Die Zukunft von Fidesz jenseits der EVP - Einleitung
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NR. 32 APRIL 2021 Einleitung Die Zukunft von Fidesz jenseits der EVP Folgen des Austritts für das europäische Parteiengefüge und für Ungarns Verhältnis zu Deutschland Kai-Olaf Lang / Nicolai von Ondarza Nach langem Ringen ist die ungarische Partei Fidesz im März 2021 aus der Europäi- schen Volkspartei (EVP) und deren Fraktion im Europäischen Parlament (EP) aus- getreten. Fidesz kam damit einem nahenden Ausschluss zuvor. Der Vorgang wirkt sich in doppelter Weise aus. Er betrifft auf der einen Seite das europäische Parteien- system. Zwar bleibt die »von der Leyen«-Mehrheit im Parlament intakt, doch rechts der EVP werden sich Umgruppierungen im EU-skeptischen Lager ergeben. Auf der anderen Seite geht es um Ungarns Innen-, Außen- und Europapolitik, die Fidesz als Regierungspartei bestimmt. Die direkten Folgen des EVP-Austritts werden hier zu- nächst weniger prononciert sein. Allerdings fehlt Ungarn künftig ein Rahmen, der zumindest Kommunikationskanäle mit einigen wichtigen Partnern gesichert hat. Dies gilt insbesondere für Deutschland, das darauf achten sollte, mit Budapest im Dialog zu bleiben – trotz aller Differenzen, die künftig sicherlich nicht abnehmen werden. Der Austritt von Fidesz aus der EVP und 2019 in der EVP suspendiert. Seither war deren Fraktion markiert den Schlusspunkt Orbán etwa vor Treffen des Europäischen eines langen Streits, der sich vor allem um Rates von den Beratungen mit den Staats- die Einhaltung rechtsstaatlicher und demo- und Regierungschefs aus der EVP und kratischer Standards durch Ungarns Regie- Kommissionspräsidentin Ursula von der rung unter Premierminister und Fidesz- Leyen (ebenfalls EVP) ausgeschlossen. Im Parteichef Viktor Orbán drehte. EVP-Abge- März 2021 änderte die EVP-Fraktion ihre ordnete im Europäischen Parlament und Geschäftsordnung dahingehend, dass ein von EVP-Mitgliedsparteien geführte Regie- Fraktionsausschluss mit einfacher Mehrheit rungen anderer Staaten haben Fidesz lange möglich wurde. Einem solchen kam Orbán gegen Kritik verteidigt, sind aber seit Sep- zuvor, indem er zunächst den Fraktions- tember 2018 schrittweise auf Abstand und wenige Tage später auch den Partei- gegangen. Damals stimmte mehr als die austritt von Fidesz verkündete. Hälfte der EVP-Abgeordneten dafür, ein In seiner politischen Bedeutung geht Verfahren nach Artikel 7 EUV gegen die dieser Schritt über die im EP vergleichs- ungarische Regierung einzuleiten. Jenseits weise häufig vollzogenen Fraktions- oder der Fraktion wurde Fidesz bereits im März Parteiwechsel hinaus. Auf der einen Seite
steht das Ringen der EVP mit Fidesz auch bzw. Präsident seit 2004. Während der letz- dafür, wie die EU als Ganzes mit Rechts- ten Dekade wuchsen innerhalb des politi- staatlichkeit umgeht und inwiefern die EVP schen Konstrukts »Europäische Volkspartei« eine Trennlinie gegenüber nationalkonser- aber auch die Spannungen zwischen ihren vativen und EU-skeptischen Parteien zieht. konservativ-liberalen, christdemokratischen Dass sich Fidesz von den Werten der EVP und zum Teil nationalkonservativen Mit- und dem parteipolitischen Mainstream in gliedsparteien, vor allem was die Migra- der EU schrittweise abgewandt hat, ist auf tionspolitik betraf. Gleichzeitig werden die der anderen Seite eng verbunden mit einer meisten EVP-Mitgliedsparteien auf nationa- zunehmend EU-kritischen Positionierung ler Ebene von nationalkonservativen, popu- der ungarischen Regierung. Dieser Prozess listischen bzw. EU-skeptischen Parteien her- dürfte somit ausstrahlen auf die in Buda- ausgefordert, wobei sie sehr unterschiedlich pest verfolgte Innen-, Europa- und Außen- auf diese Konkurrenz reagieren – von pro- politik. Aus Berliner Perspektive war die grammatischer Imitation bis hin zu klarer gemeinsame EVP-Mitgliedschaft der Regie- Abgrenzung und einem Fokus auf die poli- rungsparteien Fidesz und CDU/CSU zudem tische Mitte. strukturierend für die deutsch-ungarischen Vor diesem Hintergrund war der Um- Beziehungen. gang mit Fidesz in der EVP höchst umstrit- ten. Insbesondere konservativ-liberale Mit- glieder aus nordischen Ländern und die Auswirkungen auf die polnische Bürgerplattform (PO) von EVP- europäische Parteienlandschaft Präsident Donald Tusk forderten, die Partei auszuschließen und sich konsequent von Im Europäischen Parlament hat der Fidesz- Orbán abzugrenzen. Christdemokratische Austritt auf den ersten Blick nur begrenzte Mitglieder einschließlich deutscher CDU/CSU Folgen, was die Machtbalance zwischen den waren wiederum lange um Vermittlung Fraktionen betrifft. Die EVP verliert 12 Ab- bemüht. Südliche und mitteleuropäische geordnete, bleibt aber mit nunmehr 175 Mitglieder wie etwa der spanische Partido Sitzen weiterhin größte Fraktion vor den Popular (PP), die französischen Republika- Sozialdemokraten (S&D), die 145 Mandate ner, die Österreichische Volkspartei (ÖVP) haben. Auch die »von der Leyen«-Mehrheit oder die Slowenische Demokratische Partei aus EVP, S&D und liberaler Renew-Fraktion, (SDS) plädierten hingegen für eine Reorien- von denen 2019 die Kommissionspräsiden- tierung der EVP nach rechts, mit der Platz tin gewählt wurde, ist mit jetzt 417 von 705 für Fidesz geschaffen würde. Die Partei war Abgeordneten ungefährdet. ihrerseits jedoch nicht bereit, beim Thema Rechtsstaatlichkeit einzulenken, und be- Abgrenzung der EVP nach rechts lastete die Atmosphäre zusätzlich durch verbale Attacken auf das EVP-Führungs- Bei näherem Hinsehen sind die potentiellen personal. Zuletzt votierten so 148 der da- parteipolitischen Auswirkungen jedoch mals noch 187 EVP-Abgeordneten für eine nicht ganz unerheblich. Dies gilt zunächst Änderung der Fraktionsgeschäftsordnung, für die EVP selbst, die zusammen mit ihren um Fidesz ausschließen zu können. Mitgliedsparteien im letzten Jahrzehnt die Dies bedeutet auch einen Einschnitt für europäische Politik dominiert hat. Durch- die Entwicklung der EVP, die sich damit gängig stellte sie jeweils die größte Fraktion nach rechts abgrenzt. Trotz vereinzelt ge- im EP, die größte Gruppe unter den Staats- äußerten Bedauerns über den Abgang von und Regierungschefs im Europäischen Rat Fidesz sind weitere Austritte nicht zu erwar- (ohne Ungarn nun 10 von 27, der Großteil ten. Eine Ausnahme könnte allenfalls die davon aus Mittel- und Osteuropa) und die slowenische SDS sein, die zwar nur zwei EP- größte Gruppe unter den Mitgliedern der Abgeordnete, aber mit Janez Janša einen Kommission, einschließlich Präsidentin Regierungschef im Europäischen Rat mit SWP-Aktuell 32 April 2021 2
engem Kontakt zu Orbán stellt. In naher Fraktionen und Parteienfamilien nach dem Zukunft – nicht zuletzt mit Blick auf die Fidesz-Austritt weiterhin sehen: Nehmen slowenische Ratspräsidentschaft ab Juli sie möglichst viele nationale Parteien auf, 2021 – dürfte Janša an einer Abkehr von um ihre Machtressourcen in Rat und EP zu der EVP allerdings kein Interesse haben. vergrößern, oder fokussieren sie sich auf Dabei ist mit dem Austritt von Fidesz die innere Kohärenz? Die vier zentralen auch die EVP-Strategie gescheitert, eine Fraktionen EVP, S&D, Renew und Grüne Brücke zwischen konservativ-liberalen, erreichen mittlerweile bei Abstimmungen christdemokratischen und nationalkonser- im Parlament eine Kohärenz von über vativen Kräften in der EU zu bauen. Fidesz 90 Prozent. Bei kritischen Themen gibt es verliert den Zugang zur größten Parteien- aber immer wieder zahlreiche Abweichler. familie der EU. Für die EVP bedeutet dies Ohne Fidesz dürfte die EVP geschlossener zunächst, dass sich ihr politischer Schwer- als zuletzt auftreten. Überdies wird sie wohl punkt mehr in Richtung Zentrum verlagert. versuchen, etwa die S&D-Fraktion politisch Schon bislang vertrat sie die Linie, nicht zu attackieren, was deren Umgang mit Mit- mit der hart EU-skeptischen Fraktion Iden- gliedsparteien betrifft, die in Regierungs- tität und Demokratie (ID) zusammen- verantwortung stehen und eine fragwürdi- zuarbeiten und nur in Einzelfällen mit der ge Bilanz zur Rechtsstaatlichkeit aufweisen. Fraktion Europäische Konservative und Ein erster Angriffspunkt war hier im März Reformer (EKR). Daher ist die EVP ohnehin 2021 die maltesische Labourpartei; ähn- gezwungen, für politische Mehrheiten mit liche Fragen dürften auch zu Rumäniens der S&D, der liberalen Renew und zuneh- Sozialdemokraten gestellt werden, immer- mend auch der Fraktion Die Grünen/Euro- hin die viertgrößte Gruppe in der S&D. päische Freie Allianz (Grüne/EFA) zu koope- rieren. Diese »supergroße« Koalition im EP Drei Optionen für Fidesz (sowie in Rat und Europäischem Rat), die vollzogene Abgrenzung vom nationalkon- Sollte die EVP weiter ins Zentrum rücken, servativen Fidesz und das dadurch gewach- stellt sich umso mehr die Frage, welche sene Gewicht konservativ-liberaler Kräfte Allianzen nun Fidesz anstrebt und wie die- bewirken im Zusammenspiel, das sich die se sich auf das EU-skeptische Lager rechts EVP und auch die Parlamentsmehrheit ein der EVP auswirken würden. Maßgeblich Stück zur Mitte hin stabilisieren und in für den »Wert« nationaler Parteien im EU- Einzelfragen sogar nach links verlagern. System sind zwei Faktoren: erstens, ob sie Im Binnenverhältnis der supergroßen heimische Regierungsmacht innehaben Koalition ändert sich nichts: Die EVP bleibt und daher im Europäischen Rat oder zu- größter Partner, benötigt aber mindestens mindest im Rat mitbestimmen; zweitens, zwei Fraktionen links der Mitte, um Mehr- wie viele Abgeordnete sie im EP stellen, was heiten generieren zu können. Bei knappen maßgeblich ist für Finanz- und Personal- Abstimmungen mit mehr Abweichlern in ausstattung, die Zahl an Ausschussvorsit- den Fraktionen werden auch die Grünen zenden und Berichterstatterposten sowie häufiger in Verhandlungen einzubinden für die Redezeit der Fraktionen im Plenum. sein, damit sichere Mehrheiten zustande Mit zwölf EP-Abgeordneten und den damit kommen. Möglich ist aber auch noch eine verbundenen Rechten sowie einer direkten weitere Kräfteverschiebung im Laufe der Vertretung im Europäischen Rat ist Fidesz aktuellen Legislaturperiode. So positioniert jedenfalls ein attraktiver Partner für andere sich die italienische Fünf-Sterne-Bewegung EU-skeptische Parteien. (M5S) zunehmend als Mitte-links-Partei. Sie Grundsätzlich stehen der Partei drei könnte mit ihren zehn Abgeordneten die Optionen offen. Die erste wäre es, im EP S&D noch näher an die EVP heranführen. fraktionslos zu bleiben – wie etwa aktuell Diese Zahlenspiele verdeutlichen ein die M5S aus Italien. Fidesz könnte dann auf Dilemma, vor dem sich die europäischen eine informelle Koordinierung mit der EVP SWP-Aktuell 32 April 2021 3
setzen, während die ungarische Regierung hat die mit Abstand geringste Kohärenz im auf bi- und multilaterale Formate etwa mit Parlament. Polen bzw. innerhalb der Visegrád-Gruppe Machtpolitisch wäre ein solcher Zusam- aufbauen kann. Fraktionslose Abgeordnete menschluss allerdings durchaus attraktiv. haben im EP jedoch deutlich weniger Ein Block aus EKR und (Teilen der) ID plus Rechte und Ressourcenausstattung, so dass Fidesz würde nach der EVP die zweitstärks- der Status wenig attraktiv ist. te Fraktion im Parlament bilden. Sie hätte Die zweite Option wäre der Beitritt in Anspruch auf erhebliche Finanzmittel, auf eine andere bestehende Fraktion. Derzeit Ausschussvorsitze in entsprechender Zahl sind die EU-skeptischen Parteien gespalten und auf mehr Redezeit im Plenum als S&D. – in die von der polnischen PiS dominierte Der größte Unterschied ergäbe sich für den EKR-Fraktion, die vom französischen Ras- Europäischen Rat, in dem die betreffenden semblement National (RN) und von der Kräfte erstmals als relevante Gruppierung italienischen Lega angeführte ID sowie eini- vertreten wären. Für eine Kooperation von ge fraktionslose Abgeordnete. Während die Fidesz insbesondere mit der italienischen EKR partiell in parlamentarische Mehrheits- Lega spricht auch, dass diese sich zuneh- bildungen einbezogen ist, nimmt die ID mend als Regierungspartei positionieren eine vollständig oppositionelle Rolle ein. möchte. Zudem haben mehrere ID-Mit- Vom Abstimmungsverhalten her steht gliedsparteien mittlerweile Abstand davon Fidesz der EKR näher (mit 72 Prozent Über- genommen, den Euro- bzw. EU-Austritt einstimmung laut VoteWatch.eu); hinzu ihrer Staaten zu fordern. Gegen eine solche kommt das politisch ohnehin nahe Ver- Neuformation spricht wiederum, dass unter hältnis von Fidesz zur polnischen PiS, mit den potentiellen Mitgliedern weiterhin der bedeutenden Ausnahme der jeweiligen handfeste Interessensunterschiede beste- Beziehungen zu Russland, China, den USA hen, etwa mit Blick auf Russland. Auch gibt und durchaus auch zu Deutschland. Mit es in mehreren Ländern konkurrierende Fidesz würde die EKR auf 75 Sitze anwach- Parteien, die bislang ID bzw. EKR angehö- sen und somit knapp vor der ID viertgrößte ren, so etwa im Falle Italiens die Lega und Fraktion werden. die Fratelli d’Italia. Nicht zuletzt unter- Dritte Option wäre eine umfassende Neu- scheiden sich die einzelnen Parteien in der formierung der EU-skeptischen Parteien Frage, wie konstruktiv sie auf EU-Ebene im Rahmen einer gemeinsamen Fraktion. Politik mitgestalten wollen. Orbán hat bereits den Anspruch formuliert, Noch ist offen, in welche Richtung sich eine »demokratische europäische Rechte« Fidesz bewegt und ob es gelingen könnte, jenseits der EVP aufbauen zu wollen, die ein breiteres Bündnis als die jetzige EKR- etwa Migration und LGBTQ-Rechte weitge- Fraktion aufzubauen. Die wahrscheinlichs- hend ablehnt und sich für die Souveränität te Option ist ein Fidesz-Beitritt zur EKR, europäischer Nationen einsetzt. Am 1. April eventuell ergänzt um einen Fraktionswech- traf sich Orbán in Budapest mit Mateusz sel der italienischen Lega dorthin. Unmit- Morawiecki (PiS/EKR) und Matteo Salvini telbaren Zeitdruck gibt es nicht. Im Januar (Lega/ID), um über eine mögliche Koopera- 2022 allerdings ist »Halbzeit« im Europäi- tion zu sprechen; ob es zu einer Einigung schen Parlament, zu der die Führungsposi- kommen wird, ist aber noch offen. Bemü- tionen in EP-Präsidium und den Ausschüs- hungen, die nationalkonservativen und sen neu besetzt werden. Bis dahin müssten hart EU-skeptischen bis hin zu rechtsextre- sich Fidesz und die anderen EU-skeptischen men Kräften im EP zu vereinigen, gibt es Parteien entscheiden, um die Postenvertei- bereits seit mehreren Legislaturperioden. lung zu ihren Gunsten beeinflussen zu kön- Sie sind bisher an persönlichen Rivalitäten, nen; umgekehrt kann Fidesz dies auch als aber auch an deutlichen politischen Diffe- Verhandlungspfand nutzen. Selbst bei der renzen gescheitert. Bereits die ID-Fraktion dritten Option, die am weitesten geht, blie- ist weitgehend eine Zweckgemeinschaft; sie ben die generellen Mehrheitsverhältnisse SWP-Aktuell 32 April 2021 4
zumindest bis zu den Wahlen 2024 beste- Mitglieder im Rat). Doch hat dies weniger hen. Die EU-skeptische Opposition im Parla- mit parteipolitischer Affiliation als mit den ment wäre zwar lauter, aber nicht durch- Interessen vieler zögerlicher Mitgliedstaaten setzungsfähiger als zuvor. zu tun. Polens konservatives Regierungs- lager, das auch nicht mit der EVP verbun- den ist, hatte in seinen Rechtsstaatskonflik- Ungarn in der EU ten mit Brüssel auch nicht mit mehr Gegen- wind zu rechnen als Fidesz. Das Vorgehen Nicht zu erwarten ist, dass sich die Buda- des Europäischen Gerichtshofs und auch pester Europapolitik mit dem EVP-Austritt der Kommission orientiert sich wiederum abrupt ändern wird. Fidesz verfügt im unga- an rechtlichen Kriterien; politische oder gar rischen Parlament zusammen mit seinem parteipolitische Faktoren spielen keine kleineren Koalitionspartner, der Christlich- Rolle bzw. sollten es nicht tun, wenn mög- Demokratischen Volkspartei (KDNP), die liche Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit weiterhin der EVP angehört, über eine Ver- geprüft werden. Sollte sich daran künftig fassungsmehrheit und damit über eine etwas ändern, würde sich etwa die Europäi- stabile Basis, die von den Modifikationen sche Kommission dem Vorwurf aussetzen, der europäischen Parteienpolitik nicht be- Rechtsfragen politisch zu interpretieren. troffen ist. Die bisherigen Prioritäten, Auch die Schwierigkeiten bei Umsetzung Handlungsformen und Schwerpunktfelder des Ende 2020 verabschiedeten Mechanis- gegenüber Brüssel werden weiterbestehen, mus zum Schutz von EU-Finanzmitteln ebenso die Kontroversen. Ungarns Europa- bleiben rechtlich vom EVP-Fraktionsaustritt politik bleibt in der Substanz souveränis- unberührt. tisch und in der Rhetorik EU-kritisch. Sie ist aber auch darauf angelegt, das Land und seine Wirtschaft durch Einbindung in einen Stärkeres Ausscheren in funktionierenden Binnenmarkt wettbe- der Außenpolitik? werbsfähig zu halten und trotz aller Wirr- nisse im Verhältnis zur EU nicht aus der Am ehesten wird auf Ungarns Verhalten in Gemeinschaft herauszusteuern. der Außenpolitik zu achten sein. Ohne die Für die Brüsseler Rechtsstaatlichkeits- Trump-Administration fehlt ein wichtiger politik bringt der EVP-Austritt keinen spür- Balancing-Partner gegen Brüssel in Buda- baren Unterschied. Die Mitgliedschaft von pests pragmatischer und vieldimensionaler Fidesz in der EVP-Fraktion war längst kein Außenpolitik und damit auch mittelbar in Schutzschild mehr gegen Maßnahmen der der Europapolitik. Ungarn hat sich zwar EU. Dies zeigte sich spätestens, als das Euro- in der China-Politik der EU etwa zusammen päische Parlament im September 2018 das mit Griechenland bei Einzelfragen konträr Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn initiierte. zur großen Mehrheit der Mitgliedstaaten Damals stimmte mehr als die Hälfte der positioniert und sich symbolisch wie real EVP-Abgeordneten für die Prozedur. Und immer wieder als (Wirtschafts-)Partner für zwischenzeitlich schmolz das Lager der Russland und China angeboten. Budapest Fidesz-treuen Parteien in der EVP-Fraktion legte sich dabei in der EU bisweilen auch weiter ab, bis zuletzt nur noch ein Sechstel quer und setzte sich beispielsweise für der Abgeordneten dagegen war, die Ge- einen weicheren Kurs der Union gegenüber schäftsordnung zu ändern. Peking ein. Dennoch ist man bisher in zent- Das laufende Artikel-7-Verfahren kommt ralen Fragen zumeist nicht ausgeschert und nicht voran, und es wäre erst recht schwie- hat etwa die Sanktionspolitik gegenüber rig, die »eindeutige Gefahr einer schwerwie- Russland nicht verhindert. Budapest kriti- genden Verletzung der in Artikel 2 genann- sierte zwar öffentlich die jüngsten EU- ten Werte« feststellen zu lassen (dafür be- Menschenrechtssanktionen gegenüber dürfte es einer Vier-Fünftel-Mehrheit der China, nachdem sie beschlossen worden SWP-Aktuell 32 April 2021 5
waren, hatte zuvor aber auf ein Veto dage- wie vor Mitglied der EVP, doch sollte sich gen verzichtet. eine neue Fraktion bilden, dürfte Orbán Zwar war die EVP-Mitgliedschaft von wohl versuchen, Janša von einem Wechsel Fidesz kein definierender Faktor für Ungarns zu überzeugen. Budapest bringt sich auch Außenpolitik. Doch könnte nach dem rup- in die sogenannten C5 ein, das erst Mitte pigen Abgang die Neigung steigen, in Euro- 2020 gegründete minilaterale Format aus pas Gemeinsamer Außen- und Sicherheits- den mitteleuropäischen Ländern Österreich, politik (GASP) öfter Nein zu sagen, wenn Slowakei, Slowenien, Tschechische Repub- es eigenen Interessen entspricht. Dies gilt lik und Ungarn. Deren Außenminister tra- sicherlich für die bekannten Großthemen fen Anfang März in diesem Rahmen bereits Russland und China, könnte aber auch bei zum fünften Mal zusammen. den Beziehungen zur Türkei eine Rolle spie- len. Verstärkt wird diese Tendenz womög- lich durch die Corona-Impfpolitik. Denn die Kaum Konsequenzen für Ungarns ungarische Regierung hat auf Grundlage Innenpolitik einer nationalen Notfallzulassung als erster EU-Staat russische und chinesische Impf- Der Abgang von Fidesz aus der EVP wird stoffe außerhalb des EU-Ankaufprogramms nur wenig Einfluss auf Ungarns innenpoli- erworben und eingesetzt. Damit konnte tische Entwicklung haben. Der Fokus liegt sich das Land nach aktuellem Stand – bei hier vor allem auf den im Frühjahr 2022 sehr hohen Infektionszahlen – einen Impf- anstehenden Parlamentswahlen. Um die vorsprung gegenüber anderen EU-Staaten bisherige Dominanz von Fidesz herauszu- sichern. Mitte April stellten die Impfstoffe fordern, wollen dabei fast alle Oppositions- Sputnik V und BBIBP-CorV etwa 46 Prozent parteien (die sozialistische MSZP, die links- der an das Land gelieferten Dosen; außer liberale Demokratische Koalition, die natio- Malta ist Ungarn mit deutlichem Abstand nalkonservative Jobbik, die ökologische das EU-Land mit der höchsten Impfquote. Párbeszéd, die liberal-zentristische Momen- Wenn es Ungarn gelingt, diesen Weg durch tum-Bewegung und die grüne LMP) mit ge- weitere Vakzine russischer und chinesi- meinsamen Kandidaten in allen 106 Wahl- scher Herkunft fortzusetzen, dürfte die kreisen, einem gemeinsamen Spitzenkan- Regierung in Budapest auch europapoli- didaten und einer gemeinsamen Landesliste tisch Rückenwind verspüren. antreten. Beim Blick auf die Wahlen stehen Sollte Fidesz sich im Europäischen Parla- bislang das Pandemiemanagement und ment auf eine formalisierte Zusammen- vor allem die wirtschaftlichen Folgen der arbeit mit der polnischen PiS einlassen – Corona-Krise im Vordergrund, ebenso die in welcher Fraktion auch immer –, würde bislang schon dominanten Polarisierungs- dadurch die Verklammerung zwischen und Mobilisierungsthemen der ungarischen Warschau und Budapest nochmals sichtbar Innenpolitik wie etwa Migration. Der EVP- gestärkt. In der Sache bliebe es bei den bis- Austritt von Fidesz, der ohnehin vor allem herigen Interessenüberlappungen (Rechts- in außenpolitisch interessierten Kreisen staatlichkeit, Migration) und Differenzen und weniger von der breiten Öffentlichkeit (Verhältnis zu Russland, China, USA sowie wahrgenommen wurde, spielt angesichts zu Deutschland). Weiterhin wird Ungarn dessen nur eine nachgeordnete Rolle. auf unterschiedlichen Wegen eine aktive Oppositionelle Medien und Parteien Mitteleuropapolitik betreiben, die wie bis- argumentieren, Fidesz habe sich nun defi- lang schon nicht von europäischer Partei- nitiv vom europäischen Mainstream ent- politik abhängig sein wird, sei es im Vise- fernt. Dem hält Fidesz offensiv entgegen, grád-Rahmen oder bilateral. Enge Kontakte der Mainstream der rechten Mitte in Europa bestehen zudem mit Slowenien, der dorti- habe sich von seinen Wurzeln entfernt und gen Hauptregierungspartei SDS und Minis- dagegen optiert, einen Modus Vivendi mit terpräsident Janša. Zwar ist die SDS nach einer profilierten christlich-konservativen SWP-Aktuell 32 April 2021 6
und souveränistischen Partei zu finden. Soll- ungarischen Modell eines Kaufs von Vakzi- te Fidesz einer anderen oder einer frisch ge- nen aus Russland und China. gründeten nationalkonservativen Parteien- familie beitreten, dürfte dies so dargestellt werden, dass man erfolgreich eine neue Folgen für die deutsch- Alternative zu den etablierten Parteien- ungarischen Beziehungen verbünden lanciert habe. Mit nahendem Wahltermin könnten EU- Mit dem Austritt von Fidesz aus der EVP kritische Töne aus dem Budapester Regie- endet nicht nur eine zwei Jahrzehnte rungslager lauter werden. Zu achten wäre währende Mitgliedschaft in dieser Parteien- dann nicht nur auf deren inhaltlichen familie. Es verändert sich auch der formelle Fokus, sondern auch auf die Zielrichtung. Rahmen für die Kontakte mit anderen EVP- Das Europäische Parlament, wo Fidesz und Parteien, was besonders für das Verhältnis EVP auseinandergingen, ist angesichts der zwischen Fidesz und CDU/CSU gilt. Dieses dortigen Mehrheitsverhältnisse nach Sicht- hat, auch durch den Austausch parteinaher weise der Partei und großer Teile der unga- Stiftungen, während der letzten Jahre wich- rischen Öffentlichkeit ohnehin keine dem tige Kommunikationskanäle gesichert und Land wohlgesinnte Institution. Eher wird so dazu beigetragen, die spannungsanfäl- man in Budapest darauf achten, welche ligen Beziehungen zwischen Deutschland Signale von der Europäischen Kommission und Ungarn zu stabilisieren. kommen. Sollte sich diese – und vor allem Was es für das Bilaterale bedeuten kann, ihre Präsidentin, die offensichtlich auch wenn parteipolitische Schnittstellen fehlen, mit Fidesz-Stimmen gewählt wurde – kriti- zeigt sich in den Beziehungen zu Polen. Die scher als bisher gegenüber Ungarn äußern, dort regierende PiS hat keine im Bundestag wird dies nicht ohne Echo bleiben. Von vertretene Partnerpartei in Deutschland. Bedeutung wird dabei der Fahrplan zur Der Wegfall eines parteipolitischen Rah- Umsetzung der Rechtsstaatskonditionalität mens im deutsch-ungarischen Fall bedeutet sein. Sollte der Europäische Gerichtshof aber nicht, dass die Kommunikation sofort relativ rasch bis Sommer ein Urteil zur zum Erliegen kommen muss. Persönliche Rechtmäßigkeit des neuen Instrumenta- Kontakte werden fortbestehen; Fidesz bzw. riums fällen und die Kommission kurz da- Amtsträger der Partei sind mit Deutschland nach die Umsetzungsrichtlinie vorlegen, sowohl auf Bundes- als auch auf Länder- könnte ein solches Verfahren noch in die- ebene gut vernetzt. Doch der konfliktvolle sem Jahr beginnen. Damit wäre das Proze- Fraktionsaustritt, die nun entstehende dere Teil des Wahlkampfs zu den ungari- parteipolitische Konkurrenz auf europäi- schen Parlamentswahlen 2022. Die Buda- scher Ebene und der Druck, sich voneinan- pester Regierungsseite würde dies gewiss so der abzugrenzen – diese Faktoren werden deuten, dass ein wichtiges (wenn auch auch das Verhältnis zwischen Fidesz und nicht direkt formuliertes) Element des Kom- CDU/CSU neu bestimmen. promisses aufgekündigt worden sei, der die Im bilateralen Bereich gibt es weiterhin EU-Finanzpakete und die Einführung der Konfliktthemen, aber auch eine Vielzahl neuen Rechtsstaatskonditionalität ermög- gut funktionierender Kooperationsfelder. lich hatte. Die Kritik an »Brüssel« würde da- Deutschland sollte in der jetzigen Situation mit nochmals deutlich zunehmen. So oder nicht damit nachlassen, Ungarn einzubin- so wird man davon ausgehen können, dass den. Dazu gehört auch, gerade mit Blick auf man in Budapest neben klassischen The- die 2022 stattfindenden Wahlen, auf die men wie Migration oder LGBTQ-Fragen wei- Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und tere Streitfragen aufgreifen wird. Schon demokratischen Standards zu pochen. Fra- jetzt wird etwa nachdrücklich auf Brüssels gen der Rechtsstaatlichkeit und solche zu angebliche Fehler bei der Beschaffung von Gestalt und künftiger Entwicklung der Impfstoff verwiesen – gegenüber dem Europäischen Union werden nach wie vor SWP-Aktuell 32 April 2021 7
für Verwerfungen sorgen – gerade deshalb sicherheitspolitischen Dialog, der sich gera- kann Deutschland kein Interesse an einer de auch Fragen der europäischen Sicherheit Dauerkonfrontation mit Ungarn oder wei- und den Folgen wachsender Großmacht- teren europapolitischen Verhärtungen konkurrenz widmet. Von Bedeutung ist haben. Daraus folgt auch, dass die zwischen dabei der Umgang mit Russland und China, beiden Regierungen vereinbarte »Positiv- der immer stärker in die außenpolitischen Agenda« gestärkt und nicht zuletzt sicht- Debatten beider Länder hineinspielt. Sinn- barer gemacht werden sollte. Jenseits von voll wäre hier ein strukturierter Dialog zu Wettbewerbsfähigkeit, Forschung, Techno- strategischer Autonomie sowie zu Prioritä- logie und Digitalisierung – die aufgrund ten des Strategischen Kompasses, des künf- © Stiftung Wissenschaft der hohen Relevanz der Wirtschaftsverbin- tigen sicherheits- und verteidigungspoliti- und Politik, 2021 dungen zwischen beiden Ländern natür- schen Grundlagendokuments der EU. Alle Rechte vorbehalten liche Kooperationsfelder sind – bieten sich Schließlich bildet die EU-Nachbarschafts- in hier weitere Themen an, die europapoli- politik ein Themenfeld, bei dem es Diskus- Das Aktuell gibt die Auf- tisch zu kontextualisieren wären. sionsbedarf zwischen Berlin und Budapest fassung der Autoren wieder. Die klimafreundliche Transformation gibt, vor allem was den Westbalkan betrifft. In der Online-Version dieser der Wirtschaft etwa fordert beiden Ländern Deutschland möchte sich stärker engagie- Publikation sind Verweise mit ihrer ausgeprägten industriellen Basis ren, um die Länder des westlichen Balkans auf SWP-Schriften und und insbesondere wegen der Folgen für die zu stabilisieren und an die EU heranzufüh- wichtige Quellen anklickbar. Automobilindustrie große Anpassungs- ren. Ungarn wiederum betreibt eine profi- SWP-Aktuells werden intern leistungen ab. Sie wird daher immer mehr lierte, achtsame Partnerpolitik mit einigen einem Begutachtungsverfah- ins Zentrum deutsch-ungarischer Kontakte Ländern aus der Region (allen voran ren, einem Faktencheck und treten. Ungarn hat angekündigt, den Aus- Serbien) und stellt den für Nachbarschafts- einem Lektorat unterzogen. stieg aus der Kohleverstromung von 2030 fragen zuständigen EU-Kommissar. Neue Weitere Informationen auf 2025 vorzuziehen. Damit sich die EU- Dialogformate, in denen sich Kooperatio- zur Qualitätssicherung der Klimaziele erreichen lassen, wird das Land nen ausloten ließen, könnten sowohl von SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. nicht nur auf Erdgas und Atomkraft setzen. den Exekutiven als auch durch parlamenta- swp-berlin.org/ueber-uns/ Bedeutsam wird ebenfalls sein, erneuerbare rische Initiativen angestoßen werden. Zu qualitaetssicherung/ Energiequellen auszubauen und die Ener- denken wäre möglicherweise auch an mini- gieeffizienz zu verbessern. Ein deutsch- laterale Formate unter Einschluss von EU- SWP ungarischer Energie- und Nachhaltigkeits- Staaten wie Slowenien, Kroatien, der Slowa- Stiftung Wissenschaft und Politik dialog, organisiert durch die Wirtschafts- kei oder der Tschechischen Republik. Deutsches Institut für ministerien, könnte ein Ort sein, um Erfah- Dass Fidesz seine bisherige Parteienfami- Internationale Politik und rungen und Herausforderungen beider lie verlassen hat, war letztlich dem Drängen Sicherheit Länder zu thematisieren. der meisten anderen EVP-Mitglieder und Einen weiteren Schwerpunkt der bilate- eigener Unnachgiebigkeit geschuldet. Der Ludwigkirchplatz 3–4 ralen Beziehungen sollte die Zukunft der Schritt sollte von allen Seiten eher als par- 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 europäischen Außen- und Sicherheitspoli- teipolitische Klärung und Neuaufstellung Fax +49 30 880 07-100 tik bilden. Die beiden Länder sind verteidi- verstanden und von deutscher Seite nicht www.swp-berlin.org gungspolitisch und rüstungswirtschaftlich als Zurückweisung Ungarns kommuniziert swp@swp-berlin.org eng miteinander verbunden. Ungarn kauft werden. Bei der Modifizierung des partei- bei der Modernisierung seiner Streitkräfte politischen Settings wird es deshalb auch ISSN (Print) 1611-6364 ISSN (Online) 2747-5018 in großem Maßstab deutsches Gerät und darum gehen, dass sich Regierungen und doi: 10.18449/2021A32 war 2020 ebenso wie 2019 größter Abneh- Parlamente stärker engagieren – zumin- mer deutscher Rüstungsgüter. Damit einher dest dann, wenn die deutsch-ungarischen geht ein intensivierter Austausch zwischen Beziehungen nicht nur eine negative den Streitkräften. Dies alles sollte eingebet- Affektgemeinschaft oder ein gut funktio- tet sein in einen verstetigten außen- und nierendes Wirtschaftsgeflecht sein sollen. Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa. SWP-Aktuell 32 April 2021 8
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