Land Israel, Staat Israel, heiliges Land Die Bedeutung von historisch-theologischen Zugängen für den jüdisch-christlichen Dialog ...

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Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission

Land Israel, Staat Israel, heiliges Land
Die Bedeutung von historisch-theologischen
Zugängen für den jüdisch-christlichen Dialog

Bern, 2021
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission
Land Israel, Staat Israel, heiliges Land

Inhaltsverzeichnis

      Land Israel, Staat Israel, heiliges
      Land: für einen sachlichen Dialog
      über Israel/Palästina
      Verlautbarung der Evangelisch-Jüdischen
      Gesprächskommission EJGK ..........................                   3

I.    GESAMMELTE ÜBERLEGUNGEN
      DER EVANGELISCH-JÜDISCHEN
      GESPRÄCHSKOMMISSION ..........................                        4

      Warum dieses Thema? ..............................                    4

      Zielsetzung .................................................         4

      Was ist der Beitrag der Kommission?....                               5

II.   HISTORISCH-THEOLOGISCHE
      BEGRIFFSKLÄRUNGEN – EIN VERSUCH ....                                  5

      Heilig ............................................................   5

      Land und Staat Israel ................................                5

      Messianismus .............................................            6

      Palästina ......................................................      7

      Volk Israel....................................................       9

      Zionismus..................................................... 10
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission           3
                                                                    Land Israel, Staat Israel, heiliges Land

Land Israel, Staat Israel, heiliges                         dient, wenn man sich immer wieder bewusst wird, was
Land: für einen sachlichen Dialog                           die eigenen Vorstellungen und Denkweisen bestimmt
über Israel /Palästina                                      und nährt.

Verlautbarung der Evangelisch-Jüdischen                     4. Eine umfassende Kenntnis der historischen,
Gesprächskommission EJGK                                    politischen, kulturellen und religiösen Zusam-
                                                            menhänge ist förderlich für einen differen-
                                                            ziert und sachlich geführten Dialog.
1. Die Evangelisch-Jüdische Gesprächskom-                   Bewusstseinsförderung alleine reicht aber nicht aus.
mission EJGK stellt fest, dass Debatten über                Es braucht umfassende Kenntnis der historischen, po-
Israel/Palästina oft einseitig und undifferen-              litischen, kulturellen und religiösen Zusammenhänge.
ziert geführt werden.                                       Dieses Wissen wird heute leider zu wenig vertieft und
Gespräche zwischen und innerhalb von Gruppen oder           unilateral vermittelt. Dabei ist gerade beim Spannungs-
Gremien, die sich vom Israel / Palästina-Thema ange-        feld Israel / Palästina Zuhören und gegenseitiges An-
sprochen fühlen oder sich auf der einen oder anderen        erkennen oft zielführender als Erklärungs- und Über-
Seite positionieren, werden oft einseitig und undiffe-      zeugungsversuche. Deswegen hat die EJGK historisch-
renziert geführt. Gestützt auf ihre lange Erfahrung des     theologische Zugänge zu einigen konfliktträchtigen
Dialogs möchte die EJGK die Bemühungen all dieser           Begriffen erarbeitet, namentlich zu: heilig, Land und
Gruppen und Gremien unterstützen. Dabei muss be-            Staat Israel, Messianismus, Palästina, Volk Israel, Zio-
wusst bleiben, dass in diesem Dialog zwei Perspektiven      nismus.
bzw. Partner beteiligt sind: die Juden und die evangeli-
schen Christen. Zugleich findet dieser Dialog auf dem       Diese aufgezählten Gesichtspunkte führen zur Schluss-
Hintergrund der Existenz eines dritten Partners – der       folgerung, dass ihnen nur im Rahmen eines konstrukti-
Muslime – statt, der in diesem Thema eine wesentliche       ven und echten Dialogs Rechnung getragen werden
Rolle spielt.                                               kann.
                                                            Die Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission er-
2. Debatten im Spannungsfeld Israel/Paläs-                  mutigt alle an den Debatten über Israel / Palästina Be-
tina sind häufig einseitig und undifferenziert,             teiligten:
weil die Gesprächspartner ihre Einstellungen                – sich ihre emotionalen Verstrickungen und traditio-
mit ihrer eigenen Anschauung, ihren persön-                    nellen Prägungen in diesem Spannungsfeld bewusst
lichen Projektionen und dem kollektiven Ge-                    zu machen,
dächtnis verbinden.                                         – mehr in Wissensvermittlung zu investieren,
Diese Verknüpfung kann auf allen Seiten in unterschied-     – Gesprächspartner ernst zu nehmen und ihnen mit
lichem Masse Identitätsängste auslösen, da die Ge-             Respekt zuzuhören.
sprächspartner durch ihre jeweilige Geschichte und de-
ren Rezeption geprägt sind. Diese Geschichte ist auch       Dies ist aus der Sicht der EJGK der Weg zu einer frucht-
belastet durch die lange Tradition des Antisemitismus       baren Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld
in Europa und durch die koloniale Vergangenheit west-       Israel /Palästina und einem inklusiveren Dialog zwischen
licher Staaten. Eine Rolle spielen auch die unterschied-    den unterschiedlich geprägten Gemeinschaften.
lichen Interpretationen völkerrechtlicher Verpflichtungen
sowie der Status der seit 1967 von Israel verwalteten
Gebiete und der palästinensischen Flüchtlinge. Diese
Faktoren lösen Emotionen, Schuldgefühle und Loyali-
tätskonflikte aus, welche selbst sachlich geführte De-
batten überschatten.

3. Ein Bewusstsein für die eigene religiöse
oder weltanschauliche Prägung hilft bei der
Objektivierung des Themas.
Persönliche Anschauungen, die auch religiös oder durch
Gedankensysteme aller Art geprägt sind, beeinflussen
die Sicht auf das Spannungsfeld Israel / Palästina we-
sentlich. Dies ist unvermeidlich. Hier ist der Sache ge-
4   Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission
    Land Israel, Staat Israel, heiliges Land

    I.                                                           chatologisch oder symbolisch aufgeladen worden. Da-
    GESAMMELTE ÜBERLEGUNGEN                                      durch zeigt sich die grundsätzliche Asymmetrie zwi-
    DER EVANGELISCH-JÜDISCHEN                                    schen Judentum und Christentum. Diese erfordert ein
                                                                 permanentes Bemühen, die relevanten Begriffe für das
    GESPRÄCHSKOMMISSION
                                                                 Verständnis, dessen was für die Gesprächspartner auf
                                                                 dem Spiel steht, zu klären.
    Warum dieses Thema?
    Wer nach dem Heiligen Land und dem Bestehen des              Als Arbeitsgruppe, die aus jüdischen und evangelischen
    Staates Israel fragt, muss feststellen, dass das Thema       Mitgliedern zusammengesetzt ist, erlebte die Evan-
    den jüdisch-christlichen Dialog belastet. Starke emo-        gelisch-Jüdische Gesprächskommission EJGK selber
    tionale und existentielle Aufladung sowie leidenschaft-      über Jahre in ihrem Dialog die erwähnten Schwierig-
    liche Reaktionen überbieten plötzlich rationale, kontex-     keiten bei diesem Thema: Auch Argumente und Gegen-
    tuell verortete Argumente und können zu irrationalen         argumente mit verifizierter Begründung aus dem Kon-
    Einstellungen führen. Für die einen verknüpft sich die       text und der Motivation der jeweiligen Protagonisten
    jüdische Identität aus verschiedenen Gründen mit dem         mochten nicht überzeugen. Die Kommission musste zur
    Land Israel und mit dem Bestehen des Staates Israel.         Einsicht kommen: Hier geht es um grundlegende, nicht
    Deshalb wird jede zu Recht oder zu Unrecht formulier-        immer bewusste oder kontrollierbare Emotionen, die
    te Kritik am Staat Israel als Infragestellung des Jude-      die persönliche Biographie und die religiöse Identität
    seins wahrgenommen.                                          der Beteiligten treffen. Aus dieser Erfahrung machte
                                                                 es sich die EJGK zur Aufgabe, diese Erkenntnis durch
    Viele Christen deuten den Staat Israel heilsgeschicht-       ihre Dialogpraxis zu bearbeiten und anderen Dialog-
    lich, weil sie in ihm die Erfüllung der alttestamentlichen   und Interessengruppen zugänglich zu machen.
    Prophetien zu erkennen glauben. Zudem sind derart
    hohe religiös-moralische Erwartungen an den Staat
    Israel vorhanden, dass Entscheidungen, die im Zusam-         Zielsetzung
    menhang mit der Sicherheit des Staates stehen, Em-
    pörung auslösen. Dabei sind die Fronten bei weitem           Mit diesem Thema führt die Kommission das in der
    nicht so klar und unmissverständlich abgegrenzt oder         Gemeinsamen Erklärung zum Dialog von Juden und
    identifizierbar, wie oft angenommen wird.                    evangelischen Christen in der Schweiz (2010) begon-
                                                                 nene Gespräch weiter. Jenseits aller Glaubensdiffe-
    Einfache Antworten auf die komplexen Fragen rund um          renzen zwischen Juden und Christen postulierte diese
    die religiöse und politische Bedeutung von Land und          Erklärung eine gemeinsame Verantwortung gegen-
    Staat Israel vergiften das gegenseitige und für eine         über Mitmenschen und Umwelt. Dieses Fundament bil-
    eingehende und wahrhaftige Diskussion unerlässliche          det die Grundlage der vorliegenden Verlautbarung.
    Vertrauen. Man gefährdet mithin das Verständnis, das
    in persönlichen Begegnungen, in jüdisch-christlichen         Die Kommission will angesichts des gegenseitigen Ver-
    Arbeitsgruppen geführten Gesprächen und in nationa-          ständnisses und Vertrauens die bereichernde Dialog-
    len und internationalen Gremien über Jahre aufgebaut         erfahrung fortsetzen. Durch gründliches und versach-
    und gefestigt wurde. Der Mangel an Nuancierungen             lichendes Nachdenken, das eine Distanz – im Sinne
    bei einem so sensiblen Thema verursacht schnell Ver-         von Paul Ricœurs Begriff der «Distanzierung» oder
    einfachungen, Einseitigkeiten und eine Voreingenom-          «Distanznahme» (distanciation), der die Andersartig-
    menheit, welche zu Ressentiments, Gleichgültigkeit und       keit berücksichtigt – bewirkt, will die Kommission Fol-
    Entfremdung führen.                                          gendes erreichen:
                                                                 – hartnäckige Vorurteile bekämpfen;
    Das Thema birgt in sich eine Ambivalenz, die dem Ju-         – einseitige Sichtweisen verlassen und die verschiede-
    dentum wesenhaft ist. Das Judentum ist gleichzeitig             nen – religiösen, (geo-)politischen, kulturellen – Ebe-
    eine Religion und ein Volk, die beide an ein Land ge-           nen differenzieren;
    bunden sind: Die religiösen Gebote bestimmen die             – die Debatte entschärfen und versachlichen;
    Beziehung des Volkes zu dem ihm verheissenen Land            – die Wandlung des jüdischen Selbstbewusstseins im
    Israel (Eretz Israel) und der Bezug zum Land ist kons-          20. Jahrhundert durch die Übernahme einer aktiven
    titutiv für die jüdische Identität. Im christlichen Be-         Rolle in der Weltgeschichte wahrnehmen;
    wusstsein sind bis zur heutigen Zeit das Land Israel         – mit den Verschiedenheiten umgehen lernen und sie
    und die Stadt Jerusalem immer wieder historisch, es-            im Dialog fruchtbar werden lassen.
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                                                                    Land Israel, Staat Israel, heiliges Land

Was ist der Beitrag der Kommission?                         Heilig ist eher das, was ausgesondert wird, um die Be-
                                                            gegnung zwischen Gott und dem Menschen zu ermög-
Die Kommission schlägt keine politischen Lösungen           lichen und dadurch Gott in der Welt gegenwärtig zu ma-
vor; als Gesprächskommission ist dies auch nicht ihr        chen. Dies soll für abgesonderte Texte (heilige Schriften
Auftrag. Ihr Beitrag besteht darin, die Bedingungen für     wie beispielweise Tora, Bibel), Zeiten (Schabbat, Sonn-
einen authentischen Dialog aufzuzeigen, um die ein-         tag, Feiertage) und Orte gelten. Heilig ist in einem ab-
seitigen Einstellungen der beteiligten Parteien zu über-    soluten Sinn das, worüber der Mensch nicht verfügen
winden. Ein wahrhafter Dialog kann nur auf Augenhö-         und keine Macht ausüben kann. In diesem Sinne ist nur
he zwischen gleichberechtigten (Gesprächs-)partnern         Gott heilig.
geführt werden, die dem anderen zuhören, dessen Sicht-
weise achten und dessen (Glaubens-)Überzeugungen            Versteht man «heilig» auf diese Weise, dann ist das
ernst nehmen. Nur so kann verhindert werden, dass es        «heilige Land» der Ort, der durch die Einhaltung der Ge-
zu verhängnisvollen Polarisierungen kommt. Ein offenes      bote geheiligt werden muss, um für Gott durchlässig
Gespräch führt zur Anerkennung des anderen, die es er-      zu werden. In der frühen rabbinischen Zeit wird der Be-
möglicht gegenseitige Beziehungen zu gestalten und ge-      griff «heiliges Land» für das Gebiet verwendet, in dem
meinsam Wege in eine friedliche Zukunft zu suchen.          die landbezogenen Gesetze eingehalten und die Tem-
                                                            pelabgaben geleistet werden müssen. In einem weiteren
Der Dialog erfordert auch Wissen und einen kritischen       Sinn ist das Ziel aller Gebote der Tora, der sozialen wie
Blick auf die Geschichte, um über eine einseitige Sicht     der rituellen, den Namen Gottes zu heiligen im Land
der Dinge hinauszugehen. Als Grundlage dafür hat die        Israel und darüber hinaus in der Welt.
Kommission ihre eigenen Texte zu den Begriffen Pa-
lästina, Land und Staat Israel, Volk Israel, Zionismus,     Somit wird verständlich, dass irdische Heiligkeit grund-
Messianismus, heilig erarbeitet.                            sätzlich kein Zustand ist, sondern ein Auftrag, der
                                                            einen stets andauernden Prozess auslöst (Lev 19,2).
Aufgrund ihrer eigenen Erfahrung eines gegenseitigen        Die Heiligkeit ist ein geschenktes Potential, das for-
aufmerksamen Zuhörens will die Kommission Menschen          dert, in die Tat umgesetzt zu werden. Wenn Heiligkeit
und Gruppen, die sich auf verschiedene Art und Weise        darin besteht, Gott in der Welt zu dienen, mit dem Ziel,
mit diesem Thema befassen, dazu anregen und ermu-           sie zu verändern, impliziert sie eine Verantwortung
tigen, die dialogische Komponente, welche die Anerken-      gegenüber Mitmenschen und Umwelt bzw. der gesam-
nung des anderen anstrebt, in ihren Reflexionen und         ten Schöpfung.
Tätigkeiten miteinzubeziehen.

                                                            Land und Staat Israel
II.
HISTORISCH-THEOLOGISCHE                                     Im Tenach wird das Land, das die Juden Eretz Israel
BEGRIFFSKLÄRUNGEN – EIN VERSUCH                             nennen, als das Land bezeichnet, «das ihnen zu geben
                                                            ich ihren Vorfahren geschworen habe» (Dtn 10,11).
Heilig
                                                            Welches Gebiet es genau umfasst, unterscheidet sich je
Im Kontext des Nahostkonflikts spielt der Begriff «hei-     nach den geopolitischen Verhältnissen in den verschie-
lig» eine entscheidende Rolle. Er wird beispielsweise       denen Epochen der biblischen Geschichtsschreibung.
mit Land, Orten, Zeiten, Personen, Gegenständen und         Wird also der Begriff Eretz Israel verwendet, sind die-
sogar mit Kriegen assoziiert. Jedoch stellt sich die Fra-   jenigen Gebiete damit gemeint, die von den Bene Israel
ge, wie der Begriff in den Grundtexten zu verstehen ist     («Söhne Israel» bzw. Israeliten) bewohnt werden. Die To-
und ob tatsächlich von irdischen Dingen gesagt wer-         ra verknüpft das Recht in diesem Land zu leben mit dem
den kann, dass sie heilig seien.                            Bund, den Gott mit den Bene Israel geschlossen hat.

Als erster Schritt sollte man hier das Heilige vom Sa-      Aus biblischer und rabbinischer Sicht ist das verheis-
kralen unterscheiden. Als sakral gelten Objekte oder        sene Land immer dasjenige, in dem die Tora erfüllt und
Orte, denen eine in der natürlichen Ordnung der Dinge       das Königreich Gottes verwirklicht werden sollen. Nur
liegende Macht über die Menschen zugeschrieben wird.        in dieser eschatologischen Hinsicht reicht das Land von
Diese Macht beraubt die ihr unterworfenen Menschen          einem Ende zum anderen – biblisch ausgedrückt: vom
ihrer Freiheit und Verantwortung.                           Nil bis zum Euphrat (Gen 15,18).
6   Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission
    Land Israel, Staat Israel, heiliges Land

    Spätestens ab der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts         Messianismus
    vor unserer Zeitrechnung leben die Juden mehrheitlich
    in der Diaspora (Gola). In der jüdischen Tradition wird      Der Begriff des Messianismus knüpft an die im alten
    diese als Exil (Galut) bezeichnet. Aus diesem Grund          Israel geübte Praxis an, Könige und Priester zu salben.
    besteht die Hoffnung, dass Gott sein Volk aus dem Exil       Er beinhaltet die Erwartung eines von Gott Gesalbten,
    in das Land zurückbringt, dass der Tempel wieder ge-         der auf Erden ideale Zustände (wieder-)herstellt. Was
    baut und die Prophezeiungen von Jesaja 11 erfüllt wer-       diese Zustände genau umfassten, variierte je nach re-
    den. Diese Hoffnung wird in der täglichen Synagogen-         ligiöser Ausrichtung und gesellschaftlicher Zugehörig-
    liturgie und in Hausgebeten sowie in verschiedenen           keit. Messianismus ist eine dem Judentum und dem
    Gebräuchen ausgedrückt. Anderseits fordert die jüdi-         Christentum gemeinsame Vorstellung, die in der bibli-
    sche Tradition in Anlehnung an die Worte des Prophe-         schen und jüdischen Tradition wurzelt. Die christliche
    ten Jeremiah (29,4–7), sich in den Ländern der Dias-         Messiasidee baut auf der vorhandenen jüdischen Aus-
    pora einzurichten und zu ihrem Wohl beizutragen.             prägung der Messiaserwartung auf. Beide haben sich
    Gleichzeitig gab es stets jüdische Gemeinden in Eretz        im Laufe des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung
    Israel sowie religiös motivierte Alijot (Plural von Alija:   unter Beeinflussung und Abgrenzung weiter – und aus-
    «Aufstieg» bzw. Einwanderung) von einzelnen Rabbiner         einander – entwickelt.
    oder ganzen Gemeinden nach Eretz Israel.
                                                                 Trotz der grundlegenden Differenz, dass Juden die erst-
    Bis zum Emanzipationsprozess in Europa bildeten die          malige Ankunft des Messias und Christen dessen Wie-
    Juden sowohl in der christlichen wie in der muslimischen     derkunft (oder Parusie) erwarten, weil sie Jesus von
    Welt mehr oder weniger autonome Gemeinden, die in ei-        Nazareth als den Messias, den Christus – latinisierte
    nem Abhängigkeitsverhältnis zu der umgebenden Mehr-          Form von Christos, sprich die altgriechische Überset-
    heitsgesellschaft standen. Das Mass der Autarkie ist         zung des hebräischen Maschiach («Messias»), des
    proportional zur Intensität der Verfolgungen, denen jü-      «Gesalbten» –, identifizierten, weist der Messianismus
    dische Gemeinden ausgesetzt waren.                           im Judentum und im Christentum Strukturanalogien auf.
                                                                 Dies etwa hinsichtlich der Fragen der Beteiligung des
    Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten           Menschen am endzeitlichen Geschehen oder des Ver-
    nationalistische Ansprüche zur Bildung von National-         hältnisses der eschatologischen Vollendung zur irdi-
    staaten. In diesem Rahmen und im Zusammenhang                schen Welt. Die eine eher «quietistische» Ausprägung
    mit einer gefährdeten Emanzipation entstand auch ein         findet sich vor allem im rabbinischen Judentum sowie
    jüdischer Nationalismus in der Form des Zionismus,           im grosskirchlichen Christentum und rechnet mit einer
    der das Ziel hatte, einen selbstständigen Nationalstaat      von Gott gewirkten Transformation der irdischen Welt
    für die Juden in Palästina zu errichten. Von Anfang an       am jüngsten Tag. Die andere geht von einer quasi natür-
    hat es in der zionistischen Bewegung nebst der ge-           lichen Entwicklung hin zu einer neuen Welt und einer
    meinsamen politischen Vision und Zielsetzung ver-            erneuerten Menschheit aus, wobei dem Menschen eine
    schiedene politisch, kulturell und religiös motivierte       gewisse Mitwirkungsfunktion zukommt. Wichtig für die
    Strömungen gegeben.                                          Ausprägung der jüdischen messianischen Vorstellun-
                                                                 gen sind die geschichtlichen Perioden der nachexili-
    Der Zionismus mündete 1948 in die Gründung des               schen Zeit bis zur römischen Besatzung, der Anfänge
    Staats Israel, der, zusätzlich zum Konflikt mit seinen       des rabbinischen Judentums bis in die frühe Neuzeit
    arabischen Nachbarn, sein Verhältnis zum Land, zum           und der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. In der Ent-
    Judentum und zur jüdischen Geschichte immer wieder           wicklung der christlichen messianischen Vorstellungen
    von neuem definieren musste. In der Folge verschie-          sind es die Perioden der sogenannten konstantinischen
    dener Kriege, der ungelösten Frage der eroberten             Wende, des Hochmittelalters, der Reformationszeit
    Gebiete und der palästinensischen Bevölkerung sowie          und des Pietismus im 17. und 18. Jahrhundert. Seit An-
    der Neudefinition jüdischer Identität durch den Staat        fang des 20. Jahrhunderts erfährt der christliche Mes-
    Israel in 2018 haben sich diese Fragen zunehmend ver-        sianismus eine neue Belebung mit dem Aufkommen
    schärft.                                                     der Freikirchen und der evangelikalen Bewegung.

                                                                 Nach jüdischer Vorstellung ist es die Rolle des Messias,
                                                                 das Volk Israel vom Joch der Unterdrückung und der
                                                                 Verfolgung zu befreien, die Verbannten und Verstreuten
                                                                 zu sammeln, den Tempel aufzubauen sowie den univer-
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sellen Frieden zu bringen. Nach der Rückkehr von Juden       Volkes Israels am Ende der Zeiten und der Fall Babels
aus Babylon nach Jerusalem steht der Tempel im Mit-          (päpstliches Rom) angesehen (aktive Judenmission
telpunkt messianischer Erwartungen. Im Laufe der Zeit        wurde gleichwohl nicht von allen Pietisten befürwor-
werden Jerusalem und Tempel zur eschatologischen             tet). Pietistischen Christen und zahlreichen Juden war
Chiffre, wobei die Erwartung der Rückkehr bzw. des           die Erwartung der Aufrichtung des Reiches Gottes auf
Wiederaufbaus immer weniger eine konkrete politische         Erden durch den Messias gemeinsam.
Möglichkeit wird. Für die Mehrheit der Rabbinen ge-
hört die Erwartung an den am Ende der Zeit kommen-           Im 20. Jahrhundert nach der Schoa, der Gründung des
den Messias zu den wichtigen Glaubensgrundsätzen.            Staates Israel und den Kriegen zwischen Israel und den
In der Zwischenzeit soll das Volk Israel die Tora einhal-    arabischen Staaten 1967 und 1973 wurden messiani-
ten und deren Gebote praktizieren. Dabei gab es auch         sche bzw. chiliastische Vorstellungen zum Deutungs-
innerrabbinische Debatten, ob ein tatkräftiges und from-     horizont zahlreicher Juden und Christen für die Gegen-
mes religiöses Verhalten das Kommen des Messias              wart. Die Endzeit wird als imminent betrachtet. Auch
beschleunige; ebenso überlebten auch mehr aktivis-           auf diesem Hintergrund sind die jüdische Siedlerbewe-
tisch-eschatologische Positionen und mit ihnen apoka-        gung und ein «christlicher Zionismus» zu verstehen.
lyptisches Gedankengut aus der Spätantike im rabbi-          Dies wirkt bis in die Tagespolitik hinein.
nischen Judentum. Die passiv wartende Haltung hatte
mehr oder weniger Bestand bis zur Vertreibung der
Juden aus Spanien im Jahr 1492. Diese wurde als Ka-          Palästina
tastrophe erlebt, die sich als Katalysator für das Erstar-
ken der messianischen Erwartung und das Auftreten            Palästina wird heute als historischer, politischer und geo-
verschiedener messianischer Bewegungen erwies.               graphischer Begriff gebraucht. Je nachdem, wer ihn in
                                                             welchem Kontext verwendet, klingen Sympathien, his-
Während im Judentum der Begriff Messianismus für             torische und politische Ansichten, Bekenntnisse, Iden-
die gesamte Geschichte Gültigkeit hat, ist für das           titäten und Ansprüche mit. «Palästina» hat weder für
Christentum nach seiner Frühzeit der Begriff Chilias-        Juden, noch für Christen oder Muslime eine theologi-
mus (oder Millenarismus) präziser. Solange das frühe         sche Bedeutung. Unweigerlich werden mit dem Begriff
Christentum noch die Naherwartung der Wiederkunft            Palästina aber starke Empfindlichkeiten geweckt.
Christi kannte, war es messianisch. Als das Mehrheits-
christentum ab der konstantinischen Wende ein positi-
veres Verhältnis zum Staat und den weltlichen Dingen         Historisch-geografische Betrachtung
entwickelte, wurde die Erwartung der Wiederkunft
Christi nicht mehr als unmittelbar bevorstehend be-          Biblische Zeit
trachtet. Der christliche Messianismus wandelte sich
dann innerhalb einer Minderheit zum chiliastischen           In der Septuaginta (griechische Übersetzung des Te-
Messianismus bzw. zum Chiliasmus, der auf der Of-            nach aus der Zeit vor und nach der Zeitenwende) findet
fenbarung des Johannes (Kapitel 20) und indirekt auf         sich in Josua 13,2 der Begriff Philistiim (Φιλιστιιμ) als
einer gewissen Idee der jüdischen Apokalyptik basierte.      Bezeichnung des Landes, in dem Philister wohnen. Philo
Der Chiliasmus bedeutet die Erwartung einer tausend-         und Flavius Josephus nennen die Bewohner des
jährigen, besonders qualifizierten Zeit auf Erden unter      Landes Philistinoi (Φιλιστιvοί). Hier wird altgriechisch
der Herrschaft Christi. Dabei gab es zwei Ausprägun-         Philistinoi als Ableitung des hebräischen Begriffs
gen des Chiliasmus: die dominierendere und hinsicht-         Pleschet (      ) verwendet, was «Land der Philister»
lich des menschlichen Einsatzes für das Reich Gottes         heisst. Als Pleschet wurde ursprünglich nur die Küs-
optimistischere post-millenaristische Richtung erwar-        tenebene südlich von Jaffa bezeichnet.
tete die Wiederkunft Christi am Ende des tausendjähri-
gen Reiches, die «apokalyptischere» prämillenaristi-
sche Richtung vorher. Der Chiliasmus wurde insbeson-         Unter römischer Herrschaft: Der Begriff
dere ab dem 17. Jahrhundert im Pietismus (im engli-          Palæstina als politische Waffe gegen die
schen Puritanismus schon ab der zweiten Hälfte des           jüdischen Herrschaftsansprüche in Judäa
16. Jahrhunderts) und dann darüber hinaus in breiteren
kirchlichen Kreisen wirksam. Als Voraussetzungen für         Nach der Niederschlagung des jüdischen Aufstands
den Anbruch des Reiches Gottes wurden dabei im               benannte der römische Kaiser Hadrian im Jahre 135 das
Rückgriff auf Paulus (Röm 11,25) die Bekehrung des           ganze Land, in dem die Juden wohnten, nach dem zu
8   Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission
    Land Israel, Staat Israel, heiliges Land

    dieser Zeit nicht mehr gebräuchlichen Namen Palæstina         Politische Betrachtung: Die Politisierung
    (abgeleitet vom altgriechischen Philistinoi) für die ge-      des Begriffs Palästina
    samte Provinz Judæa. Der Namen des Landes Judäa
    sollte getilgt werden, um jede Erinnerung daran und an        Nach dem Sechs-Tage-Krieg im Jahr 1967, als Israel
    eine jüdische Souveränität auszulöschen. So klingt es         die Westbank von Jordanien und unter anderem auch
    zumindest in der jüdischen kollektiven Erinnerung.            den Gazastreifen von Ägypten eroberte, erhielt der
                                                                  Begriff Falastin eine neue politische Dimension. Der
                                                                  Gebrauch des Begriffs in seiner lateinischen Überset-
    Islamische Zeit: Das Gebiet als Teil                          zung Palæstina in Kreisen, die sich für das Selbst-
    mehrerer regionaler Einheiten                                 bestimmungsrecht der Völker und die Entkolonisierung
                                                                  einsetzten, hatte zudem in den Ohren mancher jüdi-
    Als im Zuge der islamischen Expansion die Region im           scher Personen einen besonderen Unterton. Spätes-
    7. Jahrhundert dem muslimischen Herrschaftsbereich            tens mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation
    eingegliedert wurde, teilten die Osmanen das Land in          (PLO) erhielt der Begriff Palästina in jeder Sprache
    Militärdistrikte auf. Das Gebiet, das den grossen Teil der    aus jüdischer Sicht eine bedrohliche Komponente. Be-
    römischen Provinz Judæa (später eben Palæstina                gründet kann dies durch die Tatsache werden, dass
    genannt) bildete, erhielt die arabischen Namen Djund          die PLO bis in die 1980er-Jahre das Ziel verfolgte, den
    Urdun (Jordanien) und Djund Dimashq (Damaskus).               Staat Israel zu zerstören und an seiner Stelle einen
    Die türkische Bezeichnung Filistin taucht im osmani-          palästinensisch-arabischen Staat zu errichten.
    schen Herrschaftsgebiet nur untergeordnet auf. Als po-
    litischer Begriff wurde er aber kaum verwendet.
                                                                  Der Begriff Palästina als Bedrohung
                                                                  der jüdischen Existenz
    Mandatszeit: Der Begriff Palästina
    als geografische Bezeichnung wird                             Wegen der jüdischen Erfahrungen im Verlauf der Ge-
    wiederentdeckt                                                schichte (angefangen bei Hadrians Absicht mit dem
                                                                  Begriff Palæstina die Erinnerung an die jüdische Herr-
    Die Briten verwendeten den Namen Palästina erstmals           schaft auszulöschen und insbesondere wegen des Trau-
    im 20. Jahrhundert für das Mandatsgebiet, das seiner-         mas des Holocaust) empfinden manche Juden den Be-
    seits in das kleinere Cisjordanien (neulateinisch für dies-   griff Palästina in mehrfacher Hinsicht (historisch und
    seits des Jordanflusses) vom Jordanfluss westwärts            aktuell politisch) als Bedrohung der jüdischen Existenz,
    bis zum Mittelmeer und das grössere Transjordanien            nicht nur im Nahen Osten, sondern auch auf der gan-
    (jenseits des Jordanflusses) im Osten aufgeteilt war.         zen Welt. An den Begriff Palästina bleibt bis heute die
    Die auf dem Mandatsgebiet lebenden Juden nannten              jüdische «Vernichtungsangst» gekoppelt.
    es auf Hebräisch Palestina (            ), die Araber auf
    Arabisch Falastin (         ).
                                                                  Die Geburt des Begriffs der Palästinenser

    Nach der Gründung des Staates Israel                          Nach 1967 etablierte sich in Europa der Begriff der Pa-
                                                                  lästinenser, zunächst ohne damit die Idee an einen zu
    Mit der Gründung der Staaten Israel auf der Westseite         schaffenden Staat Palästina zu verbinden. Als Palästi-
    und Jordanien auf der Ostseite des Jordans und ins-           nenser wurden in erster Linie Menschen bezeichnet,
    besondere mit der Übernahme der Gebiete der heu-              die aus dem Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan
    tigen Westbank durch Jordanien im Jahr 1948 wurde             stammten, insofern sie nicht jüdische Bürger des Staa-
    der Begriff Palästina zunehmend politisiert. Er verlor        tes Israel waren. Den Christen in der Schweiz wurde
    seine rein geografische Bedeutung. Dennoch wurde              es nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 und dem Liba-
    zur Beschreibung des geografischen Begriffs des               nonfeldzug 1982 bewusst, dass es neben den Kirchen
    Landes zwischen Jordan und Mittelmeer und südlich             des 1. Jahrhunderts unter den Palästinensern auch
    von Libanon immer öfter die an der britischen Grenz-          eine christliche Minderheit gibt. So entstand eine So-
    ziehung angelehnte Bezeichnung Palästina verwen-              lidarität mit Christen unter den Palästinensern, die
    det. Die in Israel, der Westbank und Gaza lebenden            auch die Einstellung von weiten Kreisen der christli-
    Araber nannten das Land aber weiterhin auf Arabisch           chen Bevölkerung der Schweiz zum modernen Staat
    Falastin.                                                     Israel veränderte.
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Nach den Friedensgesprächen von Oslo                         Missverständnissen. Es ist folglich wichtig, die verschie-
                                                             denen Bedeutungen der Bezeichnung klar voneinander
Nach den Friedensgesprächen von Oslo im Jahr 1993            zu unterscheiden. Je nach Kontext kann der Ausdruck
und der Gründung der palästinensischen Autonomie-            Volk Israel eine ethnische, eine religiöse, eine nationa-
behörde erhielt der politische Begriff Palästina eine        le oder eine kulturelle Bedeutung haben. Manchmal
neue Dimension. Der Begriff stand fortan im politi-          wird er nur in einem, häufig aber gleichzeitig in mehre-
schen Diskurs für einen noch zu schaffenden Staat in         ren dieser Sinne verwendet. Zudem gewinnt der
der Westbank und in Gaza. Je nachdem, wer den Be-            Begriff Volk Israel in der christlichen Tradition und
griff auf palästinensischer Seite verwendete, hatte er       Theologie eine heilsgeschichtliche Bedeutung.
eine andere Bedeutung. Vertreter der radikalislami-
schen Seite brauchten den Begriff Falastin weiterhin
als Bezeichnung eines islamischen Staates zwischen           «Israel» als Volk
Mittelmeer und Jordan und beriefen sich auf die histo-
rische islamische Herrschaft in diesem Gebiet. Vertre-       Mit dem Volk Israel kann in jüdischen Quellen die
ter der Autonomiebehörde verwendeten den Begriff             Gemeinschaft der Menschen gemeint sein, die eine
nicht immer klar umrissen: Während sie auf Englisch          gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Vergan-
von Palestinian State sprachen, nannten sie das Ge-          genheit, und damit verbunden ein gemeinsames Erbe
biet auf Arabisch weiterhin Falastin, was in den Ohren       hat. Dieses Erbe wird oft Tradition genannt.
mancher Israeli klingt, als sei ein palästinensisch-ara-
bischer Staat vom Mittelmeer bis zum Jordan das Ziel.        Die Geschichte des Volkes Israel beginnt, gemäss der
                                                             Tora, mit dem Auszug aus Ägypten, führt das Volk ins
                                                             Land Kanaan, in die babylonische Diaspora, kurz da-
Suche nach wertneutralen Sprachregelungen                    nach zurück in sein Land, nochmals in eine – diesmal
                                                             lange und leidvolle – Diaspora, um einen Teil des Vol-
Im Hebräischen existieren seit fünf Jahrzehnten zwei         kes wieder in sein Land zurückkehren zu lassen.
«Palästina»-Bezeichnungen. Mit Palestina (               )
wird das britische Mandatsgebiet umschrieben. Mit            Gemäss dieser Bezeichnung wird die Zugehörigkeit
Falastin (       ) der palästinensische Staat aus einer      zum Volk Israel primär durch die Geburt bestimmt. Die
palästinensischen Optik vor den Friedensgesprächen           Zugehörigkeit entsteht somit vorwiegend auf eine pas-
von Oslo. Spricht man in Israel vom künftigen palästinen-    sive Art.
sischen Staat, verwendet man den Begriff Staat der Pa-
lästinenser (auf Englisch: Palestinian State; auf Deutsch:
Palästinenser-Staat). Diese Bezeichnung setzt sich auch      «Israel» als Religion
im deutschen Sprachgebrauch immer mehr durch.
                                                             Mit Volk Israel ist hier der Glaube, das religiöse Be-
                                                             kenntnis, gemeint. Die zu dieser Bezeichnung verwen-
Empfehlung zur differenzierten                               deten Adjektive sind «jüdisch» oder «israelitisch».
Verwendung der Begriffe
                                                             Die Zugehörigkeit zum Volk Israel wird hier durch die
Aus Sicht des christlich-jüdischen Dialogs wäre es von       Tora, die religiöse Tradition, bestimmt. Zum Volk Israel
Vorteil, den Begriff Palästina, möglichst nicht in seiner    gehört der Jude, der die Tora akzeptiert und bereit ist,
politischen Bedeutung zu verwenden. Die Begriffe Pa-         gemäss ihren Vorschriften, Werten und Zielen zu leben.
lästinenser-Staat oder palästinensischer Staat wären         Diese Zugehörigkeit ist somit eine eher aktive, von in-
im politischen Kontext die differenzierteren Begriffe. In    nen her bestimmte Zugehörigkeit.
den Medien und unter Politikern dominiert bereits der
Gebrauch dieser Begriffe.
                                                             «Israel» als Staat

Volk Israel                                                  Israel ist heute auch die Bezeichnung für den 1948 ge-
                                                             gründeten Staat Israel. In dieser Bedeutung ist mit
Wenn vom Volk Israel (‘Am Israel) die Rede ist, kann         «Volk Israel» die Bevölkerung des Staates Israel, die
sehr Unterschiedliches gemeint sein. Die Verwendung          Israelis, gemeint. Als Adjektiv wird hier «israelisch»
der Bezeichnung Volk Israel führt deshalb häufig zu          verwendet.
10   Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission
     Land Israel, Staat Israel, heiliges Land

     Die Zugehörigkeit ist in diesem Fall durch den Wohnort         Zionismus
     bestimmt. Vor allem hier wird klar, wie wichtig eine ein-
     deutige Verwendung der Bezeichnung Israel ist. Denn            Noch bevor sich der uns heute bekannte Zionismus als
     viele Israelis sind jüdisch, israelitisch. Aber es gibt auch   jüdische Nationalbewegung bildete, existierte im frühen
     Israelis, die anderen religiösen oder ethnischen Ge-           19. Jahrhundert eine Siedlerbewegung nach Palästina
     meinschaften gehören. Andererseits wiederum gibt es –          inspiriert durch eine christliche Frömmigkeitsbewegung
     ausserhalb von Israel – viele, die jüdisch, aber keine         (Templerorden). Diese Siedler erwarteten das heilbrin-
     Israelis sind.                                                 gende eschatologische Geschehen im Heiligen Land.
                                                                    Der zeitgenössische, durch US-amerikanische Evan-
                                                                    gelikale geprägte «christliche Zionismus» bewegt sich
     «Israel» als Kultur                                            im Horizont derselben und ähnlicher Vorstellungen, die
                                                                    hinsichtlich der Bestimmung des Landes und Staates
     Seit der Moderne wird die Bezeichnung Israel auch auf          Israel ältere chiliastische Auffassungen mit einer bibli-
     eine weitere Art verwendet. In der Kunst und Literatur         zistischen Schriftauslegung (zum Beispiel Sacharja)
     etwa, in der Philosophie und Ethik wird vom Erbe vom           verbinden. Sie leiten das Recht der Juden auf das Land
     Volk Israel gesprochen, ohne dass damit etwas Ethni-           unmittelbar aus biblischen Texten ab. Diese Interpreta-
     sches, Religiöses oder Nationales gemeint ist, sondern         tion, die von evangelikalen Christen bis heute vertre-
     etwas rein Kulturelles.                                        ten wird, ist nicht frei von Elementen der Substitutions-
                                                                    theologie, die im Widerspruch zu den Prämissen des
                                                                    jüdisch-christlichen Dialogs steht.
     «Israel» als berufenes Volk Gottes
                                                                    Im Judentum entstand der Zionismus im Verlauf des
     Gemäss dem Alten Testament wird das Wort «Volk»                19. Jahrhunderts im Zuge des aufkommenden Natio-
     für Israel als Volk Gottes, sprich das erwählte Volk           nalismus in Europa, welcher den Juden keinen Platz in
     verwendet, das sich Gott durch den Bund geschaffen             den Mehrheitsgesellschaften einräumte. Der National-
     hat. Trotzdem wird schon im Neuen Testament die Be-            staat des 19. Jahrhunderts sah eine Einheit von Territo-
     zeichnung Israels als Volk Gottes zunehmend auf die            rium, nationaler Ursprungsgeschichte und Sprache vor.
     christliche Gemeinde bzw. die Kirche im Sinne der              In verschiedenen Ländern kam es zu anti-jüdischen
     Versammlung der von Gott aus der Welt Herausgeru-              Ausschreitungen und Pogromen. Der Wiener Journalist
     fenen (ekklesia, das griechische Wort für Kirche, kommt        Theodor Herzl (1860–1904) kam anlässlich des Pro-
     vom Verb ek-kalein: «herausrufen») übertragen.                 zesses gegen den französischen Hauptmann Alfred
                                                                    Dreyfus, der des Hochverrates angeklagt wurde, zum
     In der christlichen Theologie wird das Volk Gottes der         Schluss, dass das, was als die «Judenfrage» bezeich-
     aus Juden und Heiden bestehenden christlichen Ge-              net wurde, nur gelöst werden könne, wenn Juden einen
     meinde zentraler Gegenstand der Heilsgeschichte.               eigenen Staat besässen. Aufgrund der historischen
     Man merkt aber eine Verschiebung mit der Substitu-             Verbindung zum Land Israel, zum osmanischen Paläs-
     tionstheologie. Diese Theologie wird auch Ersatz-, Er-         tina, äusserte die 1897 in Basel gegründete zionistische
     setzungs-, Enterbungs-, Verwerfungs-, Verdrängungs-,           Bewegung die feste Absicht, dass der angedachte Staat
     Enteignungstheologie oder Superzessionismus (auf               auf diesem Gebiet (und nicht, unter anderem, in Argen-
     Englisch: supersessionism, abgeleitet vom lateinischen         tinien oder Ostafrika, wie in Basel auch erwogen) ent-
     sedere: «sitzen», und super: «auf») genannt. Sie be-           stehen sollte.
     hauptet, das «geistliche Israel» der Gnade des Evan-
     geliums hätte das «fleischliche Israel» des Gesetzes           Der Zionismus ist Ausdruck der emanzipativen Idee,
     Moses ersetzt. Im Rahmen dieser Substitutionstheo-             dass Juden ihr Schicksal nicht mehr passiv erdulden,
     logie wird die Kirche zum verus Israel, zum «wahren            sondern selbst ihre Zukunft gestalten wollen. Der Zionis-
     Israel», zum «neuen» Volk Gottes erklärt. In der christ-       mus ist alles andere als eine homogene Bewegung. Er
     lichen Tradition kannte die Substitutionstheologie im          hat sich im Laufe der Zeit aufgrund historischer Ereignis-
     Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Modelle, von           se verschieden ausgeprägt. Es bestehen Unterschiede
     denen heutzutage noch einige vertreten werden, in ers-         betreffend Ziele einer staatlichen Existenz und deren
     ter Linie durch evangelikale Christen. Letzteres erklärt       Priorisierung, der gesellschaftspolitischen und religiö-
     auch, warum sich Evangelikale so stark für Israel ein-         sen Orientierungen. Je nach ideologischer Prägung gibt
     setzen, nämlich weil es ihrer Meinung nach um die Er-          es auch Unterschiede in Bezug auf die Kompromiss-
     füllung von Gottes Verheissungen geht.                         bereitschaft gegenüber den Palästinensern.
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