Materielle Ungleichheit, "Mietenwahnsinn" und Wohnungsnot
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12 Materielle Ungleichheit, „Mietenwahnsinn“ und Wohnungsnot Hintergründe eines Kardinalproblems der Gesellschaftsentwicklung Christoph Butterwegge Zusammenfassung Die Wohnungs- und Lebenssituation von Menschen ohne Vermögen und mit geringen Einkommen hat sich in den letzten 25 Jahren in Deutschland massiv verschlechtert. Gründe für diese Entwicklung liegen im staatlich begünstigten Immobilienboom, wachsender ungleicher Vermögensverteilung und damit einherge- henden steigenden Preisen sowie einem deutlich geringeren und verteuerten Wohnraumangebot. Dies geschah im Zuge der Neoliberalisierung und Finanzialisierung des Wohnungsmarktes. Die Problematiken sozialräum- licher Ungleicheit, Segregation, Wohnungslosigkeit und der Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe haben sich in der Zeit der Corona-Pandemie zugespitzt. Dies trifft besonders auf sozial benachteiligte und marginaliserte Menschen zu. Verstärkter öffentlicher Wohnungsbau kann hier für Abhilfe sorgen. Schlüsselwörter: Wohnungslosigkeit, soziale Ungleichheit, Segregation, Vermögensungleichheit, Reichtums- verteilung, gesellschaftliche Teilhabe, öffentlicher Wohnungsbau Summary The housing and living situation of people without assets and with low incomes has deteriorated massively in Germany over the past 25 years. The reasons for this development lie in the state-subsidized real estate boom, the growing unequal allocation of wealth and the associated rising prices as well as the significantly lower and more expensive housing supply. This happened in the course of the neoliberalization and capitalization of the housing market. The problems of socio-spatial inequality, segregation, homelessness and the lack of social participation have come to a head during the time of the corona pandemic. This is particularly true of socially disadvantaged and marginalized people. Increased public housing construction can provide a remedy here. Keywords: homelessness, social inequality, segregation, wealth inequality, wealth allocation, social participa- tion, public housing Wenn ein Land ökonomisch, materiell und kul- was zu vermehrter Wohnungs- und Obdach- turell auseinanderdriftet, gehört sein Zerfall in losigkeit führt. Weshalb diese Ungleichheit des sozialräumlicher Hinsicht zu den brisantesten Wohnens entstanden und zuletzt gewachsen Folgen. Mit der sich vertiefenden Kluft zwi- ist, wird im Folgenden genauso behandelt wie schen Arm und Reich nimmt auch die sozial- die Frage, was man dagegen tun kann. räumliche Ungleichheit in Form der residenti- ellen Segregation deutlich zu. Einerseits ziehen sich Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche Die materielle Ungleichheit wächst: teilweise in Luxusquartiere (Gated Communi- Auseinanderentwicklung bei den tys) hinter hohe Mauern zurück, wo sie häu- Einkommen und den Vermögen fig von privaten Sicherheitsdiensten bewacht werden; andererseits werden Arbeitslose und Der Bonner Ökonom Moritz Schularick hat Arme wegen steigender Mieten vermehrt aus zusammen mit Thilo N. H. Albers (Humboldt- ihren angestammten Quartieren verdrängt, Universität zu Berlin) und Charlotte Bartels rausch, 10. Jahrgang, 4-2021, 12–22
Materielle Ungleichheit, „Mietenwahnsinn“ und Wohnungsnot 13 (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, vermögens konzentrieren sich beim reichsten DIW) die Vermögensverteilung in Deutschland Prozent der Bevölkerung und das reichste Pro- von 1895 bis 2018 untersucht. Demnach war die mille kommt immer noch auf 20.4 Prozent des Vermögensungleichheit am stärksten im Kai- Nettogesamtvermögens (vgl. Schröder et al., serreich ausgeprägt, wo das reichste Prozent 2020, S. 517). der Bevölkerung auf knapp 50 Prozent des Ge- Aufgrund des Immobilienbooms im Ge- samtvermögens kam (vgl. Albers et al., 2020, folge der globalen Finanzkrise 2007/08 hat S. 39, 54, 34). Heute sei die Ungleichheit um die sich die sozioökonomische Ungleichheit ver- Hälfte geringer, im vergangenen Vierteljahr- schärft. Da sich das Immobilieneigentum bei hundert habe sie jedoch wieder deutlich zuge- den Hochvermögenden konzentriert, haben die nommen. Während die obere Hälfte der Vertei- steigenden Preise für Häuser und Wohnungen lung ihr Nettovermögen im Zeitraum zwischen zur Vertiefung der Kluft zwischen Arm und 1993 und 2018 mehr als verdoppelte, besaß die Reich beigetragen. Wie die Ökonomen Till Bal- ärmere Hälfte der Bevölkerung weniger als denius, Sebastian Kohl und Moritz Schularick ein Vierteljahrhundert zuvor; ein Haushalt der (2019, S. 19) belegten, hat das reichste Zehntel reichsten zehn Prozent war im Jahr 1993 durch- der Deutschen am stärksten vom jüngsten Im- schnittlich 50-mal, im Jahr 2018 aber schon 100- mobilienboom profitiert und ist zwischen 2011 mal reicher als ein Haushalt der unteren Hälfte. und 2018 allein durch die Preisexplosion auf Was die Struktur des Privatvermögens betrifft, diesem Markt inflationsbereinigt um knapp 1.5 so bestand gut die Hälfte aus Immobilienbesitz Billionen Euro reicher geworden. Während die und rund ein weiteres Viertel aus Produktiv- Mittelschicht, bei der Immobilienbesitz einen kapital. größeren Teil des Gesamtvermögens ausmacht, Markus M. Grabka und Christian Wester- aufgrund der massiven Wertsteigerungen meier betrachteten den Zeitraum von 2002 bis ebenfalls nicht unwesentliche Vermögenszu- 2012, in dem die Vermögensungleichheit anhal- wächse verzeichnete, ging die untere Hälfte der tend hoch blieb. Zuletzt lag das durchschnitt- deutschen Vermögensverteilung mangels Woh- liche Nettovermögen der Erwachsenen bei gut nungseigentums praktisch leer aus. 83 000 Euro. Wegen der großen Differenz zum Während einige Unternehmerfamilien den Median, welcher bei knapp 17 000 Euro lag und Industriesektor und hyperreiche Finanzfürsten angibt, wie viel die mittlere Person in einer den Bankensektor und das Kreditwesen, damit nach der Höhe ihres Nettovermögens geordne- jedoch auch andere Teile der Volkswirtschaft ten Reihe besaß, war die Vermögensungleich- beherrschten, besaßen 40 Prozent der Bevöl- heit sehr groß. kerung laut DIW-Präsident Marcel Fratzscher (2016, S. 43) überhaupt kein nennenswertes Ver- „Gut ein Fünftel aller Erwachsenen verfügte mögen, auf das sie im Alter oder im Krankheits- über kein persönliches Vermögen – bei sieben fall zurückgreifen konnten. Demnach lebten Prozent waren die Verbindlichkeiten sogar höher über 30 Millionen Menschen gewissermaßen als das Bruttovermögen.“ (Grabka & Wester- von der Hand in den Mund, waren sie doch nur meier 2014, S. 156) eine Kündigung oder eine schwere Krankheit von der Armut entfernt. Unter den Staaten der Eurozone wies Deutsch- Mit 15.9 Prozent erreichte die Armuts- land vor Österreich die höchste Vermögensun- (gefährdungs)quote 2019 einen Rekordstand gleichheit auf. im vereinten Deutschland. 13.2 Millionen Zuletzt haben Carsten Schröder, Charlotte Menschen in Deutschland hatten weniger als Bartels, Konstantin Göbler, Markus M. Grab- 60 Prozent des bedarfsgewichteten mittleren ka und Johannes König frühere DIW-Unter- Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung, suchungsergebnisse im Rahmen eines For- was für Alleinstehende 1 074 Euro im Monat schungsprojekts für den Sechsten Armuts- und entsprach. Die höchsten Armutsrisiken wiesen Reichtumsbericht der Bundesregierung aktua- Erwerbslose (57.9 Prozent), Alleinerziehende lisiert. Dabei griffen sie auf eine Spezialstich- (42.7 Prozent) und Nichtdeutsche (35.2 Prozent) probe von Daten des Sozio-oekonomischen auf. Kinder, Jugendliche und Heranwachsende Panels (SOEP) zurück, nahmen eine Sonderbe- waren ebenfalls stark betroffen, während das fragung von Vermögensmillionären vor und Armutsrisiko der Senior(inn)en seit geraumer bezogen die Reichenliste eines Wirtschaftsma- Zeit am stärksten zunimmt. Während junge gazins ein, um auch Hyperreiche im Rahmen Menschen manchmal jahrzehntelang im Be- dieser Sonderauswertung zu berücksichtigen. reich des Wohnens, der Gesundheit und der Demnach entfallen heute 67.3 Prozent des Net- Freizeitgestaltung sowie von Bildung und Kul- togesamtvermögens auf das oberste Zehntel tur benachteiligt sind, wird Senior(inn)en der der Verteilung, 35.3 Prozent des Nettogesamt- Lohn für ihre Lebensleistung verweigert. rausch, 10. Jahrgang, 4-2021
14 Ch. Butterwegge Unberücksichtigt bleiben hierbei sowohl Wie die Ungleichheit während und die Quellen (Kapital, Lohnarbeit und Grund- wegen der Covid-19-Pandemie wuchs eigentum) wie die Qualität der jeweiligen Einkommen, was den Bochumer Sozialwis- Aufgrund der Covid-19-Pandemie, der Kolla- senschaftlern Renate Dillmann und Arian teralschäden des zweimaligen bundesweiten Schiffer-Nasserie (2018, S. 29) als wesentlicher Lockdowns (weitgehender Stillstand des öf- Mangel der Einkommensstatistik erscheint: fentlichen Lebens) sowie der von ihm verur- sachten oder zumindest verschärften Rezession „Der ökonomische Zusammenhang zwischen hat die Verteilungsfrage in jüngster Zeit noch der Einkommensart und der Einkommenshöhe an Bedeutung gewonnen. Die österreichischen ist kategorisch ausgeschlossen und der Gegen- Ökonomen Franziska Disslbacher und Patrick satz der Einkommensquellen zum quantitativen Mokre (2020, S. 3) weisen deshalb in einem Unterschied vermeintlich qualitativ gleicher Beitrag über den Household Finance and Con- ‚Einkommensbezieher‘ verharmlost.“ sumption Survey (HFCS) der Europäischen Zentralbank zu Recht darauf hin, dass man Lohn- und Kapitaleinkünfte drifteten nach der vor allem die Vermögensverteilung in nächster Vereinigung von BRD und DDR immer stärker Zeit aufmerksam beobachten muss, weil ihrer auseinander. Die hohen Zuwachsraten der Ge- Meinung nach die Gefahr besteht, dass sich die winneinkommen gingen zulasten der Lohnein- sozioökonomische Ungleichheit im Gefolge der kommen, deren Anteil am Volkseinkommen Coronakrise weiter zuspitzt, wodurch sich der rückläufig war (vgl. Mittelbach, 2013, S. 380 ff.). Graben zwischen Arm und Reich verbreitern Nach dem 3. Oktober 1990 erreichten nur ganz würde. wenige Ostdeutsche das oberste Einkommens Bereits während des ersten Lockdowns perzentil, dessen Anteil am Volkseinkommen im Frühjahr 2020 wurde erkennbar, dass ein dadurch zunächst erheblich sank, während die großer Teil der Bevölkerung bis weit in die untere Hälfte einen Zuwachs verzeichnete (vgl. Mittelschicht hinein trotz eines relativ hohen Bartels, 2018, S. 56). Somit bewirkte die sukzes- Lebens- und Sozialstandards sowie entgegen sive Annäherung des ostdeutschen Einkom- den Beteuerungen der politisch Verantwort- mens- und Ungleichheitsniveaus an das west- lichen, die Bundesrepublik Deutschland sei deutsche eine vorübergehende Reduktion der eine „klassenlose“ Gesellschaft mit gesicher- Ungleichheit zwischen beiden Landesteilen. ter Wohlständigkeit all ihrer Mitglieder, nicht Die „Inter-Gruppen-Ungleichheit“ schwächte einmal kurze Zeit ohne seine ungeschmälerten sich ab und das gesamtdeutsche Ungleichheits- Regeleinkünfte auskommt (vgl. Butterwegge, niveau sank, bis ab Mitte der 1990er-Jahre die 2021, S. 136 ff.). Dies hat zur Entfremdung stark Angleichung nachließ, sodass die Ungleich- verunsicherter Bevölkerungsteile vom parla- heit in Gesamtdeutschland wieder stieg (siehe mentarischen Repräsentativsystem und zur Spannagel, 2013, S. 174). größeren Zerrissenheit der Republik beige- Seither hat eine „gigantische Umverteilung tragen. Wirtschaftliche, soziale und politische zugunsten der Kapitaleinkünfte“ stattgefun- Ungleichheit hängen nämlich eng miteinander den, wie der Ökonom Heinz-J. Bontrup (2018, S. zusammen (vgl. hierzu: Butterwegge, 2020). 127, 129) errechnete: Einerseits hat die pandemische Ausnahme- situation 2020/21 teilweise seit Langem beste- „Hätte nämlich die Lohnquote in allen Jahren hende Missstände, soziale Ungleichheiten und bei ihrem Höchstwert von 1993 [72.4 Prozent; politische Versäumnisse aufgedeckt oder noch Ch.B.] gelegen, so hätten die abhängig Beschäf- klarer zutage treten lassen, was mit der infla- tigten von 1991 bis 2017 insgesamt 1 744.3 Mrd. torisch benutzten Metapher eines Brennglasses Euro mehr an Einkommen verbuchen können. So ausgedrückt wurde. Andererseits verschärf- haben realiter die Bezieher der Kapitaleinkünfte ten die Pandemie selbst, die letztlich von den die gut 1.7 Bio. EUR erhalten.“ staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen (wie- derholter Lockdown, Kontaktverbote sowie Denn die Lohnquote erreichte im Jahr 2007 mit Einreise- und Ausgangsbeschränkungen) mit 63.6 Prozent einen Tiefstand und erholte sich ausgelöste oder zumindest verstärkte Rezessi- bis zum Jahr 2017 nur auf 68.5 Prozent. Obwohl on und die stark auf Wirtschaftsunternehmen die Anzahl der abhängig Beschäftigten im Jahr bzw. ihre sozialversicherungspflichtig Beschäf- 2019 auf einen Rekordwert stieg, war die Lohn- tigten zugeschnittenen Hilfspakete, „Rettungs- quote nicht höher als zur Jahrtausendwende. schirme“ und Finanzhilfen die sozioökonomi- sche Ungleichheit weiter. Nie wurde deutlicher, dass die materielle Ungleichheit in einer „marktwirtschaftlichen“ rausch, 10. Jahrgang, 4-2021
Materielle Ungleichheit, „Mietenwahnsinn“ und Wohnungsnot 15 bzw. kapitalistischen Gesellschaft beinahe au- die mangelnde Ruhe, welches ihn zwang, die tomatisch zu gesundheitlicher, Wohn- und Bil- Schulaufgaben bei weniger Ruhe in der Kü- dungsungleichheit führt. Die finanzschwächs- che zu machen, sondern das knappe Familien- ten Bevölkerungsgruppen wie Obdach- und budget. Wohnungslose, aber auch andere Bewohner/in- Umgekehrt ließen sich der mehrmalige nen von Gemeinschaftsunterkünften wie Straf- Lockdown sowie die Schließung von Schulen gefangene, Geflüchtete, (süd)osteuropäische und Kinderbetreuungseinrichtungen im Ei- Werkvertragsarbeiter/innen der Subunterneh- genheim mit Garten erheblich leichter ertragen, men von Großschlachtereien bzw. Fleischfab- und die Ansteckungsgefahr war für Besser- riken und ausländische Saisonarbeiter/innen, verdienende, die häufig im Homeoffice arbei- Migrant(inn)en ohne gesicherten Aufenthalts- ten oder mit dem eigenen Auto statt in vollen status, Menschen mit Behinderungen, Pflegebe- Bussen und Bahnen zum Büro fahren konnten, dürftige, Suchtkranke, Prostituierte, Erwerbs- sehr viel geringer. Und bezüglich der Bildung lose, Geringverdiener/innen, Kleinstrentner/ gilt in Abwandlung eines Sprichwortes: Wo innen und Transferleistungsbezieher/innen eine Villa ist, ist auch ein Weg – zum Abitur, (Empfänger/innen von Arbeitslosengeld II, zum Studium und zur beruflichen Karriere Sozialgeld, Grundsicherung im Alter und bei (vgl. hierzu ausführlicher: Butterwegge & But- Erwerbsminderung sowie Asylbewerberleis- terwegge, 2021, S. 105 ff., 169 ff.). tungen), gehörten keineswegs zufällig auch zu Durch wochenlange Kontaktverbote, Aus- den immunschwächsten. Vielmehr erhöhen so- gangsbeschränkungen und Einrichtungs- zial mitbedingte Vorerkrankungen wie Adipo- schließungen wurde die ohnehin brüchige Le- sitas (Fettleibigkeit), Asthma, Diabetes mellitus bensgrundlage der ärmsten Menschen (Bettler/ (Zuckerkrankheit) oder COPD (Raucherlunge), innen, Pfandsammler/innen und Verkäufer/ katastrophale Arbeitsbedingungen (z. B. in der innen von Straßenzeitungen) zerstört, weil feh- Fleischindustrie) sowie beengte und hygienisch lende Passant(inn)en und die Furcht der ver- bedenkliche Wohnverhältnisse das Risiko für bliebenen davor, sich zu infizieren, manchmal eine Infektion mit SARS-CoV-2 bzw. für einen zum Totalausfall der Einnahmen führten, was schweren Covid-19-Krankheitsverlauf. stärkere Verelendungstendenzen in diesem Die gravierenden Ungleichgewichte beim Sozialmilieu nach sich zog. Die finanzielle Be- Einkommen und beim Vermögen prägten fast lastung von Transferleistungsbezieher(inne)n, alle Lebensbereiche der Menschen sowie deren Kleinstrentner(inne)n und Geflüchteten nahm subjektives Erleben und die psychosozialen Fol- durch die Schließung der meisten Lebensmit- gen der Pandemiekrise. Arbeitsbedingungen, teltafeln, von Hamsterkäufer(inne)n geleerte Wohnverhältnisse und Gesundheitszustand Regale mit preiswerten Grundnahrungsmitteln (Anzahl, Art und Schwere der sozial beding- wie Nudeln oder Mehl und steigende Preise bei ten Krankheiten) übten einen signifikanten Frischeprodukten zu. Einfluss auf das Infektions-, Morbiditäts- bzw. In einer modernen Klassengesellschaft gibt Mortalitätsrisiko von Personengruppen aus, es nicht bloß unvorstellbar Reiche (Multimilli- die schon deshalb ganz unterschiedlich von der ardäre) auf der einen und extrem Arme (Woh- Pandemie betroffen waren. Hieß es früher auf- nungs- und Obdachlose) auf der anderen Seite grund der je nach Geschlecht rund zehn Jahre des sozialen Spektrums. Vielmehr sorgt das höheren Lebenserwartung von Wohlhabenden bestehende Wirtschaftssystem auch dafür, dass und Reichen „Wer arm ist, muss früher ster- manche Reiche auf Kosten der Armen immer ben“, so änderte sich diese Faustregel durch die reicher, die Armen jedoch gleichzeitig zahlrei- Pandemie geringfügig: „Wer arm ist, muss eher cher werden. Unter dem Druck der Coronakri- sterben“, hieß es nunmehr, weil das Risiko, an se, die zu Einkommensverlusten durch Kurz- der Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19) zu arbeit, Geschäftsaufgaben und Arbeitslosigkeit sterben, für Wohlhabende und Reiche sehr viel geführt hat, kauften mehr Familien bei Lebens- niedriger war. mittel-Discountern ein, um Haushaltsgeld zu Wenn eine Familie auf zwei Zimmern in sparen, wodurch die Besitzer solcher Laden- einer Hochhaussiedlung am Stadtrand wohn- ketten wie Aldi Nord und Aldi Süd, die ohnehin te, tat sie das wohl kaum der tollen Aussicht zu den vermögendsten Bürgern gehören, noch wegen, sondern weil ihr das Geld für eine reicher geworden sind. Dieter Schwarz, Eigen- größere Bleibe in einer besseren Wohngegend tümer von Lidl und Kaufland, hatte sein Privat- fehlte. Letztlich war der Grund für das höhe- vermögen, das die Welt am Sonntag (20.09.2020) re Infektionsrisiko dieser Eltern nicht ein häu- auf 41.8 Milliarden Euro taxierte, allein in den fig überfüllter Aufzug und der Grund für die vergangenen zwei Jahren laut dem US-ame- Bildungsbenachteiligung ihres Nachwuchses rikanischen Wirtschaftsmagazin Forbes um keineswegs das fehlende Kinderzimmer und 14.2 Milliarden Dollar gesteigert. Für die Aldi- rausch, 10. Jahrgang, 4-2021
16 Ch. Butterwegge Erben Beate Heister und Karl Albrecht jun. er- Kindern stärker ausgeprägt als bei der Gesamt- gab sich immerhin ein Zugewinn von 6.4 Mil- bevölkerung.“ (Helbig & Jähnen, 2018, S. I) liarden Dollar, wie dem Artikel „Die Reichsten werden noch reicher“ von Johannes Pennekamp Besonders ungleich verteilten sich die in Haus- (2021) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu halten mit SGB-II-Bezug aufwachsenden Kin- entnehmen war. der. Quartiere, in denen über 50 Prozent aller Infolge der pandemiebedingten Einkom- Kinder von Sozialgeld lebten, fanden Helbig mensverluste sind wahrscheinlich mehr Giro- und Jähnen in 36 der 74 Städte, die sie für ihre konten von prekär Beschäftigten, Kurzarbei- Studie ausgewählt hatten. ter(inne)n, Soloselbstständigen und Kleinst- Hendrik Lebuhn, Andrej Holm, Stephan unternehmer(inne)n ins Minus gerutscht, wes- Junker und Kevin Neitzel haben für die Hans- halb gerade die finanzschwächsten Kontoin- Böckler-Stiftung auf der Grundlage von Mi- haber/innen hohe Dispo- und Überziehungs- krozensusdaten die Wohnverhältnisse in den zinsen zahlen mussten. Dadurch wurden jene 77 deutschen Großstädten untersucht und da- Personen, denen die Banken oder Anteile da- bei vor allem die Situation verschiedener Ein- ran gehören, noch reicher, sofern das Privat- kommensgruppen berücksichtigt. Wie sich kundengeschäft trotz der Pandemie halbwegs herausstellte, lebten Haushalte mit geringen florierte. Obwohl manche Beobachter/innen Einkommen nicht bloß auf kleinerer Fläche pro glaubten, die Pandemie habe das Land zerris- Mitglied und in Wohnungen schlechterer Qua- sen, war das Coronavirus kein sozialer Spalt- lität, sondern hatten auch eine deutlich höhere pilz. Unter den herrschenden Bedingungen Mietbelastung zu tragen: wirkte es allerdings wie ein Katalysator des so- zioökonomischen Polarisierungsprozesses, der „Einkommensungleichheiten werden so in den das Land innerlich zerreißt, was einen Großteil Wohnverhältnissen nicht nur reproduziert, seiner Bewohner/innen wiederum zermürbt sondern sogar noch verstärkt.“ (Lebuhn et al., und gesundheitlich verschleißt. 2017, S. 80) Die das Wohnen als einen zentralen Indikator Residentielle Segregation als der sozialen Lage und als einen Gradmesser sozialräumliche Manifestation der der Ungleichheit begreifenden Verfasser der Kluft zwischen Arm und Reich Studie sprachen von einer „gravierende(n) Pola- risierung der Mietbelastungsquoten“, weil die Deutlich wie nie zuvor schlägt sich die Klas- zehn Prozent der Haushalte mit der günstigs- sen- bzw. Schichtstruktur heute im Stadtbild ten Mietkostenbelastung nur 13.6 Prozent ihres nieder, wenn auch von lokalen Traditionen und Haushaltsnettoeinkommens für die Bruttokalt- manchen Besonderheiten gebrochen und durch miete ausgaben, während es von den zehn Pro- andere Einflussfaktoren modifiziert. Spürbar zent mit den höchsten Mietbelastungen über ist die sozialräumliche Ungleichheit besonders 47.8 Prozent des Einkommens waren (a.a.O., S. in den prosperierenden Großstädten und Met- 78). Die Mietkostenbelastung dieser Gruppe ropolregionen der Bundesrepublik. betrug das Dreieinhalbfache der Haushalte mit der günstigsten Mietbelastung. „Die Stadt als Zentrum der individuellen Kon- Durch die Bundesrepublik verläuft ein tie- sumtion und Lebensweise einer Mehrheit der fer Riss, der sie in ein gesellschaftliches Oben Bevölkerung eines Landes ist der Spiegel der und Unten sowie in wohlhabende und abge- Klassengegensätze und ihrer Verschärfung im hängte Regionen, Kommunen und Stadtvier- gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus wie in tel teilt. Zu beobachten ist außerdem, was man einem Brennglas geworden.“ (Krüger, 2020, S. eine sozioökonomische Sezessionsbewegung 178) nennen kann: Während die Einkommens- schwachen, Geringverdiener/innen und Trans- Der Erfurter Hochschullehrer Marcel Helbig ferleistungsbezieher/innen abgehängt und in und Stefanie Jähnen, Mitarbeiterin des Wis- die Hochhausviertel am Rand der Großstädte senschaftszentrums Berlin für Sozialforschung abgedrängt werden, weichen die materiell Bes- (WZB), untersuchten die Entwicklung der re- sergestellten in gute und separate Wohnviertel sidentiellen Segregation in deutschen Städten bis hin zu Gated Communitys aus. Sie ziehen und stellten dabei fest, dass sich diese zuletzt sich aus freien Stücken in eine Parallelwelt zu- erheblich verstärkt hat. rück, die Privilegierten vorbehalten bleibt, und der eine ganz andere Welt gegenübersteht, die „Ähnlich wie in den USA ist die soziale Spal- nicht selbstgewählt ist und der Unterprivile- tung der Städte bei Kindern bzw. Familien mit gierte nur schwer entfliehen können. rausch, 10. Jahrgang, 4-2021
Materielle Ungleichheit, „Mietenwahnsinn“ und Wohnungsnot 17 Von der „Herstellung gleichwertiger Le- Die gegenwärtige Wohnungsmisere und der bensverhältnisse“, die Art. 72 Abs. 2 Grund- „Mietenwahnsinn“ sind aber nicht vom Him- gesetz fordert, kann selbst mehr als drei Jahr- mel gefallen, sondern durch politische Entschei- zehnte nach der Vereinigung von BRD und dungen erzeugt worden. Seit den 1980er-Jahren DDR noch keine Rede sein. Ein sozialräumli- überließ die staatliche Wohnungs-, Wohnungs- cher Ausgleich, wie ihn dieser „politische Leit- bau- und Stadtentwicklungspolitik priva- begriff“ vorsieht, der laut Jens Kersten, Claudia ten Investoren das Feld. CDU, CSU und FDP Neu und Berthold Vogel (2019, S. 4) ein „Verfas- schafften zum 1. Januar 1990 das Wohnungsge- sungsauftrag für öffentliches Handeln“ ist, hat meinnützigkeitsgesetz ab. Damit hatte der Staat bisher nicht stattgefunden: z. B. genossenschaftlichen Wohnungsbaugesell- schaften bis Ende der 1980er Jahre bestimmte „Daseinsvorsorge und Infrastrukturen stehen Steuervorteile gewährt, sie dafür jedoch zur nicht überall in angemessenem Umfang zur Ver- Beschränkung auf eine Kostenmiete und zur fügung, um die gesellschaftliche Teilhabe aller Begrenzung von Gewinnausschüttungen ver- Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Dies pflichtet. Vorher preisgebundene Wohnungs- gilt nicht nur für den ländlichen Raum, sondern bestände gelangten daraufhin auf den Immo- auch für viele großstädtische Quartiere, die un- bilienmarkt, wo es primär um hohe Renditen ter Segregation leiden.“ ging. In den wirtschaftlich erfolgreichen Ballungs- „Mit dem Fortfall der Gemeinnützigkeit wurden zentren greifen vermehrt Wohnungsnot und die öffentlichen Wohnungsgesellschaften zum Mietwucher um sich, weshalb es zumindest Beutegut von kapitalistischen Immobilienun- in den meisten Groß- und Universitätsstädten ternehmen, die als sogenannte Heuschrecken die selbst Normalverdiener(inne)n schwerfällt, eine Wohnungsbestände aufkauften.“ (Krüger, 2017, bezahlbare Wohnung zu finden. Verschärft S. 225) wird das Problem durch eine sehr niedrige Wohneigentumsquote der Bundesrepublik, die Mit vier Finanzmarktförderungsgesetzen schu- so niedrig ist wie in keinem anderen Land der fen unterschiedlich zusammengesetzte Bun- Eurozone (vgl. European Central Bank, 2020, desregierungen seit 1990 ein günstiges Inves- Table A1), was mit der extrem starken Kon- titionsklima und ein ideales Betätigungsfeld zentration des Vermögens zusammenhängen für (institutionelle) Kapitalanleger nicht zuletzt dürfte. In den Städten wohnen die allermeisten im Bereich der Immobilien (vgl. Heeg, 2018, S. Menschen zur Miete, weil die Wohnungen ent- 107 ff.). Mietwohnungen, die eine Mehrheit der weder reichen Privatleuten oder großen Immo- Bevölkerung benötigt, um hierzulande men- bilienunternehmen gehören. Letztere treiben schenwürdig leben zu können, werden seit- die Mieten in die Höhe, weil nur Mieterhöhun- her mit der Folge als Waren ge- und als bloße gen steigende Renditen für die Aktionäre sol- Spekulationsobjekte behandelt. Hingegen lei- cher Konzerne ermöglichen, woran der Erfolg det der Soziale Wohnungsbau unter Schwind- ihres Managements gemessen wird. sucht, weil ihn die politisch Verantwortlichen nicht mehr vorantrieben. Außerdem wurde das Mietrecht liberalisiert und der in Deutschland Ursachen der wachsenden für Vermieter traditionell relativ strenge Kün- Ungleichheit im Wohnbereich digungsschutz gelockert. Mit der sog. Moder- nisierungsumlage von elf Prozent führten SPD Da die Einkommens- und erst recht die Vermö- und Bündnis 90/Die Grünen zum 1. September gensverteilung viel ungleicher ist als die Vertei- 2001 eine Beteiligung der Mieter an den Mo- lung der Miethöhen, finden Personen, Familien dernisierungskosten ein, und die am 1. Mai und Haushalte mit geringem Einkommen oft 2013 in Kraft getretene Mietrechtsreform der keine für sie bezahlbaren Wohnungen. schwarz-gelben Koalition erleichterte Zwangs- räumungen. „Deshalb verschärft der Wohnungsmarkt schon Die rot-grüne Koalition befreite Gewinne durch seine Preisstruktur die Einkommensun- von Kapitalgesellschaften, die aus dem Verkauf gleichheit.“ (Lohauß, 2019, S. 310) von Tochterfirmen und Aktienpaketen anderer Kapitalgesellschaften resultierten, von der Kör- Über die Lage, Größe und Ausstattung der perschaftsteuer – eines der größten Steuerge- Wohnung bzw. des Eigenheims entscheidet die schenke an die Unternehmen überhaupt. finanzielle Leistungsfähigkeit, was dazu führt, dass die Spaltung der urbanen Quartierswelt „Daraufhin stießen etliche Unternehmen ihre voranschreitet. Beteiligungen ab, welche in der Folge unter ande- rausch, 10. Jahrgang, 4-2021
18 Ch. Butterwegge rem von Private-Equity-Fonds gekauft wurden. Folgen der Privatisierung Auch die Käufer von privatisierten Wohnanla- öffentlicher Wohnungsbestände gen waren meist Private-Equity-Fonds.“ (Metz- und der Finanzialisierung ger, 2020, S. 131) des Mietwohnungsmarktes Folglich war die hierzulande später als in den Auf dem deutschen Mietwohnungsmarkt ha- angelsächsischen Staaten einsetzende Finanzi- ben Wohnimmobilien-AGs zuletzt erheblich an alisierung des Immobilienmarktes kein Rück- Bedeutung gewonnen. Sie erreichen zwar nur zug des Staates aus diesem Bereich, sondern ein einen Marktanteil von etwa vier Prozent, dieser rasanter Aufstieg besonders kapitalkräftiger konzentriert sich jedoch auf die lukrativen Me- Eigentümer, der von Parlament, Regierung und tropolregionen, weil Konzerne wie Deutsche Verwaltung unterstützt wurde. Wohnen, LEG und Vonovia nicht in der Fläche Philipp P. Metzger (2020, S. 228) hat die Fi- präsent sind (vgl. Metzger, 2020, S. 194). Der nanzialisierung des Mietwohnungsmarktes von „Deutsche Annington“ in „Vonovia“ um- in der Bundesrepublik mit jener in den USA benannte Immobilienriese gehört seit 2015 zu verglichen und auf einen wesentlichen Unter- den 30 wertvollsten börsennotierten Konzer- schied hingewiesen: Während sie in den Ver- nen, die im Deutschen Aktienindex (Dax) gelistet einigten Staaten eine stärker individualisierte sind, und seit 2020 sogar zu den größten bör- Form angenommen und zu einer „Eigentümer- sennotierten Konzernen Europas, gelistet im nation privat verschuldeter Haushalte“ geführt Euro Stoxx 50. Seine exorbitanten Profite erwirt- habe, sei die Finanzialisierung in Deutschland schaftete das Unternehmen durch Luxussanie- auf eine Mieternation getroffen, weshalb weni- rungen und Wertsteigerungen seines wachsen- ge große Unternehmen als Hauptakteure do- den Immobilienbestandes, rüde Methoden der miniert hätten, ohne dass sich Privathaushalte „Entmietung“ und gesetzlich erlaubte Mieter- maßlos überschulden mussten. höhungen von bis zu elf bzw. acht Prozent nach Seit dem 1. Januar 2004 sind auch in Deutsch- Modernisierungsmaßnahmen. land die in den USA kurz nach dem Zweiten Auch die Deutsche Wohnen, der vor allem in Weltkrieg entstandenen Hedgefonds, seit dem der Bundeshauptstadt und im Rhein-Main-Ge- 1. Januar 2007 auch die sog. REITs („Real Estate biet viele Mietshäuser gehören, schaffte es nach Investment Trusts“) gesetzlich zugelassen, wel- Gewinneinbußen der Lufthansa während der che in den USA bereits 1960 eingeführt wurden. Covid-19-Pandemie in den Dax. Seither droh- Dabei handelt es sich um steuerbegünstigte ten ihren Mieter(inne)n aufgrund der hohen Immobilien-Aktiengesellschaften, denen zwar Renditeerwartungen ausländischer Investoren der Kauf von Bestandsimmobilien verboten und großer Vermögensverwalter einerseits war, durch deren Geschäftsmodell sich der Pri- noch rigidere Praktiken des Immobilienkon- vatisierungsdruck aber weiter erhöhte. Obwohl zerns. Andererseits entschied sich die Unter- stadtentwicklungs-, sozial- und demokratiepo- nehmensspitze aufgrund des Negativimages litische Argumente, die Sebastian Klus (2020, S. und des am 26. September 2021 erfolgreichen 89) rekapituliert, gegen eine Privatisierung öf- Berliner Volksbegehrens „Deutsche Wohnen fentlicher Wohnungsbestände sprachen, haben & Co. enteignen!“ offenbar für einen weniger der Bund, aber auch manche Länder und viele rücksichtslosen Umgang mit den Mieter(inne)n. Kommunen, dem neoliberalen Zeitgeist gehor- Hier dürfte auch ein Grund dafür liegen, dass chend, teilweise ihren gesamten Wohnungsbe- Vonovia und Deutsche Wohnen im Mai 2021 be- stand – häufig sogar zu Schleuderpreisen – an kanntgaben, nach der Billigung durch das Bun- US-amerikanische Investmentgesellschaften, deskartellamt und die Aktionäre per Megafu- internationale Finanzinvestoren und börsenno- sion den größten Immobilienkonzern Europas tierte Immobilienkonzerne verkauft. Dadurch bilden zu wollen, was ihnen im dritten Anlauf beraubten sich die Gebietskörperschaften auf gelang. Jahrzehnte selbst der Möglichkeit, eine zielge- Die meisten Kapitalanleger fürchteten nach richtete Stadtentwicklungspolitik zu machen der globalen Finanz-, Weltwirtschafts- und und vor allem die Wohnungsversorgung ein- europäischen Währungskrise 2007/08 und da- kommensschwacher Bevölkerungsgruppen zu nach weitere Bankpleiten und Börsenzusam- sichern. menbrüche, weshalb „Betongold“ in der Fol- gezeit immer beliebter wurde. Aufgrund des Immobilienbooms nach dieser schockartigen Krisenerfahrung hat sich die sozioökonomi- sche Ungleichheit in Deutschland verschärft. Da sich das Immobilieneigentum bei Wohlha- benden, Reichen und Hyperreichen (Hochver- rausch, 10. Jahrgang, 4-2021
Materielle Ungleichheit, „Mietenwahnsinn“ und Wohnungsnot 19 mögenden) konzentriert, haben die Wertsteige- schärft, als eine Umverteilung von unten nach rungen bei Häusern und Wohnungen erheblich oben stattfindet.“ (Hubeli, 2020, S. 100) zur Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich beigetragen. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Sozialwohnun- Vor allem in attraktiven Stadtlagen stiegen gen seit mehreren Jahrzehnten kontinuierlich. die Immobilienpreise und in deren Gefolge Momentan fallen jährlich dreimal mehr Sozial- die Mieten zum Teil drastisch. BlackRock & Co. wohnungen aus der Mietpreis- und Belegungs- haben als Eigentümer und Vermieter riesiger bindung heraus, als neu hinzukommen. Gab Wohnungskomplexe maßgeblich zur Mietenex- es zur Jahrtausendwende immerhin über 2.5 plosion in deutschen Städten beigetragen (vgl. Millionen öffentlich geförderte Wohneinheiten, Buchter, 2020, S. 26 ff.; Rügemer, 2020, S. 47 ff.). waren es nach Angaben der Bundesregierung Neben seinem Engagement im Bereich der Ge- am 31. Dezember 2019 nur noch 1.14 Millionen. werbeimmobilien stieg BlackRock auch in den Mit der am 1. September 2006 in Kraft getre- Wohnungsbau ein. Internationale Finanzin- tenen Föderalismusreform hat sich der Bund vestoren haben fortan mit deutschen Immobi- zunächst ganz aus diesem Bereich zurückge- lien spekuliert und diesen für die Bevölkerung zogen. Zwar wurden die den Ländern für eine existenzwichtigen Lebensbereich noch stärker Übergangszeit zugesagten Kompensationsmit- ihrer Profitlogik unterworfen. Mit den Eigentü- tel im Gefolge der „Flüchtlingskrise“ 2015/16 merstrukturen auf dem Mietwohnungsmarkt mehr als verdoppelt, dadurch ließ sich der veränderten sich auch die Geschäftspraktiken Niedergang des Sozialen Wohnungsbaus aber der Vermieter. Während private Kleinvermie- nicht aufhalten. ter/innen häufig nur dann Mieterhöhungen Andrej Holm bemängelt allerdings zu vornehmen, wenn nach langer Zeit ein Mieter- Recht, dass Sozialwohnungen in Deutschland wechsel erfolgt, schöpfen Immobilienkonzer- nur für eine gewisse Zeit der Mietpreis- und ne auch gegenüber Bestandsmieter(inne)n den Belegungsbindung unterliegen. Er hält den so- rechtlichen Rahmen für Wohnungsmodernisie- zialen Wohnungsbau nicht für ein effektives rungen und Mieterhöhungen voll aus, um die Förderinstrument, weil das Zweifache des Bau- Rendite ihrer (Groß-)Aktionäre zu erhöhen. preises an die finanzierenden Banken einerseits Ein weiterer Hauptpreistreiber auf dem und die Eigentümer zwecks Sicherung der Ei- deutschen Mietwohnungsmarkt ist Airbnb, ein genkapitalverzinsung andererseits fällig werde: US-amerikanisches Internetportal zum Ver- mieten von Wohnungen an Tourist(inn)en, „Die öffentliche Hand zahlt doppelt für etwas, welches ursprünglich „Airbedandbreakfast“ das schon nach wenigen Jahren einem Privat- (Luftmatratze und Frühstück) hieß und dessen mann oder einer Investitionsgesellschaft ge- Geschäftsmodell für eine spürbare Reduktion hört.“ (Holm, 2014, S. 163) des Wohnungsbestandes in begehrten Orten der Bundesrepublik gesorgt hat, sofern diese nicht – wie etwa Düsseldorf – die Zweckent- Gegenmaßnahmen fremdung eines Teils ihres regulären Miet- von einer Bodenreform wohnraumbestandes durch Verabschiedung über die Mietpreisbremse einer Wohnraumschutzsatzung verhinderten. bis zum öffentlichen Wohnungsbau Nach den Immobilienpreisen stiegen kei- neswegs nur in bevorzugten Stadtlagen auch Raumordnungs-, Stadtentwicklungs- und die Mieten für Normal- und Geringverdiener/ Wohnungspolitik dürfen nicht an den Kapi- innen. Längst müssen viele Haushalte einen talverwertungsinteressen von (Groß-)Inves- Großteil ihres Einkommens für Mietzahlun- toren, müssen vielmehr an den Bedürfnissen gen aufwenden, was ihnen nur einen geringen der (potenziellen) Bewohner/innen von Stadt- Spielraum für Anschaffungen und andere not- teilen orientiert sein. Ertragserwartungen von wendige Ausgaben lässt. Mieter/innen wurden Finanzinvestoren und Wohnbedürfnisse von gewissermaßen enteignet, weil sie in dieser Mieter(inne)n sind weitgehend unvereinbar. Phase extrem niedriger Hypothekenzinsen kei- Kaum irgendwo versagt das kapitalistische ne adäquaten Einkommenszuwächse verzeich- Wirtschaftssystem m. E. so eklatant wie bei der neten. Wohnungsversorgung. Da sich der Markt als unfähig erwiesen hat, „Wenn Miet- und Bodenpreise (trotz billigen eine adäquate Wohnungsversorgung für alle Geldes) steigen, wird das Einkommen lohnab- Bevölkerungsschichten sicherzustellen, muss hängiger Mieter/innen in Kapital- und Boden- sie als öffentliche Aufgabe begriffen und vom vermögen transferiert. Das heißt, dass sich die Staat aus Gründen der sozialen Verantwortung Enteignung der Mieter/innen insofern ver- für seine Bürger/innen gewährleistet werden, rausch, 10. Jahrgang, 4-2021
20 Ch. Butterwegge dass niemand wegen seines geringen Vermö- „Es kann nicht angehen, dass Bodeneigentümer gens und seines zu niedrigen Einkommens für jeden öffentlichen Eingriff Entschädigung auf der Strecke bleibt. Statt die „immobilien- erhalten, die Gewinne, die ihnen durch öffentli- wirtschaftliche Landnahme“ deutscher Städte che Entscheidung, also beispielsweise durch die zu fördern, müssen Parlamente, Regierungen Zuerkennung von Baurecht, erwachsen, aber für und Verwaltungen laut Andrej Holm (2014, S. sich behalten können.“ 171 f.) den „Ausstieg aus einer profitorientier- ten Wohnungspolitik“ vollziehen. Dies fällt den Mit einer Bodenwertzuwachssteuer könnte politisch Verantwortlichen immer schwerer, man die Spekulation mit Grundstücken weni- weil die Macht der Immobilienwirtschaft und ger lukrativ machen und leistungslose Gewin- der großen Wohnungsunternehmen ständig ne abschöpfen. Durch erweiterte Satzungsbe- wächst. fugnisse würden die Kommunen in die Lage Der ehemalige Münchner Oberbürgermeis- versetzt, die Stadtentwicklung effektiver im ter und spätere Bundesminister für Raumord- Sinne des Gemeinwohls mitzugestalten. nung, Bauwesen und Städtebau, Hans-Jochen Mit einer halbherzigen „Mietpreisbremse“ Vogel, hat bis zu seinem Tod im Juli 2020 im- für Teilwohnungsmärkte, die CDU, CSU und mer wieder die zentrale Bedeutung des Bodens SPD zum 1. Juni 2015 eingeführt, aufgrund und der Bodenpreise hervorgehoben. Da es unbefriedigender Erfahrungen mit diesem In- sich beim Grund und Boden um eine „Grund- strument zweimal „nachgeschärft“ und gleich- voraussetzung menschlicher Existenz“ handle, zeitig bis zum 31. Dezember 2025 verlängert die man nicht „dem unübersehbaren Spiel der haben, ist das Problem des Wohnungsmangels Marktkräfte“ überlassen könne, müsse hier poli- für Einkommensschwache jedenfalls nicht zu tisch angesetzt werden, wolle man das Problem lösen. Die mancherorts geradezu skandalösen der Preisexplosion im Wohnungsbereich lösen, Zustände auf dem Mietwohnungsmarkt kön- meinte Vogel (Vogel, 2019, S. 48): nen nur durch eine grundlegende Kurskorrek- tur in der Wohnungspolitik beseitigt werden. „Die Wertschätzung des knappen und unent- Da sich Räumungsklagen und Zwangsräu- behrlichen Gutes Boden darf sich nicht länger in mungen ausgerechnet in den Großstädten mit spekulativen Gewinnerwartungen ausdrücken, ihren angespannten Mietwohnungsmärkten sollte vielmehr im Sinne einer nachhaltigen und seit geraumer Zeit mehren (vgl. Holm, 2014, S. gemeinwohlorientierten Nutzung erfolgen, die 121), ist die Verankerung eines „Grundrechts den Boden als wesentliche Grundlage der Da- auf Wohnraum“ in der Verfassung überfällig, seinsvorsorge sowohl für die heutige Bevölke- für das Frank-Walter Steinmeier zu Beginn der rung als auch für die kommenden Generationen 1990er Jahre in seiner juristischen Dissertation anerkennt.“ „Das polizeiliche Regime in den Randzonen sozia- ler Sicherung. Eine rechtswissenschaftliche Unter- Folgerichtig schlug der SPD-Politiker eine suchung über Tradition und Perspektiven zur Ver- Kommunalisierung vor, d. h. die Überführung hinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit“ wohnbaurelevanter Grundstücke in Gemeinde- plädiert hat. Staat und Behörden müssten, for- eigentum. derte der spätere deutsche Außenminister und Bundespräsident Steinmeier (1992, S. 394 f.), „Sie scheiden damit aus den Markt-Gütern aus, per Grundgesetzauftrag „zum Bau und Erhalt deren Preise mit der Absicht des Wertzuwachses preisgünstigen Wohnraums für breite Bevölke- und des Vermögensgewinnes nach den Regeln rungskreise“ verpflichtet werden, und es dürfe von Angebot und Nachfrage in die Höhe getrie- keine Wohnung z. B. wegen aufgelaufener Miet- ben werden. Denn ihre Wertsteigerung kommt schulden geräumt werden, bevor nicht „zumut- nur noch den Gemeinden zugute.“ (Vogel, 2019, barer Ersatzwohnraum“ zur Verfügung stehe. S. 71) Zweckmäßiger als eine Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus in der überkommenen Zu einer neuen und gerechten Bodenordnung Form wären die Ausweitung des öffentlichen gehörte für Vogel, dass eine Gemeinde woh- Wohnungsbaus, sinnvollerweise ergänzt durch nungsrelevantes Eigentum nicht mehr an Pri- eine soziale Mietpreisgestaltung, sowie eine vatleute verkauft, sondern bloß noch in Erb- Wiederherstellung der Wohnungsgemeinnüt- pacht vergibt, damit sie die Kontrolle über den zigkeit, um die Aktivitäten genossenschaftli- Boden behält. cher und kommunaler Wohnungsbaugesell- Ergänzend befürwortete Vogel (2019, S. 33) schaften staatlicherseits zu stimulieren. Andrej die Einführung eines Planungswertausgleichs, Holm, Sabine Horlitz und Inga Jensen (2017, was er mit „ganz elementaren Gerechtigkeitser- S. 22 ff.) nennen fünf Prinzipien einer Neuen wägungen“ begründete: Wohnungsgemeinnützigkeit, wie sie es nennen: rausch, 10. Jahrgang, 4-2021
Materielle Ungleichheit, „Mietenwahnsinn“ und Wohnungsnot 21 1. Gewinnbeschränkung und Orientierung an Butterwegge, Ch. (2021). Ungleichheit in der Klassen- den Aufwendungskosten; gesellschaft (2. Aufl.). Köln: PapyRossa. 2. die Inhaber/innen eines Wohnberechti- Dillmann, R. & Schiffer-Nasserie, A. (2018). Der gungsscheins und besonderer Diskriminie- soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Ver- rung unterliegende Personen wie Menschen waltung. Hamburg: VSA. mit Migrationshintergrund oder Geflüchte- Disslbacher, F. & Mokre, P. (2020, 26.05.). HFCS – te, Alleinerziehende, kinderreiche Familien Licht im Dunkeln der Vermögensverteilung. oder aus therapeutischen Einrichtungen Makronom. Abgerufen von https://makronom. entlassene Menschen als Zielgruppe ge- de/hfcs-licht-im-dunkeln-der-vermoegens meinnütziger Wohnungsunternehmen; verteilung-36058 3. die Leistbarkeit der Wohnkosten und ein- European Central Bank. (2020,). The household kommensabhängige Miethöhen; finance and consumption survey – wave 2017. 4. die Zweckbindung der Mittel und revolvie- Statistical tables. Frankfurt a. M. Abgerufen render Fonds; von https://www.ecb.europa.eu/home/pdf/ 5. Mietermitbestimmung. research/hfcn/HFCS_ Statistical_Tables_ Würden die Kommunen in Deutschland fi- Wave_2017.pdf?906e702b7b7dd3eb0f28ab5582 nanziell dazu in die Lage versetzt, könnten sie 47efc5 durch eigene Bautätigkeit mehr Wohnungen für Fratzscher, M. (2016). Verteilungskampf. Warum auf einem preisbildenden Markt eher Chancen- Deutschland immer ungleicher wird. München: lose schaffen. Außerdem sollten die bestehen- Hanser. den Gestaltungsspielräume der kommunalen Grabka, M. M. & Westermeier, Ch. (2014). Anhal- Wohnungspolitik von den Städten konsequen- tend hohe Vermögensungleichheit in Deutsch- ter genutzt werden. Beispielsweise kann die land. DIW Wochenbericht, 9, 151–164. Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnun- Heeg, S. (2018). Die gebaute Umwelt als Finanz- gen durch Soziale Erhaltungs- bzw. Milieu- anlage. Instutionelle Investoren als Stadtge- schutzsatzungen und Nutzung des kommuna- stalter. In B. Emunds, C. Czingon & M. Wolff len Vorkaufsrechtes ebenso erschwert werden (Hrsg.), Stadtluft macht reich/arm. Stadtentwick- wie die Verdrängung einkommensschwacher lung, soziale Ungleichheit und Raumgerechtigkeit Bevölkerungsschichten aus den Innenstädten (S. 105–124). Marburg: Metropolis. mittels Luxusmodernisierungen. Helbig, M. & Jähnen, S. (2018). Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? – Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städ- Literatur ten (Discussion Paper P 2018-001). Wissen- schaftszentrum Berlin für Sozialforschung Albers, T. N. H., Bartels, C. & Schularick, M. (2020, Holm, A. (2014). Mietenwahnsinn. Warum Wohnen 8. März). The distribution of wealth in Germa- immer teurer wird und wer davon profitiert. Mün- ny, 1895–2018. (ECONtribute Policy Brief 1). chen: Knaur Universität Bonn/Universität zu Köln. Holm, A., Horlitz, S. & Jensen, I. (2017). Neue Woh- Baldenius, T., Kohl, S. & Schularick, M. (2019). Die nungsgemeinnützigkeit. Voraussetzungen, Modelle neue Wohnungsfrage. Gewinner und Verlierer des und erwartete Effekte (2. Aufl.). Berlin: Rosa-Lu- deutschen Immobilienbooms. Macrofinance Lab. xemburg-Stiftung. Universität Bonn. Hubeli, E. (2020). Die neue Krise der Städte. Zur Bartels, C. (2018). Einkommensverteilung in Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert. Zürich: Rot- Deutschland von 1871 bis 2013: erneut steigen- punkt. de Polarisierung seit der Wiedervereinigung. Kersten, J., Neu, C., Vogel, B. (2019). Gleichwerti- DIW Wochenbericht, 3, 51–58. ge Lebensverhältnisse – für eine Politik des Bontrup, H. J. (2018). Wohnst du noch…? – Immobili- Zusammenhalts. Aus Politik und Zeitgeschichte. enwirtschaft und Mieten kritisch betrachtet. Ham- Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 46, S. burg: VSA. 4–11. Buchter, H. (2020). BlackRock. Eine heimliche Welt- Klus, S. (2020). Die Privatisierung kommunaler macht greift nach unserem Geld (2. Aufl.). Frank- Wohnungsbestände als Herausforderung für furt a. M.: Campus. die europäische Stadt. In B. Schönig & L. Voll- Butterwegge, C. & Butterwegge, Ch. (2021). Kinder mer (Hrsg.), Wohnungsfragen ohne Ende? – Res- der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer sourcen für eine soziale Wohnraumversorgung (S. Zukunft beraubt. Weinheim: Beltz Juventa. 83–95). Bielefeld: transcript. Butterwegge, Ch. (2020). Die zerrissene Republik. Krüger, S. (2017). Soziale Ungleichheit. Private Ver- Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleich- mögensbildung, sozialstaatliche Umverteilung und heit in Deutschland (2. Aufl.). Weinheim: Beltz Klassenstruktur. Hamburg: VSA. Juventa. rausch, 10. Jahrgang, 4-2021
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