Mehr als nur eine Personalentscheidung - Einleitung
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NR. 35 JUNI 2019 Einleitung Mehr als nur eine Personalentscheidung Die nächste EU-Kommission braucht ein gemeinsames politisches Mandat Nicolai von Ondarza Europa hat gewählt, nun steht die Neubesetzung der EU-Institutionen an. Die meiste Aufmerksamkeit richtet sich auf personelle Fragen. Doch genauso wichtig ist die inhaltliche und strukturelle Neuaufstellung der EU-Kommission, die unter Präsident Juncker zahlreiche Reformen erfahren hat. Zum Ende ihrer Amtsperiode ist die Bilanz gemischt: Die Kommission ist fokussierter geworden, und die interne Kohärenz deut- lich gestiegen. Doch viele der Gesetzgebungsvorschläge waren auch am Ende der Legis- laturperiode im Europäischen Parlament und/oder im Rat der EU nicht mehrheits- fähig. Das Leitbild der politischen Kommission hat sich zunehmend als unvereinbar mit den Kontrollaufgaben des höchsten Exekutivorgans der EU erwiesen. Die neue Kommission wird in einem schwierigeren politischen Umfeld agieren und selbst par- teipolitisch heterogener werden. Ihre Neuaufstellung sollte daher auch als Gelegen- heit genutzt werden, um das Spitzenkandidatenprinzip anders zu interpretieren und um zwischen Parlament, Rat und neuer Kommission ein gemeinsames politisches Pro- gramm für die EU zu verhandeln. Zu Beginn jeder Legislaturperiode des Euro- den Machtpoker zwischen den Mitglied- päischen Parlaments (EP) werden die EU- staaten miteinbezogen werden. Institutionen neu formiert. Die Wahl des Dieser komplexe Prozess der Neuaufstel- Präsidenten bzw. der Präsidentin der EU- lung wird von Rivalitäten auf drei Ebenen Kommission ist eng verbunden mit der begleitet: zwischen den Parteien im EP, die Nominierung der Hohen Vertreterin bzw. darum ringen, welche von ihnen nach den des Hohen Vertreters, der Präsidentin bzw. Wahlen eine Mehrheit organisieren kann, des Präsidenten des Europäischen Rates zwischen dem EP und den nationalen und des Europäischen Parlaments sowie Regierungen im Europäischen Rat um die der übrigen Kommissionsmitglieder. 2019 Frage, wer den Kommissionspräsidenten kommt noch die Entscheidung über die oder die Kommissionspräsidentin bestimmt, Nachfolge des Präsidenten der Europäischen und zuletzt zwischen den Mitgliedstaaten, Zentralbank (EZB) Mario Draghi hinzu. die daran interessiert sind, ihren Einfluss Diese Personalie sollte ursprünglich zwar möglichst umfassend geltend zu machen. von den parteipolitischen Verhandlungen Die Schlüsselposition in dieser institutio- getrennt werden, wird aber unweigerlich in nellen – und auch programmatischen –
Neuaufstellung hat weiterhin die Europäi- 2018 mehr Menschen in der EU (46 Prozent) sche Kommission. Zwar hat die Kommission als noch 2014 (32 Prozent). im politischen System der EU in der letzten Gleichzeitig jedoch hat sich die Krise der Dekade an Bedeutung verloren; der Euro- Europäischen Union von einer primär wirt- päische Rat ist das Forum, in dem die gro- schaftlichen zu einer politischen Krise ent- ßen Kompromisse zwischen den Mitglied- wickelt. In fast allen nationalen Wahlen in staaten ausgehandelt werden, und das Par- EU-Mitgliedstaaten zwischen 2014 und lament hat an Gewicht in der EU-Gesetz- 2019 haben EU-skeptische Parteien an Zu- gebung gewonnen. Und dennoch: Das stimmung gewonnen. In mehreren Staaten alleinige legislative Initiativrecht bleibt bei gelang es ihnen dabei auch, Regierungs- der EU-Kommission, sie vertritt die EU in verantwortung zu übernehmen, wie etwa wichtigen Verhandlungen (wie über den in Italien oder (zeitweise) in Österreich. Der Brexit mit Großbritannien) und fungiert als ganz große Durchbruch ist bei den Europa- »Hüterin der Verträge« bei der Umsetzung wahlen 2019 zwar ausgeblieben, aber in der EU-Gesetzgebung oder beim Schutz der vier der sechs größten EU-Staaten (Frank- Rechtsstaatlichkeit. reich, Großbritannien, Italien, Polen) wur- den EU-skeptische Parteien stärkste Kraft. Zwar sind sie im EP (noch) in drei Fraktio- Gemischte Bilanz der nen gespalten und von einer eigenen Mehr- »Kommission der letzten Chance« heit weit entfernt. Gemeinsam stellen sie aber nun über 20 Prozent der Abgeordne- Die Neuaufstellung der Europäischen Kom- ten. Die das EU-Parlament bislang dominie- mission ist daher ein wichtiger Baustein für rende informelle große Koalition aus Euro- die politische Ausrichtung der EU. Hier päischer Volkspartei (EVP) und europäischen lohnt sich ein Blick zurück. Als die Juncker- Sozialdemokraten (S&D) hat hingegen ihre Kommission 2014 ins Amt gewählt wurde, Mehrheit verloren (siehe SWP-Studie 9/2019). steckten die EU und insbesondere die Euro- zone mitten in der schwersten Finanz- und Die Grenzen der Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Juncker politischen Kommission trat mit dem Anspruch an, dass das von ihm geführte Team das Vertrauen der Bür- Die nächste Kommission muss sich nun gerinnen und Bürger zurückgewinnen eine neue politische Basis im EP suchen. müsse und bezeichnete es als »Kommission Unter der Führung von Juncker hatte sie der letzten Chance«. Doch die Amtszeit der sich als »hoch politische« Kommission ver- Juncker-Kommission war geprägt von weite- standen, die in der EU nicht nur verwalten, ren Krisen – die Grexit-Debatte, die Flücht- sondern die Politik der Union aktiv und ent- lingskrise, das Brexit-Votum und der Han- lang klarer, auch kontroverser politischer delskonflikt mit den USA sind nur die sicht- Leitlinien gestalten würde. Damit wollte barsten Wegmarken einer anhaltend pro- sich Juncker ganz dezidiert von seinem Vor- blembelasteten Ära. gänger José Manuel Barroso abgrenzen, des- Zumindest die wirtschaftliche Situation sen Kommissionsführung als technokratisch in der Union hat sich während der Amtszeit und im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten der Juncker-Kommission stabilisiert. Auch im Europäischen Rat unterordnend galt. das Vertrauen in die EU ist – bemerkens- In der Praxis fußte der Anspruch einer werterweise gerade nach dem Brexit-Votum politischen Kommission auf zwei Säulen: – wieder gewachsen. Im März 2019 bewer- Die erste war die politische Legitimation des teten 62 Prozent der Befragten die EU posi- Kommissionspräsidenten Juncker selbst. tiv, im Vergleich zu 50 Prozent im Jahr 2014 wurde der Inhaber dieses Amtes erst- 2014. Das Gleiche gilt für die EU-Kommis- mals vom Europäischen Parlament gewählt, sion als Institution. Auch ihr vertrauten auf Vorschlag der Staats- und Regierungs- chefs im Europäischen Rat. Gemäß diesem SWP-Aktuell 35 Juni 2019 2
sogenannten »Spitzenkandidaten«-Prinzip Zwei Beispiele aus der vergangenen Legis- konnte sich Juncker als offizieller Bewerber laturperiode machen diesen Widerspruch der EVP durchsetzen. Der Kommissions- besonders deutlich. In den zurückliegenden präsident berief sich fortan auf die doppelte fünf Jahren ist der Schutz der Rechtsstaat- Legitimation durch die nationalen Regie- lichkeit innerhalb der Union zu einer der rungen und das EP. In der Praxis indes war wichtigsten und kontroversesten Aufgaben die Autorität, die sich aus diesen Legitima- der Kommission geworden. Doch während tionen hätte speisen können, nur begrenzt die EVP-geführte Kommission relativ ausschöpfbar. Im Europäischen Rat geben schnell ein Rechtsstaatsverfahren gegen weiterhin die Regierungen der großen Mit- Polen einleitete, war sie gegenüber Ungarn gliedstaaten den Ton an. Auf dessen weg- – dessen Regierungspartei Fidesz (noch) weisende Beschlüsse hat der Kommissions- zur EVP gehört – wesentlich zögerlicher. präsident nur begrenzten Einfluss. Und im Sowohl die polnische als auch die ungari- EP gab es zu Beginn der Legislaturperiode sche Regierung haben darüber hinaus dem zwar einen sehr engen Austausch zwischen zuständigen EU-Kommissar Frans Timmer- der Führung der beiden großen Parteien mans, einem führenden Kopf der SPE, vor- und der Kommission. Eine Zusammen- geworfen, sein Vorgehen sei parteipolitisch arbeit, die mit der zwischen einer nationa- motiviert. Unabhängig davon, wie die Not- len Regierung und ihrer parlamentarischen wendigkeit der jeweiligen Rechtsstaats- Basis vergleichbar wäre und in einem ab- verfahren zu bewerten ist, haben die Moda- gestimmten Programm zum Ausdruck litäten, die sie begleiteten, gezeigt, dass die käme, ist daraus jedoch nicht entstanden. Kommission hier nicht glaubwürdig als Die zweite Säule, auf die sich die »politi- neutrale Instanz auftreten kann. sche« Kommission stützte, war der Anspruch, Ein ähnliches Problem zeigt sich bei der eigene gestalterische Prioritäten zu setzen Kontrolle der nationalen Wirtschafts- und und Entscheidungen entlang politischer, Haushaltspolitik, insbesondere der Euro- nicht rein technokratischer Kriterien zu staaten. Im Zuge der europäischen Schul- treffen. Es ist dieser Bereich, wo die Wider- denkrise wurden die Kompetenzen der EU- sprüche des Konstrukts Europäische Kom- Kommission bei der Überwachung der Bud- mission am deutlichsten geworden sind. gets der Mitgliedstaaten noch ausgeweitet. Denn das Selbstverständnis, als politisches Auch hier soll die EU-Kommission eigent- Organ zu agieren, ist schwer vereinbar mit lich auf der Basis technischer Kriterien ent- den Maßgaben des EU-Vertrags, denen zu- scheiden. Der unterschiedliche Umgang folge die Kommission nicht nur als Motor etwa mit Frankreich (unter der Führung der Integration, sondern auch als Hüterin von Präsident Macron) und Italien (regiert der Verträge fungieren soll. In einigen Poli- von einer Koalition der EU-skeptischen tikfeldern – etwa im Bereich der Wett- Fünf-Sterne-Bewegung und Lega) in Bezug bewerbskontrolle, des Schutzes der Rechts- auf deren jeweilige Haushaltsdefizite hat staatlichkeit, der Haushaltskontrolle in der verdeutlicht, dass in die Bewertung der Eurozone und der Vertragsverletzungs- mitgliedstaatlichen Etats auch politische verfahren – soll sie als neutraler Schieds- Erwägungen einfließen. richter auftreten und auf Basis eben gerade technokratischer und nicht politischer Kri- Mehr Kohäsion, terien entscheiden. Selbst wenn die betref- klarere Prioritätensetzung fenden Abteilungen der Kommission intern vor politischer Einflussnahme geschützt Erfolgreicher war die Juncker-Kommission wurden, mindert es ihre Glaubwürdigkeit hingegen bei der Rationalisierung der euro- als neutrale Instanz, wenn sich die Kom- päischen Gesetzgebung. Mit dem Ziel, eine missionsführung als politischer Akteur EU zu führen, die sich auf das Wesentliche versteht. konzentriert und klare Prioritäten setzt, SWP-Aktuell 35 Juni 2019 3
wollte Juncker die Anzahl neuer Gesetz- der Amtszeit der Juncker-Kommission bei gebungsinitiativen signifikant reduzieren. 130 pro Jahr. Die Reduktion war so ein- Zu diesem Zweck hat Juncker die Arbeits- schneidend, dass sich EP-Abgeordnete zu weise der Kommission grundsätzlich refor- Beginn der Legislaturperiode über einen miert. Der Präsident kann die innere Orga- Mangel an Gesetzgebungsinitiativen seitens nisation und Zusammensetzung der Kom- der EU-Kommission beschwerten. Insgesamt mission frei festlegen. So hat Juncker zu Be- wurden in den fünf Jahren der Juncker-Kom- ginn der Legislaturperiode innerhalb der mission 517 EU-Richtlinien und Verordnun- Kommission zum einen eine Hierarchie ein- gen von Rat und EP verabschiedet (Stand: geführt und Cluster gebildet. Mit 28 Kom- 11.6.2019). Im Vergleich: Während der missarinnen und Kommissaren ist die EU- zweiten Amtszeit von Junckers Vorgänger Kommission größer als die meisten natio- Barroso (2010–2014) waren es mit 716 noch nalen Regierungen. Eine Reduzierung der fast 40 Prozent mehr. Kommission ist bisher aber immer wieder Während die angekündigte Verringerung am Widerstand vor allem der kleineren des legislativen Outputs also durchaus statt- EU-Staaten gescheitert; sie wäre rechtlich gefunden hat, sieht die Bilanz bei der Zahl ohne Vertragsänderung möglich, würde der durchgesetzten Gesetzgebungsinitiativen aber voraussetzen, dass alle Mitgliedstaaten gemischter aus. Denn die Verabschiedung zustimmen. Anstelle einer Verkleinerung europäischer Richtlinien und Verordnun- hat Juncker jedoch die Vizepräsidenten mit gen obliegt allein dem Parlament und dem eigenen Führungskompetenzen innerhalb Rat. Zwar hat die Kommission nach eigenen der EU-Kommission ausgestattet und sie in Angaben 94 Prozent der Initiativen, die sie sieben Cluster geordnet. Beispielsweise ko- innerhalb ihrer zehn Prioritäten vorgesehen ordiniert die Hohe Vertreterin und Vize- hat, auch tatsächlich vorgelegt. Sie konnte präsidentin der Kommission Federica indes nur in zwei Drittel der Dossiers eine Mogherini die für das Feld der Außen- und Zustimmung der EU-Gesetzgeber erreichen. Sicherheitspolitik relevanten Arbeiten der Kommissionsmitglieder für Europäische Keine starke Agendasetzung Nachbarschaftspolitik und Erweiterung, Handelspolitik, Entwicklungspolitik und Besonders hoch ist die Diskrepanz bei den Humanitäre Hilfe. In der Folge hat auch die legislativen Vorhaben, denen die Kommis- Kohärenz der EU-Außenpolitik zwischen sion hohe politische Priorität zugewiesen GASP und den von der Kommission geführ- hat: Traditionell soll die Kommission mit ten Bereichen deutlich zugenommen. ihrem Initiativmonopol auch die Rolle als Zum anderen hat die Kommission unter »Motor der Integration« erfüllen und die Juncker für ihre Tätigkeit zehn politische Union in Grundsatzfragen voranbringen, Prioritäten benannt. Sie hat dabei nur die- beispielsweise bei der Weiterentwicklung jenigen Initiativen auf die Tagesordnung des Binnenmarkts oder der Einführung des genommen, die die Vizepräsidenten emp- Euros. Im komplexen Institutionengefüge fohlen haben und unter die ausgewählten der Gemeinschaft kann und konnte die Prioritäten fallen. Kommission nie allein die Politik der EU In der Praxis hat die Juncker-Kommission vorgeben, sondern war und ist darauf an- dieses Ziel einer Ökonomisierung und Prio- gewiesen, für ihre politischen Projekte die risierung der Kommissionstätigkeit auf den Unterstützung des EP und vor allem der ersten Blick weitgehend erfüllt. Zunächst Mitgliedstaaten im Rat zu gewinnen, indem hat sie die Zahl der Gesetzgebungsvorschlä- sie kluge Kompromisse vorschlägt. ge spürbar reduziert. Während die EU vor Ein erfolgreiches Beispiel hierfür ist die 2009 gemäß EUR-Lex jährlich durchschnitt- Handhabung des Brexit-Prozesses durch die lich deutlich über 250 Gesetzgebungsakte Juncker-Kommission. Mit der frühen Nomi- (Richtlinien und Verordnungen) verabschie- nierung von Michel Barnier als Verhand- det hat, lag der Durchschnittswert während lungsführer im Artikel-50-Prozess hat die SWP-Aktuell 35 Juni 2019 4
EU-Kommission nicht nur die direkten päischen Wirtschafts- und Finanzministers. Gespräche mit Großbritannien übernom- Diese Vorschläge sind in mehreren Staaten men. Vor allem haben Barnier und seine der Eurozone auf direkte, massive Ableh- Arbeitsgruppe durch viele Besuche in allen nung gestoßen. Am Ende ihrer Amtsperiode 27 Hauptstädten und einen regelmäßigen hat die Juncker-Kommission noch keines Austausch in den EU-Gremien die politi- dieser Ziele erreicht. Am weitesten sind die schen Interessen der Mitgliedstaaten in Verhandlungen über ein – deutlich be- Bezug auf den Brexit erfasst, verarbeitet grenzteres – Finanzinstrument für die und so maßgeblich dazu beigetragen, dass Eurozone vorangeschritten. Dies ist aber die EU-27 in diesem Prozess eine einheit- auf die Impulse zurückzuführen, die von liche Position einnahm. Das Verhandlungs- Deutschland und Frankreich in dieser Sache mandat haben auch hier die Staats- und ausgegangen sind. Regierungschefs im Europäischen Rat fest- Der dritte Bereich, dem Juncker Priorität gelegt, doch die Kommission hat den sub- zugemessen hat, war die Asyl- und Migra- stantiellen Input dafür geliefert. Durch tionspolitik. Dieses Thema stieg im Laufe diese politische Führungsleistung hat die der letzten Legislaturperiode zum wichtigs- EU-Kommission auch das volle Vertrauen ten Issue der Kommission auf. Bereits 2016 der nationalen Regierungen in den Brexit- legte die Kommission zwei größere Gesetz- Verhandlungen bekommen. gebungspakete zur Reform des Gemeinsa- Anders sieht es bei den großen politi- men Europäischen Asylsystems vor. Trotz schen Initiativen der EU-Kommission aus. intensiver Verhandlungen ist es ihr aber In seinen jährlichen »State of the Union«- gerade bei ihren Flaggschiffprojekten in die- Reden vor dem Europäischen Parlament hat sem Politikfeld – wie etwa der Reform des Juncker drei seiner zehn Prioritäten in den Dublin-Regimes – nicht gelungen, die Zu- Mittelpunkt gestellt: Punkt eins war die stimmung vor allem des Rates zu erreichen. Schaffung von Arbeitsplätzen und die Stär- Die mangelnden Fortschritte in all diesen kung der europäischen Wettbewerbsfähig- hochpolitischen Bereichen sind natürlich keit. Bei diesem Anliegen konnte Juncker nur zum Teil der Kommission anzulasten. früh die Unterstützung des Parlaments und Auch der Europäische Rat hat in seiner des Rats für den Europäischen Fonds für »Strategischen Agenda« für die Jahre 2014 Strategische Investitionen (EFSI) gewinnen, bis 2019 die Themen Wettbewerbsfähigkeit der bis dato mit 73 Milliarden Euro Förde- und Reform der Wirtschafts- und Währungs- rung Investitionen in einem Volumen von union (WWU) sowie der EU-Asyl- und Migra- knapp 400 Milliarden Euro in der EU mobi- tionspolitik zu Prioritäten erklärt. Die Grün- lisiert hat. Auch in der Handelspolitik hat de für die ausgebliebene Einigung liegen zu die Juncker-Kommission mit Kanada und einem gewichtigen Teil außerhalb der Kon- Japan umfangreiche neue Freihandels- trolle der Kommission und sind in den zu- abkommen für die EU ausgehandelt. nehmenden Spannungen zwischen den Mit- Beim zweiten Vorhaben, der Weiter- gliedstaaten zu suchen. Auch in einer Serie entwicklung der Eurozone, hat die Kommis- von Gipfeltreffen konnten die Staats- und sion ihre Ziele jedoch weit verfehlt. Ende Regierungschefs gerade bei der Asyl- und 2017 hat die Kommission ihren »Fahrplan Migrationspolitik und der Eurozonen-Re- für die Vertiefung der Wirtschafts- und form nur bescheidene Fortschritte erzielen. Währungsunion Europas« vorgelegt. Zen- Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass bei trale Vorschläge waren unter anderem die diesen hochpolitischen Themen die Defizite Einrichtung eines Europäischen Währungs- der Kommission deutlich geworden sind. fonds, die Überführung des Fiskalpakts, der Erstens mangelt es ihr an einer eigenen völkerrechtlich außerhalb des EU-Vertrags machtpolitischen Basis. Nationale Regie- angelegt ist, in das EU-Recht, ein eigenes rungen können sich in parlamentarischen Budget für die Eurozone innerhalb des EU- Systemen auf ihre Regierungsfraktion bzw. Haushalts und die Einsetzung eines euro- -koalition als legitimatorisches Fundament SWP-Aktuell 35 Juni 2019 5
stützen. Trotz des Spitzenkandidatenprin- kratische Legitimation verliehen. Auf Seiten zips kann die Kommission aber nicht auf der nationalen Regierungen hat es ihn aber einen konstanten Rückhalt im Europäischen auch Vertrauen gekostet. Schon im Vorfeld Parlament bauen. Einen Koalitionsvertrag der Europawahlen 2019 haben die Staats- mit thematischen Zielen gab es nicht. Gleich- und Regierungschefs daher betont, dass es zeitig hat die Annäherung der Kommission »keinen Automatismus« gebe und sie nicht an das EP aber die Sorge der Mitgliedstaaten notwendigerweise den oder die Spitzen- geschürt, die Kontrolle über dieses wichtige kandidatin der nach der Wahl größten EU-Organ zu verlieren, eine Entwicklung, Fraktion vorschlagen würden. Kurz nach unter der auch das Vertrauen der natio- der Wahl hat die Mehrheit – aber nicht nalen Regierungen in die Kommission gelit- alle – der Fraktionen im EP bekräftigt, dass ten hat. sie nur einen Spitzenkandidaten als Nomi- Zudem hat es die Kommission nicht ver- nierung akzeptieren. Gleichzeitig konnten mocht, in den hochumstrittenen Bereichen sich die drei großen Fraktionen, EVP, S&D zum ehrlichen Makler zwischen den Mit- und die neu formierte ALDE, nicht auf gliedstaaten im Rat sowie zwischen Rat und einen gemeinsamen Kandidaten oder eine Parlament zu werden. Das Initiativrecht gibt gemeinsame Kandidatin einigen. Die Staats- der Kommission die Möglichkeit, in Gesetz- und Regierungschefs im Europäischen Rat gebungsprozessen der EU zu einem frühen hingegen haben ihren Präsidenten Donald Zeitpunkt die Debatte vorzubestimmen. Tusk beauftragt zu sondieren, welche Per- Optimalerweise könnte dieses Recht dazu sönlichkeit eine Mehrheit in beiden Institu- genutzt werden, um die EU-Integration tionen, im Europäischen Rat und im EP, er- durch sorgfältiges Sondieren und daran reichen könnte. Das muss aus Sicht Tusks anknüpfende kompromissfähige Vorschläge nicht zwangsläufig einer der Spitzenkandi- zu prägen. Beim Brexit-Prozess ist dies der daten sein. So droht schon zu Beginn der Kommission gelungen. Bei der Migrations- Amtszeit der neuen Kommission sowohl ein politik und der WWU-Reform hingegen hat institutioneller als auch parteipolitischer sie zunächst hohe Erwartungen geschürt Machtkampf, was die Autorität der neuen und dann Ideen vorgelegt, die weit von der Kommission beschädigen könnte, noch be- Konsensfähigkeit entfernt waren. vor sie gewählt wurde. Zweitens wird die politische Zusammen- setzung des Kommissionskollegiums selbst Das schwierige politische Umfeld heterogener sein. Grundsätzlich gilt weiter- der nächsten Kommission hin das Prinzip, dass jedes EU-Land ein Kommissionsmitglied nominieren darf. In Für die nächste EU-Kommission wird das der Folge wird die parteipolitische Zusam- politische Umfeld im Institutionengefüge mensetzung der Kommission nicht die des der EU nicht einfacher. Da ist erstens die Europäischen Parlaments widerspiegeln, Wahl des Kommissionspräsidenten bzw. sondern die der parlamentarischen Mehr- der -präsidentin selbst. Gemäß dem EU-Ver- heiten, auf die sich die nationalen Regie- trag ist es das Europäische Parlament, das rungen in der EU zum Zeitpunkt der Beru- eine Person für dieses Amt wählt, allerdings fung der Kommission stützen. Und dieses auf Vorschlag der Staats- und Regierungs- Tableau ist 2019 deutlich heterogener als chefs im Europäischen Rat. 2014 hatte sich es 2014 war: In der Juncker-Kommission das EP noch mit seiner Sichtweise durch- stammten noch 27 von 28 Mitgliedern von gesetzt, dass der Europäische Rat nur den den drei großen Parteifamilien EVP (Kom- Spitzenkandidaten vorschlagen darf, dessen missionspräsident, 13 weitere Kommissions- Partei die Europawahl gewonnen hat – wo- mitglieder), europäische Sozialdemokraten raufhin Jean-Claude Juncker zum Kommis- (8 Mitglieder) und ALDE (5 Mitglieder). Mitt- sionspräsidenten gewählt wurde. Dieses lerweile haben vor allem die EVP und die Prozedere hat ihm eine zusätzliche demo- SPE an Einfluss verloren, während auch SWP-Aktuell 35 Juni 2019 6
Parteien außerhalb des europäischen Main- den europäischen Grünen an. Bei Beschlüs- streams in Regierungsverantwortung gelangt sen zu inhaltlichen Fragen, die das EP auch sind. Folgen alle nationalen Regierungen mit relativer Mehrheit treffen kann, sind der Logik, dass sie für die Kommission eine aber wechselnde Mehrheiten möglich. So ist Kandidatin oder einen Kandidaten aus der etwa bei Fragen des Verbraucherschutzes jeweils führenden Regierungspartei nomi- eine Majorität links der Mitte mit einer Zu- nieren, wird sich die Zusammensetzung wie sammenarbeit von ALDE, S&D, Grünen und folgt ändern: Die EVP würde, je nach Ein- Europäischer Linke (GUE/NGL) denkbar und ordnung der Fidesz, auf 6 bis 7 Mitglieder bei Migrationsthemen eine Kooperation der zurückfallen, die SPE bei 8 bleiben und die Parteien rechts der Mitte. Angesichts der Liberalen mit 7 aufschließen. Hinzu kämen Zuwächse für EU-skeptische Parteien, die Kommissare und Kommissarinnen von den zusammen nunmehr 186 Sitze einnehmen, europäischen Linken (1), bisher unabhängi- werden die Abstimmungen im EP kontro- gen Parteien (Litauen, Österreich), aber auch verser werden – und damit unberechen- drei von den EU-skeptischen Regierungen barer für Kommission und Rat. aus Italien, Polen und Ungarn plus, je nach weiterem Verlauf des Brexit-Prozesses, ein Vertreter Großbritanniens. Zwar werden die Spitzenkandidaten umdefinieren, Entscheidungen des Kommissionskolle- ein politisches Mandat einholen giums mit einfacher Mehrheit gefällt, so dass einzelne Kommissionsmitglieder über- Der Beginn der europäischen Legislatur- stimmt werden können. Gleichwohl wird periode ist die Chance, die EU-Kommission die Integration der Kommissare und Kom- personell, politisch und institutionell neu missarinnen insbesondere aus der letzten aufzustellen. Für die institutionelle Weiter- Gruppe eine der Hauptherausforderungen entwicklung der Kommission ergeben sich für die nächste Kommission sein. nach den Erfahrungen der Juncker-Ära und Drittens spiegelt diese Fragmentierung nach der Analyse der neuen politischen im Inneren der Kommission nur die zuneh- Gemengelage nach den Europawahlen drei mende Fragmentierung der politischen In- Schlussfolgerungen: stitutionen der EU selbst wider. Diese Zer- Erstens hat sich die stärkere institutio- splitterung wird es für die Kommission, nelle Fokussierung der Kommission mit aber vor allem die EU als Ganzes schwieri- ihrer Cluster-Struktur bewährt. Langfristig ger machen, Richtungsentscheidungen zu sollten die EU-Staaten die Möglichkeiten treffen und durchzusetzen. Die Kommis- des EU-Vertrags nutzen und vom Prinzip sion kann Richtlinien und Verordnungen »Ein Kommissionsmitglied pro Mitglied- nur vorschlagen, verabschiedet werden staat« Abstand nehmen. Bis das erfolgt ist, müssen sie vom Rat und vom Parlament. sollte aber auch die nächste Kommission Nachdem die Spannungen zwischen den wieder eine klare Hierarchie bekommen nationalen Regierungen im Rat der EU in und in programmatische Cluster gegliedert den letzten Jahren schon gestiegen sind, werden. Diese organisatorische Lösung hat wird nach der Wahl vom Mai 2019 nun auch die Kohärenz der EU insgesamt erhöht auch die Mehrheitsfindung im Europäi- und die Gesetzgebung der Union stringen- schen Parlament komplexer. Die bisher ter und zielgerichteter gemacht. dominanten Parteien, EVP und SPE, haben Die größere Herausforderung für die ihre gemeinsame absolute Mehrheit ver- Kommission wird, zweitens, die Aufgabe loren. Für stabile Mehrheiten ist nunmehr sein, ihren Anspruch, als politische Institu- jeweils die Zusammenarbeit von mindes- tion aufzutreten, mit der Rolle des neutra- tens drei Fraktionen notwendig. Für die len Schiedsrichters übereinzubringen, die Wahl des bzw. der Kommissionspräsidentin ihr nach wie vor zugewiesen ist. Ohne Ver- deutet sich eine Kooperation zwischen EVP, tragsänderung wird sich dieser Widerspruch S&D sowie der erweiterten ALDE und/oder nicht vollständig auflösen lassen. Eine Kom- SWP-Aktuell 35 Juni 2019 7
mission, deren Präsidentin bzw. Präsident ze der Kommission gewählt werden sollte. vom Europäischen Parlament gewählt und Dabei obliegt es nun dem Präsidenten des die von einer Parlamentsmehrheit abhängig Europäischen Rates, mit den Parteien zu ist, die das Initiativmonopol hat und inter- sondieren, wer hierfür eine Mehrheit im EP national im Auftrag der EU verhandelt, ist organisieren kann. Mit einem solchen Ver- zwangsläufig ein politisches Organ, das ein fahren würde die EU einen echten Schritt in starkes politisches Mandat braucht. Ein Richtung parlamentarische Demokratie Weg zurück zu einer Behörde, die ihre Ent- machen. scheidungen allein auf der Basis technischer Darauf aufbauend braucht die EU vier- Kriterien fällt, ist daher für die EU weder tens gerade aufgrund der Fragmentierung © Stiftung Wissenschaft wünschenswert noch gangbar. Stattdessen im EP und der Blockade in zentralen inhalt- und Politik, 2019 sollte die nächste Kommission jene Auf- lichen Fragen eine institutionenübergrei- Alle Rechte vorbehalten gaben, bei denen sie neutral zu agieren hat, fende Prioritätensetzung. Bei der Wahl Jun- intern klar von der politischen Ebene ab- ckers zum Kommissionspräsidenten haben Das Aktuell gibt die Auf- grenzen oder, soweit dies vertragsrechtlich es die Parteien im EP noch verpasst, sich fassung des Autors wieder. möglich ist, an unabhängige Instanzen aus- über inhaltliche Prioritäten abzustimmen. In der Online-Version dieser gliedern. Beispielsweise könnte sie ihre Eine handlungsfähige EU setzt aber eine Publikation sind Verweise Kompetenzen bei der Überwachung der Verständigung über eine programmatische auf SWP-Schriften und Eurostaaten stärker an den unabhängigen Agenda voraus, die mit dem Personalpaket wichtige Quellen anklickbar. ESM und ihre Befugnisse bei der Kontrolle verbunden ist. Dies gilt auf der einen Seite SWP-Aktuells werden intern der Rechtsstaatlichkeit an eine unabhängi- für das EP selbst, in dem die Parteien, die einem Begutachtungsverfah- ge EU-Agentur delegieren. Diese Instanzen an den Gesprächen über eine Mehrheits- ren, einem Faktencheck und könnten die Kontrollpflichten glaubwürdi- findung beteiligt sind, über begleitende einem Lektorat unterzogen. ger erfüllen, während sich die Kommission politisch-inhaltliche Verhandlungen ein Weitere Informationen auf ihre politischen Aufgaben konzentrie- Paket schnüren könnten. Es gilt aber genau- zur Qualitätssicherung der ren könnte. so für das Verhältnis zwischen den Institu- SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. Für ihre politische Rolle benötigt die tionen. Als ob die Europawahlen für die swp-berlin.org/ueber-uns/ Kommission drittens ein stärkeres Mandat Prioritätensetzung der EU irrelevant wären, qualitaetssicherung/ und eine stabilere Verankerung im Rat und haben die Staats- und Regierungschefs zwei im Parlament. Zu diesem Zweck sollte die Wochen vor den Wahlen auf ihrem infor- SWP EU das Spitzenkandidatenprinzip umdeu- mellen Treffen in Sibiu mit den Verhand- Stiftung Wissenschaft und Politik ten. 2014 hat sich das EP mit der Sichtweise lungen über ihre »Strategische Agenda« für Deutsches Institut für durchgesetzt, dass der Kandidat der größten 2019–24 begonnen. Dieser thematische Internationale Politik und Fraktion Kommissionspräsident werden Aufschlag der Mitgliedstaaten ist richtig Sicherheit müsse. Im neuen Parlament, in dem die Ko- und notwendig. Er sollte aber eben nur ein operation von mindestens drei Fraktionen Aufschlag sein, um nach den Europawahlen Ludwigkirchplatz 3–4 für eine Mehrheit erforderlich ist, kann aber mit dem neuen Europäischen Parlament 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 keine Fraktion für sich allein beanspruchen, und der neuen Kommission die themati- Fax +49 30 880 07-100 die Europawahlen gewonnen zu haben. Not- sche Agenda der EU für die nächsten fünf www.swp-berlin.org wendig und sinnvoll ist daher eine Rück- Jahre auszuhandeln. Ein auf diese Weise er- swp@swp-berlin.org besinnung auf den eigentlichen rechtlichen arbeitetes gemeinsames Programm – eine Kern des Prinzips: dass die Bürgerinnen und Art europäischer Koalitionsvertrag – würde ISSN 1611-6364 doi: 10.18449/2019A35 Bürger der EU mit ihrer Wahlentscheidung nicht nur dem komplexen Geflecht der Kon- den Präsidenten bzw. die Präsidentin der sensdemokratie Europäische Union gerecht Kommission mitbestimmen, so wie es in werden, sondern der neuen Kommission einer parlamentarischen Demokratie üblich und den EU-Institutionen insgesamt ein be- ist. Das bedeutet, dass nur ein Kandidat lastbares politisches Mandat für die Weiter- oder eine Kandidatin, der bzw. die auch am entwicklung der EU verschaffen. Wahlkampf teilgenommen hat, an die Spit- Dr. Nicolai von Ondarza ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa. SWP-Aktuell 35 Juni 2019 8
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