NATHAN DER WEISE von Gotthold Ephraim Lessing Inszeniert von Nicolas Brieger - Hessisches Staatstheater Wiesbaden

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NATHAN DER WEISE von Gotthold Ephraim Lessing Inszeniert von Nicolas Brieger - Hessisches Staatstheater Wiesbaden
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                          NATHAN DER WEISE
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                                                      Inszeniert von Nicolas Brieger

Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
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Liebe Pädagog*innen, liebe Theaterfreund*innen,
vielen Dank für Ihr Interesse an unserer Inszenierung von »Nathan der Weise«!

Gotthold Ephraim Lessings »dramatisches Gedicht« ist über 200 Jahre alt und immer noch

hochaktuell. Es beschäftigt sich mit Toleranz und Menschlichkeit und dem Zusammenleben

der Kulturen und Religionen. Regie-Altmeister Nicolas Brieger bringt das Werk nun im

Kleinen Haus des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden auf die Bühne.

Diese Materialmappe soll Sie darin unterstützen, sich und ihre Gruppe auf den

Theaterbesuch einzustimmen. Sie beinhaltet Hintergrundinformationen über das Werk und

seinen Autor, die aktuelle Inszenierung von Nicolas Brieger sowie über die Thematik des

Stücks. Außerdem haben wir für Sie einige Anregungen und Tipps für die Vor- und

Nachbereitung Ihres Theaterbesuchs zusammengestellt. Wenn Sie dazu Fragen haben, setzen

Sie sich gerne mit uns in Verbindung.

Wir empfehlen »Nathan der Weise« ab 14 Jahren.

Damit wünschen wir Ihnen einen wunderbaren Theaterbesuch und freuen uns über jede

Rückmeldung, Anregung oder Meinung.

Viel Spaß im Theater!

                 Hessisches Staatstheater Wiesbaden

                 Christian-Zais-Straße 3

                 Tel. +49 (0) 611.132 272
                 dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /just@staatstheater-wiesbaden.de

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Inhaltsverzeichnis
1.       Welches Fach passt? …………………………………………..                                                                4

2.       Das Stück …………………………………………………….. .                                                                    5

3.       Die Inszenierung ………………………………………………                                                                   12

4.       Thematik und Hintergrund ………………………………….                                                               15

5.       Ideen zur Vor- und Nachbereitung ………………………….                                                          23

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1. Welches Fach passt?

FACH                              Anknüpfungsmöglichkeiten an die hessischen Lehrpläne

Fächerübergreifende               Kulturelle Praxis ;

Aufgabengebiete                   Friedens- und Menschenrechtserziehung

Deutsch                           Umgang mit literarischen Texten; Lesen in verteilten Rollen und

                                  szenische Darstellung; Textsorten – Drama; Besuch einer

                                  Theateraufführung

Kunst                             Wahrnehmung; Umgang mit Kunst (Bühnenbild, Werkanalyse)

Darstellendes Spiel               Wahrnehmung; Inszenierungsanalyse; Theatergeschichte:

                                  Theater der Aufklärung; szenische Darstellung

Politik und Wirtschaft            Individuum & Gesellschaft; Menschenrechte; Friedenssicherung

Geschichte                        Aufklärung und Humanismus

Religion                          Religion und Weltdeutung; Weltreligionen, Religion und

                                  Gewalt, Frieden

Ethik                             Religion, Wahrheit und Erkenntnis; Identität

Philosophie                       Vernunft & Glaube; Individuum & Gesellschaft; Freiheit &

                                  Herrschaft; Metaphysik, Ethik

         Recha: »Wem eignet Gott? Was ist das für ein
         Gott, /Der einem Menschen eignet? Der für sich
         /Muß kämpfen lassen?«

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2. Das Stück
»Nathan der Weise« ist ein fünfaktiges Ideendrama von Gotthold Ephraim Lessing, das 1779

veröffentlicht und am 14. April 1783 in Berlin uraufgeführt wurde. Themenschwerpunkt ist

der Toleranzgedanke und die Frage nach einem friedlichen Zusammenleben der Kulturen

und Religionen. Besondere Berühmtheit erlangte das Stück vor allem mit der sogenannten

»Ringparabel« im Dritten Aufzug. Der Aufbau des Werkes, das in Blankversen verfasst ist,

folgt den Regeln des klassischen Dramas.

         2.1 Die Handlung
»Nathan der Weise« spielt in Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge: Alle Kriegsparteien erheben

Anspruch auf die heiligen Stätten, leiten doch Juden, Christen und Muslime den Ursprung

ihres jeweiligen Glaubens von hier ab. Aber es geht auch um Handfesteres: Handelswege,

Geschäftsinteressen. Mitten in den Wirren der Auseinandersetzungen kommt der Jude

Nathan von einer Geschäftsreise nach Hause und erfährt, dass seine Tochter Recha von

einem jungen christlichen Tempelherrn aus den Flammen seines brennenden Hauses gerettet

wurde. Der Tempelherr wiederum verdankt sein Leben dem muslimischen Herrscher

Jerusalems, Sultan Saladin. Dieser hat den Tempelherrn begnadigt, weil er seinem Bruder

ähnlich sieht. Saladin selbst hat große Geldprobleme. Er erfährt, dass Nathan sehr reich ist

und will Geld von ihm leihen. Um ihn in die Enge zu treiben, stellt er ihm eine Aufgabe: Er

will wissen, welche der drei Religionen Judentum, Christentum und Islam die richtige sei.

Nathan antwortet ihm mit einer Geschichte, der sogenannten Ringparabel (s.u.). Saladin ist

beeindruckt von Nathans Antwort und bittet ihn, sein Freund sein zu dürfen. Nathan willigt

ein und gewährt ihm darüber hinaus, ohne darum gebeten worden zu sein, ein großzügiges

Darlehen. Als der Tempelherr auf Recha trifft, verliebt er sich Hals über Kopf in sie und hält

bei Nathan um ihre Hand an. Doch Nathan reagiert zögerlich, denn der Tempelherr erinnert

auch ihn an jemanden. Über Umwege stellt sich schließlich heraus, dass die von einem Juden

erzogene Recha und der christliche Tempelherr nicht nur Geschwister, sondern auch die

Kinder von Saladins Bruder sind. Die drei Weltreligionen vereinen sich in einer Familie,

»unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang«.

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         2.2 Der Autor und die Entstehungsgeschichte
                              Gotthold Ephraim Lessing war ein bedeutender Dichter der

                              deutschen Aufklärung. Mit Dramen wie »Minna von Barnhelm«,

                              »Emilia Galotti« und eben »Nathan der Weise« sowie seinen

                              kunsttheoretischen Schriften (»Laokoon«, »Hamburgische

                              Dramaturgie«) hat er der weiteren Entwicklung des Theaters einen

                              wesentlichen Weg gewiesen (s.a. Interview mit der Dramaturgin

                              Katharina Gerschler). Geboren wird Lessing am 22. Januar 1729 als

                              Sohn eines Pfarrers und einer Pfarrerstochter in Kamenz in der

Oberlausitz. Schon früh erhält er Hausunterricht und besucht dann die die Lateinschule und

später die Fürstliche Landesschule St. Afra in Meißen. Erste schriftstellerische Versuche

Lessings reichen in diese Zeit zurück. 1746 schreibt sich Lessing auf Wunsch seines Vaters

für ein Theologiestudium an der Leipziger Universität ein, wendet sich jedoch – zum

Leidwesen seiner Eltern - mit weitaus größerem Interesse der Literatur und dem Schreiben

zu und nutzt jeden Groschen, den er übrig hat, um ins Theater zu gehen. Schließlich erlaubt

der Vater, dass Lessing das Fach wechselt und Lessing beginnt 1748 ein Studium der

Medizin – zunächst in Leipzig, dann in Wittenberg. Hier gerät er bald in Schwierigkeiten,

bricht sein Studium ab und siedelt nach Berlin über, wo er als Rezensent und Redakteur

arbeitet und sich nebenbei dem Schreiben von Stücken widmet. Ab 1751 konzentriert er sich

noch einmal auf sein Studium in Wittenberg, das er 1752 mit der Magisterwürde abschließt

und geht dann nach Berlin zurück, wo er an sein altes Literatenleben als Redakteur,

Übersetzer, Herausgeber anknüpft. Der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn (von dem

immer wieder angenommen wird, er sei eine Art Vorbild für den Nathan) wird sein

lebenslanger Freund und Diskussionspartner, etwas später komplettiert der Verleger und

Kritiker Friedrich Nicolai das Kleeblatt. 1755 kehrt Gotthold Ephraim Lessing nach Leipzig

zurück, um schon ein Jahr später wieder nach Berlin zu gehen. Dort veröffentlicht Lessing

zusammen mit Mendelssohn und Friedrich Nikolai Briefe zur neuesten Literatur. Lessing,

der sich mehr und mehr der Literatur widmet und nun in Berlin als freier Schriftsteller lebt,

wird 1767 Dramaturg und Berater am Hamburger Nationaltheater, wo Lessings Stück

»Minna von Barnhelm« uraufgeführt wird. In Hamburg lernt Gotthold Ephraim Lessing

auch seine spätere Frau Eva König kennen und verfasst die »Hamburgische Dramaturgie«.

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Nachdem das Hamburger Nationaltheater aus finanziellen Gründen 1770 schließen muss,

geht Lessing nach Wolfenbüttel. Dort arbeitet er als Bibliothekar in der Herzog August

Bibliothek und gibt ab 1774 die christentumskritischen Schriften des Hamburger

Orientalisten Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) heraus, der einen unreflektierten und

widervernünftigen christlichen Glauben an Offenbarungen und Wunder scharf kritisierte.

Lessing geht es bei der Herausgabe nicht so sehr um den Inhalt, sondern vielmehr um den

Anspruch, auf breiter Basis über religionskritische Thesen diskutieren zu dürfen. Daher

stellt er der Publikation seine »Gegensätze des Herausgebers« an die Seite, in denen er sich

kritisch von den Thesen distanziert. Trotzdem wird Lessing für den Inhalt der Fragmente

verantwortlich gemacht und die Veröffentlichung bringt ihn in große Schwierigkeiten mit

orthodoxen Kirchenleuten. Sein bedeutendster und schärfster Gegner war der Hamburger

Hauptpastor Goeze. Im später sogenannten »Fragmentenstreit« bekriegen sich die beiden

Männer aufs Heftigste und die von beiden Seiten zunehmend polemisch geführte

publizistische Auseinandersetzung mündet schließlich 1778 darin, dass Lessing mit einem

Publikationsverbot »in Sachen der Theologie« belegt wird. Auf diese Zensuranordnung

reagiert Lessing, indem er die Auseinandersetzung auf die Bühne verlegt:

         »Ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater

                           wenigstens, noch ungestört will predigen lassen«,
schreibt Lessing in einem Brief an Reimarus‘ Tochter. So entsteht 1779 der »Nathan«. In dem

Drama lassen sich zahlreiche Bezüge nachweisen, die auf die Lebensumstände hindeuten, in

denen sich Lessing bei der Abfassung befunden hat. Neben der religionskritischen

Auseinandersetzung, die das Thema und die Aussage des Dramas maßgeblich bereitgestellt

hat, finden wir in der Geschichte Nathans, der seine Familie verliert (s.u. »Das Massaker von

Gath«) auch die leidvolle Erfahrung Lessings wieder: 1776 heiratet er Eva König, doch der

Ehe ist nur kurzes Glück gegönnt: 1777 stirbt ihr neugeborener Sohn, wenige Wochen später

stirbt auch Eva im Kindbettfieber. Lessing selbst stirbt noch vor der Uraufführung seines

»Nathan« am 15. Februar 1781 an einem Hirnschlag in Braunschweig.

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2.3 Stückauszug: Die Ringparabel
NATHAN
Vor grauen Jahren lebt' ein Mann in Osten,
Der einen Ring von unschätzbarem Wert
Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein
Opal, der hundert schöne Farben spielte,
Und hatte die geheime Kraft, vor Gott
Und Menschen angenehm zu machen, wer
In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder,
Daß ihn der Mann in Osten darum nie
Vom Finger ließ; und die Verfügung traf,
Auf ewig ihn bei seinem Hause zu
Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring
Von seinen Söhnen dem geliebtesten;
Und setzte fest, daß dieser wiederum
Den Ring von seinen Söhnen dem vermache,
Der ihm der liebste sei; und stets der liebste,
Ohn' Ansehn der Geburt, in Kraft allein
Des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde.--
Versteh mich, Sultan.

SALADIN
Ich versteh dich. Weiter!

NATHAN
So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn,
Auf einen Vater endlich von drei Söhnen;
Die alle drei ihm gleich gehorsam waren,
Die alle drei er folglich gleich zu lieben
Sich nicht entbrechen konnte. Nur von Zeit
Zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald
Der dritte,--sowie jeder sich mit ihm
Allein befand, und sein ergießend Herz
Die andern zwei nicht teilten,--würdiger
Des Ringes; den er denn auch einem jeden
Die fromme Schwachheit hatte, zu versprechen.
Das ging nun so, solang es ging.--Allein
Es kam zum Sterben, und der gute Vater
Kömmt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwei
Von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort
Verlassen, so zu kränken.--Was zu tun?--
Er sendet in geheim zu einem Künstler,
Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes,
Zwei andere bestellt, und weder Kosten

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Noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich,
Vollkommen gleich zu machen. Das gelingt
Dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt,
Kann selbst der Vater seinen Musterring
Nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft
Er seine Söhne, jeden insbesondre;
Gibt jedem insbesondre seinen Segen,--
Und seinen Ring,--und stirbt.--Du hörst doch, Sultan?

SALADIN
Ich hör, ich höre!--Komm mit deinem Märchen
Nur bald zu Ende.--Wird's?

NATHAN
Ich bin zu Ende.
Denn was noch folgt, versteht sich ja von selbst.--
Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder
Mit seinem Ring, und jeder will der Fürst
Des Hauses sein. Man untersucht, man zankt,
Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht
Erweislich;--
(nach einer Pause, in welcher er des Sultans Antwort erwartet)
Fast so unerweislich, als
Uns itzt--der rechte Glaube.

SALADIN
Wie? das soll
Die Antwort sein auf meine Frage?...

NATHAN
Soll
Mich bloß entschuldigen, wenn ich die Ringe
Mir nicht getrau zu unterscheiden, die
Der Vater in der Absicht machen ließ,
Damit sie nicht zu unterscheiden wären.

SALADIN
Die Ringe!--Spiele nicht mit mir!--Ich dächte,
Daß die Religionen, die ich dir
Genannt, doch wohl zu unterscheiden wären.
Bis auf die Kleidung, bis auf Speis' und Trank!

NATHAN
Und nur von seiten ihrer Gründe nicht.
Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte?
Geschrieben oder überliefert!--Und
Geschichte muß doch wohl allein auf Treu
Und Glauben angenommen werden?--Nicht?--

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Nun, wessen Treu und Glauben zieht man denn
Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?
Doch deren Blut wir sind? doch deren, die
Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe
Gegeben? die uns nie getäuscht, als wo
Getäuscht zu werden uns heilsamer war?--
Wie kann ich meinen Vätern weniger
Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt.--
Kann ich von dir verlangen, daß du deine
Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht
Zu widersprechen? Oder umgekehrt.
Das nämliche gilt von den Christen. Nicht?--
Laß auf unsre Ring'
Uns wieder kommen. Wie gesagt: die Söhne
Verklagten sich; und jeder schwur dem Richter,
Unmittelbar aus seines Vaters Hand
Den Ring zu haben.--Wie auch wahr!--Nachdem
Er von ihm lange das Versprechen schon
Gehabt, des Ringes Vorrecht einmal zu
Genießen.--Wie nicht minder wahr!--Der Vater,
Beteurt' jeder, könne gegen ihn
Nicht falsch gewesen sein; und eh' er dieses
Von ihm, von einem solchen lieben Vater,
Argwohnen lass': eh' müss' er seine Brüder,
So gern er sonst von ihnen nur das Beste
Bereit zu glauben sei, des falschen Spiels
Bezeihen; und er wolle die Verräter
Schon auszufinden wissen; sich schon rächen.

SALADIN
Und nun, der Richter?--Mich verlangt zu hören,
Was du den Richter sagen lässest. Sprich!

NATHAN
Der Richter sprach: Wenn ihr mir nun den Vater
Nicht bald zur Stelle schafft, so weis ich euch
Von meinem Stuhle. Denkt ihr, daß ich Rätsel
Zu lösen da bin? Oder harret ihr,
Bis daß der rechte Ring den Mund eröffne?--
Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring
Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen;
Vor Gott und Menschen angenehm. Das muß
Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden
Doch das nicht können!--Nun; wen lieben zwei
Von Euch am meisten?--Macht, sagt an! Ihr schweigt?
Die Ringe wirken nur zurück? und nicht
Nach außen? Jeder liebt sich selber nur
Am meisten?--Oh, so seid ihr alle drei

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Betrogene Betrüger! Eure Ringe
Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring
Vermutlich ging verloren. Den Verlust
Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater
Die drei für einen machen.

SALADIN
Herrlich! herrlich!

NATHAN
Und also, fuhr der Richter fort, wenn ihr
Nicht meinen Rat, statt meines Spruches, wollt:
Geht nur!--Mein Rat ist aber der: ihr nehmt
Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von
Euch jeder seinen Ring von seinem Vater:
So glaube jeder sicher seinen Ring
Den echten.--Möglich; daß der Vater nun
Die Tyrannei des einen Rings nicht länger
In seinem Hause dulden willen!--Und gewiß;
Daß er euch alle drei geliebt, und gleich
Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen,
Um einen zu begünstigen.--Wohlan!
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag
Zu legen!

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3. Die Inszenierung

         3.1 Die Besetzung
Regie                                                                     Nicolas Brieger
Bühne                                                                     Hans Dieter Schaal
Kostüme                                                                   Andrea Schmidt-Futterer
Musik                                                                     Nils Strunk
Dramaturgie                                                               Katharina Gerschler

Nathan                                                                    Tom Gerber
Recha                                                                     Mira Benser
Sultan Saladin                                                            Hanno Friedrich
Sittah                                                                    Evelyn M. Faber
Daja                                                                      Maria Hartmann
Ein junger Tempelherr                                                     Maximilian Pulst
Ein Derwisch                                                              Matze Vogel
Der Patriarch von Jerusalem                                               Uwe Kraus
Ein Klosterbruder                                                         Ulrich Rechenbach

Licht                                                                     Ralf Baars
Regieassistenz                                                            Agnes Terebesi
Inspizienz                                                                Michael Beranek
Gebärdentraining                                                          Esther Sangermann
Kostümassistenz                                                           Esther Feldkamp
Soufflage                                                                 Simone Betsch/Eva Walldorf
Regiehospitanz                                                            David Rothe

Technische Gesamtleitung Dominik Maria Scheiermann / Technischer Inspektor Robert Klein /
Leitung der Dekorationswerkstätten Sven Hansen / Technische Produktionsleitung Markus Pockrandt
/ Bühneneinrichtung Norbert Winkler / Beleuchtungseinrichtung Steffen Hilbricht; Gregor Feuerer /
Toneinrichtung Marcus Sack; Jonas Hagen / Leiterin der Requisite Simone Eck / Requisiteneinrichtung
Jenny Frühmesser; Rebekka Klaucke; Andreas Schubert; Ilka Wolff; Patricc Urban /
Chefmaskenbildnerin Katja Illy / Maske Kirsten Roser; Elisa Lingweiler / Leiterin der
Kostümabteilung Anna Hostert / Obergewandmeister Jürgen Rauth / Gewandmeisterinnen Damen
Claudia Dirkmann; Nina Schramm / Gewandmeister*innen Herren Walter Legenbauer; Victoria Reich
/ Putzmacherei Elisabeth Taylor / Schuhmacherei Theoharis Simeonidis / Rüstmeister Michael
Hertling; Joachim Kutzer / Herstellung der Dekoration und Kostüme Werkstätten des Hessischen
Staatstheaters Wiesbaden.

Premiere:         17. März 2018, Kleines Haus
Spieldauer:       ca. 3 ¼ Stunden, eine Pause

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         3.2 Der Regisseur

                                         Nicolas Brieger ist geboren und aufgewachsen in Berlin.

                                         Brieger arbeitete zunächst als Schauspieler im Theater, aber

                                         auch in Fernseh- und Kinoproduktionen, von denen

                                         »Welcome in Vienna« u. a. bei den Filmfestspielen von

                                         Cannes ausgezeichnet wurde.

Seine Arbeit als Regisseur führte ihn an Theater in Berlin, Basel, Bremen, Bochum, Köln,

Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, München, Zürich, Stuttgart, das Burgtheater Wien und zu

den Wiener Festwochen. Von 1978 bis 1980 war er zusammen mit Frank-Patrick Steckel

Leiter des Bremer Schauspiels, von 1988 bis 1992 Schauspieldirektor am Nationaltheater in

Mannheim. Opern inszenierte er u.a. an der Berliner, der Bayerischen und der

Niedersächsischen Staatsoper, an der Pariser Opéra Bastille, am Grand Théâtre de Genève

und in San Francisco Seine Inszenierung der Barockoper »Il Giustino« von Giovanni

Legrenzi für die Schwetzinger Festspiele wurde von der Zeitschrift Opernwelt zur

Wiederentdeckung des Jahres gewählt. In Wiesbaden inszenierte er bereits »La Traviata« in

der Oper sowie »Hamlet« im Schauspiel und war als Schauspieler in der Titelpartie von

»Baumeister Solness« zu erleben. In der laufenden Spielzeit inszeniert er hier »Nathan der

Weise« und »Don Giovanni«.

         3.3 Das Konzept
Dass Toleranz und Frieden aus vernünftigem Reden erwachsen, ist die Utopie des Stücks.

Gleichzeitig spielt es aber vor dem historischen Hintergrund der Kreuzzüge. Gewalt,

Hinrichtungen, Anschläge und Feuersbrünste scheinen an der Tagesordnung, alle Figuren

sind in permanenter Lebensgefahr. Das tritt auf der Bühne zwischen wohlabgemessenen

Versen und der Toleranzfordernden, fast eigenständig neben dem Stück stehenden

»Ringparabel« aber zuweilen in den Hintergrund. In Anbetracht einer politischen Weltlage,

in der sich Extremismus und radikale Haltungen zunehmend ausbreiten, an vielen Orten

Kriege mit (auch) »religiösen« Motiven geführt werden und der Toleranzbegriff zu einer

hohlen leeren Floskel verkommt, holt Brieger in seiner Wiesbadener Inszenierung das

Setting des Stücks inmitten eines Krieges in den Vordergrund.

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Das schlägt sich zunächst einmal schon stark in der Ausstattung nieder: Hans-Dieter Schaal

verwandelt das Kleine Haus mit seinem Bühnenbild in eine zeitgenössische

Trümmerlandschaft: Staub und Asche lassen ganz konkrete Fernsehbilder z.B. aktuell aus

Syrien aufblitzen, während variabel nutzbare abstrakt-geometrische Orte das ständig

Gefährdete einer wankenden Welt sichtbar machen.

Die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer erinnern einerseits an die Fernsehbilder von 9/11,

in denen die Menschen von der Asche unkenntlich gemacht wurden und identifizieren die

Figuren zugleich als das was sie »sind« und was für die Geschichte wichtig ist. Sie sind recht

zeitlos gehalten und verweisen sowohl in die Zeit der Kreuzzüge als auch ins Heute. So

erzählt der Panzer des Tempelherrn den Krieger von damals, erinnert in seiner Machart aber

auch an die Sprengstoffweste eines heutigen Selbstmordattentäters.

Angesichts von unaussprechlichen Kriegsgräuel und lärmendem Bombenhagel, der jedes

Reden unmöglich macht, soll der Wert von Sprache in Briegers Inszenierung radikal deutlich

werden. Darum der Gedanke, zunächst ganz auf gesprochene Sprache zu verzichten: in den

ersten zwanzig Minuten der Inszenierung erzählt das Ensemble die Geschichte von »Nathan

der Weise« im Schnelldurchlauf in Gebärdensprache.

Die Musik zur Inszenierung stammt von Nils Strunk und basiert im ersten, stummen Teil auf

Jimi Hendrix‘ 12-minütigem Gitarrenstück »Machine Gun« von 1970, das Hendrix auf den

Vietnamkrieg bezog und gleichzeitig den Kämpfenden und Opfern aller Kriege widmete.

Umbaut wird das Ganze mit Gemurmel, das sich aus dem des Publikums ergibt und dann

zunächst in mediale Beschallung und Kriegsgeräusche übergeht.

         Nathan: »Komm! Übe, was du längst begriffen hast,
                           Was sicherlich zu üben schwerer nicht,
                           Als zu begreifen ist, wenn du nur willst.«

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4. Thematik und Hintergrund

Probennotate zu »Nathan der Weise« von Regisseur Nicolas Brieger
Quelle: Auszug aus dem Programmheft zur Inszenierung

»Stumm höre ich nur noch das Pochen meines Herzens aus Angst, dass diese Sekunde die

letzte ist. Das menschliche Hirn hat für diesen Wahnsinn keine Worte«, twittert ein

Einwohner von Ost-Ghouta während der Bombenangriffe der syrischen und russischen

Armee in der letzten Februarwoche des Jahres 2018.

Und ausgerechnet Lessing soll uns mit seinem wortgewaltigen Juden Nathan dazu

befähigen, diesen von Menschen willentlich veranstalteten Wahnsinn zu verstehen oder,

besser noch, zu begreifen? Ist »Nathan der Weise« nicht stets als das Stück der Toleranz

zwischen den drei Weltreligionen, der Freundschaft und Verwandtschaft unter den

Menschen, die alle Widrigkeiten zwischen ihnen überwinden lassen, begriffen worden?

Interpretiert als ein dramatischer Text der Versöhnung, nicht der Rache.

Gern wird dabei übersehen, dass das Epizentrum dieses Stückes nicht die Ringparabel ist,

sondern die Schilderung Nathans über das Massaker von Gath, einer ehemals großen Stadt

im Sinai, bei dem seine gesamte Familie, die Frau und seine sieben Söhne, von Christen

ermordet wurden. Sehr spät, als alles schon auf eine glückliche Lösung zusteuert, lässt

Lessing ihn von diesem seinem Lebenstrauma erzählen. Sterben oder Weiterleben, vor dieser

Entscheidung stand Nathan nach der Auslöschung seiner Familie in den Trümmern seines

Hauses. Er entschied sich zu leben, weiter zu leben als Rache. Er rächt das Verbrechen an

ihm aber nicht mit Gewalt, sondern mit Güte. Das verschafft ihm Immunität. Kein Gefühl

dringt mehr durch die Schutzschicht, die dieses Trauma umhüllt, außer der Liebe zu seiner

Adoptivtochter Recha. Vernunft bestimmt fortan sein Handeln in dem blutigen Wahnsinn

menschlicher Anmaßung.

Lessing hat uns dazu die klügsten und elegantesten Blankverse der deutschen

Dramenliteratur hinterlassen, die den Leser oder Zuhörer unmittelbar erreichen. Aber treffen

sie auch den Twittereintrag dieses von Krieg und Vernichtung geschundenen Menschen in

Ost-Ghouta »Stumm höre ich das Pochen meines Herzens«? Dienen diese Verse nicht gar

nur dazu, unser schlechtes Gewissen zu beruhigen, dass wir außer beifälligem Nicken nichts

oder zu wenig tun gegen dieses Grauen? Es gilt also die Entzündung, aus der dieses

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wunderbare Sprache ursprünglich erwachsen ist, in einer Inszenierung neu herbeizuführen,

so dass die Worte Lessings brennen und – einmal ausgesprochen – nicht schon Asche sind,

es gilt, deutlich zu machen, dass wir nur die Sprache als Waffe gegen den Wahnsinn haben,

dass ausschließlich Kommunikation es möglich macht, dass zumindest für einen Augenblick

die Waffen es sind, die schweigen. Denn hinter der Sprache steht als dunkler Zwilling das

Schweigen, jederzeit bereit, die Macht des Verstummens zu übernehmen. Im Bombenhagel,

was gibt es da noch zu reden? Verschüttete mit bloßen Händen auszugraben, wer findet da

noch Worte? Wer kann sich mitteilen, während er um sein Leben rennt?

Was bleibt, ist die Geste, es bleibt das Zeichen. Basics menschlicher Annäherung in der

Hoffnung, irgendwann wieder Worte zu finden, um diese blutige, unverständliche Raserei

benennen zu können und sie vielleicht dadurch endlich zu bannen.

Wir werden also versuchen, durch die Geste zum Wort zu finden und nicht wie üblich

umgekehrt, um den versteckten Furor in der Sprache von Lessing zu entzünden und so dem

Wesenskern seiner Weltbetrachtung aus kämpferischem Elan und nahezu verzweifeltem

Humor näher zu kommen.

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NATHAN’S SCHILDERUNG DES MASSAKERS VON GATH
»Ihr guter Bruder, müsst mein Fürsprech sein,
Wenn Hass und Gleisnerei sich gegen mich
Erheben sollten, wenn ein Tempelherr es ist,
der Euren Patriarchen hetzt – wegen einer Tat –
Ihr traft mich mit dem Kinde zu Darun.
Ihr wißt wohl aber nicht, daß wenig Tage
Zuvor, in Gath die Christen alle Juden
Mit Weib und Kind ermordet hatten; wißt
Wohl nicht, daß unter diesen meine Frau
Mit sieben hoffnungsvollen Söhnen sich
Befunden, die in meines Bruders Hause,
Zu dem ich sie geflüchtet, insgesamt
Verbrennen müssen.
Als
Ihr kamt, hatt' ich drei Tag' und Nächt' in Asch'
Und Staub vor Gott gelegen, und geweint.--
Geweint? Beiher mit Gott auch wohl gerechtet,
Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht;
Der Christenheit den unversöhnlichsten
Haß zugeschworen--
Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder.
Sie sprach : "und doch ist Gott!
Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan!
Komm! übe, was du längst begriffen hast,
Was sicherlich zu üben schwerer nicht,
Als zu begreifen ist, wenn du nur willst.
Steh auf!"--Ich stand! und rief zu Gott: ich will!
Willst du nur, daß ich will!--Indem stiegt Ihr
Vom Pferd, und überreichtet mir das Kind,
In Euern Mantel eingehüllt. Ich nahm
Das Kind, trug's auf mein Lager, küßt' es, warf
Mich auf die Knie und schluchzte: Gott! auf Sieben
Doch nun schon Eines wieder!«
(Nathan; Vierter Aufzug – Siebenter Auftritt)

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Gebärden und Sprache
Quelle: Auszug aus dem Schulterblick-Artikel »Gestenreich« im Theatermagazin »Andererseits«;
der gesamte Text ist zu lesen unter:
https://issuu.com/newplays/docs/hsw_andererseits_09_macht_issuu (ab Seite 42)

[…] Schon vor einigen Monaten hat die Gebärdensprache-Dolmetscherin Esther Sangermann

auf Bitten des Regisseurs Nicolas Brieger begonnen, mit den Darsteller*innen Dialoge

zentraler Szenen in Gebärdensprache zu erarbeiten.

Briegers konzeptioneller Gedanke hinter dieser ungewöhnlichen Arbeitsweise ist es,

Lessings »dramatischem Gedicht« auf der Bühne widerständig zu begegnen: dass Toleranz

und Frieden aus vernünftigem Reden erwachsen, ist die Utopie des Stücks. Gleichzeitig

spielt es aber vor dem historischen Hintergrund der Kreuzzüge. Gewalt, Hinrichtungen und

Feuersbrünste scheinen an der Tagesordnung. Alle Figuren sind in permanenter

Todesbedrohung. Das tritt auf der Bühne zwischen wohlabgemessenen Versen und der

Toleranzfordernden, als Text schon nahezu selbständig neben dem Stück stehenden

»Ringparabel« aber zuweilen in den Hintergrund. Eben das Explosive einer Welt am

Abgrund, in der jedes falsche Wort, jede unüberlegte Handlung alle ins Chaos stürzen kann,

aber ist es, die das Stück wieder so aktuell macht. Wenn Brieger seine Gedanken dazu

beschreibt, verweist er auf Nachrichtenbilder aus Krisengebieten, in denen der Schrecken

von Infrarotkameras aufgenommen, aber stumm bleibt, Fliehende, Heckenschützen vom

Voiceover des Fernsehberichts ihrer individuellen Stimmen beraubt sind. Aus dieser

Diskrepanz heraus sucht er eine Form, in der ein »Nathan« heute erzählt werden kann. Der

Wert von Sprache soll dabei ganz radikal deutlich werden.

Darum der Gedanke, streckenweise die Szenen komplett ihrer lautsprachlichen Ebene zu

berauben, das genuin menschliche Bemühen um Verständigung aber trotzdem – eben mit

Hilfe der Gebärdensprache – zu zeigen. Für die Schauspieler*innen ist das ein großes

Abenteuer. »In der Schauspielschule wird uns ja richtiggehend abtrainiert, Gesagtes gestisch

zu »beglaubigen«, jetzt arbeiten wir geradezu am Gegenteil«, sagt Mira Benser, die im Stück

Nathans Ziehtochter Recha spielt. »Man darf keine Angst vor Übertreibung haben, muss im

Gegenteil alles so deutlich wie möglich machen. Wenn man spricht ist es einfach, zu

nuancieren. Töne und Lautstärken müssen in der Gebärdensprache aber nur über den

Körper und die Mimik transportiert werden.«

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Gerade das Konkrete, zu dem die Gebärdensprache zwingt, die Unmöglichkeit, etwas zu

sehr im Vagen zu lassen, schätzt auch Nicolas Brieger. Wohin genau das am Ende auf der

Bühne führ, kann man auf der Bühne des Kleinen Hauses sehen. Sicher ist aber, dass allein

das Training Ausdrucksrepertoire, Zusammenspiel und Aufmerksamkeit der Spieler*innen

füreinander enorm befördert hat.

Auch Esther Sangermann ist sehr beglückt von der Arbeit mit den Schauspieler*innen, lobt

deren schnelle Auffassungsgabe und große Gewandtheit, den Körper als Ausdrucksmittel zu

nutzen. Sie ist überzeugt, dass es durchaus gelingen kann, Stückpassagen ohne Sprache zu

spielen. »Wenn die Schauspieler wissen, worüber sie sich miteinander verständigen, wird

sich das auch einem nicht Gebärdensprach-geschulten Zuschauer vermitteln.« Es bleibt

jedenfalls spannend.

Toleranz?
Ein Text von Navid Kermani

Quelle: Auszug aus dem Programmheft zur Inszenierung

Man kennt die Anlässe, die Lessing 1778 zum »Nathan« bewogen haben: den Streit mit dem

Hauptpastor Goeze und der protestantischen Orthodoxie, die Zensur des

braunschweigischen Herzogs. Weil er die intellektuelle Debatte nicht mehr führen durfte,

wich Lessing auf das dramatische Gedicht aus, um »dem Feind auf einer anderen Seite damit

in die Flanke zu fallen«.

Das war vor über zweihundert Jahren, und die Welt geht seither gewiss nicht freundlicher

mit den Menschen um. Die Meinungen haben sich jedoch geändert. Um nur das Wort

»Aufklärung« zu nehmen – schon mit dem Aufkommen der Romantik, ein, zwei Jahrzehnte

nach Lessings Tod, war es zum Schlagwort geworden, das die Eliten weniger bekämpften als

bespöttelten. Lessings Toleranzbegriff ist zunächst vom bürgerlichen Normalbewusstsein,

später auch von den Kirchen so restlos aufgesogen worden, dass er jeden

herrschaftskritischen Impuls verloren hat. Vor zweihundert Jahren galt Lessing der

protestantischen Orthodoxie als ein Extremist; heute gälte jede politische, religiöse oder

gesellschaftliche Kraft als extremistisch, die sich dazu bekennt, Anders-Gläubige, Anders-

Rassige, Anders-Denkende für minderwertig zu halten.

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Intoleranz als politisches Denken und Handeln setzt im 21. Jahrhundert voraus, dass sie als

Toleranz verkauft wird, am einfachsten durch die Behauptung, die eigene Toleranz wehrhaft

gegen die Intoleranz verteidigen zu müssen. […] Wer heute Lessings Botschaft, wie sie sich

in der Ringparabel verdichtet, auf die Bühne bringen möchte, muss einbeziehen, dass sie

gerade deshalb so wenig Gehör findet, weil sie zum Allgemeingut geworden ist, mit dem

selbst diejenigen noch sich brüsten, die nicht mehr nur gegen politische Gegner, sondern

gegen ganze Kulturen kämpfen. Ein Theater, das Lessings Botschaft ernst nimmt, müsste

sich fragen, warum diese Botschaft so leer geworden ist, dass die Orthodoxen aller

Religionen, die Staatenlenker und die Teilnehmer der Weltwirtschaftstreffen sie wie ein

Mantra aufsagen, die Kulturen, Religionen und übrigen Identitätsmaschinen sich aber

dennoch von Tag zu Tag aggressiver gebärden. Um an Lessings Utopie zu glauben, müsste

man sie heute negieren, sonst wird sie affirmativ und damit zum Gegenteil dessen, was sie

1778 gewesen ist.

Gotthold Ephraim Lessing und die Dramaturgie
Interview mit der Schauspiel-Dramaturgin Katharina Gerschler

Auf Wikipedia ist zu lesen, dass Gotthold Ephraim Lessing nicht nur ein bedeutender
Dichter der deutschen Aufklärung war, sondern auch »der weiteren Entwicklung des Theaters
einen wesentlichen Weg gewiesen« hat. Was ist damit gemeint?
Oh Gott, dazu könnte ich dann gleich den nächsten Wikipedia-Artikel schreiben… Kurz gefasst: er hat
in einer Zeit, in der es wenig deutschsprachige, eigenständige Dramatik gab (man orientierte sich z.B.
sehr stark an französischen Vorbildern), bedeutende Bühnenwerke verfasst, die für nachfolgende
Autoren-Generationen stilbildend wurden (so ist z.B. seine »Emilia Galotti« im Grunde das Ur-
Beispiel eines »bürgerlichen Trauerspiels«). Außerdem hat Lessing viel dazu beigetragen, ein
bürgerliches Theater unabhängig von den exklusiven Theatern, die es beispielsweise an den
Fürstenhöfen gab, auszugestalten, im Grunde überhaupt erst zu »erfinden«.

Lessing gilt auch als Erfinder bzw. Begründer deines Berufsstandes, der Dramaturgie. Wie
kam es dazu?
In Hamburg begründete eine Gruppe finanzkräftiger Bürger ein neues Schauspielhaus, das –
ungewöhnlich und neuartig für diese Zeit! – ein Theater für die Stadt und ihre Bürger sein sollte.
Lessing, der zu diesem Zeitpunkt bereits einige erfolgreiche Stücke geschrieben hatte und der durch
seine Publikationen zur Literatur einen guten Namen als – »Lektor« würde man heute vielleicht sagen
– hatte, schien der Richtige zu sein, um ein solches Theater künstlerisch zu beraten. Und das tat er
umfassend: er empfahl Stücke zur Aufführung und überlegte sehr genau nicht nur, wie sie aufs
Publikum wirken würden und das Theater voranbringen würden, wichtige Themen anschneiden etc.,

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sondern auch, wie sie das Schauspielensemble in ihrer Entwicklung befördern könnten. Er entwarf
Theorien dazu, wie eine Schauspielausbildung (die es in der heutigen Form natürlich noch gar nicht
gab) beschaffen sein müsste etc. etc. Und er schrieb für »sein« Theater auch eigene Stücke.

Und was macht eine Dramaturgin heute?
Durchaus immer noch Vieles von dem, was Lessing damals tat. Stücke schreiben tue ich persönlich
nicht, aber ich habe schon Texte dramatisiert. Und über die Ausbildung von Schauspielern müssen
wir uns, anders als Lessing, zum Glück keine Gedanken mehr machen, allerdings sind wir z.B.
diejenigen, die – mit dem Intendanten – darüber entscheiden, wen wir neu engagieren und wer in
welchen Stücken was spielt etc. An vielen Stellen ragt unsere Arbeit inzwischen aber auch in die
Öffentlichkeitsarbeit oder auch Theaterpädagogik hinein, weil wir viel »vermittelnd« tätig sind und
insgesamt gibt es inzwischen unendlich viel mehr zu organisieren, so dass man sich nicht immer ganz
so intensiv inhaltlich mit den einzelnen Produktionen beschäftigen kann, wie man das gern wollen
würde. Zumindest meine Vorstellung von meinem Beruf ist aber immer noch die einer beratenden,
inhaltlich sehr in die Tiefe gehenden Begleitung einer Inszenierung. Viel lesen, Stücke kennen,
Regisseur*innen und ihre Arbeiten anschauen, vorschlagen, wer am Haus inszenieren sollte etc. sind
Dinge, die wir tun.

Was muss man dafür können und wie wird man Dramaturgin?
Was muss man können: siehe zu einem Gutteil bereits oben. Es hilft, mehr als eine Sprache gut zu
können (schon allein wegen neuester Stücke aus anderen Ländern aber auch wegen Gastspielen,
grenzüberschreitenden Kooperationen u.ä.). Psychologisches Gespür sollte man haben – oft vermitteln
wir ja auch in Konfliktfällen innerhalb einer Produktion und Probenarbeit ist generell eine recht
intime Angelegenheit, bei der es gut ist, unterschiedlich auf unterschiedliche Situationen, Bedürfnisse,
Menschen eingehen zu können. Gut und verständlich Inhalte zusammenfassen und sie auch
schriftlich fixieren zu können ist auch wichtig. Für Programmhefte, Publikationen des Theaters etc.
Einen analytischen Blick auf Texte, Theaterabende etc. braucht man auch – und die Fähigkeit, das,
was man erkennt, dann wiederum jemandem zu erklären. Dem Publikum Dinge erklären muss man
zuweilen auch. Oft in recht großen öffentlichen Veranstaltungen, es schadet also nicht, keine große
Scheu zu haben, vor Menschen zu sprechen. Das so in etwa, hierzu könnte man auch Seiten schreiben.
Ein wissenschaftliches Studium (Theaterwissenschaften, Literaturwissenschaften o.ä. ist keine
Grundvoraussetzung aber sehr sinnvoll).

Was waren deine Aufgaben bei der Inszenierung von »Nathan der Weise«?
Ich habe mich im Vorfeld intensiv mit dem Regisseur über die Fassung verständigt (er hat den Text ja
stark gekürzt). Dann habe ich die Gebärdendolmetscherin gesucht, gefunden und viel mit der
Organisation der Proben für die gebärdeten Szenen zu tun gehabt, die schon stattfanden, als der
Regisseur noch gar nicht am Haus war. Vom Probenstart an habe ich ganz »klassisch« die Produktion
als Produktionsdramaturgin begleitet, was in diesem Fall aber nicht sehr kompliziert war, da der sehr
erfahrene und auch was das Hintergrundwissen über ein Stück angeht immer unfassbar gut

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vorbereitete Regisseur wenig Unterstützung braucht. Das Programmheft habe ich zusammengestellt,
gebe im Moment ab und zu Einführungen, habe auch eine längere Einführungsveranstaltung gemacht
etc.

Was gefällt dir an »Nathan der Weise«?
An unserer Version tatsächlich besonders gut die ungewöhnliche, sehr eindrückliche »stumme«
Anfangssequenz. Ansonsten gefällt mir gut, dass Lessing drei sehr unterschiedliche, wenig
klischeehafte Frauenfiguren geschrieben hat, die allesamt nicht den zeittypischen Idealen von
»Weiblichkeit« entsprechen. Sehr kluge, interessante Frauen. Die gibt es gerade in älteren Stücken gar
nicht so häufig.

Warum sollten sich junge Leute »Nathan der Weise« im Theater ansehen?
Thematisch ist das Stück leider nach wie vor hochaktuell und es ist, finde ich, in unserer Inszenierung
gut zu sehen, dass uns das, was Lessing da erzählt, immer noch angeht.

Können Liebe, Toleranz und Einsicht zwischen den Fronten vermitteln oder ist Lessings
Stück reine Utopie?
Wenn wir nicht hoffen würden, dass sie es können, sollten wir vermutlich gleich aufhören, Theater zu
machen. Aber auch Lessing selbst ist sich, glaube ich, nicht immer sicher, ob er da gerade eine pure
Utopie verfasst: das Stück hat einen derart märchenhaften Schluss, in dem sich magisch alles fügt –
und dann doch wieder nicht alles. Was geschieht z.B. mit Nathan selbst, nachdem sich alle in den
Armen liegen? Es lohnt sich, weniger auf das Wohlformulierte, Beispielhafte, Kluge des Stücks zu
sehen, sondern die kleinen Brüche, Fragen etc., die es – manchmal ganz nebenbei – aufwirft, zu
untersuchen.

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5. Ideen zur Vor- und Nachbereitung

         5.1 Vorbereitung
5.1.1 Vorbereitung auf den Theaterbesuch allgemein

Kleiner Theaterknigge

Im Unterschied zum Kino stehen im Theater die Schauspieler als reale Personen vor den

Zuschauenden. Jede Aufführung ist einzigartig und das Publikum und die Schauspieler

beeinflussen sich gegenseitig. Respekt ist deshalb sehr wichtig. Das heißt nicht, dass die

Schülerinnen und Schüler mucksmäuschenstill auf ihren Plätzen sitzen müssen. Das

Theaterstück ist für sie gedacht und sie sollen lachen, weinen, auch mal kurz aufschreien

oder sich aufregen und es natürlich auch doof finden dürfen.

Im Theater geht aber dennoch nichts ohne Verabredungen und Regeln. So wie die

Schauspieler in den Proben Verabredungen miteinander treffen, um gemeinsam das Stück

spielen zu können, gibt es auch Verabredungen zwischen Schauspielern und Publikum, die

man kennen sollte:

∞ Am Theater gibt es keine Vorschriften, wie man sich für die Theatervorstellung kleiden

sollte. Oft ziehen sich die Theaterbesucher elegant an, aber heute ist schicke Kleidung im

Theater keine feste Regel mehr. Auch Jeans und Sweatshirts sind erlaubt.

∞ Sowohl zum Vorstellungsbeginn, als auch nach den Pausen, sollte man sich pünktlich auf

die Plätze begeben. Bei Verspätungen wird man oft nicht mehr eingelassen, da sonst die

laufende Vorstellung gestört wird.

∞ Der Zuschauerraum sollte nicht während der laufenden Vorstellung verlassen werden.

∞ Handys und alle anderen Geräusch- und Lichtquellen werden im Theater komplett

ausgestellt, schon aus Respekt gegenüber den Schauspielern und den anderen Zuschauern,

aber auch, um die technische Übertragung nicht zu stören.

∞ Lebensmittel und Getränke dürfen in der Regel nicht mit in den Zuschauerraum

genommen werden.

∞ Das Unterhalten mit den Sitznachbarinnen und Sitznachbarn sollte unterbleiben. Das stört

die Anderen und auch die Schauspielerinnen und Schauspieler. Zuschauende und

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Darstellende befinden sich während der Vorstellung in einem gemeinsamen Raum. Genauso

wie die Zuschauer*innen die Schauspieler*innen hören, können die Schauspieler*innen die

Gespräche im Zuschauerraum hören. Indem man sich völlig auf die Vorstellung

konzentriert, wird den Schauspielerinnen und Schauspielern und allen Bühnenbeteiligten

Respekt vor der besonderen Darbietung einer Live-Vorstellung gezeigt.

∞ Auch das Fotografieren, sowie das Aufnehmen von Bild und Ton, sind nicht erlaubt.

Trotz aller Regeln ist der Theaterbesuch ein kulturelles Erlebnis. Es ist erlaubt zu lachen,

wenn man etwas lustig findet, zu weinen, wenn man berührt ist und zu klatschen, wenn es

einem am Ende gefallen hat. Denn es geht beim Theater nicht um richtig oder falsch, sondern

vor allem um ein Erlebnis, das man gemeinsam teilen kann.

Vorgespräch

Die Schüler*innen werden gewisse Erwartungen an den Theaterbesuch und vielleicht auch

Fragen haben. Manche bringen eventuell schon Vorerfahrungen mit, andere waren noch nie

im Theater. Sprechen Sie mit Ihren Schüler*innen über ihre Erwartungen, Erfahrungen und

Fragen:

         ∞ Wer war schon einmal im Theater? Was für ein Theater war das? War es Puppentheater,

         Musical, Schauspiel, Oper?

         ∞ Was hat ihnen im Theater besonders gut bzw. gar nicht gefallen?

         ∞ Was unterscheidet Theater vom Kino?

         ∞ Gibt es gewisse Regeln oder Verabredungen, die im Theater gelten?

5.1.2 Ideen zur Vorbereitung auf das Stück

Einführung in das Stück

∞ Sofern die Klasse sich bereits mit »Nathan der Weise« beschäftigt hat, können Sie die

Gruppe zunächst selbst die Handlung zusammenfassen und/oder die Figuren vorstellen

lassen. Anschließend können alle überlegen, wie sie sich das Stück auf der Bühne vorstellen

und dann als Einstieg gemeinsam den Trailer zur Inszenierung schauen:

http://www.staatstheater-wiesbaden.de/schauspiel/premieren-2017-2018/nathan-der-weise-

2017-2018/

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∞ Sofern die Klasse/Gruppe »Nathan der Weise« noch nicht kennt, können Sie als

Einführung gemeinsam den YouTube-Film über das Stück aus der Reihe »Sommers

Weltliteratur To Go« anschauen, der auf unterhaltsame Weise und mit Hilfe von Playmobil-

Figuren in die Handlung und Figurenkonstellation von »Nathan der Weise« einführt:

https://www.youtube.com/watch?v=60kNNVHeYTU

Einführung in die Inszenierung

Um die Klasse/Gruppe mit dem Regiekonzept vertraut zu machen und auf den Anfangsteil

in Gebärdensprache vorzubereiten, können Sie die Probennotate des Regisseurs und/oder

den Artikel aus dem Theatermagazin »Andererseits« gemeinsam lesen und diskutieren.

Theaterpraktische Vorbereitung I – Raumlauf Balance-Akt

Ziel: Wahrnehmungsschulung, auf sich und andere achten.

Das friedliche Zusammenleben der Kulturen und Religionen ist ein schwieriger Balanceakt,

damit er gelingen kann, müssen alle auf sich selber achten und gleichzeitig auch die

Mitmenschen im Blick haben. Alle Schüler*innen gehen locker kreuz und quer im Raum

umher und achten dabei zunächst auf sich und ihren Körper: wie gehen sie? Wie fühlen sie

sich? Wie fühlt sich der Körper an? Wo sind Verspannungen?, … Nach einer Weile sollen sie

sich vorstellen, dass der Boden des Raumes eine wackelige Scheibe ist, die nur in der

Raummitte auf einer kleinen Spitze verankert ist. Alle müssen sich laufend nun so im Raum

verteilen, dass die Scheibe immer im Gleichgewicht ist und nicht kippt, sodass jemand

»herunterfällt«. Dabei müssen alle ständig in Bewegung sein. Wenn das gut klappt, können

sich die SuS auch gegenseitig versuchen herauszufordern, indem sie sich schnell in eine

Richtung bewegen, was die anderen dann ausgleichen müssen.

Theaterpraktische Vorbereitung II – Begrüßungsspiel in Gebärdensprache

Ziel: einige Gebärden kennen lernen; Verständigung ohne Worte; Wahrnehmung & Aufmerksamkeit

Zeigen Sie der Klasse/Gruppe die im Stück verwendeten Gebärden für »Christ«, »Jude« und

»Muslim« (s. Anhang) und lassen Sie die Jugendlichen raten, was sie bedeuten und warum.

Dann gehen alle wieder kreuz und quer im Raum herum und immer, wenn sich zwei

begegnen (Blickkontakt) begrüßen sie sich mit einer der drei Gebärden, indem sie sich

nonverbal auf eine verständigen.

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Theaterpraktische Vorbereitung III – Durch die Geste zum Wort

Ziel: praktische Annäherung an das Regiekonzept, eigene Spielerfahrung sammeln

In seinen Probennotaten zum Stück schreibt Regisseur Brieger »Wir werden also versuchen,

durch die Geste zum Wort zu finden, und nicht wie üblich umgekehrt.«

Um dies selber auszuprobieren, können Sie mit Ihrer Klasse die Impro-Theater-Übung

»Dia-Show« machen:

Mehrere Spieler*innen formieren sich zu einem Standbild. Eine Moderator*in beschreibt

dann spontan, was auf diesem Bild zu sehen ist. Auf ein bestimmtes Kommando (z.B.

»Klick!«) ändern die Spieler*innen Haltung und Position. Ein neues Bild entsteht. Die

Aufgabe der Moderator*in ist es, zum einen zu erklären, was auf den einzelnen Bildern zu

sehen ist, zum anderen eine Geschichte zu entwickeln, die die einzelnen Bilder miteinander

verbindet. Je mehr die Spieler*innen versuchen, die Moderator*in in Schwierigkeiten zu

bringen, indem sie möglichst Absurdes darstellen oder eine Szenerie, die mit dem

vorherigen »Dia« so wenig wie möglich zu tun hat, desto lustiger wird‘s. Der Vortragende

muss die entstehenden Bilder irgendwie in eine Verbindung bringen und einen möglichst

konsistenten Vortrag halten.

∞ Variante: Die Gruppe kann auch vorab ein Thema festlegen, das der Diashow zugrunde

liegen soll, evtl. mit Bezug zum Theater oder zum Stück (z.B. Meine Reise nach Jerusalem;

Zu Besuch bei Gotthold Ephraim Lessing; Mein letzter Theaterbesuch)

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Beobachtungsaufgaben

Zur Schärfung der Wahrnehmung ihrer Schüler*innen während des Theaterbesuchs können

Sie ihnen vorab Beobachtungsaufträge mitgeben (und sie dafür ggf. in mehrere

Kleingruppen mit unterschiedlichen Schwerpunkten einteilen). Die Beobachtungen sollten

ohne Zettel und Stift erfolgen - schon das Wissen, dass auf verschiedene Dinge geachtet

werden soll, schärft die Wahrnehmung.

Beispiele für Beobachtungsaufträge:

∞ Kostüme und Maske: Farben? Historisch? Realistisch? Symbolisch?

∞ Bühne: Gegenstände? Formen? Realistisch? Symbolisch?

∞ Licht und Technik: Farben? Effekte? Ggf. Video o.ä.?

∞ Requisiten: Gegenstände, die eine besondere Rolle spielen, etc.

∞ Persönliche Top-Momente / Persönliche Flop-Momente

∞ Gebärdensprache: wie oft kommen die Gesten für »Christ«, »Jude« und »Muslim« vor?

Auswertung: Nach dem Theaterbesuch stellen die einzelnen Gruppen ihre Ergebnisse im

freien Gespräch, als Kurzvortrag oder auch als kleine Zeitungskritik vor.

         5.2 Nachbereitung
Nachgespräch

Ziel eines Nachgesprächs ist es, gemeinsam das Gesehene zu rekonstruieren, Unklarheiten

zu besprechen und Zusammenhänge herauszufinden, um einen Eindruck von der großen

Vielfalt möglicher Interpretationen zu gewinnen.

Die Bilderwelten des Theaters sind nicht immer direkt zugänglich. Moderne Theaterformen

bebildern nicht, sie ermöglichen, dass Zuschauer eigene Bilder finden. Sie hinterlassen viele

Fragen, aber auch ein Feuerwerk der Ideen und Assoziationen. In jedem Kopf ein anderes

Feuerwerk. Wie tauscht man sich aus? Es ist eine Herausforderung, diese sinnlichen und

vielleicht auch widersprüchlichen Eindrücke in Worte zu fassen. Ein gutes Gespräch nach

einem gemeinsamen Theaterbesuch braucht deshalb ein paar Voraussetzungen. Nehmen wir

also an:

Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
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