Materials for the European Green Deal - Wie innovative Materialien zu Klimaneutralität führen können - Redaktions Netzwerk ...
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technologieland-hessen.de Materials for the European Green Deal Wie innovative Materialien zu Klimaneutralität führen können
Inhalt 2 Grußwort des Hessischen Wirtschaftsministers 4 Hessen zeigt Stärke für innovative Materialien 7 Industrie nimmt Kurs auf Klimaschutz Materialinnovationen für die Dekarbonisierung der Industrie 11 Bitte wenden! Materialinnovationen für die Dekarbonisierung des Verkehrs 15 Aus Luft gebaut Materialinnovationen für Leichtbaulösungen 19 Booster für Hessens Energiewende Dekarbonisierung der Strom- und Wärmeerzeugung 23 Energie perfekt vernetzt Materialinnovationen für leistungsfähige Energienetze der Zukunft 27 Wohnen 2.0: Wohlfühlen und Klima schützen Materialinnovationen für die Dekarbonisierung der privaten Haushalte 31 Nachhaltigkeit schlägt Wurzeln Materialinnovationen für klimaneutrale Ernährung und Landwirtschaft 35 Im Kreis geführt Materialinnovationen für eine erfolgreiche Kreislaufwirtschaft 38 Materials Valley 39 Technologieland Hessen 40 Impressum 1
Grußwort Der European Green Deal hat weltweit Hoffnungen geweckt. Mit ihm stellt sich die EU der Herausforderung der Transformation unseres Wirtschaftsmodells in eine nachhaltige Ökonomie, die Klimaschutz, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit miteinander vereinigt. Innova- tive Materialtechnologien werden dabei eine zentrale Rolle spielen. Um den Beitrag von Materialinnovationen näher zu beleuchten und Industrie, Forschung und Politik ein Forum zum Austausch zu bieten, haben wir gemeinsam mit dem in Hessen ansässigen Branchencluster Materials Valley e.V. im Januar 2021 die Veranstaltungsreihe „Materials for the European Green Deal“ gestartet. Bei den acht einzelnen Treffen haben über hundert Vortragende Ideen, Technologien und Heraus- forderungen in den einzelnen Wirtschaftszweigen diskutiert. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse fasst diese Broschüre zusammen. Wir hoffen, dass Sie darin Denkanstöße für innovative Vorhaben, klimafreundliche Prozesse und neue Geschäftsmodelle finden. Wir werden uns freuen, wenn wir Sie bei der Umsetzung dieser begleiten dürfen. Tarek Al-Wazir Hessischer Minister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen 3
EUROPEAN GREEN DEAL | EINFÜHRUNG Veranstaltungsreihe „Materials for the European Green Deal“ forciert Austausch und Vernetzung Hessen zeigt Stärke für innovative Materialien Europas Wirtschaft soll klimaverträglich und nachhaltig werden. Dafür steht der Green Deal der EU-Kommission. Hessens Industrie und Forschung entwickeln eine Vielzahl innovativer Materialien, auf die Industrie, Energieversorgung, Gebäudewirtschaft und Mobilität in Zukunft bauen können. Der Green Deal ist eine Blaupause, die für Europas Wirt- Fahrzeuge oder Gebäude. Zudem hat das Land mit schaft neue Leitplanken setzt: Bis 2050 sollen die Netto- seinen 38 Hochschulen eine überdurchschnittliche Hoch- Treibhausgase auf Null reduziert werden, der Rohstoffver- schuldichte und verfügt über zahlreiche, breit aufgestellte brauch drastisch sinken, die Landwirtschaft gesünder und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Viele dieser nachhaltiger werden und umweltverträgliche Mobilität Universitäten, Hochschulen und Forschungsinstitute Fahrt aufnehmen. Zugleich will der Green Deal die Wett- forschen anwendungsnah und kooperieren eng mit bewerbsfähigkeit der europäischen Industrie sichern, die Unternehmen aus Hessen und anderen Bundesländern. Finanzwirtschaft ökologischer ausrichten und den Wohl- stand für die Bevölkerung erhalten. Ein Mammutprojekt! Die Veranstaltungsreihe „Materials for the European Green Deal“ des Technologielandes Hessen und des Damit aus den großen Umbauplänen Wirklichkeit wird, Materials Valley e. V. hat deutlich gemacht: Es gibt so gut braucht es zweierlei: Die politische Verankerung der Ziele wie keinen Wirtschaftssektor, der ohne innovative Werk- in klare Gesetze und Vorgaben sowie eine Vielzahl von stoffe den Sprung in die Zukunft schaffen wird. Etwa technischen Lösungen, die nachhaltiges und ressourcen- 70 Prozent aller Innovationen hängen von Neuentwicklun- schonendes Wirtschaften auch tatsächlich möglich gen der Materialien ab, schätzt das Fraunhofer LBF in machen. Darmstadt. Nicht immer muss es eine Neuschöpfung sein, oft lassen sich etablierte Werkstoffe weiterentwickeln oder Hessen ist auf beiden Ebenen gut vorbereitet. Das Land im Sinne des Green Deal kreislauffähig gestalten und für integriert die Ziele des europäischen Green Deal in die bisher unbekannte Anwendungen nutzen. Landespolitik, zum Beispiel durch die hessische Innova- tionsstrategie 2021–2027 sowie durch den künftigen Zu den wesentlichen Herausforderungen in Hessen Klimaplan und das geplante Klimaschutzgesetz. Mit gehört die Versorgung des Flugverkehrs mit defossilier- Beginn der Förderperiode im Sommer 2022 werden die ten Kraftstoffen. Ein wichtiger Akteur ist zudem die tradi- Mittel für industrielle Forschung beispielsweise im tionell starke Chemieindustrie, die ihre Prozesse mit emis- Bereich Energietechnik aufgestockt. sionsärmeren Energieträgern befeuern und zugleich die Treibhausgase aus Herstellung, Transport und Verbrauch Auch wirtschaftlich und wissenschaftlich hat Hessen eine ihrer Produkte reduzieren und auf nicht-fossile Rohstoffe hervorragende Startposition. Die Chemieindustrie verfügt umstellen muss. Zu den großen Aufgabenbereichen zählt über langjährige Erfahrung in der Entwicklung von nicht zuletzt der Sektor Gebäude und Haushalte, der auch Stoffen, die neue Eigenschaften zeigen und komplexe in Hessen von fossilen Energien und wenig klimaverträg- Funktionen erfüllen. Unternehmen aus Automotive lichen Baustoffen dominiert wird. und der Metall- und Kunststoffverarbeitung erzeugen Produkte für klimaverträgliche Energieversorgung, für 4
EUROPEAN GREEN DEAL | EINFÜHRUNG Erste Schritte sind getan. Die Pipeline ist mit innovativen erreichen. Dazu gehören Energieeinsparung und Ener- Materialien „made in Hessen“ gut gefüllt: Wärmeträgeröle gieeffizienz. Beides dient sowohl dem Klimaschutz als erlauben den Transport von Wasserstoff über lange Stre- auch der Verringerung der Abhängigkeit von Gas, Öl und cken, smarte Halbzeuge und filigran konstruierte Bauteile Kohle. Und beides zahlt sich ökonomisch aus, denn viele sparen Gewicht bei PKW und Flugzeugen, neuartige Elek- Effizienzmaßnahmen sind kostengünstiger als der Aufbau troden erhöhen Leistung und Lebensdauer von Batterien neuer Energieversorgungsoptionen. in E-Fahrzeugen, verbesserte Wärmepumpen und intelli- gente Verglasungen mindern den Energieverbrauch im „Die aktuelle Krise bestätigt unseren Ansatz, das Einspar- Wohnungsbau. Viele Lösungen entstehen in Kooperation potenzial gerade bei kleinen und mittleren Unternehmen von etablierten Unternehmen, Start-ups und praxisnaher systematisch zu nutzen“, sagt Sebastian Hummel, der sich Forschung. Die Forschung in Hessen richtet den Blick in im Hessischen Wirtschaftsministerium mit technologi- großen Verbundprojekten auch auf das Ende der Wert- schen Innovationen und ressourceneffizienter Produktion schöpfungskette: Wie gelingt es, komplexe Produkte beschäftigt. Das hessische PIUS-Programm fördert seit sinnvoll zu verwerten? Wie gelangen Sekundärrohstoffe 2017 kleine und mittlere Unternehmen (KMU) bei der konsequent in den Kreislauf zurück? Umstellung auf umweltfreundliche und energiesparende Prozesse. Beratung, Planung und Umsetzung von Spar- Für den Transfer einer Idee in den Markt braucht es oft maßnahmen werden mit bis zu 50 Prozent der Kosten Vermittler. Als zentraler Makler agiert das Technologie- bezuschusst. Diesen Weg wird Hessen konsequent weiter- land Hessen, das im Auftrag des Hessischen Wirtschafts- gehen: Das Ministerium plant, neue Programme aufzu- ministeriums einen großen Teil seiner Arbeit der Vernet- legen und Bewährtes wie das PIUS-Fördersystem mit ver- zung von Akteuren widmet. „Die richtigen Partnerschaf- besserten Konditionen und höherem Budget fortzuführen. ten findet man in aller Regel nicht bei Google“, weiß Sandro Szabó, Projektleiter Materialtechnologien beim Erfolgreich können neue Materialien, Technologien und Technologieland. Ein Vorzeigebeispiel ist das Additive Dienstleistungen in Hessen und darüber hinaus insbeson- Manufacturing Center, das derzeit an der TU Darmstadt dere dann sein, wenn sie auf breite Akzeptanz bei Politik entsteht. Es verknüpft Expertise aus den Bereichen Addi- und Bevölkerung bauen. Die Europäische Union gibt mit tive Manufacturing und digitaler Transformation, um den dem Green Deal ein Versprechen, in dessen Mittelpunkt Transfer von Ideen und neuen Ansätzen in marktgängige der ökologische Übergang steht. Damit der Green Deal Produkte und Dienstleistungen zu beschleunigen. kein rein wirtschaftliches und technologisches Projekt bleibt, müssen Programme und Strategien die Wünsche So wichtig neue Materialien für den Green Deal auch sind und Erwartungen der Menschen mitdenken. Erst dann – nicht immer muss das Rad neu erfunden werden, um wird aus dem Green Deal ein gesellschaftliches Projekt, voranzukommen. Auch mit Altbekanntem lässt sich viel das über Generationen hinweg überzeugen kann. 5
EUROPEAN GREEN DEAL | DEKARBONISIERUNG DER INDUSTRIE Materialinnovationen für die Dekarbonisierung der Industrie Industrie nimmt Kurs auf Klimaschutz 2045 Der 21. April 2021 war für den europäischen Klimaschutz -100% 2030 ein wichtiger Tag: EU-Parlament und EU-Mitgliedsstaaten einigten sich erstmals auf ein verbindliches Klimagesetz. Ein solches Gesetz gilt als Herzstück des Green Deal; es verpflichtet die EU darauf, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen und ihre Netto-Treibhausgasemissionen bereits bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 zu -55 % senken. Das Klimagesetz bringe die EU für kommende Generationen auf einen grünen Pfad, betonte Kommissions- präsidentin Ursula von der Leyen. 2025 Für klimaschonendes, dekarbonisiertes Wirtschaften braucht es aber nicht nur klare gesetzliche Ziele, sondern auch ambitioniert agierende Unternehmen. Ziele des Klimaschutzplans Hessen: p Hessen will Klimaneutralität schneller als EU-27 erreichen (2045 statt 2050) -40% p Ambitionierte Zielsetzungen für das kommende Jahrzehnt: Einsparung von 55 % der Emissionen von 1990 bis 2030 2020 1990 -29% * * Prognose Öko-Institut Die Prozentangaben entsprechen den CO2-Einsparungen im Vergleich zu 1990 7
EUROPEAN GREEN DEAL | DEKARBONISIERUNG DER INDUSTRIE Chemie sucht Wege für eine Defossilierung Saubere Energie als Schlüsselfaktor Hessen hat eine starke Chemieindustrie, die durch den Ganz ähnliche Überlegungen gibt es bei BASF in Lud- Green Deal gleich vor mehrere Herausforderungen wigshafen. Der Chemiekonzern will bis 2030 seine Treib- gestellt wird. Chemische Prozesse benötigen in der Regel hausgasemissionen gegenüber 2018 um ein Viertel redu- hohe Temperaturen und damit viel Energie. Gleichzeitig zieren. BASF fokussiert dabei auf die internen Energie- basieren zahlreiche chemische Verbindungen und Pro- kreisläufe, „da bei der Erzeugung von Strom und Dampf dukte auf Kohlenstoff. Dazu gehören Lösemittel und rund die Hälfte der gesamten Treibhausgase der BASF Grundchemikalien, vor allem aber Kunststoffe, die für All- anfallen“, erläutert Xenia Beyrich-Graf, Senior Vice Presi- tagsgegenstände, aber auch als Hochleistungspolymere dent Chemical Synthesis Research. Das Unternehmen beispielsweise für Elektrolyseure und Brennstoffzellen setzt beispielsweise auf Wärmepumpen und Dampfkom- zum Einsatz kommen. pressoren, um die Abwärme von Chemieanlagen zur Dampferzeugung zu nutzen. Zudem arbeitet BASF daran, Die Chemie muss daher zwei wesentliche Säulen ihrer über eine Methanpyrolyse CO2-freien Wasserstoff zu Wirtschaftsweise umgestalten: herkömmliche Energie- gewinnen, der wiederum Ausgangsstoff für wichtige träger für die thermischen Prozesse durch nicht-fossile Chemikalien wie Ammoniak ist. Energien ersetzen und fossile Rohstoffe durch nachwach- sende Ausgangsmaterialien. Ambitioniert sind auch die Zielmarken, die sich Schott gesetzt hat. Der Spezialglashersteller will bis 2030 klima- Evonik hat sich das Ziel gesetzt, konzernweit im Jahr 2025 neutral werden – eine echte Herausforderung für ein nur noch halb so viel Kohlendioxid zu emittieren wie Unternehmen, das bei extrem hohen Temperaturen von 2008. Dieses Ziel umfasst den Betrieb der Standorte und bis zu 1.700 Grad Celsius Gläser erschmilzt und dafür die Emissionen durch den Einsatz von Energie. Im Jahr große Mengen Energie verbraucht. „Wir wollen mit unse- 2020 wurden laut Oliver M. Busch, Vice President Defos- ren Zielen in der Branche vorangehen, auch wenn wir silation bei Evonik, 44 Prozent davon erreicht. Entschei- heute noch nicht alle Lösungen kennen“, formuliert dend für international agierende Unternehmen wie Evonik Matthias Müller, Executive Vice President Research & sind im Klimaschutz weniger die prozessbedingten Emis- Development. Dafür nutzt Schott mehrere Möglichkeiten: sionen vor Ort. Deutlich mehr Treibhausgase entstehen Erhöhung der Energieeffizienz, Einsatz von regenerativem meist durch Herstellung und Verbrauch von Rohstoffen, Strom in der Nachbearbeitung und Formgebung der Glä- Energie und Verpackung, außerdem durch Transport und ser und die Kompensation nicht vermeidbarer CO2-Emis- Entsorgung der zahlreichen Produkte. „Daher muss die sionen durch Förderung globaler Klimaschutzprojekte. gesamte Wertschöpfungskette bilanziert und klima- Langfristig – also für die Zeit ab etwa 2035 – denkt das freundlicher gestaltet werden,“ sagt Busch. Unternehmen daran, das Glas in Elektrowannen zu erschmelzen und auf diese Weise Erdgas durch Ökostrom zu ersetzen. 8
EUROPEAN GREEN DEAL | DEKARBONISIERUNG DER INDUSTRIE KMU: Viel Potenzial für Effizienz Großes Einsparpotenzial für Treibhausgase und Rohstoffe schlummert nicht nur bei Konzernen, sondern vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Daher för- dert das hessische PIUS-Programm seit 2017 KMU bei der Umstellung auf umweltfreundliche und energiesparende Prozesse. Beratung, Planung und Umsetzung von Spar- maßnahmen werden mit bis zu 30 Prozent der Investi- tionssumme bezuschusst. Zudem können Maßnahmen über den Innovationskredit der Wirtschafts- und Infra- strukturbank Hessen (WIBank) kofinanziert werden. „Mitt- lerweile wurden im Rahmen des Programms über 30 Pro- jekte mit insgesamt acht Millionen Euro gefördert“, resü- miert Felix Kaup von Hessen Trade & Invest. Pro Jahr kön- nen laut Kaup dadurch 14.000 Tonnen CO2 eingespart werden. Wasserstoff macht in der Industrie Karriere Die Dekarbonisierung rückt das Element Wasserstoff (H2) ins Rampenlicht – zum einen für die Stromerzeugung in Brennstoffzellen, zum anderen als Rohstoff in chemischen Synthesen. Beide Anwendungen erfordern H2 mit hoher Reinheit. Als Experte für Industriegase hat Linde gemein- sam mit Partnern ein Verfahren entwickelt, das Wasserstoff von Erdgas sauber abtrennt, wenn beide Gase in einer gemeinsamen Pipeline transportiert werden. Das Gasge- einem Verband pipelineherstellender und -betreibender misch strömt dabei durch Bündel aus feinen Polymerhohl- Unternehmen. Derzeit gibt es europaweit erst etwa 1.500 fasern. „Die Poren der Membran lässt das kleine Wasser- Kilometer Wasserstoffleitungen. Rund 70 Prozent der stoffmolekül passieren, alle anderen Moleküle dagegen künftigen Wasserstoff-Pipelines sollen durch Konvertie- nicht“, erläutert Oliver Purrucker, R&D Portfolio Manager rung bestehender Fernleitungen entstehen. Auch hier bei Linde. agiert die Industrie unter Hochdruck: An Standards für die Umwidmung arbeiten derzeit mehrere Verbände und Der Transport von Wasserstoff erfordert besondere Organisationen, schon in Kürze sollen angepasste und Werkstoffe. Untersuchungen am Fraunhofer-Institut für neue Normen veröffentlicht werden. Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit (LBF) in Darmstadt haben gezeigt, dass selbst robuste Stahlsorten anfällig sind. Insbesondere Schweißnähte, Gewinde und Fittings, ohne die kein Pipelinenetz auskommt, müssen daher auf ihre Eignung für den Wasserstofftransport Green Deal im Portfolio: getestet werden. Abhilfe schaffen könnte Polyamid-12, ein spezieller Kunststoff von Evonik, der als innere Unternehmen aus Hessen entwickeln Beschichtung Stahlrohre vor einer Beschädigung schützt. Werkstoffe und Prozesse für klima- Großflächige Transport- und Verteilnetze für Wasserstoff verträgliche Energieversorgung. benötigen neben dem richtigen Werkstoff auch Stan- dards und Normen für Bau und Betrieb von Pipelines. „Bis 2030 brauchen wir in Europa rund 11.600 Kilometer, bis 2040 etwa 40.000 Kilometer, um genügend Wasserstoff transportieren zu können“, sagt Marion Erdelen-Peppler, Vorsitzende der European Pipeline Research Group, 9
EUROPEAN GREEN DEAL | DEKARBONISIERUNG DES VERKEHRS Materialinnovationen für die Dekarbonisierung des Verkehrs Bitte wenden! Der Verkehrssektor ist der Geisterfahrer im Klimaschutz. Neue Power für Batterien Sein Anteil an den deutschen Treibhausgasemissionen stieg zwischen 2010 und 2020 von 16,3 auf 19,7 Prozent. Der global agierende Technologiekonzern Umicore Die Entkopplung von Wachstum und Emissionen ist – im forscht vor allem an innovativen Kathodenmaterialien. Gegensatz zu anderen Wirtschaftssektoren – bislang nicht „Wir produzieren jährlich das Kathodenmaterial für mehr gelungen. Umsteuern tut not: Für eine klimaverträgliche als eine Million Elektrofahrzeuge“, erklärt Applied Tech- Mobilität braucht es neue Angebote und überzeugende nology Manager Paul Spurk. Eines der Entwicklungsziele Konzepte, vor allem aber auch innovative Materialien, bei- bei Umicore ist es, den Anteil an Kobalt deutlich zu redu- spielsweise für leitungsstarke Batterien, dekarbonisierte zieren. Kobalt gilt als „kritischer“ Rohstoff – seine Reserven Kraftstoffe und die Nutzung von grünem Wasserstoff. sind begrenzt, und es wird zu einem erheblichen Anteil im politisch instabilen Kongo gefördert. An Ideen und Aktivitäten mangelt es nicht. Hessische For- schungsinstitutionen und Unternehmen arbeiten beispiels- Auch die AKASOL aus Darmstadt arbeitet an einer weise intensiv daran, Energiedichte, Leistung und Lebens- verbesserten Chemie in den Zellen. Das Unternehmen ist dauer von Lithiumionen-Batterien für die Elektromobilität ein führender Hersteller von Hochleistungs-Lithiumionen- zu steigern. Batteriemodulen für Busse, Bahnen und Nutzfahrzeuge. Der Schlüssel zum Erfolg ist laut AKASOL vor allem die gezielte Anpassung der Module an die Anforderungen im Feld, die bei Nutzfahrzeugen und Bahnen besonders hoch sind. 2020 ging im hessischen Langen eine zweite Gigafactory in Betrieb, die die Produktionskapazität ver- doppelt. 11
EUROPEAN GREEN DEAL | DEKARBONISIERUNG DES VERKEHRS Brennstoffzelle für Schwergewichte Wird die dekarbonisierte Mobilität der Zukunft überhaupt von Batterien angetrieben? Oder auch durch Wasserstoff und Brennstoffzelle? Viele gehen davon aus, dass sich im PKW-Massenmarkt die Batterie durchsetzen wird, bei LKW, Bussen und Bahnen hingegen eher die Brennstoff- zelle (BZ). Treibstoff für die BZ-Technologie ist Wasserstoff, der – regenerativ erzeugt – nicht nur als klimaverträgliche Energiequelle, sondern auch als Ausgangsmaterial für „grüne“ synthetische Kraftstoffe dienen kann. Herstellung, Speicherung und Nutzung von Wasserstoff benötigen allerdings leistungsfähige Materialien. An der TU Darmstadt arbeiten Professor Jan Philipp Hofmann und Professor Bastian J. M. Etzold an Testmethoden, die realitätsnah die chemischen Prozesse und Aktivitäten von Elektrokatalysatoren für Elektrolyse und Brennstoffzelle untersuchen und optimieren. Eine Weiterentwicklung der bisherigen Lithiumionen- Batterien sind Festkörperbatterien (SSB). Dieser Batterie- Auch das Unternehmen Heraeus aus Hanau ist ein Kata- typ kommt ohne brennbare flüssige Elektrolyte aus und lysatorspezialist. Heraeus hat Katalysatoren für die PEM- verspricht gegenüber heute gängigen Akkus höhere Elektrolyse entwickelt, die deutlich weniger Iridium ent- Energiedichten und mehr Sicherheit. An der Universität halten. Das spart Kosten, was die Produktion von regene- Gießen leitet Professor Jürgen Janek den Kompetenz- rativ erzeugtem Wasserstoff in industriellem Maßstab cluster „FestBatt“ des Bundesforschungsministeriums, in erschwinglich macht. „Zudem reicht das weltweite Ange- dem derzeit unterschiedliche Werkstoffe für SSB unter- bot an Iridium schlicht nicht aus, um mit herkömmlichen sucht werden, darunter Polymere, Oxide und Thiophos- Katalysatoren die Wasserstoff-Ziele der EU-Kommission phate. „Die Fortschritte bei Elektrolyten und Elektroden zu erreichen“, betont Christian Gebauer, Leiter Hydrogen sind enorm“, sagt Janek. Zugleich aber gibt es noch Systems bei Heraeus Precious Metals. Heraeus kooperiert offene Fragen zur Mechanik und Energieumwandlung unter anderem mit der Hanauer Greenerity, die katalysa- von SSB. torbeschichtete Membranen und Membran-Elektroden- einheiten (MEA) für Brennstoffzellen herstellt. Für Leistung und Lebensdauer von Batterien sind die Vorgänge an Grenzschichten ganz entscheidend. Hier kommt die Expertise von Evonik ins Spiel. Das Spezial- chemie-Unternehmen mit einem Entwicklungsstandort in Hanau hat viel Erfahrung mit mikro- und nanostrukturier- ten Coatings. Durch Trockenbeschichtung von Kathoden- aktivmaterialien können so unerwünschte Grenzflächen- prozesse – beispielsweise zwischen Kathode und Elektro- lyt – unterdrückt werden. Die Lebensdauer der Zelle steigt dadurch deutlich. Ein speziell von Evonik entwickeltes Additiv vernetzt gezielt Separator und Elektrolyt. Die so verbesserte Haftung erhöht ebenfalls die Performance der Zellen. 12
EUROPEAN GREEN DEAL | DEKARBONISIERUNG DES VERKEHRS Recycling mitdenken! Das Bild vom nachhaltigen Verkehrssektor wird erst durch geschlossene Stoffkreisläufe und hochwertiges Recycling von Fahrzeugen und Bauteilen vollständig. Bei Umicore werden beispielsweise Metalle aus gebrauchten E-Batte- rien durch pyrometallurgische und hydrometallurgische Prozesse zurückgewonnen. Heraeus Precious Metals recy- celt einen Großteil des Iridiums für seine Katalysatoren aus Altprodukten. Innovationen auf die Straße gebracht Neue Entwicklungen sind nur dann nachhaltig, wenn sie Auch bei der Fraunhofer-Einrichtung für Werkstoffkreis- sich auf der Straße oder Schiene auch bewähren. „Wir läufe und Ressourcenstrategie, der Fraunhofer IWKS in brauchen bis 2030 vor allem Innovationen für den Güter- Hanau, denkt man in Kreisläufen. „Wenn wir von Beginn verkehr“, sagt Professor Rüdiger Heim, Leiter im Projekt- an wissen, welche Materialien mit welchen Eigenschaften bereich Systemzuverlässigkeit des Fraunhofer LBF in wo verbaut sind, können wir künftig viel mehr Primär- Darmstadt. Sein Team beschäftigt sich mit kleineren Nutz- rohstoffe durch Rezyklate ersetzen“, ist Professor Anke fahrzeugen, die insbesondere im rasant wachsenden Ver- Weidenkaff, Leiterin des IWKS, überzeugt. Ihr Team ent- teilerverkehr eingesetzt werden. Auf deren Fahrprofil wickelt dafür sogenannte digitale Zwillinge: Werkstoffe abgestimmt hat das LBF einen Antriebsstrang entwickelt werden schon bei der Entwicklung analysiert und detail- aus kompaktem Generator und einem kleinen Lithium- liert beschrieben. Dadurch können beispielsweise ionen-Akku, der die Bremsenergie speichert. recyclinghemmende Komponenten und Prozessschritte frühzeitig erkannt, reduziert oder substituiert werden. Im öffentlichen Nahverkehr ist der Rhein-Main-Verkehrs- verbund (RMV) impulsgebend beim Einsatz von dekarbo- nisierten Antrieben. So will der RMV ab Ende 2022 insge- samt 27 Brennstoffzellenzüge im Regionalverkehr einset- zen, auch erste BZ-Busse sind bestellt. Die BZ-Züge wer- Umsteuern für den Klimaschutz: den im Industriepark Höchst mit Wasserstoff betankt und sollen jährlich rund 2,5 Millionen Kilometer zurücklegen. Innovative Lösungen aus Hessen Gefördert wird das Projekt unter anderem durch das Land ermöglichen leistungsfähige Batterien Hessen. Bereits seit 2021 betreibt der RMV gemeinsam mit anderen Gebietskörperschaften regionalübergreifend und neue Antriebe. 150 emissions- und barrierefreie Fahrzeuge, die als „on demand“-Zubringer zum ÖPNV dienen. „Bremsend wirkt weniger die Entwicklung alternativer Antriebe als viel- mehr die recht langsame Elektrifizierung der Schienen- netze“, betont Kai Daubertshäuser, Leiter des Infrastruk- turmanagements beim RMV. 13
EUROPEAN GREEN DEAL | LEICHTBAULÖSUNGEN Materialinnovationen für Leichtbaulösungen Aus Luft gebaut Die Vorteile von Leichtbau wiegen schwer: Bauteile und Das zeigt die lange Liste bundesweiter Initiativen, Strate- Produkte erhalten eine erhöhte Dynamik mit deutlich ver- gien und Programme des BMWK. Beispielsweise wurde ringerten Massenkräften, Leichtbau spart Energie und Anfang 2021 eine „Leichtbaustrategie für den Industrie- Rohstoffe, erleichtert Transport und Handhabung selbst standort Deutschland“ veröffentlicht, für die unterschied- größter Teile. Nicht zuletzt schafft Leichtbau Raum für liche Branchen ihr Fachwissen eingebracht haben. Das mechatronische Komponenten, die smarte, hochfunktio- Ministerium sieht zudem viel Potenzial in der internatio- nale Maschinen und Fahrzeuge erst möglich machen. nalen Vernetzung. Daher hat es ein europäisches Netz- Dennoch: „Leichtbau ist noch lange nicht gelöst, noch werk ins Leben gerufen und will über sein Markterschlie- lange kein Standard“, konstatiert Professor Tobias Melz, ßungsprogramm insbesondere KMU den Weg in auslän- Vorstandsvorsitzender bei Materials Valley e. V. dische Märkte erleichtern. Die Entwicklung besonders materialsparender Werkstoffe und Bauteile war lange Zeit vor allem Spielwiese für experimentierfreudige Konstruktionsansätze. In Zeiten von Klimaschutz, Ressourcenschonung und umfassender Digitalisierung ändert sich das. „Leichtbau ist heute eine Game-Changer-Technologie“, betont Werner Loscheider, Leiter des Referats Neue Werkstoffe im Bundeswirtschafts- ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK). 15
EUROPEAN GREEN DEAL | LEICHTBAULÖSUNGEN Mobilität leicht gemacht Funktion mit eingebaut Mobilität ist ein besonders weites Feld für gewichts- Werden Teile aus Metall additiv gefertigt, geht das fast sparende Konstruktionen. „In vielen Bereichen müssen immer nur mit kompakten Stützstrukturen, die nach der wir das Fahrzeug neu denken, um die Potenziale von Fertigung entfernt werden müssen – das kostet Zeit und Leichtbau zu nutzen und um zugleich als Hochlohnland Material. Durch neue Softwarekonzepte mit angepassten wettbewerbsfähig zu bleiben“, sagt Martin Hillebrecht, Parametern können die Stützen verkleinert oder gar über- Senior-Experte Innovation bei der EDAG Engineering flüssig werden. Group in Fulda. Das gilt nicht nur für die Karosserie, sondern auch für Antriebe. Mit Förderung durch das Land Leichtbau spielt seine Stärken besonders dann aus, wenn Hessen hat EDAG gemeinsam mit Partnern ein Modul elektronische Elemente und damit wichtige Funktionen gebaut, in dem sich sowohl ein Wasserstofftank als auch quasi in den Werkstoff integriert werden. Die Invent in eine Batterie unterbringen lassen. Für kleinere Nutz- Braunschweig entwickelt insbesondere für die Luftfahrt fahrzeuge eignen sich sogenannte variantenreiche Fahr- smarte Halbzeuge. In den vorgefertigten Werkstücken zeugbodengruppen. Dadurch können unterschiedliche werden Wandler, Sensoren, Antennen oder Heizelemente Antriebskonzepte kostensparend integriert und gefertigt direkt in Faserverbund-Werkstoffe eingebracht oder auf- werden. gedruckt. Damit entstehen Bauteile, die zum Beispiel Schwingungen während des Flugbetriebs kontrollieren, Luftig zu bauen, das geht am besten mit Additiver Ferti- vor Eisbildung schützen oder die Korrosion der stark gung. „Allerdings ist sie in der Regel noch zu langsam belasteten Türumgebung eines Flugzeugs überwachen. und deutlich zu teuer“, konstatiert Professor Christian Mittelstedt, Leiter des Fachgebiets Konstruktiver Leicht- bau und Bauweisen (KLuB) an der TU Darmstadt. Mittel- stedt und sein Team setzen daher auf sogenannte Topo- logieoptimierung. Das Konzept: Bei einem Bauteil wird das Material an denjenigen Stellen entfernt, an denen es den geringsten Beitrag zur Funktionalität leistet. Übrig bleibt ein filigranes Fachwerk (Lattice), dessen Aussehen und Dimension durch die Lastpfade definiert wird. Lattice- Strukturen können die Kosten der Additiven Fertigung spürbar senken. Um wichtige Fragen zu Statik und Betriebsfestigkeit zu klären, entwickelt die TU Probekör- per für die technische Prüfung solcher Gitterstrukturen. 16
EUROPEAN GREEN DEAL | LEICHTBAULÖSUNGEN Leicht. Leichter. Ultraleichtbau. Integrierte Intelligenz ist auch ein Merkmal des Ultraleicht- baus, der die Grenzbereiche des physikalisch Möglichen auslotet. Ziel von Ultraleichtbau-Konstruktionen ist eine maximale Materialersparnis, ohne dass die Sicherheit des Bauteils Schaden nimmt. Dafür werden beispielsweise Aktoren in den Werkstoff integriert, die Verformungen durch dynamische und statische Lasten aktiv ausgleichen. „Ultraleichtbau eröffnet bisher ungeahnte Entwicklungs- möglichkeiten“, ist Saskia Biehl, Leiterin der Abteilung Ultraleichtbau am Fraunhofer LBF in Darmstadt, über- zeugt. Mehrere Fraunhofer-Institute haben gemeinsam unbemannte Drohnen in Skelettbauweise mit Plug-in- Bordelektronik und -Umfeldsensorik entwickelt, die bis zu 200 Kilogramm Ladung transportieren können. In einem Leichtbau über alle Disziplinen anderen Projekt gelang es, ein herkömmliches Lastenfahr- rad so umzukonstruieren, dass es 40 Prozent leichter ist; Der Game-Changer Leichtbau steht noch vor einer wei- sensorische Verbindungselemente überwachen während teren Herausforderung: Er erfordert interdisziplinäre der Fahrt die sichere Lagerung der Ladung. Kompetenz. Beispielsweise klappt die Entwicklung adap- tiver, intelligenter Materialien für interaktive Oberflächen nur durch Zusammenspiel von Werkstofftechnik und Elek- Blick auf den gesamten Lebenszyklus tronik. Konstruktion und Akustik müssen dort kooperie- ren, wo es z. B. um die Schallabsorption bei Fahrzeugen Leichtbau ist allerdings nicht per se ein Klimaschützer. „Er oder Anlagen ohne dicke Dämmschichten geht. ist nur dann ein potenter Hebel für Nachhaltigkeit, wenn wir den kompletten Lebenszyklus betrachten“, betont Außerdem: Manch Potenzial liegt brach, weil Leichtbau Ursula Eul, Geschäftsführerin des Fraunhofer-Verbund im Topmanagement vieler Unternehmen noch nicht als MATERIALS. Aluminium beispielsweise ist zwar ein Leicht- oberste Priorität gilt. Mittelfristig bleibt allerdings gar metall, seine primäre Herstellung aus Bauxit allerdings keine Wahl, denn Klima- und Effizienzziele sind ohne verbraucht viel Strom und erzeugt meist hohe Treibhaus- smarte und ressourcensparende Produkte nicht zu errei- gasemissionen. Daher sind resiliente Materialien und chen. „Leichtbau zeigt uns, dass nichts selbstverständlich Fertigungsverfahren mit hoher Toleranz gegenüber ist“, resümiert Melz von Materials Valley e. V. und Fraun- Verunreinigungen ganz entscheidend. Nur dann öffnet hofer LBF. Wenn Forschung und Unternehmen offen sind, sich der Leichtbau für Sekundärrohstoffe, beispielsweise Werkstoffe und Konstruktionen neu zu denken, kann aus dem Aluminium- und Stahlrecycling. Deutschland beim Leichtbau ein Schwergewicht werden. Einer der wenigen quasi von Natur aus resilienten Werkstoffe ist Holz. Allerdings sind Holzwerkstoffe in aller Regel Schwergewichte. An der Technischen Hochschule Leichtbau ist ein Türöffner für Effizienz Ostwestfalen-Lippe in Lemgo gelang einem Team um Professor Martin Stosch die Entwicklung einer 16 Millime- und Ressourcenschonung. Forschung ter dünnen Leichtspanplatte. Das „Particle grid board“ ist extrem luftig, weil es aus zwei spiegelgleichen, gepress- und Industrie aus Hessen erarbeiten ten Halbschalen besteht. smarte Lösungen, die Material sparen und Funktionen integrieren. 17
EUROPEAN GREEN DEAL | STROM- UND WÄRMEERZEUGUNG Dekarbonisierung der Strom- und Wärmeerzeugung Booster für Hessens Energiewende Bei Strom und Wärme klafft eine große Lücke zwischen Heizen mit Abwärme aus Rechenzentrum dem, was möglich ist, und der realen Energiewelt. Beim Primärenergieverbrauch dominieren nach wie vor Öl und Im Frankfurter Bauquartier Westville wird dieses Potenzial Gas, da macht Hessen keine Ausnahme. „Seit etwa zehn erstmals in großem Maßstab in Hessen angezapft. Die Jahren steigt der Gesamtanteil der regenerativen Ener- hier geplanten 1.300 Wohnungen sollen ab 2023 zumin- gien im Land nur langsam, da haben wir noch einen wei- dest teilweise mit Abwärme eines benachbarten Rechen- ten Weg vor uns“, resümiert Uwe van den Busch, Projekt- zentrums geheizt werden. „Im Endausbau stammen manager Energiemonitoring bei der HA Hessen Agentur. mindestens 60 Prozent der Wärme aus dem Rechen- Spezifisch für Hessen: Der Flughafen Frankfurt steht für zentrum“, prognostiziert Kolja Franssen, Projektleiter beim etwa 25 Prozent des gesamten Endenergieverbrauchs im Frankfurter Energieversorger Mainova. Ein neues Nah- Land. Selbst im Corona-Jahr 2020 mit einem deutlich ein- wärmenetz deckt die Grundlast, die bestehende Fern- geschränkten Flugbetrieb lag sein Anteil noch bei rund wärmeversorgung die Spitzenlast. 15 Prozent. Die zwei wesentlichen Säulen der Dekarbonisierung des Frankfurt ist nicht nur Standort des größten Flughafens Energiesektors sind und bleiben Wind und Photovoltaik. Deutschlands, sondern auch für DE-CIX, den weltweit Bei Windkraftanlagen gilt: big is beautiful. Die mögliche größten Internetknoten. Durch mehr Homeoffice, die Nabenhöhe hat längst die Spitzen des Kölner Doms Digitalisierung der industriellen Fertigung und autonome erreicht, Rotorblätter können über 100 Meter lang sein. Fahrzeuge wird der Energiebedarf von Servern und Um Material- und Belastungsschäden von Rotorblättern Rechenzentren weiter rasant ansteigen. Damit wächst frühzeitig zu entdecken, testet die Nachwuchsgruppe von auch deren Abwärme – rein rechnerisch könnte im Jahr Jochen Moll am Physikalischen Institut der Goethe-Uni- 2030 der Wärmebedarf aller Frankfurter Haushalte und versität Frankfurt Millimeterwellen-Radarsysteme. Die Büros durch Abwärme aus den Rechenzentren der Stadt Radarsensoren werden am Turm angebracht und arbeiten gedeckt werden. ähnlich wie Bodyscanner am Flughafen. Sie überwachen die Rotoren kontinuierlich und vollautomatisiert und erkennen beispielsweise Bruchschäden oder Delamina- tionen. 19
EUROPEAN GREEN DEAL | STROM- UND WÄRMEERZEUGUNG CO2 capture plant Onshore transport CO2 capture plant Buffer storage Offshore transport Offshore transport CO2 injection To geological storage Wege für Carbon Capture Um die Klimaziele zu erreichen, muss das bei der Verbren- Auch eine Energiewende braucht Eisen, Stahl und nung entstehende Kohlendioxid (CO2) zum Großteil auf- Zement – für Anlagen zur Erzeugung von grünem Strom gefangen werden. An unterschiedlichen Technologien für und regenerativer Wärme, für Transport- und Verteiler- dieses Carbon Capture arbeitet das Team um Professor netze. Der Energiesektor kann daher ohne Verfahren zur Bernd Epple, Leiter des Instituts für Energiesysteme und CO2-Abscheidung und Endlagerung (CCS) nur schwer Energietechnik (EST) an der TU Darmstadt. Vielverspre- klimaneutral werden. chend ist laut Epple insbesondere das Carbonate Loo- ping. Hierbei wird das CO2 im Abgas mit Branntkalk „Gegen eine Tiefenspeicherung von Kohlendioxid spricht in Carbonat umgesetzt, im zweiten Schritt bei 900 Grad aus technischer Sicht wenig“, betont Professor Hans- Celsius im Kalzinator wieder freigesetzt und danach abge- Joachim Kümpel von der Deutschen Akademie der Tech- schieden. Der Prozess wurde im EST erfolgreich in einer nikwissenschaften e. V. (acatech). In der Nordsee gibt es Pilotanlage getestet und eignet sich zur Nachrüstung von laut acatech ausreichend viele und ausreichend große Kraftwerken, Zementwerken oder Müllverbrennungsanla- potenzielle Speicher, um die gesamte CO2-Menge, die in gen. Mit einem Preis von 22 bis 27 Euro pro abgeschie- der deutschen Industrie in den nächsten Jahrzehnten dener Tonne CO2 ist das Verfahren zudem wirtschaftlich, anfallen wird, endzulagern. Wird der für Transport, Ver- betont Epple, denn der Zertifikatepreis im Rahmen des dichtung und Verpressung des CO2 notwendige Strom europäischen Emissionshandels liegt an der Börse um ein aus regenerativen Quellen gewonnen, kann CCS zudem Vielfaches höher. klimaverträglich gestaltet werden. 20
EUROPEAN GREEN DEAL | STROM- UND WÄRMEERZEUGUNG Über das Vertraute hinausdenken Möglicherweise müssen für eine zügige Energiewende auch Technologien, gegen die sich in der Vergangenheit Widerstände manifestiert haben, neu bewertet werden. Eine davon ist die Tiefen-Geothermie. Im Rahmen eines Verbundforschungsprojekts werden auf dem Campus Lichtwiese der TU Darmstadt seit Februar 2022 Bohrungen bis in eine Tiefe von 750 Meter eingebracht. Das Projekt soll den Beleg liefern, dass Abwärme und regenerative Wärme wirtschaftlich im mitteltiefen Untergrund gespei- chert werden können. Im Schlussausbau sind 39 Bohrungen vorgesehen, die rein rechnerisch den Wärmebedarf des gesamten Campus decken. Und was ist mit Atomkraft? „Neuartige Reaktorkonzepte können die Klimavorteile der Atomkraft nutzen und zugleich ihre Risiken weitgehend vermeiden“, ist Björn Peters, Kaufmännischer Geschäftsführer der Dual Fluid und Inhaber eines Beratungsinstituts in Kelkheim, über- zeugt. Eines diese Konzepte ist das Dual-Fluid-Kraftwerk. Es arbeitet mit flüssigem Kernbrennstoff und einem vom Brennstoffkreislauf abgekoppelten Wärmekreislauf, in dem flüssiges Blei die im Reaktor erzeugte Energie ablei- Ansätze, die über das Vertraute hinausgehen, sind nicht tet. Das Dual-Fluid-Prinzip steigert die Leistungsdichte nur auf technische Machbarkeit angewiesen, sondern und ermöglicht den Einsatz unterschiedlicher flüssiger auch auf Akzeptanz bei Politik und Bevölkerung. „Oft wer- Brennstoffe, darunter auch von nuklearen Abfällen, so den aus schlechten Erfahrungen aus Einzelprojekten Vor- Peters. Beim Ausfall der Kühlsysteme werden die behalte gegenüber der gesamten Technologie“, sagt Spaltprozesse automatisch innerhalb von Sekunden Sandro Szabó, Projektleiter Materialtechnologien beim abgebrochen. Technologieland Hessen. Gerade für die Dekarbonisie- rung der Strom- und Wärmeerzeugung ist daher eine Nicht auf Kernspaltung, sondern auf Kernfusion setzt breite Akzeptanz nicht nur in der Politik, sondern auch in dagegen Professor Markus Roth, Plasmaphysiker an der der Bevölkerung wichtig. TU Darmstadt. Er und sein Team haben einen Prozess ent- wickelt, der die Zündung des Kernbrennstoffs für die Fusion einfacher macht. Bei dieser „Fast Ignition“ wird der Wasserstoff, der beim Verschmelzen seiner Atomkerne große Mengen Energie freisetzt, in zwei Stufen mit unter- Wind, Solar, Atomkraft, Fusion: Die schiedlichen Hochleistungslasern extrem komprimiert und gezündet. „Dadurch kann mit deutlich geringerem Dekarbonisierung von Strom und Energieeintrag eine selbsterhaltende Brennwelle in Wärme erfordert Lösungen, die auch Gang gesetzt werden“, sagt Roth. Unter dem Dach des kürzlich gegründeten Start-up-Unternehmens Focused über das Vertraute hinausgehen. Energy soll innerhalb der kommenden vier Jahre in Hessen eine erste Testeinrichtung in Betrieb gehen, die den Prozess auf seine Tauglichkeit prüft. 21
EUROPEAN GREEN DEAL | LEISTUNGSFÄHIGE ENERGIENETZE DER ZUKUNFT Materialinnovationen für leistungsfähige Energienetze der Zukunft Energie perfekt vernetzt Bei der Energiewende ist sicher, dass nichts bleibt, wie es Smarte Netze: eine Mammutaufgabe war. Fahrzeuge tanken künftig grünen Strom oder Was- serstoff, Kohle wird von erneuerbaren Energieträgern Heutige Netze stammen aus dem fossilen Zeitalter und abgelöst, ganze Branchen wollen künftig mit Wasserstoff sind für den Wandel nur bedingt tauglich. Für die Ener- ihre Produkte erzeugen, Wärme liefern in Zukunft dekar- giewende müssen die Netze intelligent und kommunika- bonisierte Brennstoffe. tiv werden. Sie brauchen Kopplungsstellen, um wie auf einem Verschiebebahnhof die Energie für ganz unter- Das alles geht nicht ohne Netze. Sie verbinden die anbie- schiedliche Sektoren – Fahrzeuge, Haushalte, Industrie- tenden und abnehmenden Beteiligten sowie die Fern- anlagen – verlässlich liefern zu können. „Aus den bisher leitungen mit Verteilnetzen. Sie schaffen Verbindung strikt getrennten Netzen für Strom, Wärme, Kraftstoffe und zwischen Strom und Wärme, zwischen gasförmigen und Gas wird ein multimodales System entstehen“, betont flüssigen Energieträgern. Netze lenken Überschüsse in Professor Peter Birkner, Geschäftsführer des House of Speicher und bringen Energie zu jeder Zeit dorthin, wo Energy e. V., einem hessischen Innovationscluster, das sich sie gerade gebraucht wird – und das künftig am besten mit den zentralen Fragen der Energiewende beschäftigt. smart, digitalisiert, über Sektoren- und sogar Ländergren- zen hinweg. Eine der größten Herausforderungen: Strom muss künftig innerhalb Deutschlands, aber auch über die Grenzen hin- weg über weite Strecken transportiert werden. Wie gelingt der Transport verlustfrei über die sogenannten Stromautobahnen, und welche neuen Übertragungstech- niken und Speicher sind notwendig? Hier ist insbeson- dere die Materialforschung gefragt: Große, überlagernde Netze brauchen besonders effiziente Halbleiter, leichte Werkstoffe, langzeitstabile Gleichstromkabel, womöglich gasisolierte Leitungen und Schaltanlagen oder verlustfrei leitende Komponenten aus innovativen Supraleitern. 23
EUROPEAN GREEN DEAL | LEISTUNGSFÄHIGE ENERGIENETZE DER ZUKUNFT Neues Gas in alten Leitungen Eine Netz-Wende braucht es nicht nur für Strom, sondern auch für Gase. Wobei hier der Wandel weniger radikal ist: Die meisten Erdgasleitungen lassen sich auf den Trans- port von Wasserstoff oder Biogas umstellen. „Das beste- hende Gasnetz wird also auch weiterhin benötigt“, betont Karsten Frese, Strategieentwickler bei der Open Grid Europe, die in Deutschland rund 12.000 Kilometer Fern- leitungen betreibt. Künftig, so Frese, ist der Transport von Gasgemischen vor- gesehen, die je nach den Anforderungen der Kundschaft mehr oder weniger Wasserstoff enthalten. Im Rahmen des Verbundprojektes GET H2 sollen bis 2024 die ersten 30 Kilometer Gasnetz auf Wasserstoff umgerüstet wer- den, 2030 könnten es bereits 5.100 Kilometer sein. Gas- Fernleitungen sind nicht zuletzt unverzichtbar für den Transport von CO2, das künftig aus Abgasen filtriert und zu geologischen Speichern oder für eine chemische Nut- zung zu Industrieanlagen transportiert werden muss. Speicher schaffen Flexibilität Wichtige Bausteine in einem Wasserstoffnetz sind Groß- speicher, die eine Versorgung zu jeder Zeit sicherstellen. Platz dafür hat Deutschland im Prinzip genug: Die deut- schen Gasspeicher fassen 24 Prozent des gesamten Spei- Nordsee als Powerhouse chervolumens der EU. „Für Wasserstoff kommen insbe- sondere große Kavernenspeicher infrage“, sagt Rainer An zukunftsfähigen Netzen knüpft beispielsweise der nie- Vogt, Geschäftsführer der MET Speicher in Frankfurt. Die derländische Netzbetreiber TenneT TSO. Bis 2030 will das MET Speicher ist unter anderem Eigentümerin des Kaver- Unternehmen die Anbindung von deutschen Offshore- nenspeichers im hessischen Reckrod im Landkreis Fulda. Windparks auf mindestens 30 GW vervierfachen. Dafür wird die Übertragungsspannung auf 525 kV erhöht, das Die Umrüstung der unterirdischen Kavernen ist für eine steigert die Effizienz und minimiert die Zahl der notwen- Wasserstoffwirtschaft mindestens so wichtig wie die digen Kabel im naturgeschützten Wattenmeer. Ein Gleich- Umrüstung von Fernleitungen. Bis 2050 wird eine stromnetz auf See soll europäische Windparks mitein- H2-Anschlussleistung für die deutsche Industrie von ander verbinden, was die Versorgung sicherer und 111 Gigawatt prognostiziert. Davon kann aus heutiger Lastflüsse flexibel macht. „Die Nordsee wird so zum Sicht nur der kleinere Teil durch Erzeugung und Import neuen Powerhouse in Europa“, ist Tim Meyerjürgens, von H2 gedeckt werden, 69 Gigawatt werden ehemalige Chief Operations Officer bei TenneT, überzeugt. Erdgaskavernen liefern, betont Vogt. Der MET-Kavernen- speicher Reckrod könnte künftig die hessische Industrie Gemeinsam mit dem Netzbetreiber 50Hertz Transmission versorgen, aber auch Unternehmen in südlicheren Bun- geht TenneT noch einen wichtigen Schritt weiter. Im Raum desländern. Allerdings ist die Umrüstung einer Kaverne Heide in Schleswig-Holstein soll ein erstes Stromdreh- auf Wasserstoff nicht banal. Beispielsweise müssen unter- kreuz entstehen. Eine neuartige Gleichstrom-Schaltanlage irdisch und oberirdisch eingesetzte Werkstoffe ausge- wird zwei 2-GW-Offshoreleitungen mit einer Gleichstrom- tauscht werden, um Sicherheit und Explosionsschutz zu verbindung an Land verknüpfen. Ein Konverter wandelt gewährleisten. den Gleichstrom in Wechselstrom um, mit dem verschie- dene industrielle Bedarfe der Region gedeckt werden. 24
EUROPEAN GREEN DEAL | LEISTUNGSFÄHIGE ENERGIENETZE DER ZUKUNFT Eignung von Untergrundspeichern zur Energiespeicherung Ausspeicherdauer Untergrundspeicher 1 Jahr Pumpspeicher- kraftwerke 1 Monat Erdgas / 1 Woche Batterien Wasserstoff / synthetisches 1 Tag Methan Druckluftspeicher 1 Stunde Kondensatoren 1 Minute Schwungmassen- Mechanisch speicher Elektrisch 1 Sek. Elektrochemisch Spulen Chemisch 100 ms 1 kWh 1 MWh 1 GWh 1 TWh Speicherkapazität Flüssig-Carrier für Wasserstoff Auch bei der Netz-Wende geht es um Tempo. Doch wie „Über die hydraulische Vernetzung hinaus braucht es vor gelingt ein schneller Wandel, und das möglichst global? allem eine transparente, schnelle Datenkommunikation“, „Indem wir weltweit die bestehende Infrastruktur für sagt Guido König, Manager Digital Solutions bei der flüssige Energieträger nutzen“, betont Professor Peter Samson in Frankfurt. Schnelle Datenkommunikation und Wasserscheid, Gründungsdirektor des Helmholtz-Insti- konsequente Digitalisierung sind Bestandteil aller künf- tuts Erlangen-Nürnberg. Tanker, Lager, Tankstellen und tigen Leitungssysteme. Sie versprechen eine weitaus Pipelines gibt es nahezu überall, und auch Wasserstoff effizientere Nutzung von Wärme, Kälte, Strom und lässt sich effizient in chemisch gebundener, flüssiger Form Wasserstoff als heute und eine vielfältigere, aber klima- transportieren. Die ersten Tankstellen, die dieses Konzept schonende Welt der Netze. umsetzen, sind laut Wasserscheid seit 2021 im Probe- betrieb. Sektorenkopplung, hocheffiziente Speicher, bidirek- Netze müssen intelligent werden und tionale Energieflüsse – auch für Wärmenetze benennen diese Schlagworte den notwendigen Wandel. Dazu Sektoren koppeln, damit die Energie- gehört, dass unterschiedliche Wärmequellen und Tempe- raturniveaus gekoppelt werden und Abwärme aus wende gelingt. Eine Aufgabe, die Rechenzentren oder Industrieanlagen besser integriert Betreiberfirmen und Materialforschende wird. auch in Hessen mächtig unter Strom setzt. 25
EUROPEAN GREEN DEAL | DEKARBONISIERUNG DER PRIVATEN HAUSHALTE Materialinnovationen für die Dekarbonisierung der privaten Haushalte Wohnen 2.0: Wohlfühlen und Klima schützen Deutschland wohnt wenig klimafreundlich: Gebäude ver- dorf. Statt um Ölverbrauch und Kilowattstunden geht es brauchen 40 Prozent der Energie und stehen für fast künftig um Lastmanagement, Peak-Shaving und Netzdien- 30 Prozent des gesamten CO2-Ausstoßes in Deutschland. lichkeit. Ganze Quartiere – besonders im Geschosswoh- Jede zweite Heizung und 85 Prozent der Gebäudever- nungsbau – können zu energetischen Einheiten werden, glasungen gelten als ineffizient. In kaum einem anderen in denen Erzeugung und Verbrauch intelligent aufeinan- Bereich klaffen technische Möglichkeiten und Realität so der abgestimmt sind. weit auseinander wie im Sektor Privathaushalte und Gebäude. Denn am Markt existiert eine Vielzahl von Tech- In Pilotprojekten erprobt Viessmann derzeit mit Unterstüt- nologien und Werkstoffen, die Emissionen drastisch sen- zung von Kooperationen sogenannte multivalente Ener- ken, Ressourcen schonen und zugleich den Wohnkomfort giesysteme und die dafür notwendigen Komponenten, steigern. beispielsweise den EEBUS als Kommunikationsschnitt- stelle für das „bidirektionale Laden“: Strom fließt künftig „Wir brauchen einen Technologiewandel,“ fordert daher vom Hausnetz in die Ladesäule für das Elektroauto, aber Martin Roßmann, Global Head Systems & Advanced Tech- auch aus der Fahrzeugbatterie ins Haus. nologies bei der Viessmann Climate Solutions in Allen- Photovoltaik Cloud Smart Thermostat Ladesäule Lüftung EMS Wärmepumpe Weiße Ware Thermischer Speicher Stromspeicher 27
EUROPEAN GREEN DEAL | DEKARBONISIERUNG DER PRIVATEN HAUSHALTE Fenster, die mitdenken Die meisten Verglasungen in deutschen Wohnungen las- sen im Winter Wärme entweichen und im Sommer Hitze ins Haus. An der Universität Kassel haben Forschende ein Glas entwickelt, bei dem zwischen zwei Isolierglasschei- ben winzige Mikrospiegel integriert sind. An heißen Tagen sind sie so gekippt, dass sie die äußere Wärme- strahlung nahezu komplett reflektieren. Sind Personen im Raum, lenkt ein Teil der Spiegel das Tageslicht an die reflektierende Decke und sorgt für optimale Ausleuch- tung des gesamten Raums. Im Winter ernten die Mikro- spiegel die Wärmestrahlung und lenken sie gezielt nach innen. „Bei Hitze wird der Wärmeeintrag gewaltig redu- ziert, im Winter kann optimal mit der Sonne geheizt wer- den“, sagt Professor Hartmut Hillmer, Leiter des Fachge- biets Technische Elektronik an der Universität Kassel. Das 2017 von der Uni ausgegründete Start-up Nanoscale Womit heizen wir morgen? Glasstec in Kassel erprobt die reale Anwendung der Mikrospiegelverglasung. Dabei zeigt sich, dass die Tech- Die Frage, wie Gebäude künftig geheizt werden, ist ganz nologie in einem breiten Bereich von minus 80 bis plus entscheidend für eine Energiewende. „Ohne den groß- 120 °C funktioniert und etwa ein Drittel der Energie ein- flächigen Einsatz von Wärmepumpen werden die Klima- gespart werden kann. ziele nicht zu erreichen sein“, ist Kilian Bartholomé, Grup- penleiter Kalorische Systeme beim Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik, dem Fraunhofer IPM, über- zeugt. Im Projekt ElKaWe arbeiten sechs Fraunhofer-Insti- tute – darunter das Fraunhofer LBF in Darmstadt – an der Entwicklung elektrokalorischer Wärmepumpen zum Hei- zen und Kühlen als Alternative zur Kompressor-Technolo- gie. Bei elektrokalorischen Werkstoffen, z. B. bestimmten Keramiken oder Polymeren, sinkt in einem von außen angelegten elektrischen Feld die Entropie und das Mate- rial erwärmt sich. Wird das Feld abgeschaltet, kühlt der Werkstoff wieder ab. Dieser Prozess ist reversibel. Werden elektrokalorische Module in Reihe geschaltet, lässt sich damit Wärme oder Kälte pumpen. Mit neuartigen Werkstoffen für hocheffiziente Wärme- pumpen beschäftigt sich auch die Magnetherstellerin Vacuumschmelze (VAC) in Hanau. VAC nutzt beispiels- weise thermoelektrische Materialien, in denen elektrische Spannung durch Temperaturdifferenzen am Bauteil erzeugt wird. „In privaten Haushalten könnten thermo- elektrische Generatoren als stromerzeugende Wärme- tauscher im Blockheizkraftwerk sowohl Strom als auch Wärme liefern“, erläutert Michael Müller, Materialentwick- ler bei der VAC. Das Unternehmen beschäftigt sich zudem mit magnetokalorischen Werkstoffen, die ihre Temperatur in Abhängigkeit von einem äußeren Magnetfeld ändern. Derzeit wird untersucht, ob dieser Effekt auch bei Raum- temperatur groß genug und damit für den Einsatz in effi- zienten Wärmepumpen oder Kältemaschinen nutzbar ist. 28
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