Mitteilungen der Psychotherapeuten-kammer Nordrhein-Westfalen
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Mitteilungen der Psychotherapeuten- kammer Nordrhein-Westfalen 21. Kammerversammlung am 25. April 2008 in Dortmund Psychotherapeutische Versor- schwer psychisch Kranken beinhalten. trieren, die leichte oder mittlere Stö- gung – aus der Sicht der TK Dafür müsse sich allerdings auch die am- rungen hätten (YAVIS-Patienten) und bulante Versorgung erheblich verändern. Patienten mit höherer Krankheitslast Die Zukunft der ambulanten und statio- Die TK kritisiert eine Fehlallokation der bzw. höheren Pharmakotherapiekosten nären Psychotherapie aus Sicht der ge- Ressourcen in der ambulanten Versorgung an die Krankenhäuser zu überweisen. setzlichen Krankenkassen beschrieb Dr. psychisch Kranker. Die Fehlallokationen seien vor allem Thomas Ruprecht, Arzt bei der Techniker bei Psychoanalyse besonders unwirt- Krankenkasse (TK), der als Gast zur Kam- schaftlich, weil sie wegen der längeren merversammlung eingeladen war. Rup- Behandlungsdauer bei einheitlichem recht führte aus, dass das TK-Image einer EBM-Punktwert überproportional hohe „psychoaffinen Kasse“ sich zukünftig zu ei- Kosten verursache. nem Wettbewerbsnachteil entwickeln kön- Das Gutachterverfahren entfalte kaum ne. Durch den gesetzlich beschlossenen Steuerungspotenzial. Nur 0,4 Prozent Gesundheitsfonds erzielten ab 2009 alle der eingegangenen Anträge für TK-Ver- Krankenkassen grundsätzlich die gleichen sicherte würden überhaupt abgelehnt Einnahmen je Versicherten. Die teure Psy- (Bundesdurchschnitt: 4 Prozent). „An- chotherapie könnte sich deshalb zu einem gesichts dieser niedrigen Quote stellt Nachteil für Kassen mit einem überdurch- sich die Frage, ob nicht grundsätzlich schnittlichen Anteil von psychisch Kranken auf das Gutachterverfahren verzichtet entwickeln. Eine Rolle spiele dabei, ob werden kann“, stellte Ruprecht fest. und wie psychische Krankheiten im mor- Fehlsteuerung gäbe es auch in der Be- biditätsorientierten Risikostrukturausgleich darfsplanung u. a. dadurch, dass Teil- Nordrhein- Westfalen berücksichtigt würden. zeit-Therapeuten Vollzeit-Praxissitze in Anspruch nähmen. Die TK belastet vor allem der überdurch- Schließlich sei der Patienten-„Durchsatz“ schnittliche Anstieg ihrer Ausgaben für Dr. Thomas Ruprecht zu gering. Das führe zu Kapazitätseng- die stationäre Versorgung von psychisch pässen und langen Wartezeiten. Kranken. Psychisch kranke Patienten, die Die Therapiewahl und -dauer sei nicht bei der TK versichert sind, sind länger im primär diagnose- und/oder morbiditäts- Krankenhaus, benötigen häufiger eine bedingt, sondern angebotsabhängig. Die Zukunft der Versorgung psychisch erneute Krankenhausbehandlung und er- Die Art des erstkontaktierten Thera- Kranker sieht Ruprecht in einer bedarfs- zeugen je Fall höhere Kosten als in den peuten entscheide über Therapieform gerechteren Versorgung im Lebensumfeld Vorjahren. Zwischen 2003 und 2006 stieg und damit auch über Therapiedauer bei der Versicherten, vor allem bei chronisch die Zahl der stationären Aufenthalte von gleicher Diagnose, die sich wiederum psychisch Kranken. Im Einzelnen gehöre TK-Versicherten um 35,0 Prozent. Die TK- an den Kontingenten für eine Langzeit- dazu: „Home treatment“, feste Ansprech- Ausgaben stiegen entsprechend von 230 therapie (VT 45, TP 50, PA 160) und partner und Bezugspersonen, schnelle Mio. € auf 300 Mio. €, ein Anstieg um nicht an der Morbidität orientiere. Erreichbarkeit über 24 Stunden und 7 Ta- 32,8 Prozent. Es gäbe keine hinreichende Differenti- ge die Woche, flexibler, unbürokratischer aldiagnostik, u. a. aufgrund des Selbst- Zugang zur Versorgung, Einsatz eines mul- Ruprecht erklärte, dass die TK deshalb zuweisungssystems und „unattraktiver“ tiprofessionell angebotenen Therapiepa- integrierte Versorgungsverträge für psy- Probatorik. kets, u. a. eine neue abgestufte haus- und chisch Kranke anstrebe, die eine stärkere Im ambulanten Bereich bestehe die fachärztliche sowie psychotherapeutische ambulante Behandlung insbesondere von Tendenz, sich auf Patienten zu konzen- Versorgung, häusliche psychiatrische Kran- 294 Psychotherapeutenjournal 3/2008
Nordrhein-Westfalen kenpflege, Soziotherapie, Psychoedukati- Die ambulante Versorgung ist bereits jetzt sogar zum Nulltarif“ seien nur zu finanzie- on, ambulante Krisenintervention, Rück- bei einer der häufigsten Störungen im Kin- ren, indem PiA sich verschulden oder von zugsräume („Krisenpension“), stationäre des- und Jugendalter mangelhaft. Nach Eltern und Partnern unterstützen lassen. Behandlung (bei akuter Selbst- u. Fremd- Analysen der Kassenärztlichen Vereinigung gefährdung), „Fallmanagement“ mit Lot- Bayerns erhält ein Drittel der Kinder und Ju- Dabei leisteten die meisten PiA in der senfunktion, personenzentrierte Hilfepla- gendlichen mit AD(H)S keine Behandlung Psychiatrie die Arbeit von qualifiziertem nung, Hilfeplankonferenzen. und über 40 Prozent erhält ausschließlich therapeutischem Personal, stellte Jürgen eine Pharmakotherapie. Nur knapp jedes Tripp fest. Vom ersten Tag an führten sie Die Delegierten der Kammerversammlung 30. Kind mit einer AD(H)S-Störung ist häufig Einzeltherapien durch und leiteten diskutierten mehr als zwei Stunden inten- überhaupt in einer psychotherapeutischen eingeständig Gruppentherapien – aller- siv und kontrovers mit Dr. Ruprecht über Behandlung. Die Kammerversammlung dings ohne Supervision und Anleitung. die von ihm dargestellten Daten und die beurteilte deshalb die BMG-Planung, eine Diese Situation sei „alarmierend“, weil sie daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen. Mindestquote von nur zehn Prozent ein- den psychotherapeutischen Nachwuchs Vereinbart wurde, die Diskussion in einem zuführen, als „Feigenblattpolitik“ (siehe: „ausbeute“, psychotherapeutische Min- Workshop weiter zu führen. Entschließung „Psychisch kranke Kinder deststandards unterlaufe und „den Stel- und Jugendliche sind unterversorgt“). Die lenwert der Psychotherapie massiv herab- TK-Modellprojekt Bundespsychotherapeutenkammer fordert setze“ („Was nichts kostet, ist auch nichts Qualitätsmonitoring eine Mindestquote von zwanzig Prozent. wert.“). Ruprecht berichtete auch zum Stand des Psychotherapeuten TK Modellprojekts „Qualitätsmonitoring in Bericht des Vorstands in Ausbildung der ambulanten Psychotherapie“. Die Pa- Die PTK NRW nahm in einem Schreiben tienten im Modellvorhaben seien bezogen „Eine Profession, die sich klar und ge- an alle Abgeordneten des Gesundheitsaus- auf Messinstrumente und Schwellenwer- schlossen hinter den Nachwuchs stellt!“ – schusses zum Krankenhausgestaltungs- te behandlungsbedürftig. Die Ergebnisse das wünschen sich Jürgen Tripp, 28 Jahre, gesetz Stellung. Sie forderte insbesondere zeigten bisher eindeutig, dass Psychothe- und Cornelia Beeking, 32 Jahre, von ihren in den Kreis der „mittelbar Beteiligten“ auf- rapie wirkt und die Qualität der Psycho- approbierten Kolleginnen und Kollegen. genommen zu werden, um die Versorgung therapie messbar sei. Ein Abschlussbericht Die beiden sind seit Februar 2008 die psychisch Kranker mitgestalten zu können. zum Modellprojekt sei im Juli 2010 zu er- ersten Sprecher der Psychotherapeuten in Die Regierungsfraktionen lehnten dies warten. Ausbildung (PiA) in Nordrhein-Westfalen jedoch ab. Daraufhin wurde Mitte Januar und nahmen auf Einladung des Vorstands ein Gespräch im NRW-Arbeitsministerium Kinder und Jugendliche sind an der Kammerversammlung als Gäste geführt, um die PTK-Positionen zur Kran- unterversorgt teil. Jürgen Tripp beschrieb eindringlich die kenhausfinanzierung und Vergütung in der „massiven finanziellen Belastungen“, die Die Unterversorgung von psychisch kran- Psychiatrie und Psychosomatik sowie der PiA zu schultern haben. ken Kindern und Jugendlichen war ein Versorgung chronisch und schwer kranken weiteres aktuelles Thema der 21. Kam- Menschen in Krankenhäusern (Konzept Nordrhein- Westfalen merversammlung in Dortmund. Die De- der psychosozialen Versorgung in DMP- legierten kritisierten insbesondere die Behandlungsprogrammen und Brustzent- Planung des Bundesgesundheitsministe- ren) zu erläutern. riums, die Mindestquote für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie auf zehn Die Ärzte mit psychotherapeutischer Wei- Prozent zu begrenzen. Bundesweit liegt terbildung setzen sich beim Bundesgesetz- der Anteil der Kinder- und Jugendlichen- geber für eine dauerhafte Mindestquo- psychotherapeuten in der gesetzlichen te von 40 Prozent für ihre Berufsgruppe Krankenversicherung allerdings schon bei ein. Die exklusive Quote, mit der für sie 13,6 Prozent. Berechnungen der Psycho- ein überproportionaler Anteil an KV-Sitzen therapeutenkammer NRW kamen auf ei- Conny Beeking Jürgen Tripp reserviert wird, würde normalerweise zum nen Anteil von 11,3 Prozent in Nordrhein 31. Dezember 2008 auslaufen. Die PTK und 14,9 Prozent in Westfalen-Lippe Das „bei weitem größte Problem“ stel- NRW informierte alle Bundestagsabgeord- (NRW-Durchschnitt 12,9 Prozent). Eine le die praktische Tätigkeit dar, die 1.800 neten darüber, dass ein erheblicher Anteil Mindestquote von zehn Prozent würde in Stunden betrage und sich zwingend über dieser reservierten Sitze nicht besetzt ist NRW keine bessere Versorgung von psy- mindestens anderthalb Jahre erstrecken und auch in Zukunft nicht besetzt werden chisch kranken Kindern und Jugendlichen müsse. Insbesondere das praktische Jahr kann. Allein in NRW sind 143 dieser KV- ermöglichen und mittelfristig sogar das in der Psychiatrie stelle viele vor kaum zu Sitze nach 10 Jahren Quote immer noch gegenwärtige Versorgungsniveau gefähr- lösende Schwierigkeiten. Ein Jahr mit ei- nicht von Ärzten besetzt. Dagegen warten den. nem „Dumpingpreis“-Gehalt oder „häufig Psychologische Psychotherapeuten und Psychotherapeutenjournal 3/2008 295
Mitteilungen der Psychotherapeutenkammer Kinder- und Jugendlichenpsychothera- und in ihnen approbierte Psychotherapeu- In der Modellregion Bochum/Essen peuten weiterhin lange auf frei werdende ten arbeitstäglich verfügbar sind. Von die- läuft die Erprobung der elektronischen Praxissitze. In den nordrhein-westfälischen sen Kriterien wird in Zukunft ihre Zertifizie- Gesundheitskarte und des elektronischen Städten und Kreisen, in denen es solche rung bzw. Rezertifizierung abhängen. Heilberufsausweises. Die KV Nordrhein nicht besetzten Praxissitze gibt, leben ins- (KVNO) plant insbesondere die elektro- gesamt 4,6 Millionen Einwohner. Das heißt, nische Signatur für die Abrechnung bei dass ein Viertel der NRW-Bevölkerung Selektivverträgen mit den Krankenkassen unter einer künstlichen Verknappung des zu nutzen. Der PTK-Vorstand hat deshalb psychotherapeutischen Angebots leidet. beschlossen, mit der KVNO bei ihrem Die PTK NRW nahm außerdem mit Bedau- Projekt „e-online-Abrechnung“ zu koope- ern zur Kenntnis, dass die Kassenärztliche rieren. Bis Ende des Jahres sollen deshalb Bundesvereinigung einseitig die Interessen die ersten neuen Psychotherapeuten- der ärztlichen Kollegen vertritt. ausweise zur Verfügung stehen, die es interessierten Kolleginnen und Kollegen Die Diskussion um die Zukunft der psy- ermöglichen, die elektronische Abrech- chotherapeutischen Ausbildung und die nung zu testen. Konsequenzen aus dem Bologna-Prozess wird fortgesetzt. In einem Workshop am 7. Die „Modellregion Erziehung in Reck- März 2008 diskutierten Vertreter der Aus- linghausen“, ein Kooperationsprojekt zur bildungsinstitute die zentrale Frage: „Wel- Gewaltprävention in Familien, ist kurz da- che Kompetenzen benötigt ein Psychothe- vor, ihre Finanzierung zu sichern. Das nord- rapeut in der Zukunft?“ Im Anschluss daran rhein-westfälische Familienministerium berief der PTK-Vorstand in Absprache mit fördert die wissenschaftliche Evaluation Monika Konitzer dem Zweckverband der Ausbildungsstätten des Projekts, an dem auch die PTK NRW NRW eine Kommission zu Ausbildungs- Damit ist die psychotherapeutische Ver- beteiligt ist, mit 142.000 Euro. Eine weite- fragen. Die Kommission soll Vorarbeiten sorgung fester Bestandteil des Leistungs- re große Spende von „Aktion Mensch“ ist leisten, um im Laufe des Jahres zu einer kataloges von Brustzentren in Nordrhein- für Mitte des Jahres zugesagt. mehrheitlich getragenen Position der PTK Westfalen. NRW zur Psychotherapeutenausbildung zu Beschlüsse kommen. Die NRW-Landesregierung arbei- Die klinische Neuropsychologie in Nord- Die Kammerversammlung beschloss, die tet weiter konsequent an der Umsetzung rhein-Westfalen ist auf einem guten Weg. Berufsordnung an die Musterberufsord- des Bologna-Prozesses (Bachelor-Master- Am 4. April konstituierte sich der Prüfungs- nung anzupassen, um deren politischen Abschlüsse), so dass die Frage ist, in wel- ausschuss, der nach der Weiterbildungs- Wirksamkeit gegenüber Gesetzgeber und chem Umfang zukünftig Master-Abschlüsse ordnung die Qualifikationen von Antragstel- Gemeinsamen Bundesausschuss zu er in Klinischer Psychologie in NRW erworben lern prüft. Der Prüfungsausschuss besteht höhen. Sie verabschiedete ferner einstim- werden können. Gleichzeitig treibt sie die aus drei Mitgliedern: Prof. Dr. Siegfried Nordrhein- Westfalen mig Ergänzungen der Weiterbildungsord- Akademisierung von Gesundheitsberufen Gauggel (Vorsitz), Frau Sabine Unverhau nung, um Weiterbildungsleistungen, die in wie Krankenpflege, Hebammen und Phy- und Herrn Dr. Volker Völzke. Die Mitglieder anderen Bundesländern erworben wurden, siotherapeuten durch die Gründung einer des Prüfungsausschusses entscheiden un- in NRW anerkennen zu können. Fachhochschule für Gesundheitswesen, abhängig nach den Vorgaben der Weiter- an der akademische Abschlüsse in diesen bildungsordnung und sind an Weisungen Berufen erworben werden können, voran. nicht gebunden. In seiner ersten Sitzung Schließlich billigte die Kammerversamm- entschied der Ausschuss bereits positiv lung einstimmig eine geänderte Satzung Präsidentin Monika Konitzer ist es gelun- über die Erteilung der Zusatzbezeichnung des Versorgungswerkes, die notwendig gen, mit jahrelangem hartnäckigem Enga- „Klinische Neuropsychologie“ an mehrere für die „Teilrechtsfähigkeit“ des Versor- gement das PTK-Konzept für eine bessere Antragsteller. gungswerkes und für den Anschluss der psychosoziale Versorgung von Brust- Landespsychotherapeutenkammer Baden- krebspatientinnen politisch umzusetzen. Der nächste Schritt für die praktische Um- Württemberg an das Versorgungswerk Das NRW-Arbeitsministerium übernahm setzung der Weiterbildungsordnung ist die NRW sind. zentrale Forderungen in die Anforderungs- Erteilung von Weiterbildungsbefugnissen kriterien für Brustzentren. In Zukunft müs- und die Anerkennung von Weiterbildungs- Die neuen Satzungen finden Sie als sen NRW-Brustzentren nachweisen, dass stätten, auch hierzu liegen bereits mehrere Beihefter in der Mitte dieses PTJ. sie psychosoziale Screenings durchführen Anträge vor. 296 Psychotherapeutenjournal 3/2008
Nordrhein-Westfalen Entschließung Psychisch kranke Kinder und Jugendliche sind unterversorgt Das Krankheitsspektrum im letzten Jahrhundert hat sich grundlegend geändert. Der Schwerpunkt der Erkrankungen hat sich von somatischen zu psychischen Störungen verschoben. Das deutsche Gesundheitssystem hat auf diese wesentlichen Veränderungen noch nicht ausreichend reagiert. Insbesondere psychisch kranke Kinder und Jugendliche sind gravierend unterversorgt. Nur die Hälfte der Kinder und Jugendlichen, bei denen eine psychische Erkrankung oder Auffälligkeit festgestellt wird, erhält überhaupt eine Behandlung. In Herne und Höxter arbeitet beispielsweise gerade einmal je ein niedergelassener Kinder- und Jugendlichenpsychothe- rapeut, in Bottrop, Euskirchen und Mühlheim Stadt arbeiten nicht mehr als zwei. Auffällig ist, dass in NRW häufig gerade in Städten ein eklatanter Mangel an Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten herrscht. Psychotherapeuten fordern deshalb seit langem, für Psychotherapeuten, die Kinder und Jugendliche behandeln, mindestens zwanzig Prozent der Praxissitze zu reservieren. Das Bundesgesundheitsministerium plant eine Mindestquote von zehn Prozent. Der Anteil von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten beträgt jedoch in NRW bereits 12,9 Prozent und im Bundesdurchschnitt 13,6 Prozent. Kinder und Jugendliche brauchen mehr als wohlwollende Worte. Sie benötigen gesundheitspolitische Entscheidungen, die ihre Lage tatsächlich verbessern. Der Vorschlag des BMG ist nicht mehr als Feigenblattpolitik. Mittelfristig gefährdet er sogar das gegenwärtige Versorgungsniveau. Kinder und Jugendliche brauchen außerdem ein engmaschiges Netz, das sie und ihre Familie in Situationen der Not und Überforderung unterstützt. Das bestehende Netz ist dringend reformbedürftig: Vorsorgeuntersuchungen für Kinder finden zu selten und mit zu großen Abständen statt. Sie müssen durch weitere Untersuchungen ergänzt werden. Dabei ist es erforderlich, nicht nur die körperliche Entwicklung, sondern auch auf psychische Fehlentwicklungen zu achten und ihnen nachzugehen. Hierbei bedarf es geeigneter fachlicher Standards. Die Entwicklung von Frühwarnsystemen setzt voraus, dass dahinter ein Netz kompetenter Hilfen steht, das schnell und bedarfs- gerecht handeln kann. Beratungsstellen und niedergelassene Psychotherapeuten haben jedoch lange Wartezeiten. Daher müssen Angebote der Jugendhilfe und des öffentlichen Gesundheitswesens ausgebaut sowie die Versorgung mit therapeutischen Angeboten verbessert werden. Kinder werden nicht nur körperlich, sondern auch seelisch vernachlässigt und misshandelt. Dies zu erkennen und die Folgen davon zu behandeln, setzt entsprechende Ausbildungen und eine bedarfsgerechte Versorgung voraus. Die Zahl der Fachleute, die in Praxen und Beratungsstellen arbeiten, reicht nicht aus um den Bedarf zeitgerecht zu decken. Fachtagung: Depressionen erkennen und behandeln – ein Gesundheitsziel in NRW Nordrhein- Westfalen Depressionen entwickeln sich zu einer nen, in die Praxis umzusetzen.“ Die Kas- und sie nach einer Krankenhausbehand- Volkskrankheit. „Wir müssen sie aus der senärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe lung langfristig zu stabilisieren. „Diese Auf- Tabuzone holen“, forderte NRW-Gesund- (KVWL) engagiere sich deshalb mit Bür- gabe müssen alle Behandler gemeinsam heitsminister Karl-Josef Laumann deshalb gerinformationen für mehr Transparenz, übernehmen“, stellte Präsidentin Monika auf der Tagung „Depressionen erkennen um erkrankten Menschen den Weg zum Konitzer fest. „Psychotherapeuten und und behandeln“ am 31. Mai in Münster. Die richtigen Behandler zu bahnen, erklärte Dr. Psychiater müssten mehr und anders zu- steigende Zahl der Erkrankungen „zwinge Wolfgang-Axel Dryden, zweiter Vorsitzen- sammenarbeiten.“ alle Akteure unseres Gesundheitswesens der der KVWL. zum Handeln“. Depressionen sind seit Prof. Dr. Dr. Theo R. Payk von der Theodor 2005 in NRW eines der zehn vorrangigen Die Versorgung depressiv kranker Men- Fliedner Klinik in Düsseldorf rechnete vor, Gesundheitsziele der Landesregierung. schen leidet vor allem daran, dass De- dass die Behandlung von Depressionen pressionen nicht oder nicht rechtzeitig jährlich rund vier Milliarden Euro kostet. „Seit Jahren fordern Experten eine besser erkannt werden und sich deshalb häufig Etwa 50 Prozent dieser Kosten fallen im abgestimmte, wohnortnahe und kontinu- zu schweren und chronischen Erkrankun- Krankenhaus an. In seiner Ursachenanaly- ierliche Versorgung von depressiv kranken gen mit höherem Suizidrisiko entwickeln. se zählte Payk diverse Erklärungsmodelle Menschen“, hob Monika Konitzer, Präsiden- Depressiv Kranke brauchen außerdem im auf (Arbeitslosigkeit, Angst vor sozialen Ab- tin der Psychotherapeutenkammer NRW, Notfall schnelle und unbürokratische Kri- stieg, Werteverlust, Suche nach Bindung hervor. „Es ist an der Zeit, die Erkenntnisse, seninterventionen. Schließlich benötigen und Sinngebung). Darunter war auch die wie depressiv Kranke rechtzeitig und dau- sie wohnortnahe ambulante Angebote, These, dass die steigende Zahl der depres- erhaft erfolgreich behandelt werden kön- um stationären Aufenthalten vorzubeugen siven Störungen darauf zurückzuführen Psychotherapeutenjournal 3/2008 297
Mitteilungen der Psychotherapeutenkammer sei, dass Psychotherapeuten seit 1999 als erfordert nicht nur zusätzliche Behand- ten stimmten der Aussage zu: Depression gesetzlich geschützter Heilberuf anerkannt lungselemente, sondern vor allem auch ist eine Erkrankung wie z. B. Asthma oder sind. Payk vernachlässigte, dass depressive mehr Zeit sowie intensivere, häufigere Zuckerkrankheit, die vom Arzt oder Psy- Erkrankungen in allen Industrieländern er- bzw. verlängerte Arbeitsphasen. Chronisch chotherapeuten behandelt werden sollte. heblich zugenommen haben. Depressive hätten häufiger gestörte Sozial- 70 Prozent bezeichneten Depression als beziehungen, frustrierte Partner und Fami- einen Schicksalsschlag, z. B. durch den Dr. Frank Bergmann, Vorsitzender des lienangehörige. Sie benötigten erfahrene Tod eines Angehörigen. Rund 90 Prozent Berufsverbandes Deutscher Nervenärzte, Therapeuten, die kreativ und flexibel auf meinten, eine Depression sei dadurch zu beklagte die Honorarentwicklung der Psy- die Anforderungen reagieren können. Sie behandeln, dass der Erkrankte zu einem chiater. Nach einem Gutachten des Insti- bräuchten intensivere Behandlungen mit Psychotherapeuten geht, fast 80 Prozent tuts für Gesundheit und Sozialforschung häufigen Kontakten (2–3 wöchentlich) meinten, es helfe mit einem Freund zu (IGES) sind Nervenärzte, Neurologen und und mit flexibler zeitlicher Länge (1 bis 1 sprechen und 75 Prozent gingen zu ei- Psychiater derzeit die Ärzte mit dem ge- ½ Jahre, 60–80 Behandlungseinheiten). nem Arzt. Große Vorbehalte äußerten die ringsten Einkommen. Bergmann berichtet, Befragten gegen Antidepressiva und ihren dass im Modellprojekt zur integrierten Ver- Prof. Dr. Karl Beine von der Klinik für Psy- Nebenwirkungen („Antidepressiva machen sorgung depressiv Kranker in Aachen, über chiatrie und Psychotherapie in Hamm gab abhängig oder süchtig“, „Antidepressiva 500 Patienten versorgt würden. Obwohl einen Einblick in die stationäre Behand- verändern den ganzen Charakter“, „Man Bergmann forderte, in solchen Versor- lung von Depressionen. Akzeptanz, Wert- ist nicht mehr man selbst, wenn man An- gungsmodellen alle regionalen Anbieter schätzung, Verständnis und Verfügbarkeit tidepressiva nimmt“). Die Ergebnisse der zu vernetzen, sind in Aachen jedoch kei- von Beziehungen seien ein wichtiger Fak- Befragung zeigten, dass die Einstellung der ne Psychotherapeuten beteiligt. Solche tor in der Behandlung von psychischen Befragten in Düsseldorf und Essen relativ einseitig ärztlichen Versorgungskonzepte Störungen. Ein gravierendes Problem sei, aufgeklärt und moderat war. müssen der Vergangenheit angehören, dass gerade die Beziehungskontinuität kritisierte Monika Konitzer. Eine flächende- zwischen ambulantem und stationärem Prof. Dr. Dr. Martin Härter von der Universi- ckende ambulante und stationäre Versor- Sektor verhindert würde. tätsklinik für Psychiatrie und Psychosoma- gung ist ohne Psychotherapeuten nicht zu tik in Freiburg, beschrieb die großen Ver- realisieren. Prof. Dr. Wolfgang Gaebel, Präsident der besserungspotenziale, die im Erkennen, in Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, der Diagnose und Therapie von Depressio- Prof. Dr. Martin Hautzinger von der Univer- Psychotherapie und Nervenheilkunde, re- nen stecken. Rund 70 Prozent der depres- sität Tübingen stellte in seinem Überblick ferierte über die Entstigmatisierung der De- siv Kranken kämen aufgrund von körper- über die wissenschaftliche Forschung dar, pression durch Aufklärung. Gemeinsames lichen Beschwerden zum Hausarzt (z.B. dass Psychotherapie bei der Behandlung Label für viele psychisch Kranke sei, dass Kopfschmerz, Erschöpfung, Schwindel, von depressiv Kranken nachweislich wirk- sie als „unberechenbar“ gelten. Insbeson- Magenbeschwerden). Härter beschrieb sam und unverzichtbar ist. Psychotherapie dere schizophren kranke Menschen sowie das Modellprojekt „gesundheitsziele.de“, sei ein theoretisch und empirisch fundier- Alkohol- und Drogensüchtige würden da- das als Konsensplattform von 50 Akteuren tes, komplexes Behandlungsverfahren. rüber hinaus auch noch als eine „Gefahr aus Politik, Sozialversicherung, Selbsthilfe- Nordrhein- Westfalen Hautzinger beschrieb die Erfolge der Inter- für andere“ bewertet. Depression sei für und Patientenorganisationen sowie Wis- personalen Psychotherapie (ITP), psycho- Laien schwer von alltäglichen Befindlich- senschaft konzipiert sei. Zum „nationalen dynamischer Ansätze (STPP) und kogni- keitsstörungen zu unterscheiden. Deshalb Gesundheitsziel“ seien auch depressive tiver Verhaltenstherapie (KVT). KVT sei in würde in Frage gestellt, ob sie überhaupt Erkrankungen erklärt worden. Höchste der Akuttherapie unipolarer Depressionen krank seien. Depression würde weniger als Priorität hätten bei depressiven Erkrankun- durchweg „wirksam“, ITP sei „wirksam“ bis Krankheit, sondern als persönliches Ver- gen Maßnahmen zur Prävention bzw. zur „möglicherweise wirksam“. Für STPP lägen sagen angesehen – mit der Konsequenz, Vermeidung einer Chronifizierung sowie Wirksamkeitsnachweise als Einzeltherapie dass die Schwere der Krankheit unter- die Gewährleistung einer wirksamen und und ambulanter Therapie vor. Möglicher- schätzt und die Suizidgefährdung vernach- qualitativ hochwertigen Versorgung. Dazu weise wirkungslos sei sie in stationärer lässigt würde. Depressiv kranke Menschen gehörte auch die Entwicklung einer Natio- Therapie, bei leichten und schweren De- litten unter dem Stigma der „Schwäche“, nalen Versorgungsleitlinie Depression. pressionen, als Kombinationstherapie und „Faulheit“ und „Disziplinlosigkeit“. Erhaltungstherapie sowie als Therapie Christine Vietor von der Techniker Kran- chronischer und rezidivierender Depressi- Vor Beginn des „Düsseldorfer Bündnis kenkasse in Hamburg stellte ein Pati- onen. gegen Depression“ seien deshalb im Jahr entendialogsystem vor, dass die TK auf 2005 computergestützte Interviews zur ihrer Internetseite depressiven Patienten Chronische Depressionen stellten vor be- Depression durchgeführt worden. Von anbietet. Der TK-Patientendialog solle die sondere therapeutische Herausforderun- den Befragten kannten fast zwei Drittel Beteiligung von Patienten bei medizini- gen, so Hautziger. Die Behandlung chro- jemanden, der wegen einer Depression schen Entscheidungen fördern (sog. Parti- nischer, therapieresistenter Depressionen behandelt worden ist. Vier von fünf Befrag- zipative Entscheidungsfindung) und gebe 298 Psychotherapeutenjournal 3/2008
Nordrhein-Westfalen Patienten und Angehörigen „individuell auf Vorgaben nicht ändern. Die Erwartungen ihre Bedürfnisse zugeschnittene Informa- vieler Teilnehmer an integrierte Versor- Beratung am Telefon tionen“. Die Inhalte der Webseiten sind gungsverträge als Heilmittel für die Versor- von Experten des Universitätsklinikums gungsprobleme dämpfte Dieter Adler (TK) Berufsrechtliche Freiburgs auf der Basis des internationalen mit Hinweis auf die eingeschränkten finan- Beratung durch den Juristen Forschungsstandes erstellt worden. ziellen Möglichkeiten der Krankenkassen Mi.: 14.00–15.00 Uhr nach Einführung des Gesundheitsfonds. Telefon 0211 / 52 28 47 27 In der abschließenden Podiumsdiskussion PTK-Präsidentin Konitzer wies darauf hin, stand die Frage im Mittelpunkt, welche dass Psychotherapeuten aufgrund ihres Mitgliederberatung Schlussfolgerungen für die Versorgung zu zahlenmäßigen Anteils mehr Verantwor- durch den Vorstand ziehen seien. Übereinstimmend wurde tung in der Versorgung übernehmen könn- Mo: 12.30–14.00 Uhr von allen Teilnehmern eine bessere Koor- ten und müssten. Voraussetzung dafür sei Di: 12.30–13.00 Uhr, dination und Transparenz der Versorgung allerdings die gleichberechtigte Integration 18.30–19.30 Uhr für depressiv erkrankte Menschen gefor- in die Versorgungsstrukturen und die sozi- Mi: 13.00–14.00 Uhr dert, um schneller den Zugang zu einer alrechtliche Gleichstellung. Fr: 11.00–12.00 Uhr wirksamen Behandlung zu ermöglichen. 12.30–13.00 Uhr Elke Slawski-Haun (MAGS) wies auf die In- Telefon 0211 / 52 28 47 27 itiativen des Ministeriums und der Landes- Geschäftsstelle gesundheitskonferenz zum Gesundheits- Anfragen Fortbildungsakkreditierung ziel Depression und zur Berücksichtigung PTK NRW Willstätterstr. 10 Mo – Do: 13.00–15.00 Uhr psychischer Faktoren bei der betrieblichen 40549 Düsseldorf Telefon 0211 / 52 28 47 26 Gesundheitsförderung und der Sekundar- Tel. 0211 / 52 28 47-0 prävention hin. Das Landesministerium Fax 0211 / 52 28 47-15 Anfragen Fortbildungskonto könne Impulse geben und Initiativen för- info@ptk-nrw.de Mo – Do: 13.00–15.00 Uhr dern, könne aber die bundesgesetzlichen www.ptk-nrw.de Telefon 0211 / 52 28 47 31 Anfragen Mitgliederverwaltung Mo – Do: 14.00–15.00 Uhr Telefon 0211 / 52 28 47 14 Sprechstunde der Präsidentin Mo: 12.00–13.00 Uhr Telefon 0211 / 52 28 47 0 Nordrhein- Westfalen Psychotherapeutenjournal 3/2008 299
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