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Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission Land Israel, Staat Israel, heiliges Land Die Bedeutung von historisch-theologischen Zugängen für den jüdisch-christlichen Dialog Bern, 2021
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission Land Israel, Staat Israel, heiliges Land Inhaltsverzeichnis Land Israel, Staat Israel, heiliges Land: für einen sachlichen Dialog über Israel/Palästina Verlautbarung der Evangelisch-Jüdischen Gesprächskommission EJGK .......................... 3 I. GESAMMELTE ÜBERLEGUNGEN DER EVANGELISCH-JÜDISCHEN GESPRÄCHSKOMMISSION .......................... 4 Warum dieses Thema? .............................. 4 Zielsetzung ................................................. 4 Was ist der Beitrag der Kommission?.... 5 II. HISTORISCH-THEOLOGISCHE BEGRIFFSKLÄRUNGEN – EIN VERSUCH .... 5 Heilig ............................................................ 5 Land und Staat Israel ................................ 5 Messianismus ............................................. 6 Palästina ...................................................... 7 Volk Israel.................................................... 9 Zionismus..................................................... 10
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission 3 Land Israel, Staat Israel, heiliges Land Land Israel, Staat Israel, heiliges dient, wenn man sich immer wieder bewusst wird, was Land: für einen sachlichen Dialog die eigenen Vorstellungen und Denkweisen bestimmt über Israel /Palästina und nährt. Verlautbarung der Evangelisch-Jüdischen 4. Eine umfassende Kenntnis der historischen, Gesprächskommission EJGK politischen, kulturellen und religiösen Zusam- menhänge ist förderlich für einen differen- ziert und sachlich geführten Dialog. 1. Die Evangelisch-Jüdische Gesprächskom- Bewusstseinsförderung alleine reicht aber nicht aus. mission EJGK stellt fest, dass Debatten über Es braucht umfassende Kenntnis der historischen, po- Israel/Palästina oft einseitig und undifferen- litischen, kulturellen und religiösen Zusammenhänge. ziert geführt werden. Dieses Wissen wird heute leider zu wenig vertieft und Gespräche zwischen und innerhalb von Gruppen oder unilateral vermittelt. Dabei ist gerade beim Spannungs- Gremien, die sich vom Israel / Palästina-Thema ange- feld Israel / Palästina Zuhören und gegenseitiges An- sprochen fühlen oder sich auf der einen oder anderen erkennen oft zielführender als Erklärungs- und Über- Seite positionieren, werden oft einseitig und undiffe- zeugungsversuche. Deswegen hat die EJGK historisch- renziert geführt. Gestützt auf ihre lange Erfahrung des theologische Zugänge zu einigen konfliktträchtigen Dialogs möchte die EJGK die Bemühungen all dieser Begriffen erarbeitet, namentlich zu: heilig, Land und Gruppen und Gremien unterstützen. Dabei muss be- Staat Israel, Messianismus, Palästina, Volk Israel, Zio- wusst bleiben, dass in diesem Dialog zwei Perspektiven nismus. bzw. Partner beteiligt sind: die Juden und die evangeli- schen Christen. Zugleich findet dieser Dialog auf dem Diese aufgezählten Gesichtspunkte führen zur Schluss- Hintergrund der Existenz eines dritten Partners – der folgerung, dass ihnen nur im Rahmen eines konstrukti- Muslime – statt, der in diesem Thema eine wesentliche ven und echten Dialogs Rechnung getragen werden Rolle spielt. kann. Die Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission er- 2. Debatten im Spannungsfeld Israel/Paläs- mutigt alle an den Debatten über Israel / Palästina Be- tina sind häufig einseitig und undifferenziert, teiligten: weil die Gesprächspartner ihre Einstellungen – sich ihre emotionalen Verstrickungen und traditio- mit ihrer eigenen Anschauung, ihren persön- nellen Prägungen in diesem Spannungsfeld bewusst lichen Projektionen und dem kollektiven Ge- zu machen, dächtnis verbinden. – mehr in Wissensvermittlung zu investieren, Diese Verknüpfung kann auf allen Seiten in unterschied- – Gesprächspartner ernst zu nehmen und ihnen mit lichem Masse Identitätsängste auslösen, da die Ge- Respekt zuzuhören. sprächspartner durch ihre jeweilige Geschichte und de- ren Rezeption geprägt sind. Diese Geschichte ist auch Dies ist aus der Sicht der EJGK der Weg zu einer frucht- belastet durch die lange Tradition des Antisemitismus baren Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld in Europa und durch die koloniale Vergangenheit west- Israel /Palästina und einem inklusiveren Dialog zwischen licher Staaten. Eine Rolle spielen auch die unterschied- den unterschiedlich geprägten Gemeinschaften. lichen Interpretationen völkerrechtlicher Verpflichtungen sowie der Status der seit 1967 von Israel verwalteten Gebiete und der palästinensischen Flüchtlinge. Diese Faktoren lösen Emotionen, Schuldgefühle und Loyali- tätskonflikte aus, welche selbst sachlich geführte De- batten überschatten. 3. Ein Bewusstsein für die eigene religiöse oder weltanschauliche Prägung hilft bei der Objektivierung des Themas. Persönliche Anschauungen, die auch religiös oder durch Gedankensysteme aller Art geprägt sind, beeinflussen die Sicht auf das Spannungsfeld Israel / Palästina we- sentlich. Dies ist unvermeidlich. Hier ist der Sache ge-
4 Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission Land Israel, Staat Israel, heiliges Land I. chatologisch oder symbolisch aufgeladen worden. Da- GESAMMELTE ÜBERLEGUNGEN durch zeigt sich die grundsätzliche Asymmetrie zwi- DER EVANGELISCH-JÜDISCHEN schen Judentum und Christentum. Diese erfordert ein permanentes Bemühen, die relevanten Begriffe für das GESPRÄCHSKOMMISSION Verständnis, dessen was für die Gesprächspartner auf dem Spiel steht, zu klären. Warum dieses Thema? Wer nach dem Heiligen Land und dem Bestehen des Als Arbeitsgruppe, die aus jüdischen und evangelischen Staates Israel fragt, muss feststellen, dass das Thema Mitgliedern zusammengesetzt ist, erlebte die Evan- den jüdisch-christlichen Dialog belastet. Starke emo- gelisch-Jüdische Gesprächskommission EJGK selber tionale und existentielle Aufladung sowie leidenschaft- über Jahre in ihrem Dialog die erwähnten Schwierig- liche Reaktionen überbieten plötzlich rationale, kontex- keiten bei diesem Thema: Auch Argumente und Gegen- tuell verortete Argumente und können zu irrationalen argumente mit verifizierter Begründung aus dem Kon- Einstellungen führen. Für die einen verknüpft sich die text und der Motivation der jeweiligen Protagonisten jüdische Identität aus verschiedenen Gründen mit dem mochten nicht überzeugen. Die Kommission musste zur Land Israel und mit dem Bestehen des Staates Israel. Einsicht kommen: Hier geht es um grundlegende, nicht Deshalb wird jede zu Recht oder zu Unrecht formulier- immer bewusste oder kontrollierbare Emotionen, die te Kritik am Staat Israel als Infragestellung des Jude- die persönliche Biographie und die religiöse Identität seins wahrgenommen. der Beteiligten treffen. Aus dieser Erfahrung machte es sich die EJGK zur Aufgabe, diese Erkenntnis durch Viele Christen deuten den Staat Israel heilsgeschicht- ihre Dialogpraxis zu bearbeiten und anderen Dialog- lich, weil sie in ihm die Erfüllung der alttestamentlichen und Interessengruppen zugänglich zu machen. Prophetien zu erkennen glauben. Zudem sind derart hohe religiös-moralische Erwartungen an den Staat Israel vorhanden, dass Entscheidungen, die im Zusam- Zielsetzung menhang mit der Sicherheit des Staates stehen, Em- pörung auslösen. Dabei sind die Fronten bei weitem Mit diesem Thema führt die Kommission das in der nicht so klar und unmissverständlich abgegrenzt oder Gemeinsamen Erklärung zum Dialog von Juden und identifizierbar, wie oft angenommen wird. evangelischen Christen in der Schweiz (2010) begon- nene Gespräch weiter. Jenseits aller Glaubensdiffe- Einfache Antworten auf die komplexen Fragen rund um renzen zwischen Juden und Christen postulierte diese die religiöse und politische Bedeutung von Land und Erklärung eine gemeinsame Verantwortung gegen- Staat Israel vergiften das gegenseitige und für eine über Mitmenschen und Umwelt. Dieses Fundament bil- eingehende und wahrhaftige Diskussion unerlässliche det die Grundlage der vorliegenden Verlautbarung. Vertrauen. Man gefährdet mithin das Verständnis, das in persönlichen Begegnungen, in jüdisch-christlichen Die Kommission will angesichts des gegenseitigen Ver- Arbeitsgruppen geführten Gesprächen und in nationa- ständnisses und Vertrauens die bereichernde Dialog- len und internationalen Gremien über Jahre aufgebaut erfahrung fortsetzen. Durch gründliches und versach- und gefestigt wurde. Der Mangel an Nuancierungen lichendes Nachdenken, das eine Distanz – im Sinne bei einem so sensiblen Thema verursacht schnell Ver- von Paul Ricœurs Begriff der «Distanzierung» oder einfachungen, Einseitigkeiten und eine Voreingenom- «Distanznahme» (distanciation), der die Andersartig- menheit, welche zu Ressentiments, Gleichgültigkeit und keit berücksichtigt – bewirkt, will die Kommission Fol- Entfremdung führen. gendes erreichen: – hartnäckige Vorurteile bekämpfen; Das Thema birgt in sich eine Ambivalenz, die dem Ju- – einseitige Sichtweisen verlassen und die verschiede- dentum wesenhaft ist. Das Judentum ist gleichzeitig nen – religiösen, (geo-)politischen, kulturellen – Ebe- eine Religion und ein Volk, die beide an ein Land ge- nen differenzieren; bunden sind: Die religiösen Gebote bestimmen die – die Debatte entschärfen und versachlichen; Beziehung des Volkes zu dem ihm verheissenen Land – die Wandlung des jüdischen Selbstbewusstseins im Israel (Eretz Israel) und der Bezug zum Land ist kons- 20. Jahrhundert durch die Übernahme einer aktiven titutiv für die jüdische Identität. Im christlichen Be- Rolle in der Weltgeschichte wahrnehmen; wusstsein sind bis zur heutigen Zeit das Land Israel – mit den Verschiedenheiten umgehen lernen und sie und die Stadt Jerusalem immer wieder historisch, es- im Dialog fruchtbar werden lassen.
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission 5 Land Israel, Staat Israel, heiliges Land Was ist der Beitrag der Kommission? Heilig ist eher das, was ausgesondert wird, um die Be- gegnung zwischen Gott und dem Menschen zu ermög- Die Kommission schlägt keine politischen Lösungen lichen und dadurch Gott in der Welt gegenwärtig zu ma- vor; als Gesprächskommission ist dies auch nicht ihr chen. Dies soll für abgesonderte Texte (heilige Schriften Auftrag. Ihr Beitrag besteht darin, die Bedingungen für wie beispielweise Tora, Bibel), Zeiten (Schabbat, Sonn- einen authentischen Dialog aufzuzeigen, um die ein- tag, Feiertage) und Orte gelten. Heilig ist in einem ab- seitigen Einstellungen der beteiligten Parteien zu über- soluten Sinn das, worüber der Mensch nicht verfügen winden. Ein wahrhafter Dialog kann nur auf Augenhö- und keine Macht ausüben kann. In diesem Sinne ist nur he zwischen gleichberechtigten (Gesprächs-)partnern Gott heilig. geführt werden, die dem anderen zuhören, dessen Sicht- weise achten und dessen (Glaubens-)Überzeugungen Versteht man «heilig» auf diese Weise, dann ist das ernst nehmen. Nur so kann verhindert werden, dass es «heilige Land» der Ort, der durch die Einhaltung der Ge- zu verhängnisvollen Polarisierungen kommt. Ein offenes bote geheiligt werden muss, um für Gott durchlässig Gespräch führt zur Anerkennung des anderen, die es er- zu werden. In der frühen rabbinischen Zeit wird der Be- möglicht gegenseitige Beziehungen zu gestalten und ge- griff «heiliges Land» für das Gebiet verwendet, in dem meinsam Wege in eine friedliche Zukunft zu suchen. die landbezogenen Gesetze eingehalten und die Tem- pelabgaben geleistet werden müssen. In einem weiteren Der Dialog erfordert auch Wissen und einen kritischen Sinn ist das Ziel aller Gebote der Tora, der sozialen wie Blick auf die Geschichte, um über eine einseitige Sicht der rituellen, den Namen Gottes zu heiligen im Land der Dinge hinauszugehen. Als Grundlage dafür hat die Israel und darüber hinaus in der Welt. Kommission ihre eigenen Texte zu den Begriffen Pa- lästina, Land und Staat Israel, Volk Israel, Zionismus, Somit wird verständlich, dass irdische Heiligkeit grund- Messianismus, heilig erarbeitet. sätzlich kein Zustand ist, sondern ein Auftrag, der einen stets andauernden Prozess auslöst (Lev 19,2). Aufgrund ihrer eigenen Erfahrung eines gegenseitigen Die Heiligkeit ist ein geschenktes Potential, das for- aufmerksamen Zuhörens will die Kommission Menschen dert, in die Tat umgesetzt zu werden. Wenn Heiligkeit und Gruppen, die sich auf verschiedene Art und Weise darin besteht, Gott in der Welt zu dienen, mit dem Ziel, mit diesem Thema befassen, dazu anregen und ermu- sie zu verändern, impliziert sie eine Verantwortung tigen, die dialogische Komponente, welche die Anerken- gegenüber Mitmenschen und Umwelt bzw. der gesam- nung des anderen anstrebt, in ihren Reflexionen und ten Schöpfung. Tätigkeiten miteinzubeziehen. Land und Staat Israel II. HISTORISCH-THEOLOGISCHE Im Tenach wird das Land, das die Juden Eretz Israel BEGRIFFSKLÄRUNGEN – EIN VERSUCH nennen, als das Land bezeichnet, «das ihnen zu geben ich ihren Vorfahren geschworen habe» (Dtn 10,11). Heilig Welches Gebiet es genau umfasst, unterscheidet sich je Im Kontext des Nahostkonflikts spielt der Begriff «hei- nach den geopolitischen Verhältnissen in den verschie- lig» eine entscheidende Rolle. Er wird beispielsweise denen Epochen der biblischen Geschichtsschreibung. mit Land, Orten, Zeiten, Personen, Gegenständen und Wird also der Begriff Eretz Israel verwendet, sind die- sogar mit Kriegen assoziiert. Jedoch stellt sich die Fra- jenigen Gebiete damit gemeint, die von den Bene Israel ge, wie der Begriff in den Grundtexten zu verstehen ist («Söhne Israel» bzw. Israeliten) bewohnt werden. Die To- und ob tatsächlich von irdischen Dingen gesagt wer- ra verknüpft das Recht in diesem Land zu leben mit dem den kann, dass sie heilig seien. Bund, den Gott mit den Bene Israel geschlossen hat. Als erster Schritt sollte man hier das Heilige vom Sa- Aus biblischer und rabbinischer Sicht ist das verheis- kralen unterscheiden. Als sakral gelten Objekte oder sene Land immer dasjenige, in dem die Tora erfüllt und Orte, denen eine in der natürlichen Ordnung der Dinge das Königreich Gottes verwirklicht werden sollen. Nur liegende Macht über die Menschen zugeschrieben wird. in dieser eschatologischen Hinsicht reicht das Land von Diese Macht beraubt die ihr unterworfenen Menschen einem Ende zum anderen – biblisch ausgedrückt: vom ihrer Freiheit und Verantwortung. Nil bis zum Euphrat (Gen 15,18).
6 Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission Land Israel, Staat Israel, heiliges Land Spätestens ab der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts Messianismus vor unserer Zeitrechnung leben die Juden mehrheitlich in der Diaspora (Gola). In der jüdischen Tradition wird Der Begriff des Messianismus knüpft an die im alten diese als Exil (Galut) bezeichnet. Aus diesem Grund Israel geübte Praxis an, Könige und Priester zu salben. besteht die Hoffnung, dass Gott sein Volk aus dem Exil Er beinhaltet die Erwartung eines von Gott Gesalbten, in das Land zurückbringt, dass der Tempel wieder ge- der auf Erden ideale Zustände (wieder-)herstellt. Was baut und die Prophezeiungen von Jesaja 11 erfüllt wer- diese Zustände genau umfassten, variierte je nach re- den. Diese Hoffnung wird in der täglichen Synagogen- ligiöser Ausrichtung und gesellschaftlicher Zugehörig- liturgie und in Hausgebeten sowie in verschiedenen keit. Messianismus ist eine dem Judentum und dem Gebräuchen ausgedrückt. Anderseits fordert die jüdi- Christentum gemeinsame Vorstellung, die in der bibli- sche Tradition in Anlehnung an die Worte des Prophe- schen und jüdischen Tradition wurzelt. Die christliche ten Jeremiah (29,4–7), sich in den Ländern der Dias- Messiasidee baut auf der vorhandenen jüdischen Aus- pora einzurichten und zu ihrem Wohl beizutragen. prägung der Messiaserwartung auf. Beide haben sich Gleichzeitig gab es stets jüdische Gemeinden in Eretz im Laufe des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung Israel sowie religiös motivierte Alijot (Plural von Alija: unter Beeinflussung und Abgrenzung weiter – und aus- «Aufstieg» bzw. Einwanderung) von einzelnen Rabbiner einander – entwickelt. oder ganzen Gemeinden nach Eretz Israel. Trotz der grundlegenden Differenz, dass Juden die erst- Bis zum Emanzipationsprozess in Europa bildeten die malige Ankunft des Messias und Christen dessen Wie- Juden sowohl in der christlichen wie in der muslimischen derkunft (oder Parusie) erwarten, weil sie Jesus von Welt mehr oder weniger autonome Gemeinden, die in ei- Nazareth als den Messias, den Christus – latinisierte nem Abhängigkeitsverhältnis zu der umgebenden Mehr- Form von Christos, sprich die altgriechische Überset- heitsgesellschaft standen. Das Mass der Autarkie ist zung des hebräischen Maschiach («Messias»), des proportional zur Intensität der Verfolgungen, denen jü- «Gesalbten» –, identifizierten, weist der Messianismus dische Gemeinden ausgesetzt waren. im Judentum und im Christentum Strukturanalogien auf. Dies etwa hinsichtlich der Fragen der Beteiligung des Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten Menschen am endzeitlichen Geschehen oder des Ver- nationalistische Ansprüche zur Bildung von National- hältnisses der eschatologischen Vollendung zur irdi- staaten. In diesem Rahmen und im Zusammenhang schen Welt. Die eine eher «quietistische» Ausprägung mit einer gefährdeten Emanzipation entstand auch ein findet sich vor allem im rabbinischen Judentum sowie jüdischer Nationalismus in der Form des Zionismus, im grosskirchlichen Christentum und rechnet mit einer der das Ziel hatte, einen selbstständigen Nationalstaat von Gott gewirkten Transformation der irdischen Welt für die Juden in Palästina zu errichten. Von Anfang an am jüngsten Tag. Die andere geht von einer quasi natür- hat es in der zionistischen Bewegung nebst der ge- lichen Entwicklung hin zu einer neuen Welt und einer meinsamen politischen Vision und Zielsetzung ver- erneuerten Menschheit aus, wobei dem Menschen eine schiedene politisch, kulturell und religiös motivierte gewisse Mitwirkungsfunktion zukommt. Wichtig für die Strömungen gegeben. Ausprägung der jüdischen messianischen Vorstellun- gen sind die geschichtlichen Perioden der nachexili- Der Zionismus mündete 1948 in die Gründung des schen Zeit bis zur römischen Besatzung, der Anfänge Staats Israel, der, zusätzlich zum Konflikt mit seinen des rabbinischen Judentums bis in die frühe Neuzeit arabischen Nachbarn, sein Verhältnis zum Land, zum und der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. In der Ent- Judentum und zur jüdischen Geschichte immer wieder wicklung der christlichen messianischen Vorstellungen von neuem definieren musste. In der Folge verschie- sind es die Perioden der sogenannten konstantinischen dener Kriege, der ungelösten Frage der eroberten Wende, des Hochmittelalters, der Reformationszeit Gebiete und der palästinensischen Bevölkerung sowie und des Pietismus im 17. und 18. Jahrhundert. Seit An- der Neudefinition jüdischer Identität durch den Staat fang des 20. Jahrhunderts erfährt der christliche Mes- Israel in 2018 haben sich diese Fragen zunehmend ver- sianismus eine neue Belebung mit dem Aufkommen schärft. der Freikirchen und der evangelikalen Bewegung. Nach jüdischer Vorstellung ist es die Rolle des Messias, das Volk Israel vom Joch der Unterdrückung und der Verfolgung zu befreien, die Verbannten und Verstreuten zu sammeln, den Tempel aufzubauen sowie den univer-
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission 7 Land Israel, Staat Israel, heiliges Land sellen Frieden zu bringen. Nach der Rückkehr von Juden Volkes Israels am Ende der Zeiten und der Fall Babels aus Babylon nach Jerusalem steht der Tempel im Mit- (päpstliches Rom) angesehen (aktive Judenmission telpunkt messianischer Erwartungen. Im Laufe der Zeit wurde gleichwohl nicht von allen Pietisten befürwor- werden Jerusalem und Tempel zur eschatologischen tet). Pietistischen Christen und zahlreichen Juden war Chiffre, wobei die Erwartung der Rückkehr bzw. des die Erwartung der Aufrichtung des Reiches Gottes auf Wiederaufbaus immer weniger eine konkrete politische Erden durch den Messias gemeinsam. Möglichkeit wird. Für die Mehrheit der Rabbinen ge- hört die Erwartung an den am Ende der Zeit kommen- Im 20. Jahrhundert nach der Schoa, der Gründung des den Messias zu den wichtigen Glaubensgrundsätzen. Staates Israel und den Kriegen zwischen Israel und den In der Zwischenzeit soll das Volk Israel die Tora einhal- arabischen Staaten 1967 und 1973 wurden messiani- ten und deren Gebote praktizieren. Dabei gab es auch sche bzw. chiliastische Vorstellungen zum Deutungs- innerrabbinische Debatten, ob ein tatkräftiges und from- horizont zahlreicher Juden und Christen für die Gegen- mes religiöses Verhalten das Kommen des Messias wart. Die Endzeit wird als imminent betrachtet. Auch beschleunige; ebenso überlebten auch mehr aktivis- auf diesem Hintergrund sind die jüdische Siedlerbewe- tisch-eschatologische Positionen und mit ihnen apoka- gung und ein «christlicher Zionismus» zu verstehen. lyptisches Gedankengut aus der Spätantike im rabbi- Dies wirkt bis in die Tagespolitik hinein. nischen Judentum. Die passiv wartende Haltung hatte mehr oder weniger Bestand bis zur Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492. Diese wurde als Ka- Palästina tastrophe erlebt, die sich als Katalysator für das Erstar- ken der messianischen Erwartung und das Auftreten Palästina wird heute als historischer, politischer und geo- verschiedener messianischer Bewegungen erwies. graphischer Begriff gebraucht. Je nachdem, wer ihn in welchem Kontext verwendet, klingen Sympathien, his- Während im Judentum der Begriff Messianismus für torische und politische Ansichten, Bekenntnisse, Iden- die gesamte Geschichte Gültigkeit hat, ist für das titäten und Ansprüche mit. «Palästina» hat weder für Christentum nach seiner Frühzeit der Begriff Chilias- Juden, noch für Christen oder Muslime eine theologi- mus (oder Millenarismus) präziser. Solange das frühe sche Bedeutung. Unweigerlich werden mit dem Begriff Christentum noch die Naherwartung der Wiederkunft Palästina aber starke Empfindlichkeiten geweckt. Christi kannte, war es messianisch. Als das Mehrheits- christentum ab der konstantinischen Wende ein positi- veres Verhältnis zum Staat und den weltlichen Dingen Historisch-geografische Betrachtung entwickelte, wurde die Erwartung der Wiederkunft Christi nicht mehr als unmittelbar bevorstehend be- Biblische Zeit trachtet. Der christliche Messianismus wandelte sich dann innerhalb einer Minderheit zum chiliastischen In der Septuaginta (griechische Übersetzung des Te- Messianismus bzw. zum Chiliasmus, der auf der Of- nach aus der Zeit vor und nach der Zeitenwende) findet fenbarung des Johannes (Kapitel 20) und indirekt auf sich in Josua 13,2 der Begriff Philistiim (Φιλιστιιμ) als einer gewissen Idee der jüdischen Apokalyptik basierte. Bezeichnung des Landes, in dem Philister wohnen. Philo Der Chiliasmus bedeutet die Erwartung einer tausend- und Flavius Josephus nennen die Bewohner des jährigen, besonders qualifizierten Zeit auf Erden unter Landes Philistinoi (Φιλιστιvοί). Hier wird altgriechisch der Herrschaft Christi. Dabei gab es zwei Ausprägun- Philistinoi als Ableitung des hebräischen Begriffs gen des Chiliasmus: die dominierendere und hinsicht- Pleschet ( ) verwendet, was «Land der Philister» lich des menschlichen Einsatzes für das Reich Gottes heisst. Als Pleschet wurde ursprünglich nur die Küs- optimistischere post-millenaristische Richtung erwar- tenebene südlich von Jaffa bezeichnet. tete die Wiederkunft Christi am Ende des tausendjähri- gen Reiches, die «apokalyptischere» prämillenaristi- sche Richtung vorher. Der Chiliasmus wurde insbeson- Unter römischer Herrschaft: Der Begriff dere ab dem 17. Jahrhundert im Pietismus (im engli- Palæstina als politische Waffe gegen die schen Puritanismus schon ab der zweiten Hälfte des jüdischen Herrschaftsansprüche in Judäa 16. Jahrhunderts) und dann darüber hinaus in breiteren kirchlichen Kreisen wirksam. Als Voraussetzungen für Nach der Niederschlagung des jüdischen Aufstands den Anbruch des Reiches Gottes wurden dabei im benannte der römische Kaiser Hadrian im Jahre 135 das Rückgriff auf Paulus (Röm 11,25) die Bekehrung des ganze Land, in dem die Juden wohnten, nach dem zu
8 Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission Land Israel, Staat Israel, heiliges Land dieser Zeit nicht mehr gebräuchlichen Namen Palæstina Politische Betrachtung: Die Politisierung (abgeleitet vom altgriechischen Philistinoi) für die ge- des Begriffs Palästina samte Provinz Judæa. Der Namen des Landes Judäa sollte getilgt werden, um jede Erinnerung daran und an Nach dem Sechs-Tage-Krieg im Jahr 1967, als Israel eine jüdische Souveränität auszulöschen. So klingt es die Westbank von Jordanien und unter anderem auch zumindest in der jüdischen kollektiven Erinnerung. den Gazastreifen von Ägypten eroberte, erhielt der Begriff Falastin eine neue politische Dimension. Der Gebrauch des Begriffs in seiner lateinischen Überset- Islamische Zeit: Das Gebiet als Teil zung Palæstina in Kreisen, die sich für das Selbst- mehrerer regionaler Einheiten bestimmungsrecht der Völker und die Entkolonisierung einsetzten, hatte zudem in den Ohren mancher jüdi- Als im Zuge der islamischen Expansion die Region im scher Personen einen besonderen Unterton. Spätes- 7. Jahrhundert dem muslimischen Herrschaftsbereich tens mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation eingegliedert wurde, teilten die Osmanen das Land in (PLO) erhielt der Begriff Palästina in jeder Sprache Militärdistrikte auf. Das Gebiet, das den grossen Teil der aus jüdischer Sicht eine bedrohliche Komponente. Be- römischen Provinz Judæa (später eben Palæstina gründet kann dies durch die Tatsache werden, dass genannt) bildete, erhielt die arabischen Namen Djund die PLO bis in die 1980er-Jahre das Ziel verfolgte, den Urdun (Jordanien) und Djund Dimashq (Damaskus). Staat Israel zu zerstören und an seiner Stelle einen Die türkische Bezeichnung Filistin taucht im osmani- palästinensisch-arabischen Staat zu errichten. schen Herrschaftsgebiet nur untergeordnet auf. Als po- litischer Begriff wurde er aber kaum verwendet. Der Begriff Palästina als Bedrohung der jüdischen Existenz Mandatszeit: Der Begriff Palästina als geografische Bezeichnung wird Wegen der jüdischen Erfahrungen im Verlauf der Ge- wiederentdeckt schichte (angefangen bei Hadrians Absicht mit dem Begriff Palæstina die Erinnerung an die jüdische Herr- Die Briten verwendeten den Namen Palästina erstmals schaft auszulöschen und insbesondere wegen des Trau- im 20. Jahrhundert für das Mandatsgebiet, das seiner- mas des Holocaust) empfinden manche Juden den Be- seits in das kleinere Cisjordanien (neulateinisch für dies- griff Palästina in mehrfacher Hinsicht (historisch und seits des Jordanflusses) vom Jordanfluss westwärts aktuell politisch) als Bedrohung der jüdischen Existenz, bis zum Mittelmeer und das grössere Transjordanien nicht nur im Nahen Osten, sondern auch auf der gan- (jenseits des Jordanflusses) im Osten aufgeteilt war. zen Welt. An den Begriff Palästina bleibt bis heute die Die auf dem Mandatsgebiet lebenden Juden nannten jüdische «Vernichtungsangst» gekoppelt. es auf Hebräisch Palestina ( ), die Araber auf Arabisch Falastin ( ). Die Geburt des Begriffs der Palästinenser Nach der Gründung des Staates Israel Nach 1967 etablierte sich in Europa der Begriff der Pa- lästinenser, zunächst ohne damit die Idee an einen zu Mit der Gründung der Staaten Israel auf der Westseite schaffenden Staat Palästina zu verbinden. Als Palästi- und Jordanien auf der Ostseite des Jordans und ins- nenser wurden in erster Linie Menschen bezeichnet, besondere mit der Übernahme der Gebiete der heu- die aus dem Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan tigen Westbank durch Jordanien im Jahr 1948 wurde stammten, insofern sie nicht jüdische Bürger des Staa- der Begriff Palästina zunehmend politisiert. Er verlor tes Israel waren. Den Christen in der Schweiz wurde seine rein geografische Bedeutung. Dennoch wurde es nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 und dem Liba- zur Beschreibung des geografischen Begriffs des nonfeldzug 1982 bewusst, dass es neben den Kirchen Landes zwischen Jordan und Mittelmeer und südlich des 1. Jahrhunderts unter den Palästinensern auch von Libanon immer öfter die an der britischen Grenz- eine christliche Minderheit gibt. So entstand eine So- ziehung angelehnte Bezeichnung Palästina verwen- lidarität mit Christen unter den Palästinensern, die det. Die in Israel, der Westbank und Gaza lebenden auch die Einstellung von weiten Kreisen der christli- Araber nannten das Land aber weiterhin auf Arabisch chen Bevölkerung der Schweiz zum modernen Staat Falastin. Israel veränderte.
Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission 9 Land Israel, Staat Israel, heiliges Land Nach den Friedensgesprächen von Oslo Missverständnissen. Es ist folglich wichtig, die verschie- denen Bedeutungen der Bezeichnung klar voneinander Nach den Friedensgesprächen von Oslo im Jahr 1993 zu unterscheiden. Je nach Kontext kann der Ausdruck und der Gründung der palästinensischen Autonomie- Volk Israel eine ethnische, eine religiöse, eine nationa- behörde erhielt der politische Begriff Palästina eine le oder eine kulturelle Bedeutung haben. Manchmal neue Dimension. Der Begriff stand fortan im politi- wird er nur in einem, häufig aber gleichzeitig in mehre- schen Diskurs für einen noch zu schaffenden Staat in ren dieser Sinne verwendet. Zudem gewinnt der der Westbank und in Gaza. Je nachdem, wer den Be- Begriff Volk Israel in der christlichen Tradition und griff auf palästinensischer Seite verwendete, hatte er Theologie eine heilsgeschichtliche Bedeutung. eine andere Bedeutung. Vertreter der radikalislami- schen Seite brauchten den Begriff Falastin weiterhin als Bezeichnung eines islamischen Staates zwischen «Israel» als Volk Mittelmeer und Jordan und beriefen sich auf die histo- rische islamische Herrschaft in diesem Gebiet. Vertre- Mit dem Volk Israel kann in jüdischen Quellen die ter der Autonomiebehörde verwendeten den Begriff Gemeinschaft der Menschen gemeint sein, die eine nicht immer klar umrissen: Während sie auf Englisch gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Vergan- von Palestinian State sprachen, nannten sie das Ge- genheit, und damit verbunden ein gemeinsames Erbe biet auf Arabisch weiterhin Falastin, was in den Ohren hat. Dieses Erbe wird oft Tradition genannt. mancher Israeli klingt, als sei ein palästinensisch-ara- bischer Staat vom Mittelmeer bis zum Jordan das Ziel. Die Geschichte des Volkes Israel beginnt, gemäss der Tora, mit dem Auszug aus Ägypten, führt das Volk ins Land Kanaan, in die babylonische Diaspora, kurz da- Suche nach wertneutralen Sprachregelungen nach zurück in sein Land, nochmals in eine – diesmal lange und leidvolle – Diaspora, um einen Teil des Vol- Im Hebräischen existieren seit fünf Jahrzehnten zwei kes wieder in sein Land zurückkehren zu lassen. «Palästina»-Bezeichnungen. Mit Palestina ( ) wird das britische Mandatsgebiet umschrieben. Mit Gemäss dieser Bezeichnung wird die Zugehörigkeit Falastin ( ) der palästinensische Staat aus einer zum Volk Israel primär durch die Geburt bestimmt. Die palästinensischen Optik vor den Friedensgesprächen Zugehörigkeit entsteht somit vorwiegend auf eine pas- von Oslo. Spricht man in Israel vom künftigen palästinen- sive Art. sischen Staat, verwendet man den Begriff Staat der Pa- lästinenser (auf Englisch: Palestinian State; auf Deutsch: Palästinenser-Staat). Diese Bezeichnung setzt sich auch «Israel» als Religion im deutschen Sprachgebrauch immer mehr durch. Mit Volk Israel ist hier der Glaube, das religiöse Be- kenntnis, gemeint. Die zu dieser Bezeichnung verwen- Empfehlung zur differenzierten deten Adjektive sind «jüdisch» oder «israelitisch». Verwendung der Begriffe Die Zugehörigkeit zum Volk Israel wird hier durch die Aus Sicht des christlich-jüdischen Dialogs wäre es von Tora, die religiöse Tradition, bestimmt. Zum Volk Israel Vorteil, den Begriff Palästina, möglichst nicht in seiner gehört der Jude, der die Tora akzeptiert und bereit ist, politischen Bedeutung zu verwenden. Die Begriffe Pa- gemäss ihren Vorschriften, Werten und Zielen zu leben. lästinenser-Staat oder palästinensischer Staat wären Diese Zugehörigkeit ist somit eine eher aktive, von in- im politischen Kontext die differenzierteren Begriffe. In nen her bestimmte Zugehörigkeit. den Medien und unter Politikern dominiert bereits der Gebrauch dieser Begriffe. «Israel» als Staat Volk Israel Israel ist heute auch die Bezeichnung für den 1948 ge- gründeten Staat Israel. In dieser Bedeutung ist mit Wenn vom Volk Israel (‘Am Israel) die Rede ist, kann «Volk Israel» die Bevölkerung des Staates Israel, die sehr Unterschiedliches gemeint sein. Die Verwendung Israelis, gemeint. Als Adjektiv wird hier «israelisch» der Bezeichnung Volk Israel führt deshalb häufig zu verwendet.
10 Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission Land Israel, Staat Israel, heiliges Land Die Zugehörigkeit ist in diesem Fall durch den Wohnort Zionismus bestimmt. Vor allem hier wird klar, wie wichtig eine ein- deutige Verwendung der Bezeichnung Israel ist. Denn Noch bevor sich der uns heute bekannte Zionismus als viele Israelis sind jüdisch, israelitisch. Aber es gibt auch jüdische Nationalbewegung bildete, existierte im frühen Israelis, die anderen religiösen oder ethnischen Ge- 19. Jahrhundert eine Siedlerbewegung nach Palästina meinschaften gehören. Andererseits wiederum gibt es – inspiriert durch eine christliche Frömmigkeitsbewegung ausserhalb von Israel – viele, die jüdisch, aber keine (Templerorden). Diese Siedler erwarteten das heilbrin- Israelis sind. gende eschatologische Geschehen im Heiligen Land. Der zeitgenössische, durch US-amerikanische Evan- gelikale geprägte «christliche Zionismus» bewegt sich «Israel» als Kultur im Horizont derselben und ähnlicher Vorstellungen, die hinsichtlich der Bestimmung des Landes und Staates Seit der Moderne wird die Bezeichnung Israel auch auf Israel ältere chiliastische Auffassungen mit einer bibli- eine weitere Art verwendet. In der Kunst und Literatur zistischen Schriftauslegung (zum Beispiel Sacharja) etwa, in der Philosophie und Ethik wird vom Erbe vom verbinden. Sie leiten das Recht der Juden auf das Land Volk Israel gesprochen, ohne dass damit etwas Ethni- unmittelbar aus biblischen Texten ab. Diese Interpreta- sches, Religiöses oder Nationales gemeint ist, sondern tion, die von evangelikalen Christen bis heute vertre- etwas rein Kulturelles. ten wird, ist nicht frei von Elementen der Substitutions- theologie, die im Widerspruch zu den Prämissen des jüdisch-christlichen Dialogs steht. «Israel» als berufenes Volk Gottes Im Judentum entstand der Zionismus im Verlauf des Gemäss dem Alten Testament wird das Wort «Volk» 19. Jahrhunderts im Zuge des aufkommenden Natio- für Israel als Volk Gottes, sprich das erwählte Volk nalismus in Europa, welcher den Juden keinen Platz in verwendet, das sich Gott durch den Bund geschaffen den Mehrheitsgesellschaften einräumte. Der National- hat. Trotzdem wird schon im Neuen Testament die Be- staat des 19. Jahrhunderts sah eine Einheit von Territo- zeichnung Israels als Volk Gottes zunehmend auf die rium, nationaler Ursprungsgeschichte und Sprache vor. christliche Gemeinde bzw. die Kirche im Sinne der In verschiedenen Ländern kam es zu anti-jüdischen Versammlung der von Gott aus der Welt Herausgeru- Ausschreitungen und Pogromen. Der Wiener Journalist fenen (ekklesia, das griechische Wort für Kirche, kommt Theodor Herzl (1860–1904) kam anlässlich des Pro- vom Verb ek-kalein: «herausrufen») übertragen. zesses gegen den französischen Hauptmann Alfred Dreyfus, der des Hochverrates angeklagt wurde, zum In der christlichen Theologie wird das Volk Gottes der Schluss, dass das, was als die «Judenfrage» bezeich- aus Juden und Heiden bestehenden christlichen Ge- net wurde, nur gelöst werden könne, wenn Juden einen meinde zentraler Gegenstand der Heilsgeschichte. eigenen Staat besässen. Aufgrund der historischen Man merkt aber eine Verschiebung mit der Substitu- Verbindung zum Land Israel, zum osmanischen Paläs- tionstheologie. Diese Theologie wird auch Ersatz-, Er- tina, äusserte die 1897 in Basel gegründete zionistische setzungs-, Enterbungs-, Verwerfungs-, Verdrängungs-, Bewegung die feste Absicht, dass der angedachte Staat Enteignungstheologie oder Superzessionismus (auf auf diesem Gebiet (und nicht, unter anderem, in Argen- Englisch: supersessionism, abgeleitet vom lateinischen tinien oder Ostafrika, wie in Basel auch erwogen) ent- sedere: «sitzen», und super: «auf») genannt. Sie be- stehen sollte. hauptet, das «geistliche Israel» der Gnade des Evan- geliums hätte das «fleischliche Israel» des Gesetzes Der Zionismus ist Ausdruck der emanzipativen Idee, Moses ersetzt. Im Rahmen dieser Substitutionstheo- dass Juden ihr Schicksal nicht mehr passiv erdulden, logie wird die Kirche zum verus Israel, zum «wahren sondern selbst ihre Zukunft gestalten wollen. Der Zionis- Israel», zum «neuen» Volk Gottes erklärt. In der christ- mus ist alles andere als eine homogene Bewegung. Er lichen Tradition kannte die Substitutionstheologie im hat sich im Laufe der Zeit aufgrund historischer Ereignis- Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Modelle, von se verschieden ausgeprägt. Es bestehen Unterschiede denen heutzutage noch einige vertreten werden, in ers- betreffend Ziele einer staatlichen Existenz und deren ter Linie durch evangelikale Christen. Letzteres erklärt Priorisierung, der gesellschaftspolitischen und religiö- auch, warum sich Evangelikale so stark für Israel ein- sen Orientierungen. Je nach ideologischer Prägung gibt setzen, nämlich weil es ihrer Meinung nach um die Er- es auch Unterschiede in Bezug auf die Kompromiss- füllung von Gottes Verheissungen geht. bereitschaft gegenüber den Palästinensern.
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