NATHAN DER WEISE von Gotthold Ephraim Lessing Inszeniert von Nicolas Brieger - Hessisches Staatstheater Wiesbaden
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1 NATHAN DER WEISE von Gotthold Ephraim Lessing Inszeniert von Nicolas Brieger Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
2 Liebe Pädagog*innen, liebe Theaterfreund*innen, vielen Dank für Ihr Interesse an unserer Inszenierung von »Nathan der Weise«! Gotthold Ephraim Lessings »dramatisches Gedicht« ist über 200 Jahre alt und immer noch hochaktuell. Es beschäftigt sich mit Toleranz und Menschlichkeit und dem Zusammenleben der Kulturen und Religionen. Regie-Altmeister Nicolas Brieger bringt das Werk nun im Kleinen Haus des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden auf die Bühne. Diese Materialmappe soll Sie darin unterstützen, sich und ihre Gruppe auf den Theaterbesuch einzustimmen. Sie beinhaltet Hintergrundinformationen über das Werk und seinen Autor, die aktuelle Inszenierung von Nicolas Brieger sowie über die Thematik des Stücks. Außerdem haben wir für Sie einige Anregungen und Tipps für die Vor- und Nachbereitung Ihres Theaterbesuchs zusammengestellt. Wenn Sie dazu Fragen haben, setzen Sie sich gerne mit uns in Verbindung. Wir empfehlen »Nathan der Weise« ab 14 Jahren. Damit wünschen wir Ihnen einen wunderbaren Theaterbesuch und freuen uns über jede Rückmeldung, Anregung oder Meinung. Viel Spaß im Theater! Hessisches Staatstheater Wiesbaden Christian-Zais-Straße 3 Tel. +49 (0) 611.132 272 dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /just@staatstheater-wiesbaden.de Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
3 Inhaltsverzeichnis 1. Welches Fach passt? ………………………………………….. 4 2. Das Stück …………………………………………………….. . 5 3. Die Inszenierung ……………………………………………… 12 4. Thematik und Hintergrund …………………………………. 15 5. Ideen zur Vor- und Nachbereitung …………………………. 23 Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
4 1. Welches Fach passt? FACH Anknüpfungsmöglichkeiten an die hessischen Lehrpläne Fächerübergreifende Kulturelle Praxis ; Aufgabengebiete Friedens- und Menschenrechtserziehung Deutsch Umgang mit literarischen Texten; Lesen in verteilten Rollen und szenische Darstellung; Textsorten – Drama; Besuch einer Theateraufführung Kunst Wahrnehmung; Umgang mit Kunst (Bühnenbild, Werkanalyse) Darstellendes Spiel Wahrnehmung; Inszenierungsanalyse; Theatergeschichte: Theater der Aufklärung; szenische Darstellung Politik und Wirtschaft Individuum & Gesellschaft; Menschenrechte; Friedenssicherung Geschichte Aufklärung und Humanismus Religion Religion und Weltdeutung; Weltreligionen, Religion und Gewalt, Frieden Ethik Religion, Wahrheit und Erkenntnis; Identität Philosophie Vernunft & Glaube; Individuum & Gesellschaft; Freiheit & Herrschaft; Metaphysik, Ethik Recha: »Wem eignet Gott? Was ist das für ein Gott, /Der einem Menschen eignet? Der für sich /Muß kämpfen lassen?« Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
5 2. Das Stück »Nathan der Weise« ist ein fünfaktiges Ideendrama von Gotthold Ephraim Lessing, das 1779 veröffentlicht und am 14. April 1783 in Berlin uraufgeführt wurde. Themenschwerpunkt ist der Toleranzgedanke und die Frage nach einem friedlichen Zusammenleben der Kulturen und Religionen. Besondere Berühmtheit erlangte das Stück vor allem mit der sogenannten »Ringparabel« im Dritten Aufzug. Der Aufbau des Werkes, das in Blankversen verfasst ist, folgt den Regeln des klassischen Dramas. 2.1 Die Handlung »Nathan der Weise« spielt in Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge: Alle Kriegsparteien erheben Anspruch auf die heiligen Stätten, leiten doch Juden, Christen und Muslime den Ursprung ihres jeweiligen Glaubens von hier ab. Aber es geht auch um Handfesteres: Handelswege, Geschäftsinteressen. Mitten in den Wirren der Auseinandersetzungen kommt der Jude Nathan von einer Geschäftsreise nach Hause und erfährt, dass seine Tochter Recha von einem jungen christlichen Tempelherrn aus den Flammen seines brennenden Hauses gerettet wurde. Der Tempelherr wiederum verdankt sein Leben dem muslimischen Herrscher Jerusalems, Sultan Saladin. Dieser hat den Tempelherrn begnadigt, weil er seinem Bruder ähnlich sieht. Saladin selbst hat große Geldprobleme. Er erfährt, dass Nathan sehr reich ist und will Geld von ihm leihen. Um ihn in die Enge zu treiben, stellt er ihm eine Aufgabe: Er will wissen, welche der drei Religionen Judentum, Christentum und Islam die richtige sei. Nathan antwortet ihm mit einer Geschichte, der sogenannten Ringparabel (s.u.). Saladin ist beeindruckt von Nathans Antwort und bittet ihn, sein Freund sein zu dürfen. Nathan willigt ein und gewährt ihm darüber hinaus, ohne darum gebeten worden zu sein, ein großzügiges Darlehen. Als der Tempelherr auf Recha trifft, verliebt er sich Hals über Kopf in sie und hält bei Nathan um ihre Hand an. Doch Nathan reagiert zögerlich, denn der Tempelherr erinnert auch ihn an jemanden. Über Umwege stellt sich schließlich heraus, dass die von einem Juden erzogene Recha und der christliche Tempelherr nicht nur Geschwister, sondern auch die Kinder von Saladins Bruder sind. Die drei Weltreligionen vereinen sich in einer Familie, »unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang«. Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
6 2.2 Der Autor und die Entstehungsgeschichte Gotthold Ephraim Lessing war ein bedeutender Dichter der deutschen Aufklärung. Mit Dramen wie »Minna von Barnhelm«, »Emilia Galotti« und eben »Nathan der Weise« sowie seinen kunsttheoretischen Schriften (»Laokoon«, »Hamburgische Dramaturgie«) hat er der weiteren Entwicklung des Theaters einen wesentlichen Weg gewiesen (s.a. Interview mit der Dramaturgin Katharina Gerschler). Geboren wird Lessing am 22. Januar 1729 als Sohn eines Pfarrers und einer Pfarrerstochter in Kamenz in der Oberlausitz. Schon früh erhält er Hausunterricht und besucht dann die die Lateinschule und später die Fürstliche Landesschule St. Afra in Meißen. Erste schriftstellerische Versuche Lessings reichen in diese Zeit zurück. 1746 schreibt sich Lessing auf Wunsch seines Vaters für ein Theologiestudium an der Leipziger Universität ein, wendet sich jedoch – zum Leidwesen seiner Eltern - mit weitaus größerem Interesse der Literatur und dem Schreiben zu und nutzt jeden Groschen, den er übrig hat, um ins Theater zu gehen. Schließlich erlaubt der Vater, dass Lessing das Fach wechselt und Lessing beginnt 1748 ein Studium der Medizin – zunächst in Leipzig, dann in Wittenberg. Hier gerät er bald in Schwierigkeiten, bricht sein Studium ab und siedelt nach Berlin über, wo er als Rezensent und Redakteur arbeitet und sich nebenbei dem Schreiben von Stücken widmet. Ab 1751 konzentriert er sich noch einmal auf sein Studium in Wittenberg, das er 1752 mit der Magisterwürde abschließt und geht dann nach Berlin zurück, wo er an sein altes Literatenleben als Redakteur, Übersetzer, Herausgeber anknüpft. Der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn (von dem immer wieder angenommen wird, er sei eine Art Vorbild für den Nathan) wird sein lebenslanger Freund und Diskussionspartner, etwas später komplettiert der Verleger und Kritiker Friedrich Nicolai das Kleeblatt. 1755 kehrt Gotthold Ephraim Lessing nach Leipzig zurück, um schon ein Jahr später wieder nach Berlin zu gehen. Dort veröffentlicht Lessing zusammen mit Mendelssohn und Friedrich Nikolai Briefe zur neuesten Literatur. Lessing, der sich mehr und mehr der Literatur widmet und nun in Berlin als freier Schriftsteller lebt, wird 1767 Dramaturg und Berater am Hamburger Nationaltheater, wo Lessings Stück »Minna von Barnhelm« uraufgeführt wird. In Hamburg lernt Gotthold Ephraim Lessing auch seine spätere Frau Eva König kennen und verfasst die »Hamburgische Dramaturgie«. Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
7 Nachdem das Hamburger Nationaltheater aus finanziellen Gründen 1770 schließen muss, geht Lessing nach Wolfenbüttel. Dort arbeitet er als Bibliothekar in der Herzog August Bibliothek und gibt ab 1774 die christentumskritischen Schriften des Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) heraus, der einen unreflektierten und widervernünftigen christlichen Glauben an Offenbarungen und Wunder scharf kritisierte. Lessing geht es bei der Herausgabe nicht so sehr um den Inhalt, sondern vielmehr um den Anspruch, auf breiter Basis über religionskritische Thesen diskutieren zu dürfen. Daher stellt er der Publikation seine »Gegensätze des Herausgebers« an die Seite, in denen er sich kritisch von den Thesen distanziert. Trotzdem wird Lessing für den Inhalt der Fragmente verantwortlich gemacht und die Veröffentlichung bringt ihn in große Schwierigkeiten mit orthodoxen Kirchenleuten. Sein bedeutendster und schärfster Gegner war der Hamburger Hauptpastor Goeze. Im später sogenannten »Fragmentenstreit« bekriegen sich die beiden Männer aufs Heftigste und die von beiden Seiten zunehmend polemisch geführte publizistische Auseinandersetzung mündet schließlich 1778 darin, dass Lessing mit einem Publikationsverbot »in Sachen der Theologie« belegt wird. Auf diese Zensuranordnung reagiert Lessing, indem er die Auseinandersetzung auf die Bühne verlegt: »Ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen«, schreibt Lessing in einem Brief an Reimarus‘ Tochter. So entsteht 1779 der »Nathan«. In dem Drama lassen sich zahlreiche Bezüge nachweisen, die auf die Lebensumstände hindeuten, in denen sich Lessing bei der Abfassung befunden hat. Neben der religionskritischen Auseinandersetzung, die das Thema und die Aussage des Dramas maßgeblich bereitgestellt hat, finden wir in der Geschichte Nathans, der seine Familie verliert (s.u. »Das Massaker von Gath«) auch die leidvolle Erfahrung Lessings wieder: 1776 heiratet er Eva König, doch der Ehe ist nur kurzes Glück gegönnt: 1777 stirbt ihr neugeborener Sohn, wenige Wochen später stirbt auch Eva im Kindbettfieber. Lessing selbst stirbt noch vor der Uraufführung seines »Nathan« am 15. Februar 1781 an einem Hirnschlag in Braunschweig. Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
8 2.3 Stückauszug: Die Ringparabel NATHAN Vor grauen Jahren lebt' ein Mann in Osten, Der einen Ring von unschätzbarem Wert Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte, Und hatte die geheime Kraft, vor Gott Und Menschen angenehm zu machen, wer In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder, Daß ihn der Mann in Osten darum nie Vom Finger ließ; und die Verfügung traf, Auf ewig ihn bei seinem Hause zu Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring Von seinen Söhnen dem geliebtesten; Und setzte fest, daß dieser wiederum Den Ring von seinen Söhnen dem vermache, Der ihm der liebste sei; und stets der liebste, Ohn' Ansehn der Geburt, in Kraft allein Des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde.-- Versteh mich, Sultan. SALADIN Ich versteh dich. Weiter! NATHAN So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn, Auf einen Vater endlich von drei Söhnen; Die alle drei ihm gleich gehorsam waren, Die alle drei er folglich gleich zu lieben Sich nicht entbrechen konnte. Nur von Zeit Zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald Der dritte,--sowie jeder sich mit ihm Allein befand, und sein ergießend Herz Die andern zwei nicht teilten,--würdiger Des Ringes; den er denn auch einem jeden Die fromme Schwachheit hatte, zu versprechen. Das ging nun so, solang es ging.--Allein Es kam zum Sterben, und der gute Vater Kömmt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwei Von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort Verlassen, so zu kränken.--Was zu tun?-- Er sendet in geheim zu einem Künstler, Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes, Zwei andere bestellt, und weder Kosten Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
9 Noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich, Vollkommen gleich zu machen. Das gelingt Dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt, Kann selbst der Vater seinen Musterring Nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft Er seine Söhne, jeden insbesondre; Gibt jedem insbesondre seinen Segen,-- Und seinen Ring,--und stirbt.--Du hörst doch, Sultan? SALADIN Ich hör, ich höre!--Komm mit deinem Märchen Nur bald zu Ende.--Wird's? NATHAN Ich bin zu Ende. Denn was noch folgt, versteht sich ja von selbst.-- Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder Mit seinem Ring, und jeder will der Fürst Des Hauses sein. Man untersucht, man zankt, Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht Erweislich;-- (nach einer Pause, in welcher er des Sultans Antwort erwartet) Fast so unerweislich, als Uns itzt--der rechte Glaube. SALADIN Wie? das soll Die Antwort sein auf meine Frage?... NATHAN Soll Mich bloß entschuldigen, wenn ich die Ringe Mir nicht getrau zu unterscheiden, die Der Vater in der Absicht machen ließ, Damit sie nicht zu unterscheiden wären. SALADIN Die Ringe!--Spiele nicht mit mir!--Ich dächte, Daß die Religionen, die ich dir Genannt, doch wohl zu unterscheiden wären. Bis auf die Kleidung, bis auf Speis' und Trank! NATHAN Und nur von seiten ihrer Gründe nicht. Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert!--Und Geschichte muß doch wohl allein auf Treu Und Glauben angenommen werden?--Nicht?-- Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
10 Nun, wessen Treu und Glauben zieht man denn Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? Doch deren Blut wir sind? doch deren, die Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe Gegeben? die uns nie getäuscht, als wo Getäuscht zu werden uns heilsamer war?-- Wie kann ich meinen Vätern weniger Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt.-- Kann ich von dir verlangen, daß du deine Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht Zu widersprechen? Oder umgekehrt. Das nämliche gilt von den Christen. Nicht?-- Laß auf unsre Ring' Uns wieder kommen. Wie gesagt: die Söhne Verklagten sich; und jeder schwur dem Richter, Unmittelbar aus seines Vaters Hand Den Ring zu haben.--Wie auch wahr!--Nachdem Er von ihm lange das Versprechen schon Gehabt, des Ringes Vorrecht einmal zu Genießen.--Wie nicht minder wahr!--Der Vater, Beteurt' jeder, könne gegen ihn Nicht falsch gewesen sein; und eh' er dieses Von ihm, von einem solchen lieben Vater, Argwohnen lass': eh' müss' er seine Brüder, So gern er sonst von ihnen nur das Beste Bereit zu glauben sei, des falschen Spiels Bezeihen; und er wolle die Verräter Schon auszufinden wissen; sich schon rächen. SALADIN Und nun, der Richter?--Mich verlangt zu hören, Was du den Richter sagen lässest. Sprich! NATHAN Der Richter sprach: Wenn ihr mir nun den Vater Nicht bald zur Stelle schafft, so weis ich euch Von meinem Stuhle. Denkt ihr, daß ich Rätsel Zu lösen da bin? Oder harret ihr, Bis daß der rechte Ring den Mund eröffne?-- Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; Vor Gott und Menschen angenehm. Das muß Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden Doch das nicht können!--Nun; wen lieben zwei Von Euch am meisten?--Macht, sagt an! Ihr schweigt? Die Ringe wirken nur zurück? und nicht Nach außen? Jeder liebt sich selber nur Am meisten?--Oh, so seid ihr alle drei Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
11 Betrogene Betrüger! Eure Ringe Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring Vermutlich ging verloren. Den Verlust Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater Die drei für einen machen. SALADIN Herrlich! herrlich! NATHAN Und also, fuhr der Richter fort, wenn ihr Nicht meinen Rat, statt meines Spruches, wollt: Geht nur!--Mein Rat ist aber der: ihr nehmt Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: So glaube jeder sicher seinen Ring Den echten.--Möglich; daß der Vater nun Die Tyrannei des einen Rings nicht länger In seinem Hause dulden willen!--Und gewiß; Daß er euch alle drei geliebt, und gleich Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen, Um einen zu begünstigen.--Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag Zu legen! Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
12 3. Die Inszenierung 3.1 Die Besetzung Regie Nicolas Brieger Bühne Hans Dieter Schaal Kostüme Andrea Schmidt-Futterer Musik Nils Strunk Dramaturgie Katharina Gerschler Nathan Tom Gerber Recha Mira Benser Sultan Saladin Hanno Friedrich Sittah Evelyn M. Faber Daja Maria Hartmann Ein junger Tempelherr Maximilian Pulst Ein Derwisch Matze Vogel Der Patriarch von Jerusalem Uwe Kraus Ein Klosterbruder Ulrich Rechenbach Licht Ralf Baars Regieassistenz Agnes Terebesi Inspizienz Michael Beranek Gebärdentraining Esther Sangermann Kostümassistenz Esther Feldkamp Soufflage Simone Betsch/Eva Walldorf Regiehospitanz David Rothe Technische Gesamtleitung Dominik Maria Scheiermann / Technischer Inspektor Robert Klein / Leitung der Dekorationswerkstätten Sven Hansen / Technische Produktionsleitung Markus Pockrandt / Bühneneinrichtung Norbert Winkler / Beleuchtungseinrichtung Steffen Hilbricht; Gregor Feuerer / Toneinrichtung Marcus Sack; Jonas Hagen / Leiterin der Requisite Simone Eck / Requisiteneinrichtung Jenny Frühmesser; Rebekka Klaucke; Andreas Schubert; Ilka Wolff; Patricc Urban / Chefmaskenbildnerin Katja Illy / Maske Kirsten Roser; Elisa Lingweiler / Leiterin der Kostümabteilung Anna Hostert / Obergewandmeister Jürgen Rauth / Gewandmeisterinnen Damen Claudia Dirkmann; Nina Schramm / Gewandmeister*innen Herren Walter Legenbauer; Victoria Reich / Putzmacherei Elisabeth Taylor / Schuhmacherei Theoharis Simeonidis / Rüstmeister Michael Hertling; Joachim Kutzer / Herstellung der Dekoration und Kostüme Werkstätten des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden. Premiere: 17. März 2018, Kleines Haus Spieldauer: ca. 3 ¼ Stunden, eine Pause Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
13 3.2 Der Regisseur Nicolas Brieger ist geboren und aufgewachsen in Berlin. Brieger arbeitete zunächst als Schauspieler im Theater, aber auch in Fernseh- und Kinoproduktionen, von denen »Welcome in Vienna« u. a. bei den Filmfestspielen von Cannes ausgezeichnet wurde. Seine Arbeit als Regisseur führte ihn an Theater in Berlin, Basel, Bremen, Bochum, Köln, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, München, Zürich, Stuttgart, das Burgtheater Wien und zu den Wiener Festwochen. Von 1978 bis 1980 war er zusammen mit Frank-Patrick Steckel Leiter des Bremer Schauspiels, von 1988 bis 1992 Schauspieldirektor am Nationaltheater in Mannheim. Opern inszenierte er u.a. an der Berliner, der Bayerischen und der Niedersächsischen Staatsoper, an der Pariser Opéra Bastille, am Grand Théâtre de Genève und in San Francisco Seine Inszenierung der Barockoper »Il Giustino« von Giovanni Legrenzi für die Schwetzinger Festspiele wurde von der Zeitschrift Opernwelt zur Wiederentdeckung des Jahres gewählt. In Wiesbaden inszenierte er bereits »La Traviata« in der Oper sowie »Hamlet« im Schauspiel und war als Schauspieler in der Titelpartie von »Baumeister Solness« zu erleben. In der laufenden Spielzeit inszeniert er hier »Nathan der Weise« und »Don Giovanni«. 3.3 Das Konzept Dass Toleranz und Frieden aus vernünftigem Reden erwachsen, ist die Utopie des Stücks. Gleichzeitig spielt es aber vor dem historischen Hintergrund der Kreuzzüge. Gewalt, Hinrichtungen, Anschläge und Feuersbrünste scheinen an der Tagesordnung, alle Figuren sind in permanenter Lebensgefahr. Das tritt auf der Bühne zwischen wohlabgemessenen Versen und der Toleranzfordernden, fast eigenständig neben dem Stück stehenden »Ringparabel« aber zuweilen in den Hintergrund. In Anbetracht einer politischen Weltlage, in der sich Extremismus und radikale Haltungen zunehmend ausbreiten, an vielen Orten Kriege mit (auch) »religiösen« Motiven geführt werden und der Toleranzbegriff zu einer hohlen leeren Floskel verkommt, holt Brieger in seiner Wiesbadener Inszenierung das Setting des Stücks inmitten eines Krieges in den Vordergrund. Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
14 Das schlägt sich zunächst einmal schon stark in der Ausstattung nieder: Hans-Dieter Schaal verwandelt das Kleine Haus mit seinem Bühnenbild in eine zeitgenössische Trümmerlandschaft: Staub und Asche lassen ganz konkrete Fernsehbilder z.B. aktuell aus Syrien aufblitzen, während variabel nutzbare abstrakt-geometrische Orte das ständig Gefährdete einer wankenden Welt sichtbar machen. Die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer erinnern einerseits an die Fernsehbilder von 9/11, in denen die Menschen von der Asche unkenntlich gemacht wurden und identifizieren die Figuren zugleich als das was sie »sind« und was für die Geschichte wichtig ist. Sie sind recht zeitlos gehalten und verweisen sowohl in die Zeit der Kreuzzüge als auch ins Heute. So erzählt der Panzer des Tempelherrn den Krieger von damals, erinnert in seiner Machart aber auch an die Sprengstoffweste eines heutigen Selbstmordattentäters. Angesichts von unaussprechlichen Kriegsgräuel und lärmendem Bombenhagel, der jedes Reden unmöglich macht, soll der Wert von Sprache in Briegers Inszenierung radikal deutlich werden. Darum der Gedanke, zunächst ganz auf gesprochene Sprache zu verzichten: in den ersten zwanzig Minuten der Inszenierung erzählt das Ensemble die Geschichte von »Nathan der Weise« im Schnelldurchlauf in Gebärdensprache. Die Musik zur Inszenierung stammt von Nils Strunk und basiert im ersten, stummen Teil auf Jimi Hendrix‘ 12-minütigem Gitarrenstück »Machine Gun« von 1970, das Hendrix auf den Vietnamkrieg bezog und gleichzeitig den Kämpfenden und Opfern aller Kriege widmete. Umbaut wird das Ganze mit Gemurmel, das sich aus dem des Publikums ergibt und dann zunächst in mediale Beschallung und Kriegsgeräusche übergeht. Nathan: »Komm! Übe, was du längst begriffen hast, Was sicherlich zu üben schwerer nicht, Als zu begreifen ist, wenn du nur willst.« Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
15 4. Thematik und Hintergrund Probennotate zu »Nathan der Weise« von Regisseur Nicolas Brieger Quelle: Auszug aus dem Programmheft zur Inszenierung »Stumm höre ich nur noch das Pochen meines Herzens aus Angst, dass diese Sekunde die letzte ist. Das menschliche Hirn hat für diesen Wahnsinn keine Worte«, twittert ein Einwohner von Ost-Ghouta während der Bombenangriffe der syrischen und russischen Armee in der letzten Februarwoche des Jahres 2018. Und ausgerechnet Lessing soll uns mit seinem wortgewaltigen Juden Nathan dazu befähigen, diesen von Menschen willentlich veranstalteten Wahnsinn zu verstehen oder, besser noch, zu begreifen? Ist »Nathan der Weise« nicht stets als das Stück der Toleranz zwischen den drei Weltreligionen, der Freundschaft und Verwandtschaft unter den Menschen, die alle Widrigkeiten zwischen ihnen überwinden lassen, begriffen worden? Interpretiert als ein dramatischer Text der Versöhnung, nicht der Rache. Gern wird dabei übersehen, dass das Epizentrum dieses Stückes nicht die Ringparabel ist, sondern die Schilderung Nathans über das Massaker von Gath, einer ehemals großen Stadt im Sinai, bei dem seine gesamte Familie, die Frau und seine sieben Söhne, von Christen ermordet wurden. Sehr spät, als alles schon auf eine glückliche Lösung zusteuert, lässt Lessing ihn von diesem seinem Lebenstrauma erzählen. Sterben oder Weiterleben, vor dieser Entscheidung stand Nathan nach der Auslöschung seiner Familie in den Trümmern seines Hauses. Er entschied sich zu leben, weiter zu leben als Rache. Er rächt das Verbrechen an ihm aber nicht mit Gewalt, sondern mit Güte. Das verschafft ihm Immunität. Kein Gefühl dringt mehr durch die Schutzschicht, die dieses Trauma umhüllt, außer der Liebe zu seiner Adoptivtochter Recha. Vernunft bestimmt fortan sein Handeln in dem blutigen Wahnsinn menschlicher Anmaßung. Lessing hat uns dazu die klügsten und elegantesten Blankverse der deutschen Dramenliteratur hinterlassen, die den Leser oder Zuhörer unmittelbar erreichen. Aber treffen sie auch den Twittereintrag dieses von Krieg und Vernichtung geschundenen Menschen in Ost-Ghouta »Stumm höre ich das Pochen meines Herzens«? Dienen diese Verse nicht gar nur dazu, unser schlechtes Gewissen zu beruhigen, dass wir außer beifälligem Nicken nichts oder zu wenig tun gegen dieses Grauen? Es gilt also die Entzündung, aus der dieses Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
16 wunderbare Sprache ursprünglich erwachsen ist, in einer Inszenierung neu herbeizuführen, so dass die Worte Lessings brennen und – einmal ausgesprochen – nicht schon Asche sind, es gilt, deutlich zu machen, dass wir nur die Sprache als Waffe gegen den Wahnsinn haben, dass ausschließlich Kommunikation es möglich macht, dass zumindest für einen Augenblick die Waffen es sind, die schweigen. Denn hinter der Sprache steht als dunkler Zwilling das Schweigen, jederzeit bereit, die Macht des Verstummens zu übernehmen. Im Bombenhagel, was gibt es da noch zu reden? Verschüttete mit bloßen Händen auszugraben, wer findet da noch Worte? Wer kann sich mitteilen, während er um sein Leben rennt? Was bleibt, ist die Geste, es bleibt das Zeichen. Basics menschlicher Annäherung in der Hoffnung, irgendwann wieder Worte zu finden, um diese blutige, unverständliche Raserei benennen zu können und sie vielleicht dadurch endlich zu bannen. Wir werden also versuchen, durch die Geste zum Wort zu finden und nicht wie üblich umgekehrt, um den versteckten Furor in der Sprache von Lessing zu entzünden und so dem Wesenskern seiner Weltbetrachtung aus kämpferischem Elan und nahezu verzweifeltem Humor näher zu kommen. Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
17 NATHAN’S SCHILDERUNG DES MASSAKERS VON GATH »Ihr guter Bruder, müsst mein Fürsprech sein, Wenn Hass und Gleisnerei sich gegen mich Erheben sollten, wenn ein Tempelherr es ist, der Euren Patriarchen hetzt – wegen einer Tat – Ihr traft mich mit dem Kinde zu Darun. Ihr wißt wohl aber nicht, daß wenig Tage Zuvor, in Gath die Christen alle Juden Mit Weib und Kind ermordet hatten; wißt Wohl nicht, daß unter diesen meine Frau Mit sieben hoffnungsvollen Söhnen sich Befunden, die in meines Bruders Hause, Zu dem ich sie geflüchtet, insgesamt Verbrennen müssen. Als Ihr kamt, hatt' ich drei Tag' und Nächt' in Asch' Und Staub vor Gott gelegen, und geweint.-- Geweint? Beiher mit Gott auch wohl gerechtet, Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht; Der Christenheit den unversöhnlichsten Haß zugeschworen-- Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder. Sie sprach : "und doch ist Gott! Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan! Komm! übe, was du längst begriffen hast, Was sicherlich zu üben schwerer nicht, Als zu begreifen ist, wenn du nur willst. Steh auf!"--Ich stand! und rief zu Gott: ich will! Willst du nur, daß ich will!--Indem stiegt Ihr Vom Pferd, und überreichtet mir das Kind, In Euern Mantel eingehüllt. Ich nahm Das Kind, trug's auf mein Lager, küßt' es, warf Mich auf die Knie und schluchzte: Gott! auf Sieben Doch nun schon Eines wieder!« (Nathan; Vierter Aufzug – Siebenter Auftritt) Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
18 Gebärden und Sprache Quelle: Auszug aus dem Schulterblick-Artikel »Gestenreich« im Theatermagazin »Andererseits«; der gesamte Text ist zu lesen unter: https://issuu.com/newplays/docs/hsw_andererseits_09_macht_issuu (ab Seite 42) […] Schon vor einigen Monaten hat die Gebärdensprache-Dolmetscherin Esther Sangermann auf Bitten des Regisseurs Nicolas Brieger begonnen, mit den Darsteller*innen Dialoge zentraler Szenen in Gebärdensprache zu erarbeiten. Briegers konzeptioneller Gedanke hinter dieser ungewöhnlichen Arbeitsweise ist es, Lessings »dramatischem Gedicht« auf der Bühne widerständig zu begegnen: dass Toleranz und Frieden aus vernünftigem Reden erwachsen, ist die Utopie des Stücks. Gleichzeitig spielt es aber vor dem historischen Hintergrund der Kreuzzüge. Gewalt, Hinrichtungen und Feuersbrünste scheinen an der Tagesordnung. Alle Figuren sind in permanenter Todesbedrohung. Das tritt auf der Bühne zwischen wohlabgemessenen Versen und der Toleranzfordernden, als Text schon nahezu selbständig neben dem Stück stehenden »Ringparabel« aber zuweilen in den Hintergrund. Eben das Explosive einer Welt am Abgrund, in der jedes falsche Wort, jede unüberlegte Handlung alle ins Chaos stürzen kann, aber ist es, die das Stück wieder so aktuell macht. Wenn Brieger seine Gedanken dazu beschreibt, verweist er auf Nachrichtenbilder aus Krisengebieten, in denen der Schrecken von Infrarotkameras aufgenommen, aber stumm bleibt, Fliehende, Heckenschützen vom Voiceover des Fernsehberichts ihrer individuellen Stimmen beraubt sind. Aus dieser Diskrepanz heraus sucht er eine Form, in der ein »Nathan« heute erzählt werden kann. Der Wert von Sprache soll dabei ganz radikal deutlich werden. Darum der Gedanke, streckenweise die Szenen komplett ihrer lautsprachlichen Ebene zu berauben, das genuin menschliche Bemühen um Verständigung aber trotzdem – eben mit Hilfe der Gebärdensprache – zu zeigen. Für die Schauspieler*innen ist das ein großes Abenteuer. »In der Schauspielschule wird uns ja richtiggehend abtrainiert, Gesagtes gestisch zu »beglaubigen«, jetzt arbeiten wir geradezu am Gegenteil«, sagt Mira Benser, die im Stück Nathans Ziehtochter Recha spielt. »Man darf keine Angst vor Übertreibung haben, muss im Gegenteil alles so deutlich wie möglich machen. Wenn man spricht ist es einfach, zu nuancieren. Töne und Lautstärken müssen in der Gebärdensprache aber nur über den Körper und die Mimik transportiert werden.« Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
19 Gerade das Konkrete, zu dem die Gebärdensprache zwingt, die Unmöglichkeit, etwas zu sehr im Vagen zu lassen, schätzt auch Nicolas Brieger. Wohin genau das am Ende auf der Bühne führ, kann man auf der Bühne des Kleinen Hauses sehen. Sicher ist aber, dass allein das Training Ausdrucksrepertoire, Zusammenspiel und Aufmerksamkeit der Spieler*innen füreinander enorm befördert hat. Auch Esther Sangermann ist sehr beglückt von der Arbeit mit den Schauspieler*innen, lobt deren schnelle Auffassungsgabe und große Gewandtheit, den Körper als Ausdrucksmittel zu nutzen. Sie ist überzeugt, dass es durchaus gelingen kann, Stückpassagen ohne Sprache zu spielen. »Wenn die Schauspieler wissen, worüber sie sich miteinander verständigen, wird sich das auch einem nicht Gebärdensprach-geschulten Zuschauer vermitteln.« Es bleibt jedenfalls spannend. Toleranz? Ein Text von Navid Kermani Quelle: Auszug aus dem Programmheft zur Inszenierung Man kennt die Anlässe, die Lessing 1778 zum »Nathan« bewogen haben: den Streit mit dem Hauptpastor Goeze und der protestantischen Orthodoxie, die Zensur des braunschweigischen Herzogs. Weil er die intellektuelle Debatte nicht mehr führen durfte, wich Lessing auf das dramatische Gedicht aus, um »dem Feind auf einer anderen Seite damit in die Flanke zu fallen«. Das war vor über zweihundert Jahren, und die Welt geht seither gewiss nicht freundlicher mit den Menschen um. Die Meinungen haben sich jedoch geändert. Um nur das Wort »Aufklärung« zu nehmen – schon mit dem Aufkommen der Romantik, ein, zwei Jahrzehnte nach Lessings Tod, war es zum Schlagwort geworden, das die Eliten weniger bekämpften als bespöttelten. Lessings Toleranzbegriff ist zunächst vom bürgerlichen Normalbewusstsein, später auch von den Kirchen so restlos aufgesogen worden, dass er jeden herrschaftskritischen Impuls verloren hat. Vor zweihundert Jahren galt Lessing der protestantischen Orthodoxie als ein Extremist; heute gälte jede politische, religiöse oder gesellschaftliche Kraft als extremistisch, die sich dazu bekennt, Anders-Gläubige, Anders- Rassige, Anders-Denkende für minderwertig zu halten. Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
20 Intoleranz als politisches Denken und Handeln setzt im 21. Jahrhundert voraus, dass sie als Toleranz verkauft wird, am einfachsten durch die Behauptung, die eigene Toleranz wehrhaft gegen die Intoleranz verteidigen zu müssen. […] Wer heute Lessings Botschaft, wie sie sich in der Ringparabel verdichtet, auf die Bühne bringen möchte, muss einbeziehen, dass sie gerade deshalb so wenig Gehör findet, weil sie zum Allgemeingut geworden ist, mit dem selbst diejenigen noch sich brüsten, die nicht mehr nur gegen politische Gegner, sondern gegen ganze Kulturen kämpfen. Ein Theater, das Lessings Botschaft ernst nimmt, müsste sich fragen, warum diese Botschaft so leer geworden ist, dass die Orthodoxen aller Religionen, die Staatenlenker und die Teilnehmer der Weltwirtschaftstreffen sie wie ein Mantra aufsagen, die Kulturen, Religionen und übrigen Identitätsmaschinen sich aber dennoch von Tag zu Tag aggressiver gebärden. Um an Lessings Utopie zu glauben, müsste man sie heute negieren, sonst wird sie affirmativ und damit zum Gegenteil dessen, was sie 1778 gewesen ist. Gotthold Ephraim Lessing und die Dramaturgie Interview mit der Schauspiel-Dramaturgin Katharina Gerschler Auf Wikipedia ist zu lesen, dass Gotthold Ephraim Lessing nicht nur ein bedeutender Dichter der deutschen Aufklärung war, sondern auch »der weiteren Entwicklung des Theaters einen wesentlichen Weg gewiesen« hat. Was ist damit gemeint? Oh Gott, dazu könnte ich dann gleich den nächsten Wikipedia-Artikel schreiben… Kurz gefasst: er hat in einer Zeit, in der es wenig deutschsprachige, eigenständige Dramatik gab (man orientierte sich z.B. sehr stark an französischen Vorbildern), bedeutende Bühnenwerke verfasst, die für nachfolgende Autoren-Generationen stilbildend wurden (so ist z.B. seine »Emilia Galotti« im Grunde das Ur- Beispiel eines »bürgerlichen Trauerspiels«). Außerdem hat Lessing viel dazu beigetragen, ein bürgerliches Theater unabhängig von den exklusiven Theatern, die es beispielsweise an den Fürstenhöfen gab, auszugestalten, im Grunde überhaupt erst zu »erfinden«. Lessing gilt auch als Erfinder bzw. Begründer deines Berufsstandes, der Dramaturgie. Wie kam es dazu? In Hamburg begründete eine Gruppe finanzkräftiger Bürger ein neues Schauspielhaus, das – ungewöhnlich und neuartig für diese Zeit! – ein Theater für die Stadt und ihre Bürger sein sollte. Lessing, der zu diesem Zeitpunkt bereits einige erfolgreiche Stücke geschrieben hatte und der durch seine Publikationen zur Literatur einen guten Namen als – »Lektor« würde man heute vielleicht sagen – hatte, schien der Richtige zu sein, um ein solches Theater künstlerisch zu beraten. Und das tat er umfassend: er empfahl Stücke zur Aufführung und überlegte sehr genau nicht nur, wie sie aufs Publikum wirken würden und das Theater voranbringen würden, wichtige Themen anschneiden etc., Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
21 sondern auch, wie sie das Schauspielensemble in ihrer Entwicklung befördern könnten. Er entwarf Theorien dazu, wie eine Schauspielausbildung (die es in der heutigen Form natürlich noch gar nicht gab) beschaffen sein müsste etc. etc. Und er schrieb für »sein« Theater auch eigene Stücke. Und was macht eine Dramaturgin heute? Durchaus immer noch Vieles von dem, was Lessing damals tat. Stücke schreiben tue ich persönlich nicht, aber ich habe schon Texte dramatisiert. Und über die Ausbildung von Schauspielern müssen wir uns, anders als Lessing, zum Glück keine Gedanken mehr machen, allerdings sind wir z.B. diejenigen, die – mit dem Intendanten – darüber entscheiden, wen wir neu engagieren und wer in welchen Stücken was spielt etc. An vielen Stellen ragt unsere Arbeit inzwischen aber auch in die Öffentlichkeitsarbeit oder auch Theaterpädagogik hinein, weil wir viel »vermittelnd« tätig sind und insgesamt gibt es inzwischen unendlich viel mehr zu organisieren, so dass man sich nicht immer ganz so intensiv inhaltlich mit den einzelnen Produktionen beschäftigen kann, wie man das gern wollen würde. Zumindest meine Vorstellung von meinem Beruf ist aber immer noch die einer beratenden, inhaltlich sehr in die Tiefe gehenden Begleitung einer Inszenierung. Viel lesen, Stücke kennen, Regisseur*innen und ihre Arbeiten anschauen, vorschlagen, wer am Haus inszenieren sollte etc. sind Dinge, die wir tun. Was muss man dafür können und wie wird man Dramaturgin? Was muss man können: siehe zu einem Gutteil bereits oben. Es hilft, mehr als eine Sprache gut zu können (schon allein wegen neuester Stücke aus anderen Ländern aber auch wegen Gastspielen, grenzüberschreitenden Kooperationen u.ä.). Psychologisches Gespür sollte man haben – oft vermitteln wir ja auch in Konfliktfällen innerhalb einer Produktion und Probenarbeit ist generell eine recht intime Angelegenheit, bei der es gut ist, unterschiedlich auf unterschiedliche Situationen, Bedürfnisse, Menschen eingehen zu können. Gut und verständlich Inhalte zusammenfassen und sie auch schriftlich fixieren zu können ist auch wichtig. Für Programmhefte, Publikationen des Theaters etc. Einen analytischen Blick auf Texte, Theaterabende etc. braucht man auch – und die Fähigkeit, das, was man erkennt, dann wiederum jemandem zu erklären. Dem Publikum Dinge erklären muss man zuweilen auch. Oft in recht großen öffentlichen Veranstaltungen, es schadet also nicht, keine große Scheu zu haben, vor Menschen zu sprechen. Das so in etwa, hierzu könnte man auch Seiten schreiben. Ein wissenschaftliches Studium (Theaterwissenschaften, Literaturwissenschaften o.ä. ist keine Grundvoraussetzung aber sehr sinnvoll). Was waren deine Aufgaben bei der Inszenierung von »Nathan der Weise«? Ich habe mich im Vorfeld intensiv mit dem Regisseur über die Fassung verständigt (er hat den Text ja stark gekürzt). Dann habe ich die Gebärdendolmetscherin gesucht, gefunden und viel mit der Organisation der Proben für die gebärdeten Szenen zu tun gehabt, die schon stattfanden, als der Regisseur noch gar nicht am Haus war. Vom Probenstart an habe ich ganz »klassisch« die Produktion als Produktionsdramaturgin begleitet, was in diesem Fall aber nicht sehr kompliziert war, da der sehr erfahrene und auch was das Hintergrundwissen über ein Stück angeht immer unfassbar gut Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
22 vorbereitete Regisseur wenig Unterstützung braucht. Das Programmheft habe ich zusammengestellt, gebe im Moment ab und zu Einführungen, habe auch eine längere Einführungsveranstaltung gemacht etc. Was gefällt dir an »Nathan der Weise«? An unserer Version tatsächlich besonders gut die ungewöhnliche, sehr eindrückliche »stumme« Anfangssequenz. Ansonsten gefällt mir gut, dass Lessing drei sehr unterschiedliche, wenig klischeehafte Frauenfiguren geschrieben hat, die allesamt nicht den zeittypischen Idealen von »Weiblichkeit« entsprechen. Sehr kluge, interessante Frauen. Die gibt es gerade in älteren Stücken gar nicht so häufig. Warum sollten sich junge Leute »Nathan der Weise« im Theater ansehen? Thematisch ist das Stück leider nach wie vor hochaktuell und es ist, finde ich, in unserer Inszenierung gut zu sehen, dass uns das, was Lessing da erzählt, immer noch angeht. Können Liebe, Toleranz und Einsicht zwischen den Fronten vermitteln oder ist Lessings Stück reine Utopie? Wenn wir nicht hoffen würden, dass sie es können, sollten wir vermutlich gleich aufhören, Theater zu machen. Aber auch Lessing selbst ist sich, glaube ich, nicht immer sicher, ob er da gerade eine pure Utopie verfasst: das Stück hat einen derart märchenhaften Schluss, in dem sich magisch alles fügt – und dann doch wieder nicht alles. Was geschieht z.B. mit Nathan selbst, nachdem sich alle in den Armen liegen? Es lohnt sich, weniger auf das Wohlformulierte, Beispielhafte, Kluge des Stücks zu sehen, sondern die kleinen Brüche, Fragen etc., die es – manchmal ganz nebenbei – aufwirft, zu untersuchen. Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
23 5. Ideen zur Vor- und Nachbereitung 5.1 Vorbereitung 5.1.1 Vorbereitung auf den Theaterbesuch allgemein Kleiner Theaterknigge Im Unterschied zum Kino stehen im Theater die Schauspieler als reale Personen vor den Zuschauenden. Jede Aufführung ist einzigartig und das Publikum und die Schauspieler beeinflussen sich gegenseitig. Respekt ist deshalb sehr wichtig. Das heißt nicht, dass die Schülerinnen und Schüler mucksmäuschenstill auf ihren Plätzen sitzen müssen. Das Theaterstück ist für sie gedacht und sie sollen lachen, weinen, auch mal kurz aufschreien oder sich aufregen und es natürlich auch doof finden dürfen. Im Theater geht aber dennoch nichts ohne Verabredungen und Regeln. So wie die Schauspieler in den Proben Verabredungen miteinander treffen, um gemeinsam das Stück spielen zu können, gibt es auch Verabredungen zwischen Schauspielern und Publikum, die man kennen sollte: ∞ Am Theater gibt es keine Vorschriften, wie man sich für die Theatervorstellung kleiden sollte. Oft ziehen sich die Theaterbesucher elegant an, aber heute ist schicke Kleidung im Theater keine feste Regel mehr. Auch Jeans und Sweatshirts sind erlaubt. ∞ Sowohl zum Vorstellungsbeginn, als auch nach den Pausen, sollte man sich pünktlich auf die Plätze begeben. Bei Verspätungen wird man oft nicht mehr eingelassen, da sonst die laufende Vorstellung gestört wird. ∞ Der Zuschauerraum sollte nicht während der laufenden Vorstellung verlassen werden. ∞ Handys und alle anderen Geräusch- und Lichtquellen werden im Theater komplett ausgestellt, schon aus Respekt gegenüber den Schauspielern und den anderen Zuschauern, aber auch, um die technische Übertragung nicht zu stören. ∞ Lebensmittel und Getränke dürfen in der Regel nicht mit in den Zuschauerraum genommen werden. ∞ Das Unterhalten mit den Sitznachbarinnen und Sitznachbarn sollte unterbleiben. Das stört die Anderen und auch die Schauspielerinnen und Schauspieler. Zuschauende und Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
24 Darstellende befinden sich während der Vorstellung in einem gemeinsamen Raum. Genauso wie die Zuschauer*innen die Schauspieler*innen hören, können die Schauspieler*innen die Gespräche im Zuschauerraum hören. Indem man sich völlig auf die Vorstellung konzentriert, wird den Schauspielerinnen und Schauspielern und allen Bühnenbeteiligten Respekt vor der besonderen Darbietung einer Live-Vorstellung gezeigt. ∞ Auch das Fotografieren, sowie das Aufnehmen von Bild und Ton, sind nicht erlaubt. Trotz aller Regeln ist der Theaterbesuch ein kulturelles Erlebnis. Es ist erlaubt zu lachen, wenn man etwas lustig findet, zu weinen, wenn man berührt ist und zu klatschen, wenn es einem am Ende gefallen hat. Denn es geht beim Theater nicht um richtig oder falsch, sondern vor allem um ein Erlebnis, das man gemeinsam teilen kann. Vorgespräch Die Schüler*innen werden gewisse Erwartungen an den Theaterbesuch und vielleicht auch Fragen haben. Manche bringen eventuell schon Vorerfahrungen mit, andere waren noch nie im Theater. Sprechen Sie mit Ihren Schüler*innen über ihre Erwartungen, Erfahrungen und Fragen: ∞ Wer war schon einmal im Theater? Was für ein Theater war das? War es Puppentheater, Musical, Schauspiel, Oper? ∞ Was hat ihnen im Theater besonders gut bzw. gar nicht gefallen? ∞ Was unterscheidet Theater vom Kino? ∞ Gibt es gewisse Regeln oder Verabredungen, die im Theater gelten? 5.1.2 Ideen zur Vorbereitung auf das Stück Einführung in das Stück ∞ Sofern die Klasse sich bereits mit »Nathan der Weise« beschäftigt hat, können Sie die Gruppe zunächst selbst die Handlung zusammenfassen und/oder die Figuren vorstellen lassen. Anschließend können alle überlegen, wie sie sich das Stück auf der Bühne vorstellen und dann als Einstieg gemeinsam den Trailer zur Inszenierung schauen: http://www.staatstheater-wiesbaden.de/schauspiel/premieren-2017-2018/nathan-der-weise- 2017-2018/ Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
25 ∞ Sofern die Klasse/Gruppe »Nathan der Weise« noch nicht kennt, können Sie als Einführung gemeinsam den YouTube-Film über das Stück aus der Reihe »Sommers Weltliteratur To Go« anschauen, der auf unterhaltsame Weise und mit Hilfe von Playmobil- Figuren in die Handlung und Figurenkonstellation von »Nathan der Weise« einführt: https://www.youtube.com/watch?v=60kNNVHeYTU Einführung in die Inszenierung Um die Klasse/Gruppe mit dem Regiekonzept vertraut zu machen und auf den Anfangsteil in Gebärdensprache vorzubereiten, können Sie die Probennotate des Regisseurs und/oder den Artikel aus dem Theatermagazin »Andererseits« gemeinsam lesen und diskutieren. Theaterpraktische Vorbereitung I – Raumlauf Balance-Akt Ziel: Wahrnehmungsschulung, auf sich und andere achten. Das friedliche Zusammenleben der Kulturen und Religionen ist ein schwieriger Balanceakt, damit er gelingen kann, müssen alle auf sich selber achten und gleichzeitig auch die Mitmenschen im Blick haben. Alle Schüler*innen gehen locker kreuz und quer im Raum umher und achten dabei zunächst auf sich und ihren Körper: wie gehen sie? Wie fühlen sie sich? Wie fühlt sich der Körper an? Wo sind Verspannungen?, … Nach einer Weile sollen sie sich vorstellen, dass der Boden des Raumes eine wackelige Scheibe ist, die nur in der Raummitte auf einer kleinen Spitze verankert ist. Alle müssen sich laufend nun so im Raum verteilen, dass die Scheibe immer im Gleichgewicht ist und nicht kippt, sodass jemand »herunterfällt«. Dabei müssen alle ständig in Bewegung sein. Wenn das gut klappt, können sich die SuS auch gegenseitig versuchen herauszufordern, indem sie sich schnell in eine Richtung bewegen, was die anderen dann ausgleichen müssen. Theaterpraktische Vorbereitung II – Begrüßungsspiel in Gebärdensprache Ziel: einige Gebärden kennen lernen; Verständigung ohne Worte; Wahrnehmung & Aufmerksamkeit Zeigen Sie der Klasse/Gruppe die im Stück verwendeten Gebärden für »Christ«, »Jude« und »Muslim« (s. Anhang) und lassen Sie die Jugendlichen raten, was sie bedeuten und warum. Dann gehen alle wieder kreuz und quer im Raum herum und immer, wenn sich zwei begegnen (Blickkontakt) begrüßen sie sich mit einer der drei Gebärden, indem sie sich nonverbal auf eine verständigen. Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
26 Theaterpraktische Vorbereitung III – Durch die Geste zum Wort Ziel: praktische Annäherung an das Regiekonzept, eigene Spielerfahrung sammeln In seinen Probennotaten zum Stück schreibt Regisseur Brieger »Wir werden also versuchen, durch die Geste zum Wort zu finden, und nicht wie üblich umgekehrt.« Um dies selber auszuprobieren, können Sie mit Ihrer Klasse die Impro-Theater-Übung »Dia-Show« machen: Mehrere Spieler*innen formieren sich zu einem Standbild. Eine Moderator*in beschreibt dann spontan, was auf diesem Bild zu sehen ist. Auf ein bestimmtes Kommando (z.B. »Klick!«) ändern die Spieler*innen Haltung und Position. Ein neues Bild entsteht. Die Aufgabe der Moderator*in ist es, zum einen zu erklären, was auf den einzelnen Bildern zu sehen ist, zum anderen eine Geschichte zu entwickeln, die die einzelnen Bilder miteinander verbindet. Je mehr die Spieler*innen versuchen, die Moderator*in in Schwierigkeiten zu bringen, indem sie möglichst Absurdes darstellen oder eine Szenerie, die mit dem vorherigen »Dia« so wenig wie möglich zu tun hat, desto lustiger wird‘s. Der Vortragende muss die entstehenden Bilder irgendwie in eine Verbindung bringen und einen möglichst konsistenten Vortrag halten. ∞ Variante: Die Gruppe kann auch vorab ein Thema festlegen, das der Diashow zugrunde liegen soll, evtl. mit Bezug zum Theater oder zum Stück (z.B. Meine Reise nach Jerusalem; Zu Besuch bei Gotthold Ephraim Lessing; Mein letzter Theaterbesuch) Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
27 Beobachtungsaufgaben Zur Schärfung der Wahrnehmung ihrer Schüler*innen während des Theaterbesuchs können Sie ihnen vorab Beobachtungsaufträge mitgeben (und sie dafür ggf. in mehrere Kleingruppen mit unterschiedlichen Schwerpunkten einteilen). Die Beobachtungen sollten ohne Zettel und Stift erfolgen - schon das Wissen, dass auf verschiedene Dinge geachtet werden soll, schärft die Wahrnehmung. Beispiele für Beobachtungsaufträge: ∞ Kostüme und Maske: Farben? Historisch? Realistisch? Symbolisch? ∞ Bühne: Gegenstände? Formen? Realistisch? Symbolisch? ∞ Licht und Technik: Farben? Effekte? Ggf. Video o.ä.? ∞ Requisiten: Gegenstände, die eine besondere Rolle spielen, etc. ∞ Persönliche Top-Momente / Persönliche Flop-Momente ∞ Gebärdensprache: wie oft kommen die Gesten für »Christ«, »Jude« und »Muslim« vor? Auswertung: Nach dem Theaterbesuch stellen die einzelnen Gruppen ihre Ergebnisse im freien Gespräch, als Kurzvortrag oder auch als kleine Zeitungskritik vor. 5.2 Nachbereitung Nachgespräch Ziel eines Nachgesprächs ist es, gemeinsam das Gesehene zu rekonstruieren, Unklarheiten zu besprechen und Zusammenhänge herauszufinden, um einen Eindruck von der großen Vielfalt möglicher Interpretationen zu gewinnen. Die Bilderwelten des Theaters sind nicht immer direkt zugänglich. Moderne Theaterformen bebildern nicht, sie ermöglichen, dass Zuschauer eigene Bilder finden. Sie hinterlassen viele Fragen, aber auch ein Feuerwerk der Ideen und Assoziationen. In jedem Kopf ein anderes Feuerwerk. Wie tauscht man sich aus? Es ist eine Herausforderung, diese sinnlichen und vielleicht auch widersprüchlichen Eindrücke in Worte zu fassen. Ein gutes Gespräch nach einem gemeinsamen Theaterbesuch braucht deshalb ein paar Voraussetzungen. Nehmen wir also an: Begleitmaterial zu NATHAN / dramaturgie@staatstheater-wiesbaden.de /theaterpaedagogik@staatstheater-wiesbaden.de
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