LONG LIVE THE KING? Vergangenheit und Zukunft der britischen Monarchie
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Vereinigtes Königreich APuZ LONG LIVE THE KING? Vergangenheit und Zukunft der britischen Monarchie Almuth Ebke Das britische Königshaus war im vergangenen tive, Exekutive und Judikative.02 Der Monarch Jahr in aller Munde: Auf das opulent begange- ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Supreme ne 70-jährige Thronjubiläum von Königin Eliza- Governor der anglikanischen Church of England beth II. im Mai folgte am 8. September 2022 der und Vorsitzender des Commonwealth. Die Idee Tod der 96-jährigen Monarchin. Medien berich- des Crown-in-Parliament ist damit das Schlüs- teten über die kilometerlange Schlange aus Trau- selkonzept des Westminster-Regierungssystems, ernden, die der aufgebahrten Queen die letzte das in England entwickelt wurde und in vielen Ehre erweisen wollten; Fernsehkameras sendeten Ländern des Commonwealth Anwendung findet. Bilder weinender Menschen in Haushalte auf der Im Vereinigten Königreich ist für dieses recht- ganzen Welt. Die tagelang andauernde Bilderflut liche Konstrukt zentral, dass seine Verfassung täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass die zu- nicht schriftlich kodifiziert ist: Es gibt kein ein- rückliegenden Jahre für das britische Königshaus zelnes Verfassungsdokument, sondern die Verfas- keine einfachen waren; angefangen von den Ver- sung besteht aus der Summe von Gesetzen, Ver- wicklungen eines Sohnes der Königin, Prinz An- ordnungen, Präzedenzfällen und Konventionen. drew, in den Missbrauchsskandal um Jeffrey Ep- Das System des Crown-in-Parliament und der stein bis hin zur öffentlichen Entfremdung eines Stellenwert der Monarchie darin haben sich his- Enkels der Queen, Prinz Harry, vom royalen Ta- torisch herausgebildet und werden laufend wei- gesgeschäft. Anders als es in dieser Berichterstat- terentwickelt. tung erscheinen mag, ist die Monarchie allerdings Das verfassungsrechtliche Mittel, mit dem nicht nur ein nennenswerter Faktor für die Bou- die Krone ihren Einfluss geltend macht, sind die levard- und Klatschpresse mit touristischer An- sogenannten Prärogativrechte (Vorrechte). Das ziehungskraft, sondern sie erfüllt auch zentrale, royal prerogative besteht aus einer Reihe von ge- wenn auch oft unterschätze Funktionen in der wohnheitsrechtlichen Befugnissen, Privilegien britischen Politik und Gesellschaft. In diesem und Immunitäten, die dem britischen Monarchen Beitrag soll eine Bestandsaufnahme der britischen zustehen und im Vereinigten Königreich aner- Monarchie versucht werden, die das britische Kö- kannt sind. Das königliche Vorrecht gilt heute nigshaus in seiner politischen und gesellschaftli- für die Regierungsgeschäfte des Vereinigten Kö- chen Rolle ernst nimmt. nigreichs, einschließlich der Außenpolitik, der Verteidigung und der nationalen Sicherheit. Die POLITISCHE ROLLE Krone kann im Rahmen der Prärogativbefugnis- se ohne Zustimmung des Parlaments einen Krieg Das Regierungssystem des Vereinigten König- erklären oder Verträge ratifizieren – auch wenn reichs ist das einer konstitutionellen Monarchie, dies in der heutigen politischen Praxis mehr als das heißt einer Monarchie, in der die Macht des unwahrscheinlich ist. Zudem kann sie öffent- Königs oder der Königin in seiner oder ihrer per- liche und richterliche Ämter ernennen, Päs- sönlichen und verfassungsrechtlichen Stellung als se ausstellen sowie Begnadigungen und Ehren- Staatsoberhaupt durch Gesetze und Vorschriften titel gewähren. Da im historisch gewachsenen reglementiert ist.01 Die „Krone“, wie die Monar- Verfassungssystem des Vereinigten Königreichs chie verfassungsrechtlich bezeichnet wird, ist ein die Autorität der Krone an gewählte und/oder fester Teil des Systems der Westminster-Demo- ernannte Beamte und Politiker delegiert wird, kratie: Im System der Crown-in-Parliament ist kommt die große Mehrheit dieser Prärogative sie zumindest nominell Bestandteil der Legisla- nicht mehr aus eigener Initiative des Monarchen 39
APuZ 12–13/2023 zur Geltung. Seit dem 19. Jahrhundert ist der Rat retisch ist der Monarch verfassungsrechtlich wei- des Premierministers oder des Kabinetts Voraus- terhin befugt, die königlichen Prärogative gegen setzung für die Ausübung der Prärogative. Sie den Rat des Premierministers oder des Kabinetts üben die tatsächliche Kontrolle über diese Rech- auszuüben, würde dies in der Praxis jedoch nur te aus und sind wiederum selbst dem Parlament in Notfällen oder in Fällen tun, in denen die be- gegenüber rechenschaftspflichtig. Dieser minis- stehenden Präzedenzfälle nicht angemessen auf terielle advice darf jedoch nicht als Empfehlung die fraglichen Umstände anwendbar sind.07 Als missverstanden werden, sondern ist letztlich oberster Hüter der Verfassung ist der Monarch eine bindende Anweisung. Darüber hinaus wird beispielsweise befugt, einen Premierminister zu vom regierenden Monarchen und seiner Familie entlassen, der sich weigert, zurückzutreten, nach- weitestgehende politische Neutralität erwartet. dem er das Vertrauen des Unterhauses verloren Einen Teil dieser Prärogative übt der Monarch hat. So haben die königlichen Prärogativrechte jedoch in persönlicher Kapazität aus, seine soge- einerseits den Anschein eines verfassungsrechtli- nannten reserve powers beziehungsweise perso- chen Anachronismus, stehen gleichzeitig jedoch nal prerogatives. Die wichtigsten dieser Befug- im Zentrum der ungeschriebenen britischen Ver- nisse sind die Ernennung und Entlassung von fassung. Der Jurist Thomas Poole geht sogar so Ministern, einschließlich des Premierministers, weit, die Prärogativrechte als deren Kernelement die Einberufung und Vertagung des Parlaments zu bezeichnen.08 sowie die Erteilung des royal assent zu vom Par- lament verabschiedeten Gesetzen. Letzteres SYMBOLISCHE ROLLE hat heute nur mehr den Status einer Formalie: Die königliche Zustimmung zu Gesetzesvorla- Für die Ausgestaltung der Rolle der Monarchie gen wird „automatisch“ erteilt, sobald12 ein Ge- im modernen politischen System war die Re- setz von beiden Kammern des Parlaments verab- gentschaft Königin Victorias (1837–1901) maß- schiedet wurde.03 geblich. In dieser Zeit gab die Monarchie ihre Der Monarch hat damit ein erhebliches ver- aktive Rolle in der britischen Politik auf und ent- fassungsrechtliches Gewicht, aber nur eine sehr wickelte sich zu einer, die vor allem symbolisch begrenzte tatsächliche Handlungsfreiheit. Im funktionierte.09 Nachdem der politische Hand- Gegenzug steht ihm das Recht zu, von der Re- lungsspielraum des Monarchen bereits ab dem gierung konsultiert zu werden, ihr mit Rat zur späten 18. Jahrhundert eingeschränkt worden Seite zu stehen und vor Fehlentscheidungen zu war, hatte insbesondere die Reform des Wahl- warnen – ein Recht, von dem in wöchentlichen rechts 1832 weitreichende Folgen. Die Neuord- Gesprächen mit dem Premierminister Gebrauch nung der Wahlkreise und Ausweitung der Wäh- gemacht wird.04 Damit besteht in einer konsti- lerschaft insbesondere in den Großstädten auf tutionellen Monarchie ein grundlegender Unter- rund ein Fünftel der männlichen Bevölkerung schied zwischen den Handlungen des Monarchen führte dazu, dass die Abgeordneten des Unter- in persönlicher Eigenschaft und seinen Handlun- hauses stärker an das Mandat der Wähler gebun- gen, die er auf „Anraten“ seiner Minister vor- den waren. Bald war es für den Monarchen nicht nimmt.05 Der genaue Umfang der persönlichen mehr möglich, wie bisher zwischen unterschied- reserve powers ist allerdings umstritten.06 Theo- lichen, nach Partikularinteressen ausgerichteten Gruppierungen zu lavieren, da die Legitimation durch das Volk die Etablierung von stabilen Par- 01 Vgl. Vernon Bogdanor, The Monarchy and the Constitution, teien begünstigte. Diese disziplinierten die par- Oxford 1995, S. vi. lamentarische Arbeit und schränkten damit die 02 Vgl. ebd., S. 65. 03 Zu den königlichen Prärogativrechten vgl. The Constitution Möglichkeiten des Monarchen ein, durch die Er- Unit, What Is the Royal Prerogative?, o. D., www.ucl.ac.uk/consti- nennung einer neuen Regierung in den politi- tution-unit/explainers/what-royal-prerogative. 04 Vgl. Bogdanor (Anm. 1), S. 69. 05 Vgl. ebd., S. 66. 07 Siehe dazu Anthony King, The British Constitution, Oxford 06 Vgl. ebd., S. 75; Peter Hennessy, The Hidden Wiring. Un- 2007, S. 342. earthing the British Constitution, London 1995, S. 54–67; Thomas 08 Vgl. Poole (Anm. 6), S. 146 f. Poole, United Kingdom: The Royal Prerogative, in: International 09 Vgl. Ann Lyon, Constitutional History of the UK, London Journal of Constitutional Law 8/2010, S. 146–155, hier S. 146 f. 2003, S. 363. 40
Vereinigtes Königreich APuZ schen Prozess einzugreifen.10 In diesem Kontext Der symbolische Wert der Monarchie weck- war es Albert, Gemahl von Königin Victoria, der te zunehmend Erwartungen an die Person und das Ideal des über Partei- und Tagespolitik erha- den Lebenswandel des regierenden Monarchen. benen Monarchen etablierte. Kanonisiert wur- Vor allem Victoria und Albert prägten das Bild de diese Auffassung der politischen Rolle der einer königlichen Familie, die stark von bürgerli- britischen Monarchie in dem 1867 erstmals im chen Werten wie Anstand, Schicklichkeit und Fa- Buchformat veröffentlichten „The English Con- miliensinn geprägt war.14 Diese Konformität zu stitution“ des Journalisten Walter Bagehot. Der Mittelklassewerten war die Voraussetzung dafür, Verfassungsexperte Vernon Bogdanor brach- die Monarchie zu emotionalisieren und sie zu ei- te diese Entwicklung auf die zunächst paradoxe nem zentralen Bestandteil des britischen Identi- Formel, dass der Monarch an Macht verlor und tätsnarrativs werden zu lassen.15 Spätestens seit an Einfluss gewann.11 George V. verkörperten der König und seine Fa- Die britische Monarchie nimmt seit dieser milie die Idee einer public service monarchy, das Zeit nicht nur eine politische, sondern vor al- heißt einer Monarchie, die sich zum Wohl der Be- lem auch eine symbolische Rolle ein. Bagehot völkerung einsetzt.16 sah die Bedeutung der Monarchie darin, dass sie Damit wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine verständliche Form der Regierung repräsen- eine Blaupause geschaffen, die hohe Erwartun- tierte. „Der Nutzen der Königin in einer würdi- gen an die einzelnen Mitglieder des Königshau- gen Funktion ist unermesslich“, so eröffnete er ses stellte: Privilegien mussten erarbeitet werden. in „The English Constitution“ das Kapitel über Diese Erwartungen waren aus den sozialen Vor- die Monarchie. Sie diene als „Verkleidung“ und stellungen der Zeit geboren, rangierten aber auf stärke die Regierung durch ihre Kombination aus dem konservativen Spektrum und fossilisierten Mystik und Prunk. Dabei liege ihre Funktion vor das Bild der Kernfamilie. Zentraler Bestandteil in allem in ihrer Verbindung zur Bevölkerung, da diesem Prozess war die Entwicklung der Massen- sie komplexe Regierungsgeschäfte auf die Person medien, neben der Presse vor allem die Verbrei- des Monarchen oder der Monarchin herunterbre- tung der Fotografie und des Films. Diese erwie- che.12 Man braucht Bagehots elitäre Sichtweise sen sich als zweischneidiges Schwert; war es doch auf die Masse der britischen Bevölkerung nicht nur eine Frage der Zeit, bis Mitglieder der könig- zu teilen, um den symbolischen Aspekt der Mon- lichen Familie diesen Idealen nicht mehr genüg- archie zu erkennen. Ab den 1870er Jahren traten ten.17 Die royal family bewegte sich damit ins- die zeremoniellen Aspekte der britischen Monar- gesamt in einem Grunddilemma zwischen ihrer chie stärker hervor. Diese wurden im Laufe der inhärent konservativen gesellschaftlichen Leit- Jahre immer wieder bekräftigt beziehungsweise funktion sowie der Notwendigkeit, sich an wan- neu erfunden – nicht zuletzt, damit die jeweili- delnde kulturelle Werte anzupassen, ohne jedoch ge Regierung mit einem nationalistischen Spekta- den Bogen zu überspannen. kel unliebsame politische Gegner einhegen konn- te. Die Investitur des Prince of Wales etwa ist eine BILANZ DER REGENTSCHAFT solche Tradition: Nachdem sie 1911 für den spä- ELIZABETHS II. teren König Edward VIII. wiederbelebt worden war, wurde auch der heutige König Charles III. Will man nun von der Regentschaft Eliza- im Juli 1969 in einer farbenprächtigen Zeremo- beths II. (1952–2022) eine Bilanz ziehen, so soll- nie auf Caernarfon Castle im walisischen Bezirk te man diese politischen und symbolischen Para- Gwynedd als Prince of Wales eingesetzt, während meter, in denen sich die Monarchin bewegt hat, eine starke Polizeipräsenz ein walisisch-nationa- berücksichtigen. listisches Attentat verhindern sollte.13 14 Vgl. Bogdanor (Anm. 1), S. 36; Nairn (Anm. 13), S. 37. 15 Siehe auch Anthony King, der die Monarchie als „Britain’s 10 Vgl. Bogdanor (Anm. 1), S. 13–16. most conspicuous symbol of national unity“ bezeichnet. King 11 Vgl. ebd., S. 16, S. 35. (Anm. 7), S. 341. 12 Vgl. Paul Smith (Hrsg.), Bagehot. The English Constitution, 16 Zur Funktion der königlichen Familie vgl. Lyon (Anm. 9), Cambridge 2001. S. 366. 13 Zur royalen Symbolpolitik vgl. Tom Nairn, The Enchanted 17 Zu diesem Grunddilemma moderner Monarchien vgl. ebd., Glass. Britain and Its Monarchy, London 1988, S. 216–226. S. 402. 41
APuZ 12–13/2023 In der Ausübung ihrer politischen Rolle Familienmitglieder erfüllten den gesellschaftli- spricht viel dafür, dass Elizabeth die Lehren Bage- chen Erwartungsdruck an traditionelle Familien- hots über die politische und gesellschaftliche Stel- bilder nicht und beschädigten damit das Ansehen lung der britischen Monarchie nicht nur als Schü- der Monarchie. Elizabeth selbst bezeichnete das lerin studiert, sondern auch umgesetzt hat.18 Die Jahr 1992 als ihr persönliches „annus horribilis“, in Geschichte Elizabeths II. ist damit die Geschich- dem nicht nur das Scheitern der Ehen ihrer Kinder te einer Monarchin, die an sie gerichtete Erwar- Charles, Andrew und Anne Schlagzeilen machte, tungen als Teil des politischen Apparats und in ih- sondern auch große Teile des Schlosses Windsor rer gesellschaftlichen Leitfunktion in ihrer über durch Feuer zerstört wurden. Die Finanzierung 70-jährigen Regentschaft bis auf wenige Ausnah- des Wiederaufbaus war umstritten; zu den (anste- men erfüllt hat. Ein großer Teil der politischen Ar- henden) Scheidungen reihte sich nun die Frage der beit der Königin vollzog sich hinter verschlosse- Besteuerung des Privateinkommens der königli- nen Türen – eine Tatsache, die in den vergangenen chen Familie. Die Skandale blieben jedoch nicht Jahren als Lobbyarbeit in eigener Sache kritisiert auf die 1990er Jahre beschränkt. Auch wenn sich wurde.19 Politische Fehltritte in der Ausübung ih- die jüngere Berichterstattung auf den Duke und rer Prärogativrechte gab es nur wenige, so wenige, die Duchess of Sussex fokussiert, Elizabeths En- dass sie sich trotz der langen Regentschaft einzeln kel Harry und seine Frau Meghan, war es doch der aufzählen lassen. Genannt wurde beispielswei- Skandal um die Verbindungen Prinz Andrews zu se die Wahl Alec Douglas-Homes als Nachfolger dem Sexualstraftäter Jeffrey Epstein, der dem Kö- von Premierminister Harold Macmillan 1963. Auf nigshaus großen moralischen Schaden zufügte und dem Sterbebett liegend hatte Letzterer die Köni- dazu führte, dass ein senior royal de facto gefeuert gin davon überzeugt, Douglas-Home und nicht wurde. Selten wurden Elizabeth II. in diesem Zu- seinen innerparteilichen Konkurrenten Rab But- sammenhang persönlich Vorwürfe gemacht, wobei ler zum Premierminister zu ernennen. Der darauf der als verspätet und kaltherzig kritisierte Umgang folgende politische Streit führte dazu, dass inner- mit dem Unfalltod der ehemaligen Kronprinzessin halb der Conservative Party das System der Er- Diana 1997 eine Ausnahme bildete. nennung eines Parteivorsitzenden reformiert wur- Der größte gesellschaftliche Erfolg der Re- de, der in solchen Fällen nun auch die Nachfolge gentschaft Elizabeths II. liegt vermutlich in ihrer im Amt des Premierminister antritt. Funktion als Symbol für Stabilität und Kontinu- Als jüngeres Beispiel könnte noch die Pro- ität. Davon zeugt nicht zuletzt die Berichterstat- rogationskrise 2019 hinzufügt werden, in der tung anlässlich ihres Todes, in der vor allem die der damalige Premierminister Boris Johnson im persönlichen Eigenschaften der Monarchin im Kontext der Brexit-Verhandlungen die Queen Zentrum standen: Ganz oben rangierten ihr dazu veranlasste, eine fünfwöchige Sitzungspau- Pflichtgefühl, ihr Familiensinn, ihre Disziplin se des Parlaments zu unterzeichnen. Die Anwei- sowie ihre Integrität. Sie wurde somit nicht nur sung war politisch heftig umstritten und wurde qua Länge der Regentschaft, sondern auch durch zunächst vom High Court of Justice in London ihren Charakter zu einem Symbol einer vergan- für nicht justiziabel, im Anschluss aber vom genen Ära.20 Während sie manche als Anker der höchsten schottischen Zivilgericht, dem Court of Verlässlichkeit in Zeiten des willkommenen Wan- Session, für unrechtmäßig erklärt; ein Urteil, das dels würdigten,21 beschrieben andere sie als An- vom Supreme Court des Vereinigten Königreichs wenig später bestätigt wurde. Dem Ideal der gesellschaftlichen Vorbildfunkti- 20 Vgl. The Death of Elizabeth II. Marks the End of an Era, 9. 9. 2022, www.economist.com/leaders/2022/09/08/the-death- on der königlichen Familie entsprach Elizabeths II. of-elizabeth-ii-marks-the-end-of-an-era. Regentschaft jedoch nur bedingt. Vor allem ihre 21 „[I]t was her very steadfastness as the constitutional monarch, representing continuity, reliability and duty in a world gone dizzy, that anchored the change we were relishing and celebrating.“ 18 Vgl. hierzu auch Hennessy (Anm. 6), S. 51 f. Joan Bakewell, I watched Queen Elizabeth’s Entire Reign: She 19 Vgl. Severin Carrell/Rob Evans/David Pegg, Queen’s Was an Anchor in a Dizzy World, 11. 9. 2022, www.theguardi- Secret Influence on Laws Revealed in Scottish Government an.com/uk-news/2022/sep/11/queen-elizabeth-reign-monarch- Memo, 27. 6. 2022, www.theguardian.com/uk-news/2022/jun/ decades-freedoms. Vgl. auch Claudia Fromme, Aus der Zeit gefal- 27/queen-secret-influence-laws-revealed-scottish-government- len, 6. 10. 2022, www.sueddeutsche.de/1. 5662477; Robert Tombs, memo. The End of an Iconic Era, in: The Daily Telegraph, 9. 9. 2022, S. 24. 42
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APuZ 12–13/2023 gelpunkt einer längst vergangenen Welt, eines im- Hier zeigt sich die symbolische Funktion perialen Großbritanniens, das nicht nur Sieger im der Monarchie in Reinform: Die Person Eliza- Kampf gegen NS-Deutschland gewesen war, son- beths II. lieferte die Fläche, auf die jeweils unter- dern auch Metropole eines weltumspannenden schiedliche Deutungen britischer Geschichte und Kolonialreichs.22 Die Monarchin fungierte in die- Gegenwart projiziert werden konnten – positiv ser Lesart als Klammer, die ein zunehmend nati- wie negativ. Zugleich wurde die Krone im bes- onal und sozial zersplittertes Königreich zusam- ten Sinne Bagehots humanisiert. Dies ging jedoch mengehalten hatte.23 nur, da sehr wenig über Elizabeths tatsächlichen Die Dauer ihrer Regentschaft hat dabei vor al- Charakter und ihre persönlichen Vorlieben be- lem symbolischen Wert: Bei ihrer Krönung 1953 kannt ist – und das, was nach außen drang, sich befanden sich die fragmentierten und teils mitei- sowohl in bestehende nostalgische Erzählungen nander im Konflikt stehenden Konzeptionen na- eines Middle-of-the-road-Konservativismus als tionaler und sozialer Zugehörigkeit in einer sel- auch in ein Narrativ britischer Werte einpassen tenen Phase der Stabilität.24 Bereits in den späten ließ, die die Basis britischer Identität in einer mul- 1960er Jahren gab es jedoch erste Risse im Bild tiethnischen Gesellschaft bilden sollen. Pflichtge- einer „britischen Nation“, als die Nationalbe- fühl, Familiensinn, Disziplin und Integrität sind wegungen in Schottland und Wales erstarkten, kompatibel mit einem Großbritannien, das von die Dekolonisierung das Weltreich dezimier- Toleranz, Freiheitsliebe, Fair Play und Anstand te, ein blutiger Bürgerkrieg die nordirische Pro- geprägt sein möchte.28 Eben jener Fokus auf die vinz durchzog und die multiethnische Realität ihr zugeschrieben Charaktereigenschaften er- vieler englischer Städte die Idee eines „weißen“ laubt die Emotionalisierung ihrer Regentschaft – Großbritanniens infrage stellte.25 Elizabeth II. über die Queen trauern heißt dann immer auch, stand somit als Sinnbild für eine vergangene Zeit, ihren Tod auf das eigene Leben zu beziehen: Ihre gleichzeitig aber auch für die Bewältigung steten Regentschaft wurde damit zur politischen und Wandels, der von manchen begrüßt, von man- emotionalen Konstante.29 chen als Zeit des Abstiegs gedeutet wurde.26 Da- Der Erfolg der Monarchin zeigt sich an den bei wurde gerade ihre angenommene Gleichgül- Umfragewerten des Meinungsforschungsinsti- tigkeit auf die viel zitierte britische stiff upper tuts YouGov. Im Dezember 2022 sprachen sich lip zurückgeführt – ein älteres Narrativ, wonach 60 Prozent der Briten dafür aus, die Monarchie auch widrigste Umstände gleichmütig ertragen beizubehalten, wobei sich die Befürworter vor al- werden. Diese Form von royalem Nationalismus lem in den älteren, konservativ wählenden Bevöl- wurde vom schottischen Politologen Tom Nairn kerungsgruppen finden.30 Es bleibt abzuwarten, als „nicht-nationaler Nationalismus eines multi- ob sich mit der Regentschaft König Charles III. nationalen (und lange Zeit imperialen) Gebildes“ ein nennenswerter Aufschwung des politischen auf den Punkt gebracht.27 Republikanismus finden wird. KOLONIALE VERGANGENHEIT 22 Zur Verbindung zum Zweiten Weltkrieg vgl. etwa Jonathan Freedland, The Queen’s Death Will Shake This Country Deeply – Eines ist bereits heute klar: Die britische Monar- She Was a Steady Centre Amid Constant Flux, 8. 9. 2022, www. theguardian.com/commentisfree/2022/sep/08/the-queens- chie steht vor der Herausforderung, ihre histo- death-will-shake-this-country-deeply-she-was-a-steady-centre- risch gewachsene politische und gesellschaftliche amid-constant-flux. 23 Vgl. etwa Tim Adams, Queen Elizabeth’s Reign Was One of Fortitude and Faith, in: The Observer, 10. 9. 2022, www.thegu- 28 Für eine Ausformulierung dieses Narrativs in den ver- ardian.com/uk-news/2022/sep/10/queen-elizabeths-reign-was- gangenen Jahren vgl. Gordon Brown, Speech at a Seminar one-of-fortitude-and-faith; Bakewell (Anm. 21). on Britishness, London 2007, www.britishpoliticalspeech.org/ 24 Zum Nationsdenken der 1950er Jahre vgl. David Edgerton, speech-archive.htm?speech=317. The Rise and Fall of the British Nation. A Twentieth-Century 29 Vgl. Polly Toynbee, In Grieving for the Queen, We also History, London 2018, S. xxi. Mourn the Losses in Our Own Lives, 8. 9. 2022, www.theguardi- 25 Ausführlich hierzu Almuth Ebke, Britishness. Die Debatte an.com/commentisfree/2022/sep/08/grieve-queen-mourn-los- über nationale Identität in Großbritannien, 1967 bis 2008, ses-nation-britons. München 2019. 30 Vgl. YouGov, Frage: Do you think we should keep the 26 Vgl. Tombs (Anm. 21), S. 24. monarchy, or abolish it?, 14.–15. 12. 2022, https://docs.cdn. 27 Nairn (Anm. 13), S. 11. yougov.com/bmncb6vteb/Republic_Monarchy_221215.pdf. 44
Vereinigtes Königreich APuZ Rolle an veränderte gesellschaftliche Erwartun- von Barbados gehen werden, das sich im Novem- gen anzupassen. Dies zeigt nicht zuletzt die De- ber 2021 zur Republik erklärt hat. batte um koloniales Unrecht und die damit ver- Das britische Königshaus ist seit Mitte des knüpfte persönliche Verantwortung der Königin, 19. Jahrhunderts durch den Spagat gekennzeich- die nach ihrem Tod aufkam. Elizabeth II. wurde net, in einer sich verändernden Gesellschaft ein hierbei nicht nur in ihrer Funktion als Oberhaupt überparteilicher Ruhepol zu bleiben, ohne als ob- des Empire in den Blick genommen, sondern solet oder (zu) konservativ zu gelten. Die Debat- auch als Symbol für dessen rassistische Ordnung. te um die persönliche Verantwortung Elizabeths Kritiker monierten die Passivität der Queen an- für die Verbrechen des britischen Kolonialreichs gesichts kolonialer Massaker wie die Nieder- spiegelt eine Verschiebung im gesellschaftlichen schlagung des Mau-Mau-Aufstands zwischen Konsens wider: Die Aufarbeitung imperialer 1952 und 1960 in Kenia zu Beginn ihrer Regent- Verwicklungen und Verbrechen wird dabei nicht schaft und forderten eine aktive Auseinanderset- als tagespolitischer Akt und damit als eine über- zung mit der Rolle der königlichen Familie bei gebührliche Einmischung des überparteilichen imperialen Verbrechen.31 Konnte hier argumen- Staatsoberhaupts, sondern als moralische Not- tiert werden, dass die Königin durch ihr Schwei- wendigkeit betrachtet. Um dem gerecht zu wer- gen die ihr zugedachte politische Rolle erfüllte, den, erwarten Kritiker im In- und Ausland vom ließen sich Vorwürfe, dass der persönliche Reich- Königshaus nichts weniger als ein Eingeständ- tum der Windsors auf kolonialer Ausbeutung be- nis der imperialen Schuld und damit zusammen- ruhe, deutlich schwerer ablenken32 – gerade weil hängender Versäumnisse. Dem kann (und sollte) nur wenige Jahre vor Elizabeths Tod Journalisten Charles für die persönliche Rolle seiner Fami- aufgedeckt hatten, dass das Königshaus einen Teil lie nachkommen. Geht es jedoch um die allge- seines Vermögens in Offshore-Steueroasen park- meine britische Kolonialpolitik seit viktoriani- te.33 Besondere Schärfe erhielt diese Kritik durch scher Zeit, kann das Königshaus in der Praxis nur die Rassismus-Vorwürfe des Duke und der Du- dem ihm von der jeweiligen Regierung vorgege- chess of Sussex gegenüber ungenannten Mitglie- benen Rahmen folgen – auch hier besteht durch- dern des britischen Königshauses, was wenige aus Nachholbedarf. Noch ist nicht absehbar, wie Monate vor dem Tod der Queen für erheblichen Charles III. durch diese und weitere Verände- medialen Aufruhr sorgte. rungen im gesellschaftlichen Konsens navigieren Die Kritik verdeutlicht, dass das Erbe des wird. Empire, 60 Jahre nachdem der Großteil der ehe- maligen britischen Kolonien unabhängig gewor- den ist, immer noch ein umkämpftes Thema ist: und zwar innerhalb der britischen Gesellschaft, aber gerade auch im Verhältnis zu den ehemals britisch regierten Bevölkerungsgruppen. Mit dem Antritt von König Charles III. stellt sich nun zu- dem die Frage, wie viele von den noch verbliebe- nen 14 Ländern, von denen er neben dem Verei- nigten Königreich Staatsoberhaupt ist, den Weg 31 Vgl. etwa Hari Kunzru, My Family Fought the British Empire. I Reject Its Myths, 11. 9. 2022, www.nytimes.com/2022/09/11/ opinion/queen-hari-kunzru-imperial-delusions.html. 32 Zur Debatte um die kolonialen Verstrickungen des Königs- hauses vgl. Miriam Keilbach, Die Queen und ihre ehemaligen Kolonien: „Ich fühle nichts“, 14. 9. 2022, www.rnd.de/politik/ ALMUTH EBKE kritik-an-queen-und-britischem-koenigshaus-die-kolonien-for- ist promovierte Historikerin und Akademische Mit- dern-auseinandersetzen-mit-vergangenheit- LGMDDGO3H5E- arbeiterin am Historischen Institut der Universität FRMLWR5ZFPGQK7I.html. Mannheim. 2019 erschien ihr Buch „Britishness: Die 33 Vgl. Hilary Osborne, Revealed: Queen’s Private Estate Invested Millions of Pounds Offshore, 5. 11. 2017, www.theguar- Debatte über nationale Identität in Großbritannien, dian.com/news/2017/nov/05/revealed-queen-private-estate- 1967 bis 2008“. invested-offshore-paradise-papers. almuth.ebke@uni-mannheim.de 45
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