Das goethe - Goethe-Institut
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das goethe Ausgabe 1/2021 GENERATIONEN Geschichten über Veränderungen Mobilität LGBTQI+ Antisemitismus Das neue Verhältnis der Besuch bei queeren Über das Erbe der Nazis Generation Z zum Auto Familien in Afrika in der deutschen Sprache Sprache. Kultur. Deutschland.
Chris de Bode: Dream Samuel, 14 Jahre, Liberia „Ich träume davon, Profifußballer beim FC Barcelona zu werden. Mein großes Vorbild ist Andrés Iniesta.“ --- Auf dem Titel: Batool, 14 Jahre, Jordanien „Ich schaue jede Woche eine Serie über eine Herzchirurgin. Sie heilt alle ihre Patienten. So wäre ich auch gern.“
3 LIEBE LESERINNEN UND LESER! G enerationen“, das ist ein schwer definierbarer Begriff. Er betrifft das Private im familiären Leben, steht aber auch für die gesellschaftlichen Rollen von Jung und Alt – etwa wenn wir an den Klimawandel denken und den Erhalt einer Johannes Ebert und Carola Lentz lebenswerten Welt für die nächste Generation. In einer Zeit immer schnellerer Veränderungen – im Englischen gibt es dafür den trefflichen Begriff des „Exponential Age“ – ist das Verhältnis Hier wird die manchmal unbewusste generationenübergreifende der Generationen zueinander wichtiger denn je. Nicht zuletzt die Tradierung von bestimmten Wörtern und mit ihnen auch Ein Corona-Pandemie hat uns das vor Augen geführt. stellungen sichtbar. „Generationen“, so haben wir auch dieses Heft überschrieben, „Generationen“, das ist auch das Motto des diesjährigen Kultur doch ohne den Anspruch, die vielfältigen Bedeutungen dieses symposiums Weimar, das vom Goethe-Institut veranstaltet wird – Begriffes auszuloten. Stattdessen baten wir eine Reihe von in diesem Jahr weitgehend digital. Das diskursive Festival dreht Autor*innen um Beispiele, in denen es um Generationenfragen sich um drei zentrale Fragen: Wie gestalten Jung und Alt heute und damit einhergehende Veränderungen geht. rund um den Globus ihr Miteinander? Wie soll die Welt von morgen aussehen – und wer bestimmt die Regeln? Was prägt uns – und In ihrem Essay „Ferngespräche“ etwa schreibt Elisabeth Wellers welche Geschichten wollen wir kommenden Generationen erzäh- haus über die wöchentlichen Telefongespräche mit ihrem aus len? Wir laden Sie dazu am 16. und 17. Juni 2021 herzlich ein: Äquatorialguinea stammenden Vater. Sie soll seine Biografie aufschreiben und erfährt auf diese Weise viel über ihn, seine www.goethe.de/kultursymposium Herkunft und damit auch über sich selbst. In Lendl Izaaks Beitrag geht es um Menschen von LQBTQI+-Communitys in Afrika, die Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre und bedanken uns gemieden, ignoriert und bedroht werden. Sein Beitrag zeigt, dass an dieser Stelle bei den Mitgliedern des Wirtschaftsbeirates des sich die tief verwurzelten Einstellungen unter den jungen Leuten Goethe-Instituts für die Unterstützung bei der Realisierung dieser langsam ändern. Michael Blume nimmt uns schließlich mit auf eine Ausgabe. Reise von den Ursprüngen des Alphabets bis hin zu den Spuren, die die Nationalsozialisten in der deutschen Sprache hinterließen. Carola Lentz Johannes Ebert Präsidentin Generalsekretär HINWEIS FÜR BLINDE UND SEH BEHINDERTE MENSCHEN Chris de Bode: Dream Dieses Magazin gibt es PDF „Was ist dein Traum?“ – Diese Frage stellte der niederländische Fotograf Chris de Bode auch als barrierefreies Kindern in 13 Ländern. In dieser Ausgabe PDF-Dokument: zeigen wir eine Auswahl seiner Porträts. www.goethe.de/dasgoethe
4 DEUTSCHLAND 12 % MALI 1 % RUSSLAND 18 % KENIA 16 % CHINA 3 % JAPAN 7 % INDIEN 5 % ALLEIN ERZIEHEND Mutter, Vater, Kinder, vielleicht auch noch die Großeltern – so oder so ähnlich sieht eine Familie aus. Doch diese klassische Form des Zusammenlebens verliert vielerorts an Bedeutung. Die Gründe dafür sind vielfältig, weltweit aber vor allem ökonomischer Natur: In wirtschaftlich weniger starken Regionen fällt insbesondere die Kindererziehung leichter, wenn mehrere Erwachsene zusammen leben. In den reichen Ländern spielt unter anderem eine größere finanzielle Unabhängigkeit der Partner*innen eine Rolle. Ein anschauliches Maß dafür ist die Zahl der Minderjährigen, die in einem Haushalt mit nur einem Elternteil leben (siehe Karte). In den USA liegt dieser Anteil bei knapp einem Viertel aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren. Nirgendwo sonst auf der Welt ist er so hoch. Im benachbarten Kanada etwa liegt er deutlich darunter, Anteil der Haushalte mit nur einem Elternteil bei nur etwa 15 Prozent, in China, Nigeria oder Indien gar bei unter 5 Prozent. In Deutschland leben übrigens rund 12 Prozent der
5 Russland unverhältnismäßig groß und die Regionen südlich davon entsprechend klein erscheinen. Auf Die meisten Weltkarten zeigen die Kugeloberfläche der Erde so, dass Nordamerika, Europa und diesem Entwurf des japanischen Architekten Hajime Narukawa entsprechen die Größen und KANADA 15 % BRASILIEN 10 % Entfernungen hingegen fast vollkommen der Realität. USA 23 % MEXIKO 7 % INHALT 6 10 12 KOMMUNIKATION MOBILITÄT SPRACHE Ferngespräch Wer will denn Opa, was haben Elisabeth Wellershaus noch ein Auto? denn diese Gedanken einer Tochter über Aya Jaff Semiten getan? die wöchentlichen Telefonate Generation Z: Die Liebe zum Michael Blume mit ihrem Vater – quer durch „liebsten Kind der Deutschen“ In der deutschen Sprache Europa schwindet findet sich noch immer das Gift der Nationalsozialisten 16 20 22 AFRIKA COMIC FÜNF SÄTZE Eine queere Superheldin mit KUNST Familie „Migrations The Egg. Lendl Izaaks hintergrund“ Der amerikanische Autor Geschichten aus LGBTQI+- Maryanne Rhett T. C. Boyle fotografiert jeden Communitys zeugen von einem Tag ein Ei und postet es bei Eine amerikanische Muslima langsamen Sinneswandel Twitter. Warum? und ihre Familiengeschichte
6 KOMMUNIKATION FERNGESPRÄCH Seit die Corona-Pandemie die Entwicklung digitaler Austausch formate beschleunigte, telefoniert unsere Autorin jeden Sonntag mit ihrem Vater. In Zeiten, in denen die alte Normalität aus den Angeln gehoben wurde, ist plötzlich Raum für dichte Erinnerungen. ELISABETH WELLERSHAUS Sommerferien in Andalusien: die Autorin und ihr Vater Anfang der 1980er-Jahre
7 M ein Vater und ich brüllen noch immer in den Lautspre- Von Oktober bis August lebten meine Mutter und ich in Deutsch- cher – wie bei den wenigen Telefonaten, die wir früher land, mein Vater in Spanien, im Sommer kamen wir als Familie in geführt haben, als wir noch in übergroße Hörmuscheln Andalusien zusammen. Und irgendwann verlernte ich Spanisch, krähten und unsere Stimmen aus der anderen Seite des Telefon jene Sprache, die mir als kleines Kind relativ leicht über die knochens heraushallten. Heute sitzt mein Vater meistens auf der Lippen gekommen war. Mein Schulenglisch reichte damals Terrasse oder steht auf der Straße in seinem kleinen andalusi- bestenfalls für eine Bestellung im Eisladen. Und so standen mein schen Wohnort, je nachdem, wo die Verbindung besser ist. Ich Vater und ich uns einige Sommerferien lang stumm gegenüber. sitze an meinem Berliner Schreibtisch oder stehe auf dem vollgestellten Balkon, je nachdem. In einer Welt, in der Familien DRÖHNENDE STILLE wie unsere über die Kontinente verteilt leben, ist der Austausch mit nahestehenden Menschen im Anderswo längst Normalität „Wann ist uns die Sprache abhandengekommen?“, fragt die Schrift- geworden. Mit Mobilfunk und Videochats sind wir Tag und Nacht stellerin Dilek Güngör in einem Text auf ZEIT ONLINE1. Sie beschreibt erreichbar. Und doch steckt im Gespräch mit der Ferne noch darin das Schweigen, das zwischen ihr und ihrem Vater herrscht. Die immer nicht zwangsläufig mehr Nähe. Deshalb brüllen mein dröhnende Stille, die irgendwann in ihrer Teenagerzeit einsetzte, die Vater und ich weiter ins Handymikrofon. Weil zwischen Deutsch- bis heute andauert und die sie mittlerweile auch verbindet. land, Spanien und unseren Herkunftsgeschichten viel Raum für Missverständnisse liegt. Als Alexander Graham Bell 1892 die erste Fernsprechverbindung Und so standen mein Vater von New York nach Chicago freischaltete, lagen FaceTime, WhatsApp und Webcam gedankliche Lichtjahre entfernt. Dafür und ich uns einige hatte die westliche Welt acht Jahre nach der Berliner Konferenz bereits eine Ahnung davon, wie hartnäckig sich manche politische Sommerferien lang stumm Verbindung zwischen den Kontinenten halten würde. Aus sämt lichen afrikanischen Kolonien wurden Jahrzehnte später unab- gegenüber. hängige Staaten. Doch der Raubbau an den Bodenschätzen „der Anderen“ setzt sich bis ins 21. Jahrhundert fort. Bis heute prügelt die Welt sich um Rohstoffe wie Coltan – unter anderem, um den weltweiten Mobilfunk in Gang zu halten. Vor Jahren hat mein Vater mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, seine Geschichte aufzuschreiben. Es war ein entschlosse- Bell schaltete die Verbindung zwischen zwei relativ nahe gelege- ner Versuch, die latente Stille zu durchdringen, die sich auch nen amerikanischen Städten zu einer Zeit frei, als die Verstrickun- über unser Verhältnis gelegt hatte. Ihm schwebte eine Auseinan- gen zwischen globalem Norden und Süden noch überschaubar dersetzung der unverfänglicheren Art vor: eine Erinnerungs wirkten. Das Verhältnis zwischen ehemals kolonisierten Ländern collage und Geschichte im Heldenformat, in der er vom alten und dem paternalistischen Europa etwa war von einseitiger Torremolinos erzählen wollte. Von der Zeit, in der er meine Raffgier und unverhältnismäßigen Machtdynamiken geprägt. Mutter kennengelernt hatte, in der er sich zwischen Filmstars Vorherrschend war eine Weltsicht, in der die einen die anderen und Hippies bewegte und in der sein Restaurant von entfernten aus Überzeugung an die gottgegebene – und rassistisch argumen- Verwandten des britischen Königshauses frequentiert wurde. tierte – Vormachtstellung dominierten. Es waren Überzeugungen, die ein Familiengeflecht wie das meine noch viele Jahre später Natürlich wollte die Journalistin in mir – wie die Tochter – mehr von „ungewöhnlich“ erscheinen ließen: eine Hamburger Kapitäns ihm. Mich interessierten die Ecken, Kanten und Brüche in seiner tochter, die sich Anfang der 1970er-Jahre im franquistischen Geschichte. Doch verhalten ließ ich mich auf schillernde Erinnerun- Spanien in einen Hotelfachschüler aus Äquatorialguinea verliebte. gen an die 1960er- und -70er-Jahre ein. Es stellte sich heraus, dass Zufällig hatten meine Mutter und mein Vater Zeit am selben Ort mein Vater nicht lange brauchte, um über die Partygeschichten von verbracht – sie im Urlaub, er im Exil. Die partielle Sprachlosigkeit über die Schieflage ihrer Erfahrungen bestimmt bis heute unser 1 www.zeit.de/kultur/2020-11/entfremdung-familie-vater-tochter-sprache-tuer- Familienleben. kei-schweigen-dilek-guengoer
8 KOMMUNIKATION einst auch auf die komplizierteren Erlebnisse im Exil zu kommen. Auf sein fragiles Verhältnis zu Europa, die Familie, die er in Jugend- jahren zurückgelassen hatte, auf ein Lebensgefühl im Dazwischen. Bis heute sind wir dabei, Material zu sammeln, wenn wir uns sehen. Manches gibt er unumwunden preis, anderes muss ich aus ihm herauskitzeln. Aufnahmegerät und Notizbuch fungieren dabei wie Zaubermittel: Sobald der Rahmen offizieller wird, lösen sich Worte und Erinnerungen. Die Schriftstellerin Daniela Dröscher hat sie in einem Essay sehr schön beschrieben: die Selbstermächtigung, die im Erzählen der eigenen Biografie liegt. Sie berichtet von der Wandlung ihrer Mutter, die sich im Gespräch über die Vergangenheit öffnete, sobald der neugierige Blick der Tochter mit dem der Journalistin und Schriftstellerin verschmolz – von der Basis, auf der Gespräche jenseits des Fernen entstehen können. CORONA HAT MANCHE BEZIEHUNG INTENSIVIERT Nach einem Jahr mit dem Coronavirus hat sich das „Ferngespräch- Verhalten“ von uns allen ohnehin verändert. Der digitalen Kommu- nikation kommt mittlerweile ein Stellenwert zu, der vor allem ökologisch zu begrüßen ist. Es hat sich herausgestellt, dass man nicht für jedes Meeting ins Auto oder Flugzeug steigen muss. Auf so vielen anderen Ebenen haben wir uns dennoch aus den Augen verloren. Aber Distanz und Isolation sind nicht die einzigen Phänomene, die uns aus dem Jahr 2020 in Erinnerung bleiben werden. Manche Beziehung hat sich in der Abschottung auch intensiviert. Nach 45 Jahren des Innig-Sporadischen ruft mein Vater heute mit einer Regelmäßigkeit am Sonntagabend an, die mich noch immer verblüfft. So ist in Zeiten, in denen die alte Normalität aus den Angeln gehoben wurde, eine unerwartet neue entstanden. Wenn mein Vater über Afrika Auf einmal gibt es Raum für Gespräche, die zuvor routinemäßig zwischen Herbst und Sommer pausierten. Für dichte Erinnerungen, spricht, bewegt er sich die mein Vater an das Dorf seiner Kindheit hat. Oder für die verblassten – etwa an eine Muttersprache, an deren Worte er sich zwischen einer Vergangenheit nicht erinnern kann. Wenn mein Vater über Afrika spricht, bewegt er sich traumwandlerisch zwischen einer Vergangenheit voller voller Möglichkeiten und Möglichkeiten und einer Gegenwart voller Gefahren. In welches Land ich auch beruflich reise, Südafrika, Kamerun oder Simbabwe, einer Gegenwart voller Gefahren. stets ruft er vorab in den Hörer, dass es dort besonders gefährlich sei. Mich zieht es auf den Kontinent, den er seit Jahrzehnten auf Abstand hält. Mein Verhältnis zu Afrika ist durch dieselbe liebe volle Fernbeziehung geprägt wie das Verhältnis zu meinem Vater. Seines definiert sich durch die unvereinbar scheinende Kindheit und Jugend in Äquatorialguinea, die mit seinem erwachsenen Ich kaum noch in Verbindung steht. So verschwimmen unsere Wahr- nehmungen von einem Kontinent, zu dem man uns dort, wo wir heute leben, eine eindeutige Verbindung unterstellt. Doch am Ende ergänzen sich die Ungenauigkeiten unserer Perspektiven. Unser Verhältnis zum Thema Herkunft bleibt diffus, und genau damit wird unser Verständnis füreinander deutlich. Am Ende steckt im Rauschen unserer Ferngespräche auch eine unüberhörbare Klarheit. ELISABETH WELLERSHAUS ist Journalistin und Autorin. Sie arbeitet als Redakteurin für das Kunstmagazin „Contemporary And“ und ist Mitglied der Redaktion von „10 nach 8“ von ZEIT ONLINE. Dieser Text entstand in der Reihe „Wort-Brüche“, die sie für das Magazin „Latitude“ des Goethe-Instituts schreibt: www.goethe.de/latitude
Chris de Bode: Dream Tahmina, 13 Jahre, Afghanistan (links, hier mit ihrer Schwester) „Manchmal wäre ich gern die beste Volleyballspielerin der Welt. Im richtigen Leben möchte ich aber Kardiologin werden – beides geht wohl nicht.“
MOBILITÄT WER WILL DENN 10 NOCH EIN AUTO? Die Generation Z will vor allem flexibel sein. Ob sie sich für Elektrofahrzeuge begeistert, muss sich noch zeigen. AYA JAFF
N och vor ein paar Jahren dachte ich, dass elektrische Autos Monaten den Minivan Sion auf den 11 nur etwas für wirklich reiche Menschen wären. Die drei Markt bringen. „Wir wollen Elektro- großen Probleme – ihr hoher Preis, die geringe Reichweite mobilität nicht nur für die Oberklas- und die fehlende Ladeinfrastruktur – würden diese Art der Mobili- se, sondern wir wollen Elektromobi- tät schnell unattraktiv machen. Elektroautos sind bis heute nicht lität für alle – erschwinglich und massentauglich. Für Wohlhabendere sind sie dennoch interessant, alltagstauglich“, verkündet der weil die Marke Tesla – auch dank ihres charismatischen Gründers Gründer Laurin Hahn in einem Elon Musk – mit einem hohen Prestige einhergeht. Interview mit der Zeitschrift „Berlin Valley“. Schaffen will er dies mithilfe Doch mittlerweile kostet ein Tesla Model 3 nur noch so viel wie integrierter Solarpanele, die das ein 3er BMW, die Leasingrate für den elektrischen Kleinwagen Fahrzeug selbstständig laden können. Renault ZOE entspricht gerade einmal dem Preis für ein Essen zu Über eine Smartphone-App können zweit im Restaurant. Das Preis-Leistungsverhältnis von Elektro- die Nutzer*innen nicht nur fahrzeugen hat sich in den vergangenen Jahren tatsächlich Mitfahrgelegenheiten anbieten, deutlich verbessert. In ihrer Anschaffung nähern sie sich preislich sondern ihr Fahrzeug auch zur den Autos mit Benzin- oder Dieselmotoren. mobilen Ladestation für Elektrogerä- te und andere E-Fahrzeuge machen Klar, natürlich sind diese Preise für E-Autos derzeit nur möglich, (Powersharing). Fahrer*innen wären weil der Staat die Elektromobilität subventioniert. Auch die dann von Ladestationen unabhängig. Hersteller bieten kräftige Rabatte – teils über 40 Prozent. Der Grund: Indem sie die Quote ihrer Elektrofahrzeuge erhöhen, Während sich der Erfolg der großen mindern sie den Kohlendioxidausstoß ihrer Flotten und erfüllen Automobilhersteller an den Ver- so die strengeren Emissionsvorschriften der Europäischen kaufszahlen misst, fußt das Union. Geschäftsmodell von Sono Motors auf der möglichst hohen Auslastung Mit der zunehmenden Verbreitung von Elektroautos, mit steigen- der Fahrzeuge. Ihre Besitzer*innen der Stückzahl also, sinken die Herstellungskosten – Subventionen können sie über eben jene App werden irgendwann überflüssig. Der Besitz eines Plug-in-Hybrid- unkompliziert vermieten. So nutzen Fahrzeugs wird somit in absehbarer Zeit preiswerter sein als der andere das Auto, wenn es nicht eines Autos mit Verbrennungsmotor. Vor einigen Jahren erwarte- benötigt wird – während der Zeit im ten Expert*innen, dass dieser Punkt im Jahr 2025 erreicht ist. Büro beispielsweise. Die Besitzer*in- Die Technologie schreitet jedoch schneller voran als erwartet. nen verdienen so Geld, das Auto ist Hui Zhang, Geschäftsführer der deutschen Niederlassung des ausgelastet, und Mieter*innen chinesischen Elektroautomobilherstellers NIO geht mittlerweile können auf ein eigenes Fahrzeug von 2023 aus. verzichten. Dass das junge Unternehmen mit dieser Strategie richtig liegen könnte, 42 Prozent der Generation zeigt der Erfolg seiner Crowdfun- ding-Kampagne. Mehr als 50 Millio- Z hat kein Interesse am nen Euro hat das Unternehmen bereits eingesammelt – die Kund*in- eigenen Auto nen von morgen glauben offenbar an die Idee. Ob dieser Erfolg langfristig und nachhaltig ist, hängt davon ab, wie zufrieden die Kund*innen am Doch braucht und will meine Generation, die Generation Z, Ende mit einem Auto sind, das nicht überhaupt noch ein Auto? Natürlich ist es noch immer relevant, schneller als 140 Kilometer pro aber es verliert seine Bedeutung. Es reiht sich ein in eine stetig Stunde fahren kann und dessen wachsende Vielzahl alternativer Fortbewegungs und Transport- Äußeres, sagen wir, keine Augenwei- mittel. So ist vielen Menschen meiner Generation die unkompli- de ist. Im Autofahrerland Deutsch- zierte Kombination verschiedener Optionen und der möglichst land sind dies beim Autokauf ja nach reibungslose Wechsel von einem Verkehrsmittel zum anderen wie vor ziemlich wichtige Kriterien. besonders wichtig. Laut der „Mobility-Zeitgeist-Studie 2020“ des Zukunftsinstituts haben 42 Prozent der zwischen 1997 und 2012 AYA JAFF war 15 Jahre alt, als sie geborenen Menschen kein Interesse am Auto und fahren sich selbst das Programmieren stattdessen mit dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrs- beibrachte – heute, zehn Jahre mitteln. Sie wollen möglichst preiswert von A nach B kommen. später, ist die Deutsch-Irakerin eine Ich frage mich daher, ob wir „GEN Z“Autofahrer*innen der bekanntesten Softwareentwickle- überhaupt bereit sind, die Nachteile geringer Reichweiten und rinnen Deutschlands. Sie berät langer Ladezeiten in Kauf zu nehmen. Unternehmen und spricht auf Digitalkonferenzen. Sie studiert Darauf müssten die großen Autohersteller reagieren. Wie die Sinologie und Wirtschaftsökonomie Zukunft des Verkehrs aussehen könnte, zeigt uns Sono Motors. und ist Autorin des jüngst erschiene- Das junge StartupUnternehmen aus München will in wenigen nen Buches „Moneymakers“.
12 SPRACHE „OPA, WAS HABEN DENN DIESE SEMITEN GETAN?“ Über den Antisemitismus in der deutschen Sprache – und wie wir ihn auch dort besiegen können. MICHAEL BLUME
13 L iebe und Hass wohnen in der Sprache – denn mit ihren seiner Familie die Tiere versorgt und danach eine ganz besondere Begriffen ordnen wir unsere Welt. Wir geben also als Aufgabe erfüllt: Mit seinem Enkel Eber (dem ersten „Hebräer“) Großeltern, Eltern, Altersgenoss*innen auch immer unbe- habe Sem das erste Lehrhaus, die erste Alphabetschule im wusst weiter, was uns selber geprägt hat. Meist geschieht dies heutigen Jerusalem eröffnet. Und alle Menschen – ob Frauen spontan – etwa wenn wir auf Fragen der Jüngeren antworten. oder Männer, Fürsten oder Sklaven – hätten bei ihnen die erste Alphabetschrift der Erde lernen dürfen. Daher würden Feinde der Freiheit wie die deutschen Nationalsozialisten haben wir bis heute die ersten beiden Buchstaben des das oft schneller begriffen als ihre Verteidiger*innen und daher Hebräischen für die Benennung der ganzen Alphabete gezielt Begriffe übernommen und vergiftet: So wurden „Semiten“ verwenden – Aleph für Stier (man kann ihn im zu einer angeblichen „Rasse“ umgedeutet und „Jude“ als Begriff umgedrehten A noch erkennen!) und Beth für Haus: mit „böser Verschwörer“ verbunden. Kaum an der Macht, entfern- Aleph-Beth. ten die Nationalsozialisten sogar alle deutsch-jüdischen Namen aus der Buchstabiertafel: Aus D wie David wurde D wie Dora, aus Im Unterschied zu den vielen älteren Schriftsystemen wie den S wie Samuel wurde S wie Siegfried – und aus N wie Nathan babylonischen Keilschriften, den chinesischen Zeichen und den wurde N wie Nordpol! ägyptischen Hieroglyphen sei damit erstmals ein „kinderleichtes“ Schriftsystem gelehrt worden, das von jedermann und jederfrau Dabei gibt es kaum einen Namen, der so stark das Deutsche und erlernt werden konnte. Nun also entstand die Idee der „Bildung“ – Jüdische verband wie Nathan: der Prophet der Bibel, der auch da der Mensch laut der Bibel nach Gottes „Ebenbild“ geschaffen den König herausfordert, und der weise Held in „Nathan der worden sei, sollte jedes Menschenkind seine Fähigkeiten ausbil- Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781), unbestritten den, mindestens Lesen und Schreiben lernen dürfen! Großeltern, eines der größten deutschen Werke. Nordpol ist dagegen nicht Eltern, ja die ganze Gemeinde ist seit über zwei Jahrtausenden einmal ein Name, sondern wie Adolf Hitler in seiner Rede „Warum verantwortlich, nicht nur die Sprache, sondern auch die Schrift wir Antisemiten sind“ 1920 ins Münchner Hofbräuhaus brüllte, der zu lehren. Ort, von dem angeblich die „Arier“ losgezogen sind. SEMITISMUS UND BILDUNG Und obwohl die Nationalsozialisten nach all ihren Morden und Verbrechen endlich militärisch besiegt wurden, lebt ihre Sprache Klar, dass viele andere schon in der Antike voller Unverständnis, größtenteils unbewusst weiter. Das tückischste Gift ist das, das bald auch mit Neid, Hass und Angst auf das entstehende Judentum nicht schmeckt, nicht riecht, nicht gespürt und doch weitergegeben schauten, dessen Angehörigen man die Tempel zerstören und die wird. Niemand wird als Rassistin oder Antisemit geboren – Heimat nehmen konnte – solange sie nur ihre Schriften lehren doch zwischen den Generationen wird das alte Gift oft wach durften, blieben sie beieinander. Dass Jüd*innen trotz aller gerufen und tradiert. Diskriminierungen und Verfolgungen oft Großes leisteten, dass bei einem weltweiten Bevölkerungsanteil von gerade einmal 0,2 Pro- SPRACHE DURCH BESSERE GESCHICHTEN AUFHELLEN zent über 20 Prozent aller bisherigen Nobelpreise auf jüdische Preisträger*innen entfielen – all das liegt an der Wertschätzung Doch selbstverständlich gibt es Hoffnung. Wir wissen zwar der Bildung. inzwischen aus der Hirnforschung sicher, dass es nicht reicht, Vorurteile zu widerlegen – die Aussage „Es sind nicht alle Juden Und einer von ihnen, Jesus, der Sohn eines Handwerkers, konnte reich!“ ist völlig richtig, hebt aber die unbewussten Verknüpfungen dann sogar so gut lesen und schreiben, dass er schon im Alter zwischen „Jude“ und „reich“ nicht auf. Stattdessen kommt es von zwölf Jahren tagelang mit den Schriftgelehrten in Jerusalem darauf an, die falschen und giftigen Vorstellungen hinter den diskutierte. Nach ihm entstand das Christentum und der heute Begriffen durch bessere und hilfreiche Wortbilder zu ersetzen. weltweit verwendete Kalender. Auch die christliche Bibel, der Koran des Islam, die Schriften der Bahai und die Texte der meisten Nein, „die Semiten“ waren nie „eine Rasse“ – es gibt Jüd*innen nichtreligiösen Weltanschauungen bis hin zu den gemeinsamen aller Hautfarben, ebenso wie es Christ*innen, Muslim*innen und Erklärungen der Menschenrechte wurden in Alphabetschriften Humanist*innen jeder Herkunft gibt. verfasst. Sem – auf hebräisch „Name“, was für ein Name! – ist nach jüdi- Bei genauerem Hinsehen erkennen wir sogar einen scher Überlieferung schon im Talmud einer der Söhne des Noah. kleinen, aber bedeutenden Unterschied: Im klassi- Er habe mit diesem an der Arche gebaut, während der Sintflut mit schen Hebräisch und Arabisch wird konsonantenarm
14 SPRACHE geschrieben – und zwar immer von rechts nach links. In Griechisch, MEDIEN IM FLUSS DER G ENERATIONEN Latein, Kyrillisch und allen ihnen folgenden Alphabeten finden wir dagegen auch die Vokale – und geschrieben werden sie immer von Und so schließt sich für uns ein Kreis: Jedes Medium – jede links nach rechts. Sprache, jede Schrift, Radio, Film und Internet – weist einzigartige Stärken, aber auch bestimmte Gefahren auf. Deutsche Lehrer*in- DER VERMEINTLICH KLEINE UNTERSCHIED HAT nen müssen immer wieder lachen, wenn ich sie daran erinnere, ENORME AUSWIRKUNGEN dass es noch in den 1960er-Jahren an den Schulen Tornister kontrollen gab, um sogenannte Schundliteratur wie Science- In einem Konsonantenalphabet müssen wir Wort für Wort die Fiction- und Western-Romane ausfindig zu machen. Heute, so Vokale einsetzen und dafür die rechte Seite unseres Gehirns versichern mir die Lehrenden dagegen, wären sie froh über jedes voll einsetzen: Bedeutet W-r-t denn nun Wort, Wert, Warte oder freiwillige Buch im Schulranzen eines Schulkindes! gar Wahrheit? Das bindet menschliche Gehirne so sehr, dass sowohl im Judentum wie im Islam alle Bilder aus den Gottes- Es lohnt also, hin und wieder zu fragen: Welche Sprache, welche diensten entfernt wurden; die Konzentration sollte allein der Schriften, welche Medien geben wir unseren Kindern und Enkeln Schrift gebühren. Deswegen dürfen die jüdische Thora und der wann weiter – sei es als Großeltern oder Eltern, als Lehrende oder islamische Koran auch nur in ihren Ursprungsalphabeten auch einfach als Freunde? Wie sprechen, schreiben, erzählen wir rezitiert werden. in der Öffentlichkeit? Verbreiten wir Wissen – oder versprühen wir, mehr oder weniger bewusst, altes Gift? Und Mehrfachbedeutungen klären kann dann auch nur eine Lehrerin oder ein Lehrer – weswegen die Rolle von Sem und Im Jahr 2021 werden wir in Deutschland endlich auch eine neue seinem Enkel so bedeutend war. Sie hätten, so die Überlieferung, Buchstabiertafel erhalten – ohne die hasserfüllten Eingriffe der eben nicht nur die Buchstaben gelehrt, sondern auch die Bedeu- Nationalsozialisten. Selbstverständlich werden wieder viele tungen jeden Wortes erklärt! darüber schmunzeln oder gar höhnen: Was bedeutet schon Sprache? Haben wir denn nicht alle Wichtigeres zu tun? Das also ist der Grund, warum nach den alten Überlieferungen nicht nur Sem, sondern auch sein Enkel Eber an der Akademie Doch die Verständigen werden wissen, wie kostbar und wertvoll in Jerusalem unterrichtet hätte: Ihre Aufgabe erschöpfte sich Wörter und Zeichen sind – sowie die Geschichten, die wir zwi- nicht in der Vermittlung von Buchstaben, sondern bestand auch in schen den Generationen austauschen. Zukunft ereignet sich, wenn der Weitergabe von Wissen und Weisheit über Generationen wir miteinander sprechen. hinweg. Bis heute beginnt im Judentum das religiöse Pessach-Fest mit Fragen der Kinder – auf die die Erwachsenen zu antworten MICHAEL BLUME ist promovierter Religionswissenschaftler und haben. Sprache, Schrift, ja das Leben selbst entfaltet sich nie im Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Monolog nur einer Seite, sondern im Dialog der Generationen Antisemitismus. Der dreifache Familienvater ist Teil einer christ- miteinander. lich-islamischen Familie und liebt neben dem Schreiben auch das Lehren, etwa am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Zuletzt Die Vokalalphabete – auch diesem Text liegt ein solches zugrun- erschien von ihm „Verschwörungsmythen. Woher sie kommen, was de – ließen und lassen sich im Vergleich zu den Konsonanten sie anrichten, wie wir ihnen begegnen können“ bei Patmos. alphabeten viel klarer und schneller erfassen: Wort heißt Wort, und Wahrheit heißt Wahrheit! Genau das aber, so warnte schon der antike Grieche Sokrates, berge auch eine große Gefahr: Wer solche Alphabetschriften lese, könne sich viel früher von Lehrer*innen lösen und laufe Gefahr, zwar viel Wissen, aber keine Weisheit zu erwerben. Es drohe die Verführung junger Menschen, die schon nach der Beherrschung der Buchstaben meinen könnten, keine Lehrenden und keine Schulgemeinschaft mehr zu brauchen. Wie heute um das „neue Medium“ Internet, so gab es auch schon vor Jahr tausenden kontroverse Diskussionen um das „neue Medium“ Alphabetschrift!
Chris de Bode: Dream Djarida, 8 Jahre, Mexiko „Wenn ich groß bin, möchte ich Tierärztin werden. Dafür muss ich noch viel lernen, aber ich bin sicher, dass ich es schaffe.“
16 AFRIKA Arya Jeipea Karijo (sitzend) inmitten einiger Mitglieder ihrer LGBTQI+-Familie
17 EINE QUEERE FAMILIE In den meisten Ländern Afrikas leiden Menschen der LGBTQI+-Communitys unter Vorurteilen und Anfeindungen. Doch es gibt Geschichten, die Mut machen. LENDL IZAAKS A rya Jeipea Karijo ist eine Transgender-Frau aus Nairobi in monogam, aber auch polygam sein. Für andere Lebensentwürfe ist Kenia. Sie ist Mitte 30 und gehört zu den vielen Menschen in diesen Vorstellungen kein Platz. Und so ist auch nicht verwun- aus dem südlichen Afrika, die im Rahmen des Projektes derlich, dass selbst LGBTQI+-Menschen, die in einem sehr religiös Familiensache interviewt wurden. Sie erzählte von ihrer „Wahlfami- geprägten Elternhaus aufwuchsen, später nur selten Halt im lie“, die aus fünf queeren Personen und einer heterosexuellen Frau Glauben ihrer Familie suchen. besteht. Sie hatten sich bei einer Demonstration für LGBTQI+-Rech- te kennengelernt und leben nun zusammen – mit Arya als „Mutter“ Dementsprechend schwer haben es die wenigen LGBTQI+-Familien. der anderen. Es verwundert daher nicht, dass nur wenige Menschen im Rahmen des Projektes Familiensache ihre LGBTQI+-Zugehörigkeit offenbarten. Wie es dazu kam? Alle in der Familie haben unzählige Diskriminie- rungen erfahren müssen, darunter auch Zwangsräumungen ihrer Wohnungen. „Das ergab sich dann irgendwie ganz von selbst. Es war keine bewusste Entscheidung nach dem Motto: Klar, ich will Homosexualität wird als sowieso Kinder, ich mache das“, erzählt Arya. Sie kannte die Leute schon lange – und so beschlossen sie irgendwann, zusammenzu etwas gesehen, das die ziehen und als Familie einander beizustehen. „Wenn zwei, drei oder vier Leute zusammenleben, sollten wir die Gemeinschaft auch als weißen Kolonialherren nach Familie betrachten“, sagt Arya. „Es geht dabei auch um Rechte – etwa das, an Wahlen teilnehmen zu dürfen.“ Afrika einschleppten. Familiensache, das ist ein Digitalprojekt mehrerer Goethe-Institute aus Ländern südlich der Sahara. Im vergangenen Jahr machten sich deren Mitarbeiter*innen auf zu einer Entdeckungsreise und Tabus und Schamgefühle hindern die meisten daran. Sie werden besuchten zahlreiche Familien. Es ging ihnen darum, einen mög- marginalisiert und von der Mehrheit gemieden oder ignoriert, weil lichst repräsentativen Einblick in die unterschiedlichen Landes diese Lebensformen im Widerspruch zu den traditionellen mono- kulturen zu erhalten. Die Gespräche drehten sich um eine Vielzahl theistischen Glaubenssystemen stehen. von Themen – ein Schwerpunkt lag aber auf den sich langsam wandelnden Einstellungen zur „traditionellen“ Familie. So ergaben Ihre Furcht vor der Öffentlichkeit ist nachvollziehbar, denn die von die Interviews auch wertvolle Einblicke in die Situation marginali- der Norm abweichenden sexuellen Orientierungen sind tabuisiert. sierter Gruppen wie den LGBTQI+-Communitys. Diesen Menschen Beleidigungen, Ausgrenzungen, auch körperliche Gewalt sind häufig fehlt oft die Bindung zur Familie, sodass Freund*innen ihre Stelle und bleiben für die Täter*innen meist folgenlos. Homosexualität einnehmen. wird in den Ländern südlich der Sahara als Symptom einer „Moder- nisierung“ gesehen, als etwas, das die weißen Kolonialherren nach Auch wenn die Befragten unterschiedlichen Kulturen angehören, Afrika einschleppten. eint fast alle eine ähnliche Auffassung von der Familie als soziale Einheit. Demnach ist eine Verbindung zwischen Mann und Frau die Dabei gibt es auch in den alten traditionellen Sprachen bereits notwendige Voraussetzung für eine Familiengründung. Diese kann Bezeichnungen für homosexuelle Menschen, die – wenn auch nicht
18 AFRIKA mehr so sehr in der Öffentlichkeit – noch immer in Gebrauch sind. sie dann aber wohl doch nicht, sagt er: „Finanziell unterstützt hat In der Ovambo-Kultur Namibias etwa wird der Vater für die uns jedenfalls niemand von unseren Verwandten.“ Homosexualität seines Kindes verantwortlich gemacht. Wenn ein Elternteil über die Homosexualität des eigenen Kindes öffentlich Das Paar engagiert sich in der namibischen LGBTQI+-Community, spricht oder die Bezeichnungen für die sexuelle Orientierung die derzeit die Einwanderungsbehörde des Landes heftig kritisiert. freimütig verwendet, so bringt er Schande über sich, sein Kind und Dabei geht es um den Fall eines anderen gleichgeschlechtlichen seine Familie. Homosexualität ist ein Tabu, und wenn sie doch Paares aus Namibia, das vergeblich versucht, für ihre in Südafrika thematisiert wird, löst dies Scham oder Diskriminierung aus. Es von einer Leihmutter ausgetragenen Zwillinge die entsprechenden sind vor allem die Älteren, die mit diesen Vorstellungen die Dokumente zu bekommen. Doch die Behörden reagieren nicht, die Jüngeren in ihren Menschenrechten verletzen. Öffentlichkeit interessiert sich nicht dafür. Der Glaube und die Teilnahme am Gemeindeleben sind vielen Wie in den traditionellen Kulturen Afrikas üblich, wird das Thema Menschen sehr wichtig, insbesondere Christ*innen und Muslim*in- am liebsten einfach totgeschwiegen. Doch die jungen Leute, die nen. In Burundi und Ruanda etwa betonten während der Interviews zunehmend auch Kontakt zu anderen Kulturen haben und in eher viele Menschen, wie wichtig es ihnen ist, die religiösen Werte auch urbanen Umfeldern leben, ändern diese tief verwurzelten Einstel- an ihre Kinder weiterzugeben. Die traditionellen Lebensweisen lungen – wenn auch nur sehr langsam. werden dabei nicht infrage gestellt, die althergebrachten Sitten und Gebräuche sind unerschütterlich. LENDL IZAAKS wuchs in der namibischen Hauptstadt Windhoek auf. Er ist Journalist und leitet die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Liberalere Einstellungen wie die der 30-jährigen Lindie Blaauw dortigen Goethe-Instituts. sind da eher selten. Sie stammt aus einer afrikaansen und traditionell christlichen Familie in Namibia: „Die gleichgeschlecht- Weitere Informationen zum Projekt Familiensache finden sich hier: liche Ehe bedeutet für mich einfach nur: Lebt doch so, wie ihr www.goethe.de/familiensache wollt! Werdet glücklich!“ Lindie engagiert sich in der Kirche, ist sogar Mitglied der Band, die während der sonntäglichen Messe aufspielt. Auch Bernarda Joaquina Kaculete (27 Jahre) aus Angola, eine gebildete Feministin und gläubige Christin, verteidigt die Rechte Homosexueller. Wie sie aus Familien weiß, sei Homosexua- lität nun einmal nichts Neues in Afrika. Bernarda hat in Norwegen und den USA studiert. „Die gleichgeschlechtliche Ehe bedeutet für mich einfach nur: Lebt doch so, wie ihr wollt! Werdet 16.–17. Juni 2021 Digitale Edition glücklich!“ Das Kultursymposium Weimar ist ein diskursives Festival des Goethe-Instituts für neue Netzwerke und Ideen. Alle zwei Jahre diskutieren Teilnehmende aus aller Welt Johann Potgieter (47 Jahre) und Daniel Digashu (30 Jahre) bezogen globale Gesellschaftsfragen – in der diesjährigen Ausgabe zum Zeitpunkt des Interviews gerade ihre neue Farm in Namibia. mit dem Fokus auf Generationen. Unter anderem mit: Zusammen mit dem 12-jährigen Sohn einer verstorbenen Tante Jane Goodall, JJ Bola, Rutger Bregman, Ruth Westheimer, Daniels bilden sie eine ungewöhnliche Familie – was die ältere Sima Taparia und Chlöe Swarbrick. Verwandtschaft gleichwohl kommentarlos akzeptiert. Johann ist Seien Sie live dabei: www.goethe.de/kultursymposium das „Oberhaupt“ der Familie und verantwortlich für die Finanzen, das Haus und die Fahrzeuge auf der Farm. Die Akzeptanz der Namibier*innen für diese Lebensform überraschte ihn: „Bevor wir Sponsoren von Südafrika hierher gezogen sind, hatten wir uns das Leben hier viel schlimmer vorgestellt – doch so, wie es aussieht, fügen wir uns überall ziemlich gut ein.“ Daniel stimmt ihm zu und erzählt, wie herzlich sie in der Verwandtschaft aufgenommen wurden – unge- achtet ihrer sexuellen Orientierung. Ganz ohne Vorbehalte waren
19 Chris de Bode: Dream Rens, 15 Jahre, Niederlande „Ich kam als Renske zur Welt, als Mädchen. Ich fühlte mich aber immer wie ein Junge und träume davon, tatsächlich einer zu sein"
20 COMIC SUPERHELDIN MIT „MIGRATIONS HINTERGRUND“ Kamala Khan ist eine amerikanische Muslima und Titelfigur des Comics „Ms. Marvel“. Ihr Handeln ist nur zu verstehen, wenn man ihren familiären Hintergrund kennt. MARYANNE RHETT Kamala Khan, eine amerikanische Muslima ist Ms. Marvel
21 S o wie alle Werke der Populärkultur ihren ganzen Schmuck zu Geld gemacht. In dieser Schilderung sind auch Comics stets ein Abbild nationaler Entwurzelung erfahren wir, dass „auch inmitten jener Generation, die sie machen und eines Bürgerkriegs ein neues Leben beginnen“ kann. Dieser konsumieren. Generationsspezifische kurze Blick auf Khans Hintergrundgeschichte lehrt uns, wie die Auffassungen zur geschlechtlichen, Generationen, die vor uns kamen, das mitgestaltet haben, was ethnischen und soziokulturellen Identität wir heute sind. reichen stets weit über die Grenzen der Bildergeschichten hinaus. So wie sich die reale Um 1999 setzt die Geschichte mit einem Gespräch zwischen Khans Welt verändert, so wandelt sich also auch die Großmutter und ihrer Mutter – Muneeba – über den bevorstehen- Welt der Comics. Gelegentlich drehen sie sich ganz den Umzug nach New Jersey wieder ein. Muneeba will Pakistan explizit um gesellschaftliche Zusammenhänge und nicht verlassen, sie will nicht, dass ihre Kinder sich nirgends zu lassen dabei die reale menschliche Dimension nicht Hause fühlen. Khans Großmutter schenkt ihr die Hochzeitsreifen außer Acht. Vielmehr interpretieren sie diese. und sagt: „Gib sie deiner eigenen Tochter, wenn sie alt genug ist. Sie wird zwar auf einem anderen Kontinent geboren, aber ihre Die 2014 wiederbelebte Reihe „Ms. Marvel“ ist ein treffliches Geschichte wird unsere Geschichte sein.“ Beispiel dafür, wie generationsbedingte Trends den Aufbau eines Comics prägen und gleichzeitig den Einfluss vorangegangener Auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird, so steht die Generationen auf die heutige Welt reflektieren. Im Kern geht es Geschichte von Khans Herkunft mütterlicherseits in engem auch in den „Ms. Marvel“-Geschichten immer um Gut gegen Böse. Zusammenhang mit bedeutenden globalen Ereignissen, die sowohl Wenn sie keine Maske trägt, steht die Titelfigur Kamala Khan die islamische als auch die nichtislamische Welt prägten. Die zugleich sinnbildlich für eine zunehmend globalisierte Welt und Teilung Indiens und die Anschläge vom 11. September 2001 kurz ganz bewusst als Modell für generationenübergreifende Wand nach der Auswanderung von Muneeba und Yusuf in die USA lungen und Bewegungen. verknüpfen die Familiengeschichte Khans mit globalen histori- schen Wendepunkten. Kamala Khan ist eine junge Frau mit pakistanischen Wurzeln, die in Jersey City im US-Bundesstaat New Jersey lebt. Wie bei Die indische Teilung ist auch ein zentrales Thema in Salman fast allen Superheld*innen, so ist auch Khans Vorgeschichte für Rushdies Roman „Mitternachtskinder“. Seine „Satanischen Verse“ das Verständnis ihres Handelns bedeutsam. Nur beschränkt zogen seinerzeit den Zorn vieler Muslim*innen auf sich und sich ihre Biografie nicht auf ihre eigene Kindheit. Sie reicht bis führten zu Ayatollah Khomeinis berüchtigter Fatwa. Außerhalb der zu den Urgroßeltern zurück, die auf der anderen Seite des islamischen Welt sind vielen die Nuancierungen und die Vielfalt Erdballs lebten. des Islam nicht bewusst; die Teilung Indiens, die islamische Revolution im Iran oder die Fatwa bestimmen und überschatten Die Autor*innen von „Ms. Marvel“ lassen diese Geschichte Anfang die westlichen Eindrücke von dieser Kultur. Für die nach 1979 bis Mitte des 20. Jahrhunderts beginnen. Auf dem vom britischen Geborenen waren die Ereignisse vom 11. September 2001 in Rückzug und von tiefgründigen ethnisch-nationalistischen Konflik- ähnlicher Weise prägend. ten erschütterten indischen Subkontinent entstehen erste Frauen- rechtsbewegungen. Vor diesem historischen Hintergrund agieren Die Geschichte von „Ms. Marvel“ zeigt, wie sehr eine Generation die Heldin und ihre Freund*innen im 21. Jahrhundert. Die weit in von den vorangegangenen geprägt ist. Über die eigentliche der Vergangenheit liegenden Entwicklungen prägen Khans Kämpfe Bildergeschichte hinaus sind Kamala Khans Leben, Herkunft und ihre Selbstfindung in der Gegenwart. und Erfahrungen auch ein Spiegelbild der heutigen Generation. Einwandererkinder der ersten Generation finden in Khans In der 2016 entstandenen Serie „Civil War II“ wird über vier Geschichte ihre eigenen Erlebnisse wieder. Muslim*innen – Generationen hinweg die Geschichte der Frauen in Kamala Khans in der Populärkultur viel zu oft verunglimpft – finden hier Familie erzählt – von Indien über Pakistan in die USA. Eingebettet Figuren, die sich treu bleiben und zu ihren vielfältigen Erfahrun- in dieses Narrativ finden sich immer wieder Verweise auf den gen stehen. Islam – so wie die Frauen und ihre Familien ihn verstehen – und auf die Macht von Frauen, die ihr eigenes Schicksal in die Frauen, die in der Superhelden-Tradition zwar nicht ganz fehlen, Hand nehmen. aber doch häufig übersehen werden, entdecken in „Ms. Marvel“ Inspiration für ihren eigenen Kampf um Selbstbestimmung. Comics Die Reihe beginnt 1947 in Bombay. Die damals schwangere wie diese bieten einen komplexen Blick auf die Geschichte und Ururgroßmutter Kamala Khans – Aisha – will von Indien aus nach spiegeln nicht nur das Leben der heutigen Generation wider, Pakistan fliehen. Khans Ururgroßvater stellt sich dagegen: „Wir sondern zeigen, wie sehr die Menschen von heute von denen der sind doch Inder“, sagt er – worauf ihr Großvater väterlicherseits Vergangenheit geprägt sind. antwortet: „Nicht mehr.“ MARYANNE RHETT ist Historikerin und lehrt an der Monmouth Als die drei zu ihrer Reise aufbrechen, erfahren die Leser*in- University in New Jersey. Dort erforscht sie die moderne Geschichte nen, dass Aisha in ihren „Hochzeitsarmreifen“ das Start- des Nahen Ostens und des Islam an den Schnittstellen von Populär- kapital für ihr neues Leben versteckt; dafür hatte sie kultur, Nationalismus und Weltgeschichte.
22 FÜNF SÄTZE KUNST THE EGG. Why do I daily photograph an egg? Because it is the perfect shape, aping even the planets in their spheres? Because it is the essence of life, the genetic material from which all animate creatures emerged? Because I am mad? Because repetition ad nauseam is essential not only to my shtick but my worldview? * * * Warum ich Tag für Tag ein Ei fotografiere? Weil es die perfekte Form hat, die sogar die Bahnen der Planeten nachahmt? Oder weil es die Essenz des Lebens ist, das genetische Material, aus dem alle Geschöpfe hervorgingen? Weil ich verrückt bin? Oder weil die unendliche Wiederholung nicht nur eine Masche von mir ist, sondern meine Weltanschauung? Der amerikanische Schriftsteller T. C. BOYLE fotogra- fiert jeden Tag ein Ei und postet das Bild auf seinem Twitter- Account. Tom Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, New York, geboren, ist der Autor von zahlreichen Romanen und Erzählungen, die in vielen Sprachen übersetzt wurden. Bis 2012 lehrte er Creative Writing an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschien gerade sein neues Werk „Sprich mit mir“.
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Chris de Bode: Dream Mahmoyd, 17 Jahre, Jordanien „Ich träume davon, so viel wie möglich zu wissen. Wissen ist der Schlüssel zu allem. Ich könnte zu allem, was kommt, einfach Ja sagen.“ Diese Beilage wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung folgender Unternehmen aus dem Wirtschafts- beirat des Goethe-Instituts: 16. und 17. Juni 2021 goethe.de/kultursymposium IMPRESSUM Herausgeber: Redaktion: Geschäftsführung: Jan Hawerkamp, Narukawa/AuthaGraph (Kartengrundlage) Goethe-Institut e. V. Dr. Jessica Kraatz Magri (V. i. S. d. P.), Kai Wutte S. 6: Elisabeth Wellershaus; S. 8: mecaleha/ Oskar-von-Miller-Ring 18 Dr. Alexander Behrmann Projektleitung: Dr. Joachim Schüring Getty Images; S. 10/11: Gilles & Cecilie/ 80333 München Art-Direktion: Christopher Delaney, 2 Agenten; S. 16: Julian Manjahi/ Tel. +49 89 15 921 0 © 2021, Goethe-Institut Jessica Sturm-Stammberger Goethe-Institut Nairobi; S. 20: picture www.goethe.de Nachdrucke, auch auszugsweise, Bildredaktion: Sima Ebrahimi-Yazdi alliance/dpa/Adrian Alphona/Marvel; nicht gestattet. Lektorat: Dr. Katrin Weiden S. 22: Jamieson Fry; S. 22/23: T. C. Boyle Präsidentin: Prof. Dr. Carola Lentz Verlag: Herstellung: Tim Paulsen TEMPUS CORPORATE GmbH – Druck: Bechtle Verlag & Druck, Esslingen Vorstand: Ein Unternehmen des ZEIT Verlags Erscheinungsdatum: 10. Juni 2021 Johannes Ebert (Generalsekretär), Alt-Moabit 94, 10559 Berlin Bildnachweise: Titel, S. 2, 9, 15, 19, Rainer Pollack Tel. +49 30 59 00 48 411 24: Chris de Bode; S. 3: Martin Ebert, (Kaufmännischer Direktor) Loredana La Rocca; S. 4/5: Hajime
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