Nach der "Orangenen Revolution" - DER BÜRGER IM STAAT 55. Jahrgang Heft 4 2005 - Der Bürger im Staat
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Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung DER BÜRGER Baden-Württemberg IM STAAT Redaktion: Siegfried Frech Redaktionsassistenz: Barbara Bollinger Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Fax (0711) 164099-77 siegfried.frech@lpb.bwl.de 55. Jahrgang Heft 4 2005 barbara.bollinger@lpb.bwl.de Inhaltsverzeichnis Nach der „Orangenen Revolution” Marzena Kloka Peter W. Schulze Die „Orangene Revolution“ – Good-bye Putin 208 Ein Überblick 164 Dagmar Meyer Anna-Halja Horbatsch Die Russische Föderation im Überblick 216 Die Literaturelite der Ukraine und die „Orangene Revolution“ 168 Christian Wipperfürth Die verunsicherte Großmacht 219 Serhij V. Morozenko Die Ukraine unter Kutschma 171 Gerhard Simon Der Funke der „Orangenen Dagmar Meyer Revolution“ 224 Die Ukraine im Überblick 178 Ernst Lüdemann Ost-West-Süd in der Ukraine: Auseinanderstreben oder Konsolidierung? 180 Juri Durkot Europäische Perspektiven der Ukraine 186 Heinz Timmermann Belarus unter Lukaschenko: Zwischen Russland und der EU 191 Dagmar Meyer Einzelbestellungen und Abonnements bei der Landeszentrale (bitte schriftlich) Belarus (Weißrussland) im Überblick 200 Impressum: Seite 207 Hermann Clement Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel Die wirtschaftliche Entwicklung mit dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte in Belarus 202 Kunden-Nr. an.
Nach der „Orangenen Revolution” ANHÄNGER DER UKRAINISCHEN OPPOSITION PROTESTIEREN VOR DEM UKRAINISCHEN PARLAMENTSGEBÄUDE (23. NOVEMBER 2004). DAS STADTZENTRUM VON KIEW ERTRINKT IN ORANGE, DER FARBE DER OPPOSITION – SCHALS, FAHNEN, BÄNDER. DIE VERWENDUNG DIESER FARBE GAB DER FRIEDLICHEN REVOLUTION IHREN NAMEN. picture alliance / dpa 161
Die „Orangene Revolution” in der Ukraine offenbarte eine bisher unbekannte im Herbst und Winter 2004 nieder. Will man die Dynamik des demokratischen Aufbruchs und setz- unterschiedlichen Ausprägungen und Besonder- te deutliche Zeichen, dass der aus der Sowjetzeit heiten der ukrainischen Regionen verstehen, ist geerbte Untertanengeist überwindbar ist – eine ein Blick auf die historischen Wurzeln unerläss- Botschaft, die auch die Menschen in den Nachbar- lich. Die Sowjetisierung, der Einfluss verschiede- ländern Russland und Belarus erreicht hat. Ausge- ner Kirchen, eine unterschiedliche wirtschaftliche wiesene Ukrainekenner und eher nüchterne Uni- Entwicklung und eine daraus resultierende öko- versitätsprofessoren sprechen von einer Revolu- nomische Disparität führten letztlich zur Entwick- tion, weil die friedliche Bürgerbewegung die gel- lung unterschiedlicher politischer Kulturen. Auf tende Ordnung aufheben und eine neue Ordnung den ersten Blick hatte es den Anschein, dass die schaffen konnte. Der Wahlsieg von Viktor Jusch- Ereignisse im Herbst und Winter 2004 diese Un- tschenko kommt einem Signal für den demokrati- terschiede verstärkt haben. Zeitweilig wurde im schen Umbruch in Osteuropa gleich. Marzena Klo- Wahlkampf gar mit dem Szenario einer Spaltung ka lässt in dem einleitenden Beitrag des Heftes des Landes gedroht. Der Beitrag von Ernst Lüde- „Nach der ,Orangenen Revolution‘ – Ukraine, Bela- mann zeigt jedoch, dass die vorhandenen Unter- rus und Russland“ die Ereignisse dieser friedlichen schiede und der „regionale Faktor“ im Wahlkampf Revolution noch einmal Revue passieren. zwar instrumentalisiert wurden, die Geschlossen- Große Beachtung verdienen Künstler und Per- heit des Landes aber stärker ist, als gemeinhin dar- sönlichkeiten aus dem zivilgesellschaftlichen Be- gestellt. Tendenzen der Annäherung zwischen den reich, die trotz offensichtlicher Verordnung zum Regionen sind durch die „Orangene Revolution“ Schweigen öffentlich Partei für die demokratische eher noch verstärkt worden, dennoch wird die zu- Bürgerbewegung ergriffen und Viktor Juscht- künftige Politik weiterhin von der Suche nach ei- schenko unterstützen. Dies gilt besonders für die ner Lösung für das Zusammenleben und Zusam- Mitglieder des ukrainischen PEN-Clubs. Anna- menwirken der Regionen bestimmt sein. Halja Horbatsch, die eine Reihe von Anthologien Im Zuge des Transformationsprozesses war die ukrainischer Prosa und Lyrik übersetzte und veröf- Ukraine in den vergangenen Jahren gezwungen, fentlichte, schildert in ihrem Beitrag die unter- zweigleisig zu fahren. Kennzeichnend für die stützende Rolle der literarischen und intellektuel- Außenpolitik war die stete Suche nach einer Ba- len Elite der Ukraine. Erstmalig in deutscher Spra- lance zwischen der EU und Russland. Seit dem Sieg che veröffentlichte Auszüge aus Verbandsorga- der „Orangenen Revolution“ strebt die Ukraine ei- nen und Literaturzeitschriften sind ein Beleg für nen Beitritt zur EU mit allen sich daraus ergeben- den mutigen Beitrag zivilgesellschaftlicher Ak- den Konsequenzen an und räumt den Beziehun- teure zum Gelingen der „Orangenen Revolution“. gen zur EU offiziell den Vorrang ein. Gleichwohl Die Ukraine war nach Russland die reichste Re- besteht die schwierige Aufgabe der EU darin, der publik der ehemaligen UdSSR. Trotzdem kann das Ukraine eine unabhängige Politik und eine Annä- Land nach schweren Rückschlägen erst seit 2000 herung an Europa zu ermöglichen, ohne dass dar- ein deutliches Wirtschaftswachstum verzeich- über die politischen und ökonomischen Verbin- nen. Versäumte Wirtschaftsreformen und ein dungen zu Russland in Frage gestellt werden. Die unzureichendes marktwirtschaftliches Gesamt- jüngste politische Krise und die Absetzung der Re- konzept, so eine der zentralen Thesen von Serhij gierung von Julia Timoschenko werden wohl keine V. Morozenko, begünstigten den systematischen großen Auswirkungen auf die außenpolitischen Machtausbau der Oligarchen im Zuge der Trans- Prioritäten des Landes haben. Für die europäi- formation. Am Ende der Amtszeit von Präsident schen Aspirationen bleiben, so die Hauptthese des Kutschma war die Entwicklung von der Planwirt- Beitrags von Juri Durkot, die innenpolitischen Ent- schaft zur Clanwirtschaft vollzogen. Die unkon- wicklungen und notwendigen Reformen ent- trollierte Macht der Clans führte zu Machtmiss- scheidend. brauch, Rechtsunsicherheit und Korruption. Eine Die „Orangene Revolution“ hat auch in den an- Verschränkung wirtschaftlicher und politischer grenzenden Ländern die Frage der demokrati- Interessen ist auf nahezu allen Ebenen festzustel- schen Mit- und Umgestaltung des politischen Sys- len. Für Viktor Juschtschenko wird es ein schwieri- tems auf die Tagesordnung gesetzt. Welche Aus- ger Balanceakt werden, die Macht und den Ein- wirkungen hat der politische Umbruch in der fluss der Oligarchen einzudämmen, gleichzeitig Ukraine auf die Nachbarstaaten Russland und aber deren Investitionskraft nicht zu verlieren. Belarus? Es ist unbestritten, dass es eine historische Tren- „Alles um Belarus herum bewegt sich, nur Belarus nungslinie in der Ukraine gab und wohl noch im- bewegt sich nicht“ – so beschreibt Heinz Timmer- mer gibt. Diese zwischen der russisch geprägten mann die Situation in Weißrussland. Für Präsident Ostukraine und den westlichen Regionen ein- Lukaschenko hat der Machterhalt höchste Prio- schließlich des Zentrums verlaufende Trennlinie rität. Trotz außenpolitischer Isolierung hält Luka- schlug sich im Abstimmungsverhalten der Wähler schenko unbeirrt an seinem innenpolitisch scharf 162
Die „Orangene Revolution” autoritären Kurs fest. Die „Schaukelpolitik“ zwi- ternationale Bühne zurückführen. Gegenwärtig schen Ost und West zeitigt allerdings nicht die ge- weckt nicht nur die innenpolitische Entwicklung wünschten Ergebnisse. Der Schulterschluss mit des Landes bei westlichen Beobachtern Bedenken. Putin will nicht so recht gelingen, und die Bezie- Im Westen wachsen auch die Sorgen über den hungen zur EU gestalten sich mehr als schwierig. außenpolitischen Kurs Russlands. Die Stimmung Heinz Timmermann analysiert zunächst die zen- hat sich merklich verschlechtert. Dies gilt in glei- tralen Ursachen für den Durchbruch und Wahler- chem Maße für die Einschätzung der Motive und folg Lukaschenkos im Jahre 1994, zeigt die autori- des Vorgehens deutscher und westlicher Politik in tären Mechanismen des Regimes auf und skizziert Russland. Der Beitrag von Christian Wipperfürth das geringe Potenzial oppositioneller Kräfte. Es legt ein Schwergewicht auf das Verständnis der hat den Anschein, dass ein Regimewandel in Politik aus russischer Sicht. Er beschreibt die Ent- nächster Zeit eine Vision bleibt. Belarus wird unter wicklung der russischen Außenpolitik seit 1991 Lukaschenko wohl weiterhin eine Zone von Unsi- und erläutert die Politik Russlands gegenüber cherheit, Unberechenbarkeit und möglichen Kon- den GUS-Nachbarn sowie das Verhältnis zu den flikten auf der Achse Russland-EU bleiben. USA, der EU und zu Deutschland. Gerade diese Obwohl Lukaschenko am Modell der Kommando- Innensicht erlaubt tiefere Einsichten in Motive wirtschaft festhält, verwundert zunächst die in und Hintergründe russischer Politik und eröffnet der offiziellen Statistik ausgewiesene Dynamik der realistische Perspektiven einer zukünftigen Zu- Wirtschaft, die seit den 1990er-Jahren ein fort- sammenarbeit. schreitendes Niveau verzeichnen kann. Belarus Die „Orangene Revolution“ hat in der Ukraine die scheint demnach die Grundannahme, dass demo- Demokratie vorangebracht und der sich formie- kratische und marktwirtschaftliche Ordnungen renden Zivilgesellschaft zu mehr Selbstvertrauen für wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand verholfen. Gerhard Simon geht in seiner Zu- sorgen, zu widerlegen. Die Analyse von Hermann sammenschau der spannenden Frage nach, ob im Clement zeigt aber deutlich, dass ein großer Teil GUS-Raum angesichts der Vorgänge in der Ukrai- des Wachstums letztlich auf administrativen Ein- ne eine neue Welle revolutionärer Umwälzungen griffen des Staates beruht. Weiterhin könnten das zu erwarten ist. Ein knapper Blick auf die Vorgän- Festhalten am Staatsinterventionismus und die ge in Kirgisistan und Georgien, in denen Wahlfäl- Präferenzbeziehungen zu Russland eine Reihe von schungen erstmalig zu politischen Konsequenzen Wachstums- und Politikrisiken nach sich ziehen. führten, und ein Vergleich mit den Vorgängen in Die Präsidentschaft Putins konnte anfänglich auf der Ukraine zeigen, dass Proteste gegen gefälsch- eine Reihe von Reformerfolgen zurückblicken. In- te Wahlen allein offenbar nicht ausreichen. Zu den zwischen ist jedoch die schleichende autoritäre Erfolgsfaktoren der „Orangenen Revolution“ ge- Transformation des russischen Staates unüber- hörten eine funktionierende Opposition gegen das sehbar geworden. Russlands Marsch in Richtung autoritäre Regime Kutschma, ein herausragender „straffer Staat“ ist in einem Stadium angelangt, in politischer Führer in Gestalt von Viktor Jusch- dem eine funktionierende Gewaltenteilung und tschenko und die nicht zu unterschätzende Wir- parlamentarische Kontrollmechanismen ebenso kung des demokratischen Nationalismus. Gleich- wenig erkennbar sind wie eine öffentliche Kon- wohl mahnt Gerhard Simon angesichts des abrup- trolle durch die russischen Medien. Die „Partei der ten Endes des „orangenen Projektes“ im Septem- Macht“, Edinaja Rossia, verfügt über eine Zwei- ber 2005 zu Vorsicht und nüchterner Einschät- drittelmehrheit in der Staatsduma und der Kreml zung. Denn das ukrainische Beispiel lehrt, dass kontrolliert den Föderationsrat. Auch die tradi- vom Sieg einer demokratischen Volksbewegung tionellen Großverbände der Unternehmer und bis zur Befestigung einer stabilen demokratischen Arbeitnehmer sind in die „Machtvertikale“ der Ordnung ein weiter Weg zurückzulegen ist. Kremlführung eingegliedert. Das Korruptionsge- Die Beiträge dieses Heftes beruhen auf einer Ta- flecht von käuflicher Staatsbürokratie und Oligar- gung, die im Sommer 2005 federführend von den chen funktioniert wie eh und je. Putins Anspruch, Kolleginnen Angelika Barth, Maria Melnik und die „Diktatur der Gesetze“ durchzusetzen, ist zur dem Leiter der Außenstelle Heidelberg der Landes- reinen Fiktion geworden. Dass der Vertrauensbo- zentrale für politische Bildung Baden-Württem- nus von Putin aufgebraucht ist, zeigte sich Anfang berg organisiert wurde. Ihnen sowie allen Autorin- des Jahres in massiven sozialen Protesten. Trotz nen und Autoren, die mit ihren Beiträgen detail- dieser Proteste schlussfolgert Peter W. Schulze, lierte Informationen vermitteln und zu einer sach- dass gegenwärtig keine wirkungsvolle Opposition lichen Diskussion beitragen, sei an dieser Stelle in Putins Russland vorhanden ist. gedankt. Dank gebührt nicht zuletzt auch dem Die von Putin forcierte politische Stabilisierung Schwabenverlag für die gute und effiziente Zu- und ökonomische Modernisierung soll Russland sammenarbeit. als eigenständige und von westlichen Vorgaben Stuttgart / Heidelberg möglichst unabhängige Großmacht auf die in- Siegfried Frech / Ernst Lüdemann 163
DER DEMOKRATISCHE AUFBRUCH IN DER UKRAINE Die „Orangene Revolution“ – Ein Überblick M ARZENA K LOKA Juschtschenko als Nationalist, Initiator eines menauszählung nicht berücksichtigt (woge- Bürgerkrieges und Sklave des Westens darge- gen Juschtschenko als Führer des Parteien- Die Massenproteste der ukrainischen stellt.2 Die Präsidentschaftswahl war also eine bündnisses „Unsere Ukraine“ eine Klage beim Bevölkerung im Herbst und Winter 2004 Wahl zwischen dem „Status quo einer korrup- Obersten Gerichtshof eingereicht hat). Die Exit offenbarten eine bis dato unbekannte ten Herrschaft von Oligarchen-Clans mit einer Polls (Umfragen der Wähler am Ausgang des Dynamik demokratischer Mitgestaltung quasi-monarchischen Spitze“3 und dem Weg Wahllokals) wiesen auf einen klaren Sieg und zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. einer wirtschaftlichen Modernisierung nach Juschtschenkos hin. Trotz der Fälschungen er- In der Ukraine wurden deutliche Zei- westlichem Muster. Ein Weg, der eine gleich- rang der Oppositionskandidat einen knappen chen gesetzt, dass der aus der Sowjet- zeitige Option für Demokratisierung und Eu- Vorsprung (0,5 Prozent) vor Janukowitsch. zeit geerbte Untertanengeist zu über- ropäisierung bedeutet. Die Entscheidung soll- Folgendes amtliches Ergebnis wurde veröf- winden ist. Ging es in der Auseinan- te von einer Gesellschaft getroffen werden, die fentlicht: 39,87 Prozent für Juschtschenko; dersetzung doch auch um die Korrektur jahrelang als apathisch und unpolitisch galt 39,32 Prozent für Janukowitsch; 5,83 Prozent von Deformationen, die nach 1991 in und selbst nicht wusste, wohin sie will.4 für den Sozialisten Moros; 5,03 Prozent für den postsowjetischen Gesellschaften Die Ereignisse zwischen dem ersten Wahlgang den Vorsitzenden der ukrainischen Kommu- entstanden. Der Wahlsieg von Viktor am 31. Oktober 2004 und der Vereidigung nistischen Partei Symonenko. Da keiner der Juschtschenko kommt einem Signal für Juschtschenkos als neuer Präsident waren eine Kandidaten die absolute Mehrheit erreichte, den demokratischen Umbruch in Osteu- Reaktion der ukrainischen Gesellschaft auf die wurde der Termin des zweiten Wahlganges auf ropa gleich. Die „Orangene Revolution“ Ära Kutschma: Zehn Jahre Präsidentschaft ei- den 21. November festgelegt. hat die geltende Ordnung in wesent- nes Politikers, der zwar die territoriale Integrität lichen Merkmalen aufgehoben und eine des Staates sicherte und die Ukraine als einen neue Ordnung geschaffen. Die breite souveränen Akteur auf der internationalen DIE HEISSE PHASE DES Oppositionsbewegung war letztlich ge- Bühne einführte, doch auch eine durch Korrup- WAHLKAMPFES tragen von der Bereitschaft zum Wandel tion zerrüttete Wirtschaft und ein quasi-auto- und der Überzeugung, dass nur durch ritäres, durch Finanz- und Parteieninteressen Die meisten der übrigen Kandidaten, die im den Aufbau demokratischer und rechts- dominiertes politisches System hinterließ, in ersten Wahlgang antraten, sprachen sich für staatlicher Strukturen die Zukunft für dem es an freiem demokratischen Wettbewerb Juschtschenko aus. Auch Intellektuelle, Künst- die Ukraine gewonnen werden kann. mangelte. Mit den Hinweisen vom Herbst 2000, ler und prominente Sportler erklärten sich Marzena Kloka lässt in ihrem Beitrag wonach die politische Führung in die Ermor- deutlich als Anhänger der demokratischen Op- den dramatischen, 57 Tage andauern- dung des oppositionellen Journalisten Georgi position. Aktiv wurden darüber hinaus zahlrei- den Wahlmarathon und die Ereignisse Gongadse involviert war, kam die gewaltvolle che zivilgesellschaftliche Organisationen, vor der friedlichen Bürgerrevolution noch Seite des Regimes an das Tageslicht.5 Alle diese allem Jugend- und Studentengruppierungen. einmal Revue passieren. Red. Faktoren bildeten günstige Bedingungen für An der Seite Janukowitschs standen dagegen die Entstehung und den Aufstieg einer demo- Bergleute aus den östlichen und südlichen Re- kratischen Opposition und für die politische gionen der Ukraine. Auffällig war in dieser Mobilisierung der ukrainischen Zivilgesell- Phase das allgemeine politische Engagement schaft. und politische Interesse der Bevölkerung: 20 ZWEI KANDIDATEN – Millionen Zuschauer verfolgten die Fernseh- ZWEI POLITISCHE RICHTUNGEN diskussion zwischen den beiden Kandidaten – VORWAHLPHASE UND ERSTER für eine Nachfolgerepublik der Sowjetunion Die Präsidentschaftswahl in der Ukraine im WAHLGANG (31. OKTOBER 2004) ein phänomenales Ergebnis.7 Die gesellschaft- Herbst und Winter 2004 war mehr als nur eine liche Mobilisierung wurde von antidemokrati- Entscheidung über das zukünftige Staatsober- Kennzeichnend für den Wahlkampf um die Prä- schen und rechtlich zweifelhaften Schritten haupt. Zwei Hauptkandidaten – Viktor Janu- sidentschaft war eine ungleiche Verteilung von seitens der Kutschma-Administration beglei- kowitsch und Viktor Juschtschenko – verkör- Ressourcen im politischen Wettbewerb. Das tet: Die Gouverneure der Regionen, in denen perten unterschiedliche Richtungen der politi- staatliche Fernsehen, die hauptsächliche Infor- Juschtschenko im ersten Wahlgang die Mehr- schen Entwicklung des Landes. Juschtschenko, mationsquelle der ukrainischen Bevölkerung, heit gewann, wurden entlassen, und die Uni- liberaldemokratisch gesinnter Ökonom, ehe- sorgte für eine hohe Medienpräsenz des Kandi- versitätsrektoren wurden aufgefordert, die für maliger Ministerpräsident und Chef der Natio- daten der Regierung, Viktor Janukowitsch, der die Opposition protestierenden Studenten von nalbank, international gelobt für seinen er- im Wahlkampf auch finanziell begünstigt war.6 den Hochschulen zu verweisen. folgreichen Kampf gegen die Inflation, sprach Bekannt sind viele Fälle der Einschüchterung sich offen für eine westliche Orientierung der der Anhänger Juschtschenkos: Drohungen, Er- Ukraine, für umfassende Reformen und für die pressungen, Verluste des Arbeits- und Studien- DIE GEFÄLSCHTE STICHWAHL Bekämpfung der Korruption aus. platzes und Verhaftungen. Dieser Mecha- (21. NOVEMBER 2004) Janukowitsch, amtierender Regierungschef, nismus funktionierte dank der „regierungs- Kutschmas und Putins Lieblingskandidat und treuen“ Unterordnung der so genannten admi- Schon am Wahlabend des 21. November 2004 politischer Arm der mächtigen Finanz- und nistrativen Ressourcen (Behörden, Polizei, Bil- sprachen die OSZE-Wahlbeobachter den Ver- Wirtschaftsgruppen aus der ostukrainischen dungswesen). Einen brutalen Tiefpunkt des un- dacht aus, das Wahlergebnis werde zu Gunsten Region Donezk, erteilte der Westintegration fairen Wahlkampfes bildete der durch den von Janukowitsch gefälscht. Nachdem zahlrei- eine deutliche Absage. Stattdessen versprach ukrainischen Geheimdienst veranlasste Giftan- che Einschüchterungen gegen die Wähler, Mit- er im Wahlkampf, Russisch als zweite Amts- schlag mittels Dioxin auf den Oppositionskan- arbeiter der Wahllokale und die Wahlbeobach- sprache der Ukraine zu etablieren, eine sofor- didaten. An den Folgen der Vergiftung und der ter selbst bekannt wurden,8 erklärte die OSZE- tige Rentenerhöhung sowie jedem Kriegsvete- Entstellung des Gesichtes leidet Juschtschenko Mission, das offizielle Wahlergebnis nicht an- ranen ein Auto auf Staatskosten.1 In den west- sichtbar bis zum heutigen Tag. zuerkennen. Die dokumentierten „Techniken“ lich geprägten Regionen der Ukraine wurde Am Tag der Wahl stellten die OSZE-Beobach- der Wahlfälschung waren der „Tausch“ ausge- Janukowitsch mit dem alten Regime und mit ter unter der Leitung des deutschen Botschaf- füllter und noch unbenutzter Wahlzettel gegen allem, was das „System Kutschma“ kennzeich- ters Geert Ahrens zahlreiche Unregelmäßig- einen Geldbetrag, der Diebstahl von Wählerlis- nete (Korruption, Gewalt, Manipulation, Zen- keiten und Wahlmanipulationen fest. So wur- ten und Wahlzetteln sowie die missbräuchliche tralisierung), assoziiert. Im russischsprachigen den zum Beispiel drei Wahlkreise, in denen Handhabung der so genannten Abwesenheits- Schwerindustriegebiet Donezk wurde dagegen Juschtschenko gewonnen hatte, in der Stim- zertifikate (mit denen die Wähler in einem be- 164
Die „Orangene Revolution“ – Ein Überblick liebigen Wahlbüro außerhalb ihres Wohngebie- Seit Ende November hielten sich Polizei, Solda- len Abhängigkeit dieser Gruppen vom ukraini- tes abstimmen können).9 Darüber hinaus fiel ten und Milizgruppen im Zentrum von Kiew und schen Staat. Die Vermutung, dass ihnen eine außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung auch in der Umgebung der Stadt bereit. Obwohl Schweigen verordnet wurde, erscheint plausi- (99 bis 100 Prozent) in den östlichen Regionen das düstere Szenario eines Ausnahmezustands bel.14 Umso größere Beachtung verdienen Per- auf, die im Verhältnis zum ersten Wahlgang mit oder Bürgerkriegs während der ganzen Revolu- sönlichkeiten aus den einzelnen Verbänden, einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent enorm tion nicht auszuschließen war, kamen aus den die durch ihre Unterstützung der demokrati- angestiegen war. Laut offiziellen Wahlergeb- Kreisen der Polizei und der Armee immer wie- schen Opposition ihre Karriere aufs Spiel ge- nissen sprach sich die Bevölkerung in diesen der diskrete Signale der Unterstützung. Einige setzt haben. Dies gilt zum Beispiel für ein- Regionen mit einer mehr als 90-prozentigen (mutige) Angehörige dieser Dienste kündigten zelne Mitglieder des ukrainischen PEN-Clubs. Mehrheit für Janukowitsch aus. Seriöse Nach- im oppositionsfreundlichen Kanal 5 an, die Intellektuelle Eliten des Landes sowie Promi- wahlbefragungen hingegen ergaben für Jusch- Staatsmacht müsste beim Einsatz von Gewalt nente aus Kunst (z.B. die Sängerin Ruslana tschenko einen Vorsprung von über zehn Pro- mit Befehlsverweigerung rechnen.12 Andere Lyschitschko) und Sport (z.B. die Brüder Vitali zent.10 Das offizielle Ergebnis, nach dem Janu- Militärs stellten sich demonstrativ neben und Vladimir Klitschko) befürworteten und kowitsch fast drei Prozent Vorsprung vor Juschtschenko auf die Tribüne am Unabhän- unterstützten die demokratische Bewegung in Juschtschenko hätte (Janukowitsch: 49,45 Pro- gigkeitsplatz. Zum zivilen Ungehorsam von der Ukraine in bisher unbekanntem Maße. zent; Juschtschenko: 46,61 Prozent), wurde Staatsbeamten wird auch die Erklärung der Nach Kiew stellten sich auch andere ukraini- nicht von allen Mitgliedern der Zentralen Wahl- ukrainischen Diplomaten in Washington vom schen Städte hinter Juschtschenko. Die Städ- kommission unterschrieben. Zwei Mitglieder 24. November 2004 gezählt, in der sie sich „mit teparlamente von Lwiw (Lemberg), Iwano- verweigerten ihre Anerkennung, weitere zogen der Stimme des ukrainischen Volkes“ solidari- Frankiwsk, Lutsk, Winnyzja und Chmelnyzkyj ihre Unterschriften zurück. Beginnend mit dem sierten.13 Dieser Erklärung schlossen sich wei- wiesen am 26. November 2004 das Wahl- Tag der Wahl sammelte die Opposition Belege tere 200 ukrainische Diplomaten an. ergebnis zurück und erklärten, Viktor Jusch- für Wahlmanipulationen und Fälschungen. Unter den zivilgesellschaftlichen Akteuren, tschenko als rechtmäßigen Präsidenten der 11.000 Beweise von Verstößen gegen das Wahl- welche die Revolution getragen haben, fehlten Ukraine anzuerkennen. gesetz legte Juschtschenko dem Obersten Ge- Gewerkschaften, Unternehmensverbände so- Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse richt mit dem Antrag vor, die Stichwahl für un- wie traditionelle Nicht-Regierungsorganisa- durch die Zentrale Wahlkommission am 24. gültig zu erklären. Ab dem 22. November sam- tionen. Der Grund dafür liegt in der finanziel- November 2004, wonach Janukowitsch mit melten sich die ersten Menschen auf dem Un- abhängigkeitsplatz in Kiew, von dem aus die Be- richte des einzigen unabhängigen Fernsehsen- ders der Ukraine (Kanal 5) ausgestrahlt wurden, und protestierten gegen die Wahlfälschung. Bald waren es schon über 100.000 Demon- stranten. MASSENMOBILISIERUNG UND DER WEG ZUR WAHLWIEDERHOLUNG Der Unabhängigkeitsplatz in Kiew, der Maidan, wurde zum Zentrum und zum Symbol der „Orangenen Revolution“. Neben der Leinwand und der Bühne bauten die Protestierenden trotz der eisigen Kälte eine Zeltstadt auf. Zahlreiche Jugendgruppierungen sorgten für die organi- satorische Seite des Protestes in Form von Ge- sundheitsdiensten, Reinigung, heißen Geträn- ken und Speisen. Auch die Minderheit der Janu- kowitsch-Anhänger sowie die Polizei und Miliz wurden mitversorgt.11 Darüber hinaus sorgten die Organisatoren für die „förmlichen Erforder- nisse“ der Demonstration: Die Beteiligten wur- den aufgefordert, sich registrieren zu lassen und ihren Personalausweis dabei zu haben. Zu den weiteren „Sicherheitsmaßnahmen“ gehör- te das absolute Alkoholverbot. Der Bürgermeis- ter der Stadt Kiew stellte den Demonstrieren- den das Rathaus und auch andere städtische Gebäude zur Verfügung. Dies stellte einerseits eine organisatorische Erleichterung dar, stärk- te andererseits die Präsenz der Protestbewe- gung im öffentlichen Raum. Alle diese Faktoren trugen dazu bei, dass es während der „Orange- nen Revolution“ zu keinen gewaltsamen Aus- einandersetzungen kam. Die staatliche Gewalt hätte keinen Grund gehabt, in das Geschehen einzugreifen. VIKTOR JUSCHTSCHENKO UND JULIA TIMOSCHENKO, DIE IKONEN DER „ORANGENEN REVOLUTION“, WÄHREND EINER KUNDGEBUNG AUF DEM MAJDAN (UNABHÄNGIGKEITSPLATZ) IN KIEW (4. DEZEMBER 2004). picture alliance / dpa 165
MARZENA KLOKA ABB. 1: CHRONOLOGIE DER „ORANGENEN REVOLUTION“ abgeordneten den Amtseid auf die Bibel, was bei internationalen Kommentatoren auf Skep- sis und Kritik stieß.15 An dieser Stelle wurde die 31. Oktober 2004 Erster Wahlgang der Präsidentschaftswahl. Knapper Vorsprung des Fernsehübertragung der Parlamentssitzung Oppositionsführers Juschtschenko (39,87%) vor dem Regierungskandidaten unterbrochen. Da die Abgeordneten der Regie- Janukowitsch (39,32%). Zahlreiche Zweifel der internationalen Wahlbeobach- rungspartei die Sitzung boykottierten und das tungsinstanzen (z.B. OSZE) am rechtmäßigen Verlauf der Abstimmung. ukrainische Parlament somit nicht beschluss- 21. November 2004 Zweiter Wahlgang der Präsidentschaftswahl: Stichwahl zwischen Januko- fähig war, konnte über den Antrag der Opposi- witsch und Juschtschenko. Die Zentrale Wahlkommission der Ukraine erklärt tion, den zweiten Wahlgang für ungültig zu er- Janukowitsch zum Sieger, obwohl das genaue Ergebnis noch nicht bekannt klären, nicht abgestimmt werden. Zu dieser ist. Auch der russische Präsident Putin feiert Janukowitsch als neues Staats- Entscheidung kam es dagegen in einer weite- oberhaupt. Aufgrund systematischer Manipulationen und Verletzungen des ren Sondersitzung des Parlamentes: Am 27. No- Wahlgesetzes erkennen die Wahlbeobachter die Stichwahl nicht an. vember 2004 forderten 206 Abgeordnete (bei 22. November 2004 Beginn der demokratischen Mobilisierung auf dem Maidan (Unabhängig- einer Gegenstimme und 106 Enthaltungen) die keitsplatz) in Kiew. Die Opposition legt dem Obersten Gerichtshof erste Belege Aufhebung der Stichwahl und die Absetzung für Wahlfälschungen vor und fordert die Annullierung der Wahl. der Wahlkommission. Dieser Beschluss war 23. November 2004 Symbolischer Amtseid Juschtschenkos im ukrainischen Parlament, der zwar rechtlich nicht bindend, allerdings poli- Werchowna Rada. tisch sehr bedeutsam. Während der Oberste Ge- richtshof über die Wahlfälschungsbeschwerde 24. November 2004 Veröffentlichung des amtlichen Stichwahlergebnisses durch die Zentrale beriet, forderte die gestärkte Opposition im Par- Wahlkommission: Viktor Janukowitsch 49,46%; Viktor Juschtschenko: 46,61%. lament ein Misstrauensvotum gegen die Regie- Ausweitung der demokratischen Opposition und Protestbewegung. rung Janukowitsch. Dieses wurde erst im zwei- 26. November 2004 Gemeinsame Erklärung von Janukowitsch und Juschtschenko, den Konflikt ten Versuch (am 1. Dezember 2004) durchge- gewaltfrei lösen zu wollen. Beginn der Verhandlungen der beiden Lager mit setzt. Janukowitsch widersetze sich dem Be- Beteiligung internationaler Vermittler. schluss und verweigerte den Rücktritt. Der Prä- 27. November 2004 Parlamentarischer Beschluss der Aufhebung der Stichwahl und der Absetzung sident Kutschma „beurlaubte“ den Regierungs- der Wahlkommission (rechtlich nicht bindend; politisch jedoch bedeutsam). chef, der offiziell noch bis zum 31. Dezember 2005 im Amt blieb. 28. November 2004 „Anti-Juschtschenko-Mobilisierung“ und Sezessionsdrohung der östlichen Regionen (z.B. Donezk). 30. November 2004 Präsident Kutschma, Stütze des Janukowitsch-Lagers, befürwortet überra- INTERNATIONALE UNTERSTÜTZUNG schenderweise die Neuwahlen. 01. Dezember 2004 Das ukrainische Parlament spricht der Regierung von Janukowitsch das Die demokratische Mobilisierung in der Ukrai- Misstrauen aus. Der Regierungschef erklärt den Beschluss für illegal und ne erfuhr breite Unterstützung von außen. verweigert den Rücktritt. Ende November reisten der EU-Vertreter Javier 03. Dezember 2004 Entscheidung des Obersten Gerichtshofes: Aufhebung der Stichwahl aufgrund Solana, der litauische Präsident Valdas Adam- nachgewiesener Fälschungen; Absetzung der Wahlkommission; Anordnung kus, OSZE-Generalsekretär Jan Kubis sowie der der Wahlwiederholung für den 26. Dezember 2004. polnische Staatschef Aleksander Kwasniewski zu Vermittlungsgesprächen nach Kiew („Erster 08. Dezember 2004 Im Rahmen eines politischen Tausches zwischen der Regierung und der Runder Tisch“). Schon am 26. November 2004 demokratischen Opposition verabschiedet das ukrainische Parlament eine gaben Juschtschenko und Janukowitsch eine Verfassungsreform, die eine politische Bedingung für notwendige Wahl- gemeinsame Erklärung ab, den Konflikt ge- gesetzesänderungen darstellt. waltfrei zu lösen. Der Forderung Juschtschen- 11. Dezember 2004 Juschtschenkos Ärzte bestätigen, dass der Oppositionskandidat im Laufe des kos, Neuwahlen abzuhalten, schlossen sich Wahlkampfes mit Dioxin vergiftet wurde. überraschenderweise Präsident Kutschma und 26. Dezember 2004 Wiederholung der Stichwahl. Sieg der demokratischen Opposition mit der ehemalige Staatschef Krawtschuk an. 51,99% der Stimmen für Juschtschenko gegenüber 44,19% für Janukowitsch. Auch die internationalen Vermittler begrüßten Akzeptanz der Ergebnisse durch die internationalen Wahlbeobachter. den Vorschlag. Am 30. November und am 7. Dezember 2005 fanden weitere Gipfeltreffen 31. Dezember 2004 Rücktritt Janukowitschs vom Amt des Regierungschefs mit Beteiligung internationaler Politiker statt. 30. Dezember 2004 Der Oberste Gerichtshof weist die Wahlanfechtungsklagen des Regierungs- 06. Januar 2005 kandidaten Janukowitsch zurück. Die Prüfung der Klagen verzögert die Amts- 17. Januar 2005 einführung des neuen Präsidenten. VERSTÄRKUNG DES 20. Januar 2005 OST-WEST-GEGENSATZES 23. Januar 2005 Vereidigung Juschtschenkos zum Präsidenten der Ukraine; die „Orangene Revolution“ endet nach 57 Tagen. Die politische Spannung im Lande verstärkte zusätzlich der Ost-West-Gegensatz, der wäh- rend der Präsidentschaftswahlen deutlich zum Ausdruck kam. Auch die Anhänger von Januko- 49,45 Prozent klar über dem Kandidaten der fälschung. In diesem Zeitraum durfte kein witsch aus den ostukrainischen Regionen reis- Opposition mit 46,61 Prozent lag, weitete sich neuer Präsident ausgerufen werden. ten in der Zeit der Mobilisierung nach Kiew, um der Protest aus. Die Demonstration zog zum ihren Kandidaten zu verteidigen, wenn nötig Parlamentsgebäude und zum Präsidialamt. Die auch mit Gewalt. Am 28. November 2004 gin- Menschen skandierten gegen den Wahlbetrug DAS PARLAMENT ALS SCHAUPLATZ gen in der Bergbaustadt Donezk schätzungs- und forderten den Rücktritt der Regierung Ja- DES KAMPFES weise 150.000 Menschen auf die Straße und nukowitsch. Es kam zu Verkehrsblockaden. Der forderten Autonomie für ihre Region im Falle Aufruf nach einem Generalstreik wurde laut. Ein weiterer Schauplatz des politischen Kamp- des Sieges von Juschtschenko. Zwei Tage vor Gleichzeitig gab der Oberste Gerichtshof der fes war das ukrainische Parlament (Werchow- dieser Demonstration beschloss das regionale Ukraine den Anhängern der demokratischen na Rada). Hier erklärte sich Juschtschenko wäh- Parlament, eine Volksabstimmung über die Bil- Opposition neue Hoffnung. Der Oberste Ge- rend der Sitzung am 23. November 2004, kurz dung einer Republik Donezk abzuhalten. Ähn- richtshof untersagte die Veröffentlichung der nach der umstrittenen Stichwahl, zum Sieger lich verlief es in der Krimstadt Odessa. Der Gou- Wahlergebnisse bis zur Klärung der von der und bat um internationale Anerkennung. Er verneur von Charkiw, Kuschnjarow, kündigte im Opposition vorgebrachten Vorwürfe der Wahl- leistete sogar symbolisch vor den Parlaments- Fernsehen an, sein Gebiet werde keine Steuern 166
Die „Orangene Revolution“ – Ein Überblick mehr an die Hauptstadt abführen. In Sewasto- pierungen um den Kandidaten Juschtschenko gegen das Wahlergebnis gewaltsam protestie- pol wurde die Situation in Kiew als „Pöbelherr- und seine Verbündete Julia Timoschenko. Ihre ren, bestätigte sich zum Glück nicht. Der ukrai- schaft“ bezeichnet.16 Die Gouverneure von Partei stimmte gegen das Paket; Juschtschen- nische Wahlmarathon, begleitet durch eine Charkiw, Donezk und Luhansk trafen sich mit ko selbst enthielt sich der Stimme. Das Inkraft- einzigartige und friedliche Bürgerrevolution, Jurij Luzkow, dem Bürgermeister von Moskau, treten der Verfassungsreform wurde auf Sep- endete somit nach 57 Tagen. und mit Viktor Janukowitsch, um über eine tember 2005 verschoben, so dass der gewählte künftige autonome Föderation zu sprechen. Die Präsident seine Regierung noch nach alten Oppositionsführerin Julia Timoschenko forder- Grundsätzen formen konnte (in der Zukunft LITERATUR te den Präsidenten auf, diese Gouverneure zu wird die ukrainische Regierung vom Parlament Forbig, J./Shepherd, R. (Hrsg.): Ukraine after the Orange entlassen. Die Generalstaatsanwaltschaft lei- auf Vorschlag des Präsidenten gewählt). Nach Revolution. Strenghtening European and Transatlantic tete eine Ermittlung gegen diese Gouverneure der Justiz sprach sich auch die Legislative für Commitments. Washington 2005. Kurth, H./Kempe, I. (Hrsg.): Presidential Election and wegen Separatismus ein. Janukowitsch mach- eine Wahlwiederholung am 26. Dezember aus. Orange Revolution. Implications for Ukraine’s Transition. te sich durch seine demonstrative Unterstüt- Friedrich-Ebert-Stiftung, Kiew 2005. zung der separatistischen Bestrebungen in der Piehl, E.: Hauptphasen und Ergebnisse, wichtigste Akteu- re im In- und Ausland sowie Gesamtbewertung der Prä- Ostukraine unbeliebt und verlor damit zum Teil DIE STICHWAHL VOM 26. DEZEMBER sidentenwahlen 2004 und der ausgelösten revolutionären das Vertrauen des Präsidenten. Wirkungen. In: Piehl, E./Schulze, P. W./Timmermann, H.: Die offene Flanke der Europäischen Union. Russische Fö- Auf den Sieg Juschtschenkos deuteten schon deration, Belarus, Ukraine und Moldau. Berlin 2005, S. die ersten Umfrageergebnisse hin.18 Nach dem 409-452. DIE ANNULLIERUNG DER STICHWAHL Bericht der OSZE-Wahlbeobachter wies die Simon, G.: Neubeginn in der Ukraine. Vom Schwanken zur Revolution in Orange. In: osteuropa, Heft 1/2005, S. Wahl vom 26. Dezember 2004 deutliche Verbes- 16-33. Am 3. Dezember 2005 kam die erwartete Ent- serungen gegenüber den vorherigen Wahlgän- scheidung des Obersten Gerichtes der Ukraine. gen auf. Die Beobachter empfahlen, das Wahl- ANMERKUNGEN Die Richter annullierten die Stichwahl vom 21. ergebnis anzuerkennen. Am 28. Dezember wur- 1 Vgl. Die Zeit v. 28.10.2004. November aufgrund zahlreicher nachgewiese- de von der Wahlkommission folgendes amtli- 2 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.10.2004. ner Fälschungen. Auch die Erklärung der Zen- ches Ergebnis veröffentlicht: Zu den Urnen gin- 3 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 08.01.2005. tralen Wahlkommission, dass Janukowitsch der gen wieder über 80 Prozent der Wahlberechtig- 4 Vgl. Simon 2005, S. 16. Gewinner der Wahl sei, wurde als ungültig be- ten, 51,99 Prozent stimmten für Juschtschen- 5 Im Herbst 2000 kamen Ereignisse an das Tageslicht, in zeichnet, da zu diesem Zeitpunkt die Beschwer- ko, 44,19 Prozent für Janukowitsch. die Kutschma persönlich involviert war, und die an innen- politischer Brisanz und internationaler Kritik alle seitheri- den der Opposition noch nicht überprüft wor- Am erfolgreichsten war der Kandidat der Oppo- gen Machenschaften übertrafen, nämlich die Entführung den waren. Der dritte Punkt der Entscheidung sition im Zentrum und im Westen des Landes, und Ermordung des kritischen Journalisten Georgi Gon- gadse und die in diesem Zusammenhang entdeckten betraf die Wahlwiederholung: sie sollte am 26. in Donezk und Lugansk konnte er allerdings nur Tonbandmitschnitte aus dem Führungszirkel. Gerade die- Dezember 2004 stattfinden. Trotz der Versuche 4,21 Prozent und 6,21 Prozent der Stimmen auf se Tonbandaufnahmen belasteten Kutschma und drei sei- ner engsten Mitarbeiter schwer (vgl. Piehl 2005, S. 359ff.). politischer Erpressung seitens der Kutschma- sich vereinen. Der Regierungskandidat ent- In Anlehnung an die Affäre von Watergate wurde dieser Administration wurde die Entscheidung des schied in acht Regionen, in der Stadt Sewasto- Vorfall in der Folge „Kutschma-Gate“ genannt. Gerichtshofes allgemein anerkannt. Das höch- pol und der autonomen Republik Krim die Wahl 6 Genaueres s. den Bericht der OSZE-Wahlbeobachter- mission vom 1. November 2004; abrufbar unter: http:// ste Justizorgan genießt in der Ukraine große für sich. Die Anhänger von Janukowitsch be- www.osce.org/documents/odihr/2004/11/3771_en.pdf Autorität und ist relativ unabhängig, seine Be- zeichneten die Wahlwiederholung als verfas- 7 Vgl. Piehl 2005, S. 16. schlüsse sind unanfechtbar und sofort bindend. sungswidrig und reichten ab dem 30. Dezem- 8 Siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23.11.2004 Das ukrainische Wahlrecht regelte nicht, wie im ber zahlreiche Anfechtungsklagen beim Ober- sowie der zweite OSZE-Wahlbericht vom 22. November 2004; abrufbar unter: http://www.osce.org/documents/ Falle einer ungültigen Stichwahl vorzugehen sten Gerichtshof ein. Zwar wurden diese Klagen odihr/2004/11/3811_en.pdf ist. Die Entscheidung des Gerichtes löste eine als unbegründet zurückgewiesen, aber durch 9 Beobachtet wurden auch einige Fälle von „Wahltou- intensive parlamentarische Debatte über die ihre Prüfung verzögerte sich die offizielle Amts- rismus“. Wähler von Janukowitsch wurden mit Bussen von einem Wahllokal zum anderen gefahren und konnten so- Änderung des Wahlgesetzes aus. Nach dem einführung Juschtschenkos. Am 31. Dezember mit mehrfach ihre Stimmen abgeben; s. Wahlbericht Nr. 3 Entwurf einer Arbeitsgruppe (eingeleitet durch 2004 trat Janukowitsch vom Amt des Minister- der Konrad Adenauer-Stiftung von Ralf Wachsmuth und Igor Plaschkin; abrufbar unter: http://www.kas.de/ db_ die internationalen Vermittler) sollte bis zur präsidenten zurück. Die offizielle Vereidigung files/dokumente/laenderberichte/7_dokument_dok_pdf_ wiederholten Stichwahl ein vorübergehendes des neuen Präsidenten fand im ukrainischen 5738_1pdf 10 Umfragewerte von Exit-Polls ermittelt durch das Kie- Wahlgesetz gelten, das den Missbrauch der Parlament am 23. Januar 2005 statt. Gemäß der wer Internationale Institut für Soziologie/Rasumkow- Abwesenheitsscheine erheblich einschränken ukrainischen Tradition schwor der Neugewähl- Zentrum/Fonds „Demokratische Initiativen“: 54 Prozent und die Stimmabgabe von Behinderten und te auf Bibel und Verfassung. An der Zeremonie der Stimmen für Juschtschenko, 43 Prozent für Januko- witsch; siehe Wahlbericht Nr. 3 von Ralf Wachsmuth und Kranken zu Hause neu regeln sollte. Außerhalb im Parlament nahmen auch ausländische Gäs- Igor Plaschkin (s. Anm. 9). des Wahllokals zu wählen, sollte danach aus- te teil. In seiner Antrittsrede betonte Jusch- 11 Siehe Piehl 2005, S. 421ff. schließlich für Schwerbehinderte möglich sein. tschenko die europäischen Ambitionen der 12 Siehe den Kommentar von Konrad Schuller in der Janukowitsch kritisierte diese Bestimmung mit Ukraine sowie die Aufrechterhaltung der Ein- Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26.11.2004. In der Ausgabe vom 20. Dezember berichtete Schuller vom Be- dem Argument, ältere Menschen würden ihres heit des Landes. Der Albtraum, die ostukraini- fehl des ukrainischen Innenministeriums, die Demonstra- Wahlrechts beraubt. Gleichzeitig griff die Re- schen Anhänger Janukowitschs würden in Kiew tion in Kiew niederzuschlagen, der tatsächlich nicht be- folgt wurde. gierung die Gelegenheit auf, um die von ihr lang 13 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 25.11.2004. geplante Verfassungsänderung durchzuset- 14 Vgl. Piehl 2005, S. 422. zen.17 So wurde die Änderung des Wahlrechts 15 Vgl. Die Welt vom 24. November 2004 sowie die Kom- von einer umfassenden Verfassungsreform ab- mentare der Phoenix- und Tagesschau-Journalisten am UNSERE AUTORIN Tag der Parlamentssitzung. hängig gemacht, die einen beachtlichen Teil der 16 Siehe den Kommentar von Konrad Schuller in der präsidialen Befugnisse an das Parlament abgab. Marzena Kloka, Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24.11.2004. Das Ziel dieses Schrittes war offensichtlich, geboren 1983 in 17 Aufgrund der Gefahr, die Präsidentschaft könnte in die Hände der Opposition fallen, strebte Kutschma seit 2002 nämlich den eventuellen Wahlsieger Jusch- Gdansk, studiert eine Entmachtung des Präsidenten und die Stärkung des tschenko in seiner Präsidentenmacht zu als DAAD-Stipen- Parlaments an (vgl. Simon 2005, S. 19). schwächen. Trotz großer Kontroversen um das diatin Politikwis- 18 Die Ergebnisse der von verschiedenen Instituten durchgeführten Exit-Polls lauteten: Kiewer Internationa- so genannte „Kutschma-Paket“ (Verfassungs- senschaft, Musik- les Institut für Soziologie/Rasumkow-Zentrum: 56,31% reform gekoppelt mit der Wahlgesetzände- wissenschaft und für Juschtschenko und 41,31% für Janukowitsch; Sozia- rung) stimmte das ukrainische Einkammerpar- Öffentliches Recht les Monitoring: 58,1% für Juschtschenko und 41% für Janukowitsch; ICTV (The Luntz Research Company, Penn, lament am 8. Dezember 2004 dem politischen an der Ruprecht- Schoen & Berland): 565% für Juschtschenko und 41% für Tausch zwischen der Regierung und der demo- Karls-Universität Janukowitsch; Quelle: Wahlbericht Nr. 4 der Konrad-Ade- nauer-Stiftung von Ralf Wachsmuth und Igor Plaschkin; kratischen Opposition mit 402 von 450 Stim- in Heidelberg. abrufbar unter: http://www.kas.de/publikationen/2004/ men zu. Dieses Ereignis spaltete jedoch erheb- Gegenwärtig ver- 5858_dokument.html lich das Oppositionslager, vor allem die Grup- bringt sie einen Studienaufenthalt in Paris. 167
ZIVILGESELLSCHAFTLICHE AKTEURE UND DIE DEMOKRATISCHE OPPOSITION Die Literaturelite der Ukraine und die „Orangene Revolution“ A NNA -H ALJA H ORBATSCH literarischen Generation gewisse Perspektiven zusetzen“. Jaworiswskyi hatte in der Vergan- Die zivilgesellschaftliche Unterstützung eröffnet, doch die Zeit des freien Schaffens genheit immer wieder auf gravierende Proble- der demokratischen Opposition war eher war nur von kurzer Dauer, zumal das „Tauwet- me der aktiven Schriftsteller aufmerksam ge- verhalten. Dies erklärt sich nicht zuletzt ter“ im literarischen Bereich schon um die Mit- macht. Er bezog kritisch Stellung gegen die 15- durch den Umstand, dass ein Großteil der te der 1960er-Jahre von neuen eisigen Winden prozentige Mehrwertsteuer für den Buchdruck. Nicht-Regierungsorganisationen in der zum Stillstand gebracht wurde. Ein weiterer, von ihm immer wieder geäußerter Ukraine von staatlichen Subventionen In den 1920er-Jahren waren die ukrainischen Kritikpunkt betraf die Überflutung des ukraini- abhängig ist. Umso größere Beachtung Autoren auf Europa ausgerichtet gewesen. Po- schen Buchmarktes mit billigen importierten verdienen Persönlichkeiten aus dem zi- pulär war der Ruf: „Weg von Moskau – Europa russischen Büchern, die zu einer extremen Ver- vilgesellschaftlichen Bereich, die trotz ist unser Ziel!“ („Het` wid Moskwy, dawaj Jewro- teuerung der ukrainischsprachigen Ausgaben der offensichtlichen Verordnung zum pu!“) Die in den 1960er-Jahren entstandene (Schulbücher inbegriffen) führte. Schweigen öffentlich Partei für die de- Bürgerrechtsbewegung, die von Dichtern, Lite- Im Herbst 2004 verübte eine regimetreue mokratische Bürgerbewegung ergriffen raturwissenschaftlern und Historikern ins Leben Autorengruppe nachts durch einen Hinterein- und Viktor Juschtschenko unterstützten. gerufen wurde, verfolgte eine Erneuerung des gang einen Einbruch und warf die wachha- Dies gilt besonders für einzelne Mitglie- kulturellen und geistigen Lebens. In mutigen bende Nachtwächterin hinaus. Dieser gelang der des ukrainischen PEN-Clubs. Anna- Texten, die zumeist in handschriftlichen Exemp- es jedoch, den Vorsitzenden des Verbandes an- Halja Horbatsch, die eine Reihe von An- laren kursierten, wurde die Eigenständigkeit der zurufen und ihn über das Geschehen zu unter- thologien ukrainischer Prosa und Lyrik ukrainischen Kultur betont. Diese geistige Er- richten. Die im Auftrag Kutschmas agierende, übersetzte und veröffentlichte, schildert neuerung zeichnete sich durch die Rückbesin- etwa gut ein Dutzend Personen zählende in ihrem Beitrag die unterstützende Rol- nung auf die Kultur der 1920er-Jahre und die Autorengruppe, die bereits mit einer „neu ge- le der literarischen und intellektuellen jahrzehntelang vom Sowjetregime verbotenen wählten“ Vorsitzenden das Haus besetzte, er- Elite der Ukraine während der „Orange- historischen und literarischen Werke aus. klärte öffentlich, der „alte Schriftstellerver- nen Revolution“. Erstmalig in deutscher Diese Aufbruchstimmung der beginnenden band sei von senilen, irren alten Autoren“ ge- Sprache veröffentlichte Auszüge aus Ver- 1960er-Jahre wurde nach einem verheißungs- führt worden. Ein Wechsel des Vorstandes sei bandsorganen und Literaturzeitschrif- vollen Jahrzehnt durch erneute Verhaftungen, daher dringend notwendig gewesen. ten sind ein Beleg für den aktiven und Prozesse, langjährige, von Zwangsarbeit beglei- Die Angelegenheit kam vor ein örtliches Ge- mutigen Beitrag einzelner zivilgesell- tete Haftstrafen in entfernten Regionen der richt, das sich zunächst nicht sonderlich beeil- schaftlicher Akteure. Red. Sowjetunion zum Schweigen gebracht. Etlichen te, die rechtmäßige Ordnung wieder herzustel- bedeutenden jungen Autoren, die frei geblieben len. Daraufhin versammelten sich vor dem Ge- waren, wurde bis zu Beginn der 1980er-Jahre ein bäude 960 alarmierte Mitglieder des Schrift- Veröffentlichungs- und Druckverbot auferlegt. stellerverbandes der Stadt Kiew und Umge- bung, die mit ihren gültigen Verbandsauswei- sen in der Hand den alten Vorstand bestätigten. AUFBRUCH UND RÜCKBESINNUNG REPRESSIONEN GEGEN Nach einem wochenlangen Hin und Her ent- AUF LITERARISCHE TRADITIONEN KRITISCHE LITERATEN schied das zuständige Gericht, das angeblich beschlagnahmte Gebäude an den Schriftstel- Es war die Wochenschrift Literaturna Ukrajina Bevor wir zu den Reaktionen der ukrainischen lerverband mit seinem alten und rechtmäßigen (Die literarische Ukraine) des Ukrainischen Literaturelite auf die „Orangene Revolution“ Vorstand zurückzugeben. Schriftstellerverbandes, die bereits in den be- kommen, sei ein Vorfall erwähnt, der die Hal- ginnenden 1980er-Jahren während der Gor- tung des Kutschma-Regimes zum ukraini- batschow-Ära mit Veröffentlichungen von schen Schriftstellerverband sinnfällig illus- DIE UNTERSTÜTZUNG DER Texten aus den 1920er-Jahren begonnen hat- triert. Es geht um den Versuch von Leonid Kut- „ORANGENEN REVOLUTION“ te. Diese Texte riefen Zeiten in Erinnerung, als schma, sich das Haus des Schriftstellerverban- man sich zu gesellschaftspolitischen Fragen des anzueignen. Dieses Gebäude ähnelt einem Während der kalten und schneefeuchten Witte- der Ukraine noch einigermaßen frei äußern Palais und steht im Regierungsviertel von Kiew rung in den Wochen der Monate November und konnte. Gerade in den 1920er-Jahren hatte die in der Bankiwska-Straße. Dezember 2004 diente der geräumige Bau zahl- Ukraine nach Beendigung des Bürgerkrieges Gegen Ende des 19. Jahrhunderts vom Besitzer reichen Maidan-Demonstranten als Schlaf-, eine wahre Kulturrenaissance erlebt, die unter einer Zuckerfabrik errichtet, wechselte das Verpflegungs- und Versorgungsstätte. Auch die dem diktatorischen Regime Stalins ein tragi- Haus einige Male den Eigentümer und wurde Kiewer Autoren nahmen in ihren Wohnungen so sches Ende finden sollte. Die Autoren und Li- nach Beendigung des Bürgerkrieges vom Staat viele Demonstranten auf, wie es nur eben ging. teraturwissenschaftler, die in diesem Jahr- beschlagnahmt. Das Zentralkomitee der KPdSU Der Schriftstellerverband hat kurz vor der Prä- zehnt zu Wort gekommen waren, fanden in übertrug es zu Beginn der 1930er-Jahre, als der sidentschaftswahl als auch während der Wah- den Jahren ab 1930 ihren Tod durch Exeku- Sitz der Hauptstadt von Charkiw nach Kiew len in seiner Wochenzeitschrift eine ganze Rei- tionskommandos, begingen Selbstmord oder wechselte, dem Schriftstellerverband, um das he von Erklärungen veröffentlicht, welche die wurden zu langjähriger Zwangsarbeit nach Si- „schreibende Volk“, eine über tausend Men- Bürger auf die politische Lage im Lande auf- birien und auf die Solowkiinseln verbannt. Nur schen zählende Gruppe von Autorinnen und merksam machten und ehrliche Wahlen forder- wenige Literaten und Intellektuelle wurden Autoren, so nah wie möglich an sich zu binden ten. Die Erklärungen trugen die Unterschriften während der von Chruschtschows eingeleite- und unter Kontrolle zu halten. bekannter Persönlichkeiten des literarischen ten Phase des „Tauwetters“1 in der zweiten Da der im Jahre 2004 amtierende Vorsitzende und öffentlichen Lebens. Stellvertretend für Hälfte der 1950er-Jahre rehabilitiert. Verein- des Ukrainischen Schriftstellerverbandes, der andere Kulturschaffende seien genannt: Oksa- zelte Personen, die überlebt hatten, darunter bekannte Prosaautor Wolodymyr Jaworiwskyj na Sabutschko, Vizepräsidentin des ukraini- namhafte Wissenschaftler und Autoren, durf- und gleichzeitige Abgeordnete des Parlaments, schen PEN-Clubs, die Schriftsteller Jurij Andru- ten zwar in die Ukraine zurückkehren, jedoch in seinen Schriften die regierende Klasse ziem- chowytsch und Andrij Bondar, die mit weiteren nur um ein Schattendasein zu fristen. lich kritisch darstellte, wurde seitens der zehn Kollegen einen Offenen Brief zur Unter- Zwar hatten das „Tauwetter“ und die schritt- Staatsführung beschlossen, im Schriftsteller- stützung von Juschtschenko schon vor dem weise Entstalinisierung vor allem der jungen verband zunächst einen neuen Vorsitz „durch- ersten Wahlgang versandt hatten. 168
Die Literaturelite der Ukraine und die „Orangene Revolution“ UNTERSTÜTZUNG DURCH DEN Der Vorsitzende des Ukrainischen PEN-Clubs, ihrem Beitrag „My na Majdani, Majdan u na- POLNISCHEN PEN-CLUB Jewhen Swerstjuk, veröffentlichte den Text schych duschach“ („Wir sind auf dem Maidan, dieses Briefes sowie seine – nachfolgend ge- der Maidan ist in unseren Seelen“) die Atmos- Besonders wichtig für die Stimmung im kürzte – Antwort in der gleichen Ausgabe der phäre auf dem Maidan, dem „Platz der Unab- Schriftstellerverband der Ukraine war die Ver- Literaturna Ukrajina mit folgenden, an den hängigkeit“ in Kiew. Ihr Beitrag (Kozjubynska öffentlichung eines Briefes des polnischen polnischen PEN-Club gerichteten Worten: 2005, S. 5-8) ist in der Februarnummer der Li- PEN-Clubs an den ukrainischen PEN-Club, der teraturzeitschrift Sutschasnist (Die Gegen- am 25. Oktober 2004, einige Tage vor dem er- wart) veröffentlicht. Aus diesem höchst analy- sten Wahltermin in der Wochenzeitschrift Li- „Solidarität der Demokratie! Wir stehen tischen Text lohnt es, einige Textstellen zu zi- teraturna Ukrajina veröffentlicht wurde. Die- vor einer historischen Entscheidung. Das tieren, welche die Atmosphäre und die unge- sem ins Ukrainische übersetzten Brief war prokommunistische Regime stellt mittels wöhnlichen Ereignisses schildern. Mychajlyna auch die Antwort des Vorsitzenden des ukrai- der Massenmedien die Vorwahlkämpfe als Kozjubynska schreibt: nischen PEN-Clubs, Jewhen Swerstjuk, bei- ein Ringen zweier Günstlinge dar. Das Volk gefügt worden. Jewhen Swerstjuk ist ein be- indes, besonders die Jugend, empfindet kannter, mit dem Schewtschenko-Literatur- dies als Bedrohung und Stärkung eines „Der Maidan hat die bürgerlichen Stereo- preis2 ausgezeichneter Essayist und Lyriker. kriminellen Regimes, worauf eine neue typen bezüglich unserer Jugend hinweg- Er ist ein ehemaliger Bürgerrechtler, der ab Fluchtwelle aus der Ukraine folgen würde. gefegt, die man bis dahin als apolitisch, 1972 sieben Jahre strenge Lagerhaft und fünf Flucht gerade jener Kräfte, die eine Stütze zynisch, geistlos dargestellt hatte; er hat Jahre Verbannung mit Zwangsarbeit in Ost- der demokratischen Gemeinschaft sein auch den Abgrund aufgehoben, der an- sibirien verbüßt hatte. Beide Texte, nach- müssten.“ geblich zwischen den Generationen be- folgend in deutscher Übersetzung, sind ein stand. Alles hat sich als völlig anders er- Zeugnis der politischen Einstellung und mo- wiesen.“ ralischen Haltung der literarischen Eliten bei- Für seine zum Ausdruck gebrachte Meinung der Staaten. Beide Nationen haben in der musste Jewhen Swerstjuk einige Wochen spä- Vergangenheit gemeinsam sowohl kriegeri- ter einen hohen Preis bezahlen. Seine Redak- Dabei stellt die Literaturwissenschaftlerin eine sche, schwierige als auch ruhigere Epochen tion, in der er mit einigen Freunden die zweiwö- Änderung der russischen öffentlichen Meinung durchlebt, aus denen Schriftstellerinnen und chig erscheinende Zeitschrift Nascha Wira (Un- in Bezug auf die ukrainische Bevölkerung fest, Schriftsteller beider Länder kluge Lehren gezo- ser Glaube) der unabhängigen Ukrainischen Or- die bis dahin nur als schlaue „Chochols“ (ein gen haben. thodoxen Autokephalen Kirche (UOAK) heraus- Spottname der Russen für die ukrainische Be- bringt, wurde im Februar 2005 von einer Grup- völkerung) dargestellt wurden. Zudem hat der pe angeblicher Bauarbeiter heimgesucht, die im Maidan das abgedroschene Stereotyp von einer „DER POLNISCHE AN DEN Namen der Besitzer vorgaben, die Redaktions- angeblich unüberwindbaren Kluft zwischen UKRAINISCHEN PEN-CLUB: räume in Ordnung bringen zu wollen. Dabei den ukrainisch und russisch sprechenden Men- wurden in den Redaktionsräumen schriftliche schen in der Ukraine hinweggefegt. Mychajly- Liebe Freunde! In diesen angespannten Unterlagen, Archivmaterial und die PCs zer- na Kozjubynska schreibt diesbezüglich: Tagen verfolgen wir aufmerksam den Ver- stört, ferner die protestierenden Redaktions- lauf der Ereignisse in der Ukraine. Mit gan- mitarbeiter hinausgejagt. Die Redaktionsräu- zem Herzen und unseren Gedanken sind me waren in einem Gebäudekomplex der Ukrai- „Ich habe stets gewusst, dass es falsch ist, wir bei euch. Uns verbinden gemeinsame nischen Orthodoxen Kirche des Heiligen Mi- die Menschen, die es gewohnt sind, rus- Ängste und die Ideale der Charta des chael untergebracht. Nach dem Überfall muss- sisch zu sprechen, aus der ukrainischen Internationalen PEN-Clubs. Uns ist be- te der Kirchenraum im Erdgeschoss für die Gemeinschaft auszuschließen. In diesen wusst, was ihr als Intellektuelle und Men- Gläubigen geschlossen werden. Tagen ist den Menschen eine sehr wichti- schen des geschriebenen Wortes heute Kurz danach hatte sich herausgestellt, dass der ge These ins Bewusstsein gedrungen, die gemeinsam mit dem größten Teil der Metropolit der Ukrainischen Orthodoxen Auto- mir längst vertraut war: In einer solchen ukrainischen Bürger verteidigt. Ihr vertei- kephalen Kirche ein Günstling Kutschmas war Ukraine, die aufrichtig, warmherzig, nor- digt die Institution eines demokratischen, und auf dessen Betreiben hin dieser Kirche auf- mal ist, möchten diejenigen, die Ukrai- würdevollen und zeitgemäßen Staates. Ihr gezwungen worden war. Während der Wahlen nisch beherrschen auch in dieser Sprache verteidigt die Souveränität eines Landes hatte der Erzbischof den Kanidaten Januko- reden. Dies ist kein Zwang, keine Konjunk- in den schweren Jahren der postkommu- witsch nach besten Kräften unterstützt. Der tur, sondern ein innerer Impuls.“ nistischen Transformation, eines Staates, innerkirchliche Zwist landete vor dem Gericht der von keinem Blut ethnischer Konflikte und ist bis heute noch nicht entschieden. Inzwi- befleckt worden ist. Ihr verteidigt eine bür- schen hat ein Literaturverlag der Redaktion der Als eine dritte wichtige Erfahrung führt die gerliche Gesellschaft und ein Volk, das kei- Zeitschrift Nascha Wira, ein im Übrigen gerne Autorin an, dass vor ihren Augen die teilneh- nem anderen Volk das Recht auf Gerech- gelesenes und tolerantes Blatt, vorübergehend menden Menschen eine erst entstehende, sich tigkeit und Freiheit abspricht. Dies ist Po- eine Unterkunft angeboten. noch im embryonalen Zustand befindende len besonders bewusst, das sich mit dem Auch Vaclav Havel, der ehemalige Präsident neue Gemeinschaft, gleich einem Phönix aus Gedenken an eine gemeinsame Vergan- Tschechiens, hat dem Vorsitzenden des ukraini- der Asche emporsteigen sahen. Es ging dabei, genheit würdig zu versöhnen vermag. Ihr schen Schriftstellerverbandes – dem bekann- wie sie meint, um die Entstehung eines – den verteidigt die Menschenrechte, das Recht, ten Prosaautor Wolodymyr Jaworiwskyj – am westukrainischen Dichter Iwan Franko (1856- sich mit politischen Morden und der krimi- 30. November 2004 eine Solidaritätsbotschaft 1916) zitierend – „selbstbewussten Haus- nellen Unterwanderung des gesellschaft- zugesandt, in der er die Bedeutung der ukraini- herrn“, der sich „auf eigenem Grund und Bo- lichen Lebens nicht abfinden zu wollen. Ihr schen Autoren für die Herausbildung einer bür- den befindet.“ Die Autorin erlebte mit einem verteidigt die Freiheit des Gedankens, des gerlichen Gesellschaft unterstrichen hat. Auch Mal Individuen, die fähig waren, konkrete Din- Wortes und einen Rechtsstaat, in dem es diese Botschaft und die Antwort darauf wurde ge zu tun, sich konkrete Ziele vorzunehmen weder Verbrechen, Provokation, Angst, in der Zeitschrift Literaturna Ukrajina veröf- und diese auch durchzusetzen. Zynismus, öffentliche Lüge und Bedro- fentlicht. Schließlich mahnt Mychajlyna Kozjubynska in hung geben darf. Ihr verteidigt in eurem ihrem Beitrag eine Reihe von Verhaltensregeln Land Europa, dessen friedliche Zukunft an: Der Selbstachtung zuliebe solle man einen sowie seine besten Traditionen. Wir teilen DIE LITERARISCHE VERARBEITUNG gesunden Objektivismus sowie Selbstkritik mit euch eure Hoffnungen und Ängste. DER EREIGNISSE nicht aus den Augen verlieren. Ihre Gedanken Seid euch unserer Solidarität bewusst. reichen dabei in die 1970er-Jahre zurück, als sie Warschau, den 25. Oktober 2004“ Mychajlyna Kozjubynska, eine bekannte ukrai- und ihre Freunde in Gerichtssälen verurteilten nische Literaturwissenschaftlerin, schildert in Bürgerrechtlern Blumen zuwarfen, ohne dabei 169
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