Lyrik und Rhetorik Robert Walsers Gedicht Zu philosophisch und Bertolt Brechts Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus - Kritische Robert ...

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WOLFRAM GRODDECK

 Lyrik und Rhetorik
 Robert Walsers Gedicht Zu philosophisch und Bertolt Brechts
 Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus

Der Frage nach der Wirksamkeit rheto-                  Zunächst liest man Walsers Gedicht als ei-
rischer Strukturen in lyrischen Texten                 ne philosophische Reflexion auf das ly-
möchte ich anhand von zwei sehr unter-                 rische Ich und bemerkt dabei, dass der
schiedlichen Gedichten nachgehen. Zu-                  Sinn des kurzen Gedichts, seine ‚Aussa-
nächst sei ein Gedicht von Robert Walser               ge‘, keineswegs einfach zu fassen ist. Die
genauer betrachtet, das 1899 in der Wiener             Überschrift „Zu philosophisch“ scheint das
Rundschau erschienen ist. Es ist die erste             Gedicht auch gleich selbst zu disqualifizie-
namentlich gezeichnete Publikation des                 ren, indem es eine mögliche Kritik daran
21-jährigen Dichters und trägt die Über-               vorwegnimmt – jedenfalls wenn man von
schrift: Zu philosophisch. Das zweite Ge-              der traditionell romantischen Vorstellung
dicht, das Gleichnis des Buddha vom bren-              ausgeht, dass Lyrik Gefühle und nicht Ge-
nenden Haus, ist ein Agitationsgedicht von             danken zum Ausdruck zu bringen habe.1
Bertolt Brecht, das 1939 in den Svendburger            Das Gedicht ist formal auf die Dreizahl hin
Gedichten veröffentlicht wurde.                        stilisiert: Es besteht aus drei Strophen in
                                                       regelmäßig alternierenden dreihebigen
1.                                                     Jamben, und auch in der inhaltlichen Dar-
                                                       stellung zeigt sich die Dreizahl wieder.
         Zu philosophisch                              Die erste Strophe ist verwirrend, indem sie
                                                       eine eigentümliche Auflösung des Ichs im
         Wie geisterhaft im Sinken                     Gedicht zur Darstellung bringt. Es beginnt
         und Steigen ist mein Leben.                   mit einer Aussage über das eigene Leben,
         Stets seh ich mich mir winken,                das „im Sinken / und Steigen“ (V. 1 f.)2 dem
         dem Winkenden entschweben.                    Ich des Gedichtes „geisterhaft“ (V. 1) vor-
                                                       kommt. In der sinkenden und steigenden
 5       Ich seh mich als Gelächter,
                                                       Bewegung seines Lebens scheint das Sub-
         als tiefe Trauer wieder,
                                                       jekt des Gedichtes weniger das Wirken ei-
         als wüsten Redeflechter;
                                                       nes philosophisch begreifenden Geistes
         doch alles dies sinkt nieder.
                                                       wahrzunehmen, sondern eher das eines
         Und ist zu allen Zeiten                       unwirklichen Gespenstes. Im dritten Vers
 10      wohl niemals recht gewesen.                   sieht sich das lyrische Ich in drei ‚Fälle‘ ver-
         Ich bin vergessne Weiten                      strickt bzw. in die drei grammatischen Ka-
         zu wandern auserlesen.                        sus: Nominativ (ich), Akkusativ (mich) und
         (Walser 2021, 105)                            Dativ (mir). Das Ich im Nominativ ‚sieht‘,
                                                       wie das Ich im Akkustativ dem Ich im Da-

(1) Binder (1976, 83 – 90) gibt die bisher gründlichste und theoretisch versierteste Auseinandersetzung mit
Walsers Gedicht, indem er das Gedicht als reflektierende „Gedankenlyrik“ liest. Binder konfrontiert Zu phi-
losophisch auf erhellende Weise mit dem Gedicht Welten (Walser 2021, 63).
(2) Caduff (2016, 45) unterzieht das Gedicht Zu philosophisch exemplarisch einer poetologischen Lektüre. So
erkennt er in den „substantivierten Verben ‚Sinken‘ und ‚Steigen‘, die sich in der Rhythmik des jambischen
Versfußes spiegeln“, eine „poetologische Dimension“.

Der Deutschunterricht 1/2022                                                                                  17
tiv ‚zuwinkt‘, wobei das Ich im Akkusativ                bildung genoss, überhaupt mit der Tradi-
     sich in einen Dativ wandelt („dem Win-                   tion der Rhetorik in Kontakt gekommen
     kenden“ [V. 4]) und dem Nominativ-Ich als                sein? Dazu wäre zu bemerken, dass bis
     ‚entschwebendes‘ erscheint. Den drei Zu-                 ins 20. Jahrhundert hinein Rhetorik – oft
     ständen eines dergestalt sich entziehen-                 verkappt als ‚Aufsatzlehre‘ – allgemeiner
     den lyrischen Ichs entspricht kein festes,               Schulstoff war und dass Robert Walser in
     souveränes Ich mehr. Vielmehr wird das                   seinem ersten Buch Fritz Kochers Aufsätze
     Ich selbst „geisterhaft“ (V. 1) und schwebt              die stilistischen Regeln des Schulaufsat-
     auf und nieder, um dann zu „entschweben“                 zes kunstvoll parodiert hat (vgl. Walser
     (V. 4). Diese eigenartige Denkbewegung –                 2010; generell dazu Müller 2007).
     Gronau (2006, 146) nennt sie eine „meta-                 Allerdings sieht oder bekennt sich das
     phorische Halluzination“, Binder (1976, 86)              Ich des Gedichtes zugleich als „wüsten
     spricht von einer „Aporie der Selbstrefle-               Redeflechter“.5 Das Adjektiv „wüst“, das in
     xion“ – wirkt wie ein spitzfindiges, sophis-             der Verbindung mit einer Rede durchaus
     tisches Verfahren, oder wie eine Art von                 auch ‚öde‘ oder ‚leer‘ bedeuten kann, ist
     sprachphilosophischem Hütchenspiel.                      hier zunächst im Sinn von ‚hässlich‘ oder
     In der zweiten Strophe ist das Ich denn                  gar ‚unanständig‘ zu verstehen.6 Nicht nur,
     auch prompt wieder da und bestimmt                       weil diese Bedeutung von ‚wüst‘ im Schwei-
     sich erneut als Instanz der Selbstbeob-                  zerdeutschen vorherrscht, sondern auch
     achtung: „Ich seh mich als […]“ (V. 5). Al-              weil das Adjektiv in der Gedichtsammlung
     lerdings ist das Gesehene nun metony-                    von 1909 noch einmal in den Schlussver-
     misch objektiviert. Und dies wieder in                   sen des sprachkritischen Gedichts Heim-
     drei Zuständen: als „Gelächter“ (V. 5), als              kehr in diesem Sinn verwendet wird:
     „tiefe Trauer“ (V. 6) und als „Redeflech-
     ter“ (V. 7). Während „Gelächter“ und                         „Ich geh’ vorbei, den Blick zum Schnee
     „tiefe Trauer“ eher als Metonymien der                       gesenkt, an meiner Wange ist
     Wirkung von Rede (oder sprachlichem                          nichts, als erinnrungsheißes Rot,
     Handeln überhaupt) aufzufassen sind, ist                     mich mahnend an die wüste Sprach.“
     „Redeflechter“ eine subjektive Bezeich-                      (Walser 2021, 83, V. 14–17)
     nung: Mit „Gelächter“ und „tiefe[r] Trau-
     er“ erkennt sich das Ich des Gedichtes als               Dieses Gedicht thematisiert ein sprachli-
     Produzent, als „Redeflechter“.                           ches Ungeschick („auf meiner Lippe bebt
     Das Wort „Redeflechter“ ist ein Neolo-                   es noch, / weil ich mein Herz ihr übertrug
     gismus Walsers3 und es ist hier absolut                  / zum Sprechen“, V. 2–5) und semantisiert
     sinnvoll. Indem sich das Ich des Gedich-                 in der Korrespondenz zur Gedichtausga-
     tes als „Redeflechter“ sieht, bezeichnet es              be von 1909 den „wüsten Redeflechter“ als
     sich nämlich als ‚Texter‘ von Rede; denn                 eine sprachskeptische Figur oder auch als
     das lateinische Wort „textus“ bedeutet                   Figur einer Sprach-Scham. Die „Sprach“
     ursprünglich ‚Geflecht‘.4 Und so behaup-                 des Dichters wird „wüst“, wenn sie unkon-
     tet sich das Gedicht in seiner Mitte als                 trolliert sagt, was vom „Herz“ kommt. Was
     ein ausdrücklich rhetorisch produzier-                   dem lyrischen Ich im Gedicht Heimkehr die
     ter Text. Aber konnte der junge Robert                   Schamröte auf die „Wange“ bringt, bewirkt
     Walser, der nur eine einfache Schulaus-                  in Zu philosophisch „Gelächter“ und „tiefe

     (3) Das Wort „Redeflechter“ findet sich auch in Walsers Werk nur in diesem einen Gedicht, es ist also nicht nur
     ein Neologismus, sondern auch ein sogenanntes Hapaxlegomenon, d. h. ein ‚Ein-einziges-Mal-zu-Lesendes‘.
     (4) Der vermutlich früheste Beleg für das Wort textus, das im Wortsinn ‚das Gewobene‘, ‚das Geflecht‘ bedeu-
     tet, als Bezeichnung eines sprachlichen Zusammenhangs findet sich in Quintilians Rhetorik im 9. Buch, 4.
     Kapitel, das von der Wortfügung handelt: „verba [...] in textu iungantur“ (Quintilianus 2015, 2. Teil, 370 [IX
     4, 13]). Inzwischen ist die ‚textile‘ Metaphorik für literarische Texte längst habitualisiert und signalisiert
     meistens die Dimension poetischer Selbstbezüglichkeit.
     (5) Den „wüsten Redeflechter“ findet man nur im Erstdruck des Gedichts von 1899 und in der bibliophilen
     ersten Auflage der Gedichte von 1909. In der zweiten Auflage von 1919 wird er – möglicherweise durch den
     Eingriff eines Lektors – zu einem „wilden Redeflechter“ umbenannt und findet sich so in fast allen späte-
     ren Abdrucken des Gedichts (vgl. Walser 2021, 104 f. und 173 f.).
     (6) Vgl. den Artikel „wüst, adj.“ im Deutschen Wörterbuch. Der Artikel umfasst 22 Spalten und zeigt eine Be-
     deutungsbreite von ‚leer‘, ‚öde‘, ‚unbewohnt‘ bis zu ‚abscheulich‘, ‚schmutzig‘, ‚hässlich‘.

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Trauer“. Der vierte Vers der zweiten Stro-              der ‚zu philosophischen‘ Gedanken im Ge-
phe von Zu philosophisch nivelliert jedoch              dicht löst die Erinnerung daran aus, dass
solche Sprachverzweiflung: „doch alles                  es überhaupt „vergessne Weiten“ gibt.
dies sinkt nieder“ und stellt mit dem Sin-              Aber man kann hier gleich noch einen
ken auch wieder die Korrespondenz zum                   Schritt weiter gehen: Die memoria als
Anfang des Gedichts her.                                vierter Teil der Rhetoriklehre hängt mit
Die dritte Strophe knüpft mit dem ellipti-              ihrem ersten Teil, der inventio (der Lehre
schen Satz in V. 9 f. direkt an „alles dies“            von der ‚Erfindung‘ der Rede), insofern zu-
aus V. 8 an: „Und ist zu allen Zeiten / wohl            sammen, als die ‚zu findenden‘ Gegenstän-
niemals recht gewesen.“ Damit ist in ei-                de einer Rede an bestimmten locis oder
nem dritten Schritt die „Aporie der Selbst-             „Orten“ aufzusuchen sind, nämlich – so
reflexion“ ebenso wie die Sprachskepsis                 der große Rhetoriksystematiker Heinrich
gewissermaßen beiseitegeschoben, und                    Lausberg in einer etwas gewagten Meta-
das Gedicht schließt in einer Art Synthese              pher – „im Unterbewußtsein“ des Redners
mit einem seltsam abstrakten Bild:                      (Lausberg 1971, 24). Anders gesagt: Erin-
                                                        nerung und Erfindung setzen einander vo-
    „Ich bin vergessne Weiten                           raus und gehen ineinander über.
    zu wandern auserlesen.“                             Nachdem das Ich des Gedichts mit der
                                                        abstrakten Selbsterkenntnis geschei-
Die Schlusswendung des Gedichts hat Le-                 tert ist, wird es sich als ein „zu wan-
serinnen und Leser Walsers immer wie-                   dern auserlesen[es]“ Subjekt in den
der fasziniert.7 Ihre poetisch suggestive               „vergessne[n] Weiten“ der Welt (wieder)
Wirkung erklärt sich nur zum Teil aus                   erfinden. So scheint es, dass die philoso-
der rhetorischen Figuration des Satzes,                 phische „Aporie der Selbstreflexion“ im
in welchem die syntaktische Umstellung                  Gebiet der Rhetorik ausgetragen wird und
– die Anastrophe – mit der Schlussstellung              dabei ins Offene weist. Denn Walsers Ge-
des Verbs eine gewisse Spannung erzeugt,                dicht geht mit dem adjektivischen Titel
sondern vor allem durch die rätselhafte                 Zu philosophisch und dem Neologismus
Metapher „vergessne Weiten“.                            vom „Redeflechter“ über Philosophie
Das Ich des Gedichts sieht sich nun nicht               und Rhetorik hinaus und wählt den neu-
mehr als ein ‚entschwebendes‘ Subjekt,                  en Weg der Dichtung.
sondern weiß selbstbewusst, dass es „aus-               Wie könnte man sich nun den Weg die-
erlesen“ ist „zu wandern“.8 Doch die Re-                ses Wanderers, die „vergessne[n] Weiten“,
de von den „vergessne[n] Weiten“ konter-                anschaulich vorstellen? In derselben Ge-
kariert den Topos oder das Klischee von                 dichtsammlung, in der Zu philosophisch
einem, der ‚in die weite Welt‘ aufbricht.               und Heimkehr stehen, findet sich auch
Warum und von wem sind diese „Weiten“                   ein Gedicht Schnee,10 dessen dritte Stro-
‚vergessen‘? Als „vergessne“ sind es Reali-             phe lautet:
täten, die sich dem individuellen und dem
kollektiven Bewusstsein entzogen haben,                     „Das gibt dir, ach, eine Ruh, eine Weite,
aber dennoch existieren. Indem die „Wei-                    die weißverschneite Welt macht mich
ten“ als „vergessne“ im Text des Gedichtes                        schwach.“
auftauchen und damit wieder erinnert wer-                                             (Walser 2021, 77)
den, gemahnen sie an den Bereich der Me-
moria (der Lehre vom Gedächtnis) in der                 So ist es zum einen die im Gedicht bis-
klassischen Rhetorik.9 Das ‚Niedersinken‘               her vergessene „Welt“, zum anderen eine

(7) So etwa Gronau (2006, 147): „Ein eigentümlicher Zauber leuchtet aus diesem Satz.“ Bernhard Böschen-
stein verwendet diese Verse als Überschrift seiner Würdigung des Komponisten Heinz Holliger, der 12 frü-
he Gedichte von Walser vertont hat, darunter auch Zu philosophisch“ (vgl. Böschenstein 1996).
(8) Caduff (2016, 45) deutet die Verben „wandern“ und „auserlesen“ als Reflexion auf den Rezeptionsprozess:
„wandern“ als ‚schreiben‘ und „auserlesen“ als ‚gelesen werden‘. – Binder (1976, 88) liest „vergessne Weiten“
als „Wiederentdeckung der Objektwelt“.
(9) Zu den fünf Teilen der Rhetoriklehre, den rhetorices partes vgl. Groddeck (2020, 95–115).
(10) Gronau (2006, 147) sieht ebenfalls einen motivischen Bezug der „vergessne[n] Weiten“ zum Gedicht
Schnee.

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leere „Weite“, in die das Ich nun aufbre-             Bertolt Brecht dar. Das Gedicht entstand
     chen soll.11 Das Bild der weißen, leeren              1937 im dänischen Exil des Dichters, der
     Schneelandschaft ließe sich – vergleich-              aus dem nationalsozialistischen Deutsch-
     bar der leeren Leinwand für den Maler                 land geflohen war. Es wurde 1939 in den
     oder dem weißen Blatt für den Schriftstel-            Svendborger Gedichten im Kontext von ei-
     ler – als eine transzendentale Metapher               nerseits sehr persönlichen, andererseits
     für Krise und Beginn schöpferischer Tä-               auch kommunistisch-agitatorischen Ge-
     tigkeit verstehen.                                    dichten veröffentlicht.12 Das Gleichnis des
                                                           Buddha vom brennenden Haus ist nota be-
                                                           ne das einzige Gedicht in Brechts Gesamt-
                                                           werk, in dem von Buddha die Rede ist.
                                                           Den Stoff zum Gedicht hat Brecht of-
                                                           fenbar dem Roman von Karl Gjellerup
                                                           Der Pilger Kamanita entnommen.13 Das
                                                           „Gleichnis“ vom „brennenden Haus“ ist
                                                           keine authentisch überlieferte Rede Bud-
                                                           dhas, sondern sehr wahrscheinlich eine
                                                           Erfindung Gjellerups.
                                                           Bestimmend für die poetische Gestalt
                                                           des Gedichtes ist der Begriff „Gleich-
                                                           nis“, der im Titel und im Mittelteil des
                                                           Gedichts genannt wird. Mit dem Wort
                                                           „Gleichnis“ assoziiert man zunächst
                                                           vielleicht die Gleichnisse Jesu aus dem
                                                           Neuen Testament. Das „Gleichnis“ ist
                                                           aber auch ein mit Vergleich und Meta-
                                                           pher verwandtes rhetorisches Mittel, das
                                                           schon in der Rhetorik des Aristoteles be-
                                                           dacht wird. Aristoteles kennt zwei „Be-
                                                           weismittel“ des Redners: das „Beispiel“
                                                           und das „Enthymem“ oder die logische
                                                           Schlussfolgerung (Aristoteles 2018, 243
                                                           [1393a]); zu den Gleichnissen zählen
                                                           die „Aussprüche des Sokrates“ (ebd.,
                                                           245 [1393b]) – sie dienen dem Redner
     Abb. 1: Radierung von Robert Walsers Bruder           zur anschaulichen Exemplifikation ei-
     Karl Walser. Abdruck mit freundlicher Geneh-          nes schwierigen Sachverhalts.
     migung der Robert Walser-Stiftung Bern. In:           Das „Gleichnis“ in der Überschrift von
     Robert Walser (1909): Gedichte, Berlin: Bruno         Brechts Text betrifft das Thema und
     Cassirer Verlag, 17.                                  ebenso die Form des Gedichts: Es er-
                                                           zählt ein Gleichnis und ist zugleich sel-
                                                           ber ein Gleichnis, indem es die Erzäh-
     2.                                                    lung, unter welchen Umständen Buddha
     Ganz anders stellt sich die Wechselwir-               sein „Gleichnis“ erzählt, zum Gleichnis
     kung von Lyrik und Rhetorik im Gleich-                für die politische Entscheidungssituati-
     nis des Buddha vom brennenden Haus von                on in der Gegenwart macht.14

     (11) Die Schneelandschaft ist im Übrigen auch ein durchgehendes Thema im Werk Robert Walsers, von den
     frühen Gedichten über Geschwister Tanner und zahlreiche Prosastücke bis hin zu den spätesten Gedichten
     aus der psychiatrischen Anstalt Waldau.
     (12) Zum historischen Hintergrund des Gedichts vgl. Detering (2014, 222 f.).
     (13) Vgl. Brecht 1988b, 369. – Die Quellenfrage behandelt am ausführlichsten Kuschel (2018). Er gibt auch
     den vollständigen Wortlaut des Gleichnisses bei Gjellerup wieder (ebd., 511 f.).
     (14) Sowohl Detering (2014, 224) als auch Kuschel (2008, 512) thematisieren die „Schachtelung“ in der Kom-
     position des Gedichts, ohne den rhetorisch-literarischen Formbegriff „Gleichnis“ weiter zu verfolgen.

20                                                                                   Der Deutschunterricht 1/2022
Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus

           Gothama, der Buddha, lehrte
           Die Lehre vom Rade der Gier, auf das wir geflochten sind und empfahl
           Alle Begierde abzutun und so
           Wunschlos einzugehen ins Nichts, das er Nirwana nannte.
 5         Da fragten ihn eines Tags seine Schüler:
           Wie ist dies Nichts, Meister? Wir alle möchten
           Abtun alle Begierde, wie du empfiehlst, aber sage uns
           Ob dies Nichts, in das wir dann eingehen
           Etwa so ist wie dies Einssein mit allem Geschaffenen
 10        Wenn man im Wasser liegt, leichten Körpers, im Mittag
           Ohne Gedanken fast, faul im Wasser liegt oder in Schlaf fällt
           Kaum noch wissend, daß man die Decke zurechtschiebt
           Schnell versinkend, ob dies Nichts also
           So ein fröhliches ist, ein gutes Nichts, oder ob dies dein
 15        Nichts nur einfach ein Nichts ist, kalt, leer und bedeutungslos.
           Lange schwieg der Buddha, dann sagte er lässig:
           Keine Antwort ist auf euere Frage.
           Aber am Abend, als sie gegangen waren
           Saß der Buddha noch unter dem Brotbaum und sagte den andern
 20        Denen, die nicht gefragt hatten, folgendes Gleichnis:
           Neulich sah ich ein Haus. Es brannte. Am Dache
           Leckte die Flamme. Ich ging hinzu und bemerkte
           Daß noch Menschen drin waren. Ich trat in die Tür und rief ihnen
           Zu, daß Feuer im Dach sei, sie also auffordernd
 25        Schnell hinauszugehen. Aber die Leute
           Schienen nicht eilig. Einer fragte mich
           Während ihm schon die Hitze die Braue versengte
           Wie es draußen denn sei, ob es auch nicht regne
           Ob nicht doch Wind ginge, ob da ein anderes Haus sei
 30        Und so noch einiges. Ohne zu antworten
           Ging ich wieder hinaus. Diese, dachte ich
           Müssen verbrennen, bevor sie zu fragen aufhören. Wirklich, Freunde
           Wem der Boden noch nicht so heiß ist, daß er ihn lieber
           Mit jedem andern vertauschte, als daß er da bliebe, dem
 35        Habe ich nichts zu sagen. So Gothama, der Buddha.
           Aber auch wir, nicht mehr beschäftigt mit der Kunst des Duldens
           Eher beschäftigt mit der Kunst des Nichtduldens und vielerlei Vorschläge
           Irdischer Art vorbringend und die Menschen lehrend
           Ihre menschlichen Peiniger abzuschütteln, meinen, daß wir denen, die
 40        Angesichts der heraufkommenden Bombenflugzeuggeschwader des Kapitals noch allzulang fragen
           Wie wir uns dies dächten, wie wir uns das vorstellten
           Und was aus ihren Sparbüchsen und Sonntagshosen werden soll nach einer Umwälzung
           Nicht viel zu sagen haben.
                                                                                      (Brecht 1988b, 36 f.)

Der Deutschunterricht 1/2022                                                                                  21
Brechts Buddha-Gleichnis unterscheidet                  alisiert sich der Vers (und damit die Vers-
     sich nicht nur in manchen inhaltlichen                  dichtung überhaupt); denn so entsteht im
     Details von der Vorlage, sondern auch in                Text eine formale Dynamik im Widerstreit
     der Transposition der Prosaform in ein                  zwischen Verseinheit und syntaktischer
     reimloses Gedicht in freien Metren. Das                 Einheit: „Der Vers bestätigt in eben dem
     scheint immer noch nicht ohne Irritati-                 Augenblick, da er die syntaktische Ver-
     on rezipierbar zu sein:                                 bindung sprengt, seine Identität“ (ebd.,
                                                             23). Dieser Moment bedingt ein kurzes
         „Einerseits erzählt es seine lehrhafte Ge-          Innehalten im Ablauf der Verse. Brecht
         schichte in reimlosen und metrisch nicht            selbst entwickelt in seinem Aufsatz Über
         geregelten Sätzen, die sich unschwer wie            reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhyth-
         eine kurze Geschichte in Prosa (vor-)lesen          men von 1938, in dem er eigene frühe-
         lässt. Anderseits gibt es diesen Sätzen             re Gedichte untersucht, eine Theorie des
         durch den Zeilenumbruch den Charakter               Verse-Sprechens, die dem Versübergang
         von Versen, so dass man sie auch wie ei-            ebenfalls diese Funktion zuweist: „Das
         nen reimlosen Verstext sprechen kann“               Ende der Verszeile bedeutet immer eine
         (Detering 2014, 224).                               Zäsur“ (Brecht 1993, 362). Und genau dies
                                                             ist in Brechts Buddha-Gedicht der Fall,
     Allerdings ist das rein optische Merk-                  wobei sich die Enjambements – oder mit
     mal „Zeilenumbruch“ keine ausreichen-                   Brecht zu reden: die Zäsuren – in Hinsicht
     de Bestimmung für einen „Verstext“. Was                 auf die Bedeutungsverdichtung der pro-
     als Prosatext gelesen wie ein nüchternes                saischen Aussage schwächer oder stärker
     Resümee klingt, zeigt bei Beachtung der                 auswirken können.
     Versifikation einen subtilen Rhythmus:                  Schon im Übergang vom ersten zum zwei-
     Das zeigt sich schon im ersten Abschnitt                ten Vers wird die Figura etymologica „lehr-
     des Gedichts (V. 1–4), der die Lehre des                te / Die Lehre“ durch das Enjambement
     Buddha in einem einzigen Satz zusam-                    gleichsam gedehnt und macht eine ei-
     menfasst. Ausgehend von der Anfangs-                    gentümliche Selbstbezüglichkeit im Be-
     betonung des Wortes „Gothama“ liest sich                griff der „Lehre“ spürbar (wobei auch das
     der erste Vers trochäisch und regelmäßig                Wort ‚Leere‘ mitgehört werden darf). Die
     alternierend, der zweite dagegen weitge-                Beseitigung der „Begierde“ ist Vorausset-
     hend daktylisch. Im dritten und vierten                 zung, um „so / Wunschlos“ im „Nichts“ zu
     Vers werden die Versbetonungen wieder                   verschwinden.
     alternierend. Damit ist ein Rhythmus vor-               Im zweiten Abschnitt (V. 5 –15) fragen die
     gegeben, der im Gedicht ständig variiert                Schüler den Gothama nach dem Wesen
     wird.                                                   des „Nichts“: „Wie ist dies Nichts, Meis-
     Entscheidend für den „Verscharakter“ des                ter?“ Sie stellen damit eine im Prinzip un-
     Ganzen ist jedoch der Zeilensprung oder                 sinnige Frage; denn „Nichts“ kann nicht
     das Enjambement, das nicht erst Giorgio                 sein. Aber die ausschweifende Frage der
     Agamben als das bestimmende Merkmal                     Schüler ist bemerkenswert eloquent: Ein
     von Versdichtung erkannt hat; doch for-                 einziger Satz bringt in gedrängter Form,
     muliert er es auf prägnante Weise: „Es ist              von Nebensatz zu Nebensatz gleitend, die
     des Nachdenkens wert, daß es keine be-                  „Begierde“ der Schüler nach Glück gleich-
     friedigende Definition des Verses gibt, au-             sam performativ zum Ausdruck – „ob dies
     ßer der, die ihn durch die Möglichkeit des              Nichts also / So ein fröhliches ist, ein gu-
     Enjambements, das der Prosa ermangelt,                  tes Nichts“.15 Durch das Enjambement mit
     bestimmt.“ (Agamben 2003, 21) Erst mit                  „also / So“ wird ein Stocken, fast ein Stot-
     der „Möglichkeit des Enjambements“ re-                  tern im Fragefluss spürbar, als ahnten die

     (15) Sowohl Kuschl (vgl. 2018, 527) als auch Detering (vgl. 2014, 233) verweisen in Bezug auf die Verse 6 bis
     15 auf Entsprechungen im Lebensgefühl zu Brechts frühen Gedichten, insbesondere in Vom Schwimmen in
     Seen und Flüssen (Brecht 1988a, 72f.). Dass Brecht damit auch auf sein eigenes Frühwerk reflektiert, ist ein
     interessanter poetologischer Aspekt des Buddha-Gedichtes, auch wenn ich die etwas voreilige Schlussfol-
     gerung von Detering „Zu diesen Schülern zählt auch der Sprecher des Gedichts selbst“ nicht teilen möchte.

22                                                                                     Der Deutschunterricht 1/2022
Schüler selber schon, dass sie die Lehre             scheint das Wort ‚nichts‘, nachdem es zu-
Buddhas missverstehen. Zum Ende der                  vor – allerdings nicht von Buddha selbst –
langen Periode der Schülerfragen kommt               sieben Mal zur substantivierten Form des
dann auch die ernüchternde Alternative:              „Nichts“ hervorgehoben wurde, zuletzt
„oder ob dies dein / Nichts nur einfach ein          als bloß funktionales Indefinitpronomen.
Nichts ist, kalt, leer und bedeutungslos“            Während die Passage mit dem „Gleichnis“
(V. 14 f.). In der Rede der Schüler wird das         (V. 21– 32) aus insgesamt zehn kurzen Sät-
Wort „Nichts“ sechsmal wiederholt und                zen besteht, die an keiner Stelle mit der
nähert sich mit dem letzten Wort, dem                Verszeile zusammenfallen, besteht die
Wort „bedeutungslos“, dem an, was Bud-               Schlusspassage des Gedichts (V. 36 – 43)
dha „Nirwana“ (V. 4) nennt. Wieder ist es            – eingeleitet wiederum mit einem „Aber“
das Enjambement, das mit der Zuschrei-               – aus einem einzigen Satz. Zwar besteht
bung des „Nichts“ in Buddhas ‚Lehre‘ die             auch die drängende Frage der „Schüler“
Leere des „Nichts“ spürbar macht: „dies              (V. 6 –15) aus nur einem Satz, doch wäh-
dein / Nichts“ (V.13 f.).                            rend dieser sich hypotaktisch gleitend
Das lange Schweigen des Buddha auf die               bis zum Wort „bedeutungslos“ hinzieht,
Frage endet mit einem „lässig“ formulier-            ist der Schlusssatz des Gedichts wie eine
ten Satz – dem einzigen im ganzen Ge-                klassische rhetorische Periode gebaut.16
dicht, bei dem Syntagma und Vers kon-                Die einzelnen Abschnitte des „Gleichnis“-
gruent sind: „Keine Antwort ist auf euere            Gedichts unterscheiden sich auffällig in
Frage“. (V. 17)                                      ihrer – mit Brecht zu reden – „Versarchi-
Die folgende Sequenz (V. 18 – 35) beginnt            tektur“ (Brecht 1993, 358).
mit einem gewichtigen Einschnitt, einem              Das syntaktische Gerüst des Schlusssatzes
„Aber“, das durch mehrfache Alliteratio-             „Aber auch wir […] meinen, daß wir de-
nen hervorgehoben ist: „Aber am Abend,               nen, die […] fragen […] Nicht viel zu sagen
als […]“. Buddha erzählt nun „denen, die             haben“, stimmt genau mit der Haltung
nicht gefragt hatten“ jenes „Gleichnis“,             Buddhas überein. Die Differenz zur bud-
das dem Gedicht den Titel gibt. Buddha               dhistischen Lehre wird erst in den einge-
betritt ein brennendes Haus, um die darin            schobenen Nebensätzen, den Hyperbata,
weilenden Menschen zu retten. Doch die               deutlich. In diesen Einschüben wird der
„Leute“, aufgefordert, das Haus zu verlas-           Bezug des ganzen Gedichts zur historisch-
sen, begreifen die Gefahr nicht und fra-             politischen Gegenwart der späten 1930er-
gen, wie es „draußen denn sei“ (V. 28). Da           Jahre hergestellt: Der drohende Zweite
sie nicht „zu fragen aufhören“, verzichtet           Weltkrieg, der vom nationalsozialisti-
Buddha auf die Antwort und überlässt sie             schen Deutschland ausgehen wird und
dem Feuertod. Sein „Gleichnis“ erläutert             1939, im Jahr der Veröffentlichung des
er mit den Worten:                                   Gedichts, bereits Realität ist, wird durch
                                                     das Bild der „Bombenflugzeuggeschwa-
    „Wem der Boden noch nicht so heiß ist,           der des Kapitals“ auf den politischen Be-
          daß er ihn lieber                          griff gebracht: Auf der Basis von Lenins
    Mit jedem andern vertauschte, als daß er         Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadi-
          da bliebe, dem                             um des Kapitalismus (1916 und 1917) lehrt
    Habe ich nichts zu sagen.“ (V. 33–35)            die marxistische Theorie, dass der Kapita-
                                                     lismus (bei Buddha die „Lehre vom Rade
Damit beantwortet Buddha die nicht ge-               der Gier“) notwendig zu Imperialismus
stellte Frage nach seiner Nichtbeantwor-             und schließlich zu Faschismus und Welt-
tung der Fragen der „Schüler“ (V. 5) nach            kriegskatastrophe führt.
dem Wesen des „Nichts“ mit der Aussage,              Der Vers 40, der das sperrige Mehrfach-
dass er „nichts zu sagen“ habe. Hier er-             kompositum „Bombenflugzeuggeschwa-

(16) Eine rhetorische Periode besteht in der syntaktischen Komposition eines einzigen, in der Regel sehr
langen Satzes. Die Konstruktion einer Periode wird vom Sprechen und vom Atmen her gedacht und ist im
Prinzip den Phrasierungsregeln in der Musik vergleichbar. Zur ästhetischen Bedeutung der Periode in der
antiken Rhetorik vgl. Groddeck (2020, 74 f.).

Der Deutschunterricht 1/2022                                                                               23
der“ enthält, ist mit 26 Silben der längs-               (V. 6 –15) wirken emotional aufgeregt;
     te Vers im ganzen Gedicht. Beim Vortrag                  Buddhas Erzählung vom brennenden
     des Verses wird man diesen überlangen                    Haus (V. 21– 35) zeigt ein zurückgehalte-
     Vers intuitiv in gesteigertem Tempo spre-                nes, auf kurze Sätze reduziertes Pathos;
     chen und hören.                                          und der Schlussabschnitt erzeugt mit der
     Der letzte Vers ist dagegen ein dreihebi-                grandiosen Periode ein auf Wirkung kal-
     ger Jambus und ist mit 7 Silben der kür-                 kuliertes Pathos. Die poetische Brisanz
     zeste im Gedicht. Er schließt den kompo-                 des Gedichts zeigt sich in der Verwen-
     sitorischen Bogen zum ersten, vierhebig                  dung des Wortes „Nichts“, in den auf-
     trochäischen Vers, welcher mit 8 Silben                  fälligen Negationen im Textverlauf und
     der zweitkürzeste ist.                                   in der Pointe, dass der Text nach all den
     Die Pointe im Schlussvers, wonach „wir“                  rhetorischen Kunststücken an seinem
     denen, die im Status quo der Gesellschaft                Ende „nicht viel zu sagen“ hat. Denn sein
     verharren, „nicht viel zu sagen“ zu haben,               Sinn und seine Wirkung liegen jenseits
     ist zugleich eine indirekte Aufforderung                 von Erzählung und Gleichnis.
     zur politischen Aktion an jene, welche die
     „Umwälzung“, d. h. die Revolution, als not-              3.
     wendig erkennen.                                         Beide Gedichte, das geheimnisvoll grüb-
     Damit wendet sich der Text an die Rezi-                  lerische Gedicht Zu philosophisch von Ro-
     pienten des Gedichts. In der Theorie der                 bert Walser ebenso wie das vielschich-
     alten Rhetorik wird der Vortrag in einem                 tige Buddha-Gedicht von Bertolt Brecht
     eigenen (dem fünften) Arbeitsgang des                    überschreiten am Ende den geschlosse-
     Redners abgehandelt, dem der Actio. Die                  nen Text-Raum: Walsers Gedicht, indem
     Kapitel über die Actio bei Quintilian kön-               es unbekannte, „vergessne Weiten“ eröff-
     nen als antike Schauspiellehre verstan-                  net, Brechts Gedicht, indem es – ohne es
     den werden. Die von Cicero und Quinti-                   zu sagen – auf die Tat, die Aktion jenseits
     lian entwickelten Vorschriften über den                  von Frage und Antwort drängt.
     angemessenen Vortrag einer Rede betref-                  Damit sind aber beide Gedichte, die sich
     fen die Artikulation, die Gestik und die                 rhetorischer Mittel bedienen, sie aber
     Körperhaltung des Redners.17 Das Wich-                   am Ende verwerfen, bedeutungsoffen
     tige ist, dass der antike Redner seine Rede              wie alle großen poetischen Texte.
     auswendig vorzutragen hatte, dass er sie                 Das ist für den Deutschunterricht kein
     beim Vortrag also gleichsam verkörperte.                 Nachteil, sondern ein Geschenk für
     Ähnliches schwebt Brecht mit seinem                      Schülerinnen und Schüler und vielleicht
     Begriff des ‚gestischen Sprechens‘ vor,18                auch für die Lehrkräfte. Indem beide Ge-
     das er von der Theaterarbeit übernimmt,                  dichte „nichts zu sagen haben“, aber zu-
     aber auch von Sprechchören auf De-                       gleich Lust machen, immer genauer le-
     monstrationen oder gar von den Wer-                      sen und denken zu wollen, ermöglichen
     besprüchen der Straßenhändler (Brecht                    sie den Bezug auf die aktuelle Situati-
     1993, 361 f.). Das Buddha-Gedicht entfal-                on der Lernenden selbst: in Zu philoso-
     tet seinen Sinn erst im laut gesproche-                  phisch die Auseinandersetzung mit der
     nen Vortrag. Dabei werden in den Se-                     je eigenen, individuellen Situation; mit
     quenzen des Gedichts unterschiedliche                    dem Gleichnis des Buddha vom brennenden
     Zustände zwischen Nüchternheit und                       Haus die Diskussion über die allgemei-
     Erregung nachvollziehbar: Die konsta-                    ne Situation der eigenen Gegenwart mit
     tierend erzählerischen Passagen (V. 1– 4                 ihren „brennenden“ Problemen wie die
     und 16 – 20) sind nüchtern referierend                   Kriegsgefahr, das Flüchtlingselend oder
     gehalten; die drängenden Schülerfragen                   der beginnende Klimawandel.

     (17) In Quintilians Rhetorik ist es das 3. Kapitel im Buch XI (Quintilianus 2015, 2. Teil, 609 – 681); vgl, auch
     Groddeck (2020, 92 f. und 114 f.).
     (18) Brecht betont, „daß ich meine Hauptarbeit auf dem Theater verrichte; ich dachte immer an das Spre-
     chen. Und ich hatte mir für das Sprechen (sei es der Prosa oder des Verses) eine ganz bestimmte Technik
     erarbeitet. Ich nannte sie gestisch.“ (Brecht 1993, 359).

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Literatur
Primärliteratur
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   Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von           gessne Weiten zu wandern auserlesen.“ An-
   Werner Hecht u. a. Bd. 11: Gedichte 1. Samm-        merkungen zu Robert Walsers Gedichten in
   lungen 1918–1938. Bearb. von Jan Knopf und          Heinz Holligers Zyklus „Beiseit“. In: Annet-
   Gabriele Knopf. Frankfurt/M.                        te Landau (Hg.): Heinz Holliger. Komponist,
Brecht, Bertolt (1988b): Große kommentierte Ber-       Oboist, Dirigent, 131–139.
   liner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Wer-      Caduff, Marc (2016): Revision und Revolte. Zu Ro-
   ner Hecht u. a. Bd. 12: Gedichte 2. Sammlungen      bert Walsers Frühwerk. Paderborn.
   1938 –1956. Bearb. von Jan Knopf. Frankfurt/M.   Detering, Heinrich (2014): Brecht und der Bud-
Brecht, Bertolt (1993): Große kommentierte             dha. Eine kurze Geschichte. In: Heinrich De-
   Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von           tering/Maren Ermisch/Pornsan Watanangura
   Werner Hecht u. a. Bd. 22.2, Teil 1: Schriften      (Hg.): Der Buddha in der deutschen Dichtung.
   1933 –1942. Bearb. von Inge Gellert/Werner          Zur Rezeption des Buddhismus in der frühen
   Hecht. Frankfurt/M.                                 Moderne. Göttingen, 220 – 238.
Walser, Robert (2010): Kritische Ausgabe sämtli-    Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und
   cher Drucke und Manuskripte. Hg. von Wolf-          Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im
   ram Groddeck/Barbara von Reibnitz. Abt. I,          Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital
   Bd. 1: Fritz Kocher’s Aufsätze. Hg. von Hans-       Humanities, Version 01/21, https://www.wo-
   Joachim Heerde/Barbara von Reibnitz/Matthi-         erterbuchnetz.de/DWB?lemid=W29830.
   as Sprünglin. Basel/Frankfurt/M.                 Groddeck, Wolfram (2020): Reden über Rheto-
Walser, Robert (2021): Kritische Ausgabe sämtli-       rik. Zu einer Stilistik des Lesens. Frankfurt/M.
   cher Drucke und Manuskripte. Hg. von Wolf-       Gronau, Peter (2006): „Ich schreibe hier deko-
   ram Groddeck/Barbara von Reibnitz. Abt. I, Bd.      rativ ...“. Essays zu Robert Walser. Würzburg.
   10: Gedichte 1909/1919. Die Gedichte. Komödie.   Kuschel, Karl-Josef (2018): Im Fluss der Dinge.
   Hg. von Wolfram Groddeck/Barbara von Reib-          Hermann Hesse und Bertolt Brecht im Dia-
   nitz/Matthias Sprünglin. Basel/Frankfurt/M.         log mit Buddha, Laotse und Zen. Ostfildern,
                                                       505 – 536.
Sekundärliteratur                                   Lausberg, Heinrich (1971): Elemente der literari-
Agamben, Giorgio (2003): Idee der Prosa. Aus           schen Rhetorik. 4. Aufl. München.
   dem Italienischen von Dagmar Leupold und         Müller, Andreas Georg (2007): Mit Fritz Kocher
   Clemens-Carl Härle. Frankfurt/M.                    in der Schule der Moderne, Studien zu Robert
Aristoteles (2018): Rhetorik. Griechisch/Deutsch.      Walsers Frühwerk. Tübingen/Basel.
   Übers. u. hg. v. Gernot Krapinger. Stuttgart.    Quintilianus, Marcus Fabius (2015): Ausbildung
Binder, Thomas (1976): Zu Robert Walsers frü-          des Redners. Zwölf Bücher in zwei Teilen. La-
   hen Gedichten. Eine Konstellation von Ein-          teinisch und Deutsch. Hg. u. übers. v. Helmut
   zelanalysen. Bonn.                                  Rahn. 6. Aufl. Darmstadt.

Der Deutschunterricht 1/2022                                                                              25
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