, mit dem Jugendamt am Telefon und mit Masken im Menschen und ihren Familien gut zu bewältigen. Gesicht waren stellenweise herausfordernd aber durchaus machbar und ermöglichten es weiterhin, an den Zielen der jungen Menschen zu arbeiten. » Kontakt Ariane Hornung-Linkenheil, Geschäftsführung Das Kontrastprogramm fand sich in den Wohngruppen. Kindersolbad gGmbH Bad Friedrichshall Nur wenige junge Menschen konnten die Zeit des strengen ariane.hornung@kindersolbad.de, www.kindersolbad.de 18 | PARITÄTinform | September 2020 | | PARITÄTinform | September 2020 | 19
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