Neo-Nationalismus in der EU: Sozio-ökonomische Programmatik und Praxis - Policy Paper - AK Europa

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Neo-Nationalismus in der EU: Sozio-ökonomische Programmatik und Praxis - Policy Paper - AK Europa
Policy Paper
                           Februar 2019
                           Europa Allgemein

Neo-Nationalismus in der
EU: Sozio-ökonomische
Programmatik und Praxis
Executive Summary: Kernthesen

Joachim Becker                                                    Arbeitsbeziehungen gestalten? Welche arbeitsrecht-
                                                                  lichen und lohnpolitischen Initiativen entwickeln sie?

Der Neo-Nationalismus hat in der EU in den letzten                Zwischen den neo-nationalistischen Parteien gibt es
Jahren, speziell seit Beginn der großen Krise von 2008            durchaus bedeutsame Unterschiede in der program-
ff., einen Aufschwung erlebt. Neo-nationalistische                matischen Orientierung. Die neo-nationalistischen
Parteien sind sein zentraler Träger. Sie haben zuneh-             Kräfte auf der politischen Rechten lassen sich in drei
mend Einfluss auf öffentliche Debatten gewonnen                   Strömungen unterteilen: eine neoliberale, eine natio-
und haben in vielen EU-Ländern ihre parlamentarische              nalkonservative und eine – marginale – faschistische
Vertretung ausbauen können. In mehreren EU-Ländern                Strömung. Diese Grundorientierung lassen sich in den
sind sie an Regierungen beteiligt (z.B. Italien, Finnland,        verschiedenen politischen Feldern identifizieren. Die
Österreich und, bis Ende 2018, Belgien) und regieren in           sozio-ökonomische Programmatik ist auch mit der
einzelnen Fällen, wie Ungarn und Polen, sogar alleine.            Stellung des jeweiligen Landes in der europäischen
Im Fall eines maßgeblichen Einflusses auf die Regie-              Arbeitsteilung, seiner Verortung in den internationalen
rungspolitik haben sie einen Umbau des politischen                Produktionsketten, dem Stellenwert und den Proble-
Institutionensystems initiiert, der auch die Arbeitneh-           men des Finanzsektors verbunden. In der Studie wird
merInnenorganisationen betrifft. Bei ihrem Aufstieg               daher auch der Zusammenhang zwischen sozio-öko-
profitieren die neo-nationalistischen Parteien von einer          nomischer Programmatik und der Verortung in der
Erosion und Repräsentationskrise der traditionellen               internationalen Arbeitsteilung sowie der Krisen- und
christ- und sozialdemokratischen Parteien. Von daher              Nach-Krisen-Dynamik nachgegangen. Dieser Aspekt
ist ihr Aufstieg auch nicht als ein rein konjunkturelles          spielt in der wissenschaftlichen, aber auch politischen
und kurzlebiges Phämonem einzuschätzen. Die poli-                 Diskussion bislang nur eine untergeordnete Rolle.
tischen Koordinaten in Europa verändern sich derzeit
dauerhaft.                                                        In einem ersten Schritt erarbeitet die Studie eine Typo-
                                                                  logie für neo-nationalistische Parteien. Diese stellt
Die öffentliche Diskussion zu den neo-nationalisti-               den Rahmen für die Analyse der sozio-ökonomischen
schen Parteien konzentriert sich stark auf die nationa-           Programmatik wichtiger neo-nationalistischer Kräf-
listischen, z.T. auch fremdenfeindlichen Elemente ihrer           te und die Fallstudien für die Regierungspraxis dar.
Programmatik. Doch haben die neo-nationalistischen                Die Programmatik der Parteien wird im Kontext der
Parteien eine weit darüber hinausgehende sozio-öko-               Stellung der jeweiligen Länder in der europäischen
nomische Programmatik, die in einigen Fällen auch                 Arbeitsteilung analysiert. Hier setzt sich die Studie vor
schon in Regierungspraxis umgesetzt worden ist. Die               allem mit maßgeblichen Parteien aus dem neolibera-
neo-nationalistischen Parteien beeinflussen erheblich             len und nationalkonservativen Spektrum auseinander.
das politische Umfeld, in dem ArbeitnehmerInnenorga-              Parteien, die sich erst in jüngster Zeit deutlicher an
nisationen arbeiten.                                              neo-nationalistische Positionen angenähert haben, wie
                                                                  beispielsweise die bayrische CSU, sind in der Studie
Für ArbeitnehmerInnenorganisationen ist es da-                    nicht berücksichtigt. Insofern erhebt sie auch keinen
her wichtig, sich mit der breiteren Programmtik der               Anspruch auf Vollständigkeit.
neo-nationalistischen Parteien, aber auch mit deren
Regierungspraxis auseinanderzusetzen. Hier sollen                 Was die politische Programmatik für die Praxis be-
folgende Fragen im Vordergrund stehen: Wen bezie-                 deutet, wird am deutlichsten beim Regierungshandeln.
hen die neo-nationalistischen Parteien in die Politikfor-         Programmatische Prioritäten und Prioritätensetzun-
mulierung ein? Welche Rolle messen sie Arbeitnehme-               gen in der Praxis können, müssen sich aber nicht
rInnenorganisationen bei der Formulierung von Politik             decken. Manche wichtige sozio-ökonomische und
und Recht zu? Welche wirtschafts- und sozialpoliti-               sozio-politische Fragen werden aus wahltaktischen
schen Vorstellungen entwickeln sie? Wie wollen sie die            Gründen in den Programmen nur gestreift oder gar

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nicht thematisiert. Zu diesen programmatisch nur                  schaftsnationalismus, wohl aber in den Zentrumsöko-
schwach thematisierten Fragen gehören oftmals auch                nomien eine Art Freihandelsnationalismus. Zudem ist
die Arbeitsbeziehungen. In der Regierungspraxis bear-             der neoliberale Neonationalismus durch eine Positio-
beiten neo-nationalistische Parteien auch programma-              nierung gegen Migration und durch einen exkludieren-
tisch vernachlässigte Fragen. In der Regierungspraxis             den Wohlfahrtsstaatsnationalismus geprägt.
zeigt sich auch, welche Akteure die neo-nationalisti-
schen Parteien in die Formulierung der Regierungspo-              Die nationalkonservative Strömung nimmt eine
litik einbeziehen und wie sie mit Konflikten, die durch           Re-Politisierung von rechts vor, forciert eine plebiszitä-
ihre Politik ausgelöst werden, umgehen. Daher enthält             re Legitimierung von Politik und neigt zur De-Legitimie-
die Studie auch drei Fallstudien zur Regierungs-                  rung „nicht-nationaler“ Akteure. Wirtschaftspolitisch
praxis. Ausgewählt wurden hierfür Belgien, Ungarn                 ist sie eher flexibel und setzt auf eine pro-aktive Wirt-
und Polen. In allen drei Ländern sind bzw. waren bis              schaftspolitik. Sozialpolitisch ist sie auf einen kon-
vor kurzem neo-nationalistische Parteien maßgeblich               servativen Sozialstaat orientiert, in dessen Zentrum
in der Regierung vertreten. In Ungarn (seit 2010) und             Sozialversicherungen stehen. Sie ist auf die Konser-
Polen (seit 2015) regieren sie sogar allein. Speziell Un-         vierung von Statusunterschieden und überkommenen
garn gilt für viele neo-nationalistische Parteien als ein         Geschlechterverhältnissen orientiert. Für die National-
Modell. Die drei Länder unterscheiden sich allerdings             konservativen hat der Wirtschaftsnationalismus das
in ihrer Stellung in der europäischen Arbeitsteilung:             Primat. Einheimisches Kapital soll gefördert und eine
Belgien ist eine hoch entwickelte Ökonomie mit einem              Politik des selektiven Protektionismus verfolgt werden.
bedeutsamen Finanzsektor. Letzterer war von der                   Ein exkludierender Wohlfahrtsstaatsnationalismus
Krise der Jahre 2008 ff. stark betroffen. Politisch weist         spielt nur eine Rolle, wenn es eine erhebliche Bevöl-
Belgien starke sozialpartnerschaftliche Strukturen auf.           kerung mit Migrationshintergrund gibt. Speziell im
Ein zentraler Pfeiler des Wachstumsmodells Ungarns                Hinblick auf eine Re-Politisierung der Politik und eine
und Polens ist eine stark auf Westeuropa bezogene                 aktive Wirtschaftspolitik präsentiert sich der National-
Exportindustrie. Ihre ökonomische Vorkrisendynamik                konservatismus als eine konservative Alternative zum
war aber auch in erheblichen Ausmaß von der Ver-                  Neoliberalismus.
schuldung der Privathaushalte getragen. Die Krise
der Jahre 2008 ff. war aufgrund der hohen Fremd-                  Zumindest programmatisch versucht die faschisti-
währungskredite in Ungarn stark ausgeprägt. Auf die               sche Strömung ihre wahren autoritären Ziele teilweise
ökonomische, soziale, politische Lage reagierten die              zu verschleiern. Ihr Staatsverständnis ist zutiefst au-
neo-nationalistischen Parteien in den drei Ländern                toritär. Sie huldigt einem Kult der Gewalt, baut para-
mit deutlich unterschiedlichen Nuancierungen. Die                 militärische Strukturen auf und tritt offen rassistisch
neo-nationalistischen Parteien sind hierbei auch auf              auf. Wirtschaftspolitisch hat diese Strömung keine
unterschiedliche Strömungen des Neo-Nationalismus                 eigenständige Konzeption zu bieten. Sozialpolitisch ist
orientiert: Die Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) ist stark          sie grundsätzlich auf ein konservatives Sozialstaats-
neoliberal orientiert, die Fidesz-Politik zeichnet sich           modell orientiert. Hier tritt sie jedoch für eine harte
durch eine Mischung von neoliberalen und national-                nationalistische Ausschließung ein. Auch wirtschafts-
konservativen Elementen aus. Die polnische Partei                 nationalistische Positionen, die auf eine Stärkung des
Prawo i Sprawiedliwość (PiS) weist hingegen scharfe               einheimischen Kapitals zielen, vertritt die faschistische
nationalkonservative Konturen auf. Die Studie setzt               Strömung.
sich mit den Ähnlichkeiten, aber auch den Unterschie-
den der Regierungspraxis in den drei Ländern ausein-              Diese Klassifizierung der Strömungen liegt der Stu-
ander und stellt sie in einen breiteren politischen und           die zugrunde. Hierbei lassen sich nicht alle Parteien
ökonomischen Kontext.                                             eindeutig einer der Strömungen zuordnen, aber
                                                                  ihre Orientierungen in den Bereichen Staatsprojekt
Was sind nun Hauptcharakteristika der drei Strö-                  (beispielsweise im Hinblick auf Gewaltenteilung,
mungen des Neo-Nationalismus? Die neoliberale                     Rechtsstaatlichkeit oder Neo-Korporatismus), Wirt-
Strömung forciert technokratische Staatsstrukturen                schafts- und Sozialpolitik lassen sich anhand dieser
und zielt auf die Abschottung staatlicher Entschei-               Klassifizierung doch einordnen.
dungszentren gegenüber Interessengruppen, vor allem
Gewerkschaften. Sie fordert eine regelgebundene                   Für die unterschiedlichen Länder und Großregionen
Wirtschaftspolitik, „unabhängige“, demokratisch nicht             der EU zeigen sich bei den neo-nationalistischen
kontrollierte Regulierungsbehörden, niedrige und                  Parteien folgende politische Konturen: Neoliberale
regressive Steuern. Bei der Sozialpolitik setzt sie auf           Elemente dominieren bei den neo-nationalistischen
staatliche Minimalsicherung und ansonsten auf die                 Kräften der politischen Rechten in Deutschland als
Kommerzialisierung sozialer Sicherungssysteme. Sie                dem Kernland der EU und der Eurozone, aber auch im
vertritt zwar keinen offenen protektionistischen Wirt-            Brexit-Land Großbritannien. Ähnlich ist der Befund für

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die Zentrumsländer Österreich, Benelux-Staaten und                nalkonservative Elemente bei Lega Nord und Front
Skandinavien, aber auch die baltischen Länder. In all             National vor allem auf bestimmte Entwicklungsblo-
diesen Ländern ist bei den neo-nationalistischen Par-             ckaden. Speziell die Lega Nord hat sich den Bruch mit
teien die neoliberale Orientierung in der wirtschafts-            der Eurozone auf die Fahnen geschrieben, was den
politischen Programmatik besonders ausgeprägt,                    exportorientierten Klein- und Mittelunternehmen zu
während in der Sozialpolitik und beim Staatsprojekt               Gute käme.
auch nationalkonservative Elemente zu finden sind.
Vielfach werden in der Steuerpolitik Unternehmen und              Faschistische und faschistoide Parteien haben es vor
BezieherInnen hoher Einkommen begünstigt. Flexi-                  allem in Zentralost- und Südosteuropa (inkl. Griechen-
bilisierung der Arbeitsmärkte und Arbeitszeiten sind              land) in die Parlamente geschafft. Regional sind sie
ebenfalls, vor allem in Ländern mit höheren Sozialstan-           zum Teil in ehemaligen Industrieregionen relativ stark
dards, Forderungen von neo-nationalistischen Par-                 verankert, in Griechenland haben sie durch die tiefe
teien. Die neoliberale Wirtschaftspolitik wird mit der            Wirtschaftskrise und deren Bearbeitungsformen einen
Stärkung des Standorts und, speziell in den peripheren            Schub bekommen.
Ökonomien, mit der Notwendigkeit der Anziehung von
Auslandskapital begründet.                                        Welche Konturen der neo-nationalistischen Poli-
                                                                  tik zeigen sich in den verschiedenen Bereichen? Im
Die nicht-neoliberalen Elemente in der Sozialpolitik              Bereich der neoliberalen Wirtschaftspolitik ist eine
zielen auf eine Erweiterung der WählerInnenbasis. In              Akzentsetzung auf Regelbindungen und Niedrigsteuer-
den Zentrumsländern ist eine strategische Verbindung              politik zu erkennen, während bei den wenigen national-
von neoliberaler Wirtschaftspolitik und einem exkludie-           konservativen Wirtschaftsprogrammen eine pro-aktive
renden Wohlfahrtsstaatsnationalismus zu erkennen.                 Entwicklungspolitik und auch industriepolitische Maß-
Die anti-migrantische Orientierung stellen vor allem              nahmen thematisiert werden.
weit rechts stehende neo-nationalistische Parteien im
Zentrum, wie die Alternative für Deutschland (AfD), die           Besondere Priorität in der neoliberalen wirtschafts-
Partij voor de Vrijheid (PVV), die FPÖ oder der Vlaams            politischen Programmatik, aber auch in deren Praxis
Belang, bei ihrer Kampagnenarbeit besonders in den                genießt die Steuerpolitik. Hier geht es um die Absen-
Vordergrund.                                                      kung der Steuerlast – und dann noch einmal um eine
                                                                  Senkung der Unternehmenssteuern und die Entlastun-
Die Visegrád-Länder mit ihrem Modell abhängiger                   gen vor allem bei hohen Einkommen bei der Einkom-
Exportindustrialisierung zeigen sich die neo-natio-               menssteuer. Hier zeigen sich Parteien in der Peri-
nalistischen Parteien in ihrer Ausrichtung gespalten.             pherie noch radikaler als im Zentrum, sowohl in der
Einerseits gibt es Parteien mit extremer neoliberaler             Programmatik als auch in der Praxis. Dies hängt mit
Ausrichtung, wie die tschechische Občanská demo-                  der schwächeren Position der peripheren Ökonomien
kratická strana (ODS) oder der slowakischen Sloboda               zusammen. Denn sie sind in eine Zulieferrolle für die
a Solidarita (SaS). Sie wollen über eine Niedrigsteuer-           Zentrumsökonomien gedrängt worden. In zentralen
politik bzw. eine Deregulierung des Arbeitsmarktes                Sektoren der peripheren Ökonomien dominieren trans-
das auf Auslandskapital und Niedriglöhnen basierende              nationale Konzerne. Eine auf Auslandsinvestitionen
Modell noch vertiefen. Auf der anderen Seite gibt die             gegründete Wirtschaftsstrategie für die Peripherie ist
polnische Prawo i Sprawiedliwość (PiS) und etwas ab-              von der Europäischen Kommission speziell in Zentra-
geschwächter in Ungarn Fidesz, die stärkere national-             lost- und Südosteuropa forciert worden. Als zentralen
konservative Momente aufweisen. In Ungarn geht es                 Parameter für die Anziehung von Auslandskapital
wirtschaftspolitisch hier vor allem um eine Stärkung              sehen die neoliberalen Kräfte in der Peripherie niedrige
einheimischer, eng mit Fidesz verbundener Unterneh-               Steuern, speziell bei der Körperschafts- und Einkom-
mer in den geschützten Sektoren (Banken, Handel,                  menssteuer. Diese Art der Steuerpolitik ist regressiv
Bauwirtschaft), während die durch Auslandskapital                 und ungünstig für die ArbeitnehmerInnen.
kontrollierte Exportwirtschaft durch eine Radikalisie-
rung der neoliberalen Politik, vor allem durch Steuer-            Im Einklang zur auf Steuersenkungen orientierten
senkungen, gefördert werden soll. PiS geht es in                  neoliberalen Programmatik steht der Akzent auf der
Polen hingegen um eine Modifikation des Wirtschafts-              Senkung von Ausgaben, speziell der Sozialausgaben.
modells zugunsten technologisch anspruchsvollerer                 Teils wird auch hier die Forderung nach Regelbindun-
Produktion.                                                       gen erhoben. Die sich sozial gebenden neo-nationa-
                                                                  listischen Parteien im Zentrum, wie etwa die AfD, der
Neben den Visegrád-Ländern sind deutliche natio-                  Front National (seit kurzem Rassemblement National)
nalkonservative Elemente auch in zwei unter De-In-                oder die FPÖ, kombinieren diese restriktive sozial-
dustrialisierung leidenden großen Zentrumsländern,                politisch Grundorientierung mit Forderungen nach
Frankreich und Italien, erkennbar. Hier zielen natio-             einer „nationalen Präferenz“ in der Sozialpolitik. Auch

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werden bestimmte Gruppen von Armen oft stigma-                    Re-Politisierung von rechts. Insofern stellen diese
tisiert und sollen Sozialleistungen nur für die „An-              eine Antwort auf die neoliberale Entpolitisierung auf
ständigen“ reserviert bleiben. Bei vielen der in weiten           der EU-Ebene und zu entsprechenden Praxen auf
Bereichen neoliberal orientierten Parteien finden sich            nationalstaatlicher Ebene dar. Gleichzeitig engen die
in der sozialpolitischen Programmatik nationalkonser-             nationalkonservativen Staatsprojekte das Feld legiti-
vative Elemente. Diese beziehen sich vor allem auf die            mer politischer Akteure stark ein und de-legitimieren
Familienpolitik, die eine Restauration überkommener               „nicht-nationale“ Akteure. In der Praxis ist sowohl in
Geschlechterverhältnisse befördern soll. Hierbei geht             Ungarn als auch in Polen die Gewaltenteilung deutlich
es vor allem um die Akzentuierung der sorgenden Rol-              abgebaut worden und sind Tendenzen einer national-
le der Frau in der Familie. Auf dem Arbeitsmarkt sollen           konservativen Vereinheitlichungspolitik bei Medien,
die Frauen wieder stärker zurück gedrängt und noch                Kulturinstitutionen und auch gegenüber NGOs er-
deutlicher in Teilzeitbeschäftigungen gedrängt werden.            kennbar. Es hat in Schlüsselsektoren einen aktiven
                                                                  Kadertausch gegeben. Die Veränderungen sind durch
Die ihren neoliberalen Charakter in den Vordergrund               die Parlamente gepeitscht worden. Die autoritären
stellenden neo-nationalistischen Parteien, wie die                Tendenzen waren in der Regierungspraxis von Fidesz
belgische Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA), die ODS                 und PiS in der Zeit seit der globalen Krise von 2008 ff.
oder die SaS, vertreten offensiv De-Regulierungen der             stärker ausgeprägt als in ihren früheren Regierungen.
Arbeitszeit und der Arbeitsbeziehungen. Die N-VA hat
im Rahmen der Koalitionsregierung in Belgien dann                 Was bedeuten die Programmatik und bislang erkenn-
auch real deutliche Schritte in diese Richtung gesetzt.           bare Regierungspraxis neo-nationalistischer Parteien
Auf Schwächung von Arbeitnehmerorganisationen                     für ArbeitnehmerInnen? Festzuhalten ist, dass die
und eine Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen und              sozio-ökonomische Programmatik und Praxis der
Arbeitszeiten zielende Forderungen lassen sich aber               neo-nationalistischen Rechtsparteien tendenziell un-
auch bei neo-nationalistischen Parteien, wie der FPÖ              günstig für ArbeitnehmerInnen ist. Das gilt besonders
oder dem Front National/Rassemblement National fin-               für neo-nationalistische Parteien mit ausgeprägt neo-
den, die einerseits eine stark neoliberale wirtschafts-           liberaler Orientierung. Viele der neo-nationalistischen
politische Programmatik aufweisen, sich andererseits              Parteien haben Punkte in ihrer Programmatik, die
als eine soziale Kraft zu präsentieren suchen. Aller-             auf eine Schwächung der institutionellen Macht von
dings hängen diese Parteien die Arbeitsbeziehungen                ArbeitnehmerInnenorganisationen und -vertretungen
betreffenden Passagen ihrer Programmatik in der                   gerichtet sind. Die Schwächung kann sich sowohl auf
öffentlichen Darstellung nicht so hoch. In der Regie-             sozialpartnerschaftliche als auch auf betriebliche Ver-
rungspraxis der neoliberalen neo-nationalistischen                tretungsorgane beziehen. Unter den Fallbeispielen der
Parteien in Belgien und Ungarn ist eine Schwächung                Regierungspraxis neo-nationalistischer Parteien sticht
der dreiseitigen Konsultationsorgane zwischen Staat,              hier vor allem die Fidesz-Regierung in Ungarn negativ
Gewerkschaften und Unternehmerverbänden erkenn-                   hervor. Sie hat das institutionelle Umfeld für Arbeit-
bar, während es in Polen mit der nationalkonservativen            nehmerInnenorganisationen deutlich verschlechtert.
Regierung zu einer Wiederherstellung einer solchen                Hingegen ist in Belgien eher eine Erosion der sozial-
institutionellen Struktur gekommen ist, in der die                partnerschaftlichen Institutionen zu konstatieren.
PiS-Regierung jedoch zentrale Streitfragen aus der                Die nationalkonservative PiS-Regierung verhält sich
Debatte auszuklammern versucht. Die Gewerkschaf-                  gegenüber den Gewerkschaften insgesamt offener als
ten in den drei Ländern haben versucht, institutionelle           ihre liberale Vorgängerin. Sie hat Konsultationsstruk-
Gesprächskanäle zu erhalten. Auch gegenüber aktiver               turen wiederbelebt, geht mit diesen allerdings selektiv
Kooptierungspolitik, vor allem im Fall Ungarns, haben             um.
die in unterschiedliche Richtungsgewerkschaften aus-
differenzierten Gewerkschaften versucht, ihre Politik             Speziell wirtschaftspolitisch neoliberal orientierte
zu konzertieren. In spezifischen Bereichen hat es auch            neo-nationalistische Parteien treiben die Flexibilisie-
gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen gegeben, vor                     rung von Arbeitsbeziehungen und Arbeitszeit voran.
allem in Belgien mit seinem hohen gewerkschaftlichen              Bestandteil ihrer Politik ist zum Teil auch die Locke-
Organisationsgrad.                                                rung des Kündigungsschutzes. Auch eine Tendenz
                                                                  zu einem verstärkten Druck auf Arbeitslose und zu
In den neo-nationalistischen Staatsprojekten sind                 einer Verschlechterung von deren Absicherung ist
autoritäre Elemente erkennbar. In den neoliberalen                erkennbar. In der Regierungspraxis sind besonders
Staatsprojekten der neo-nationalistischen Kräfte ist              starke Verschlechterungen auf diesen Gebieten erneut
die autoritäre Tendenz in die Stärkung technokrati-               in Ungarn zu konstatieren. Eine Flexibilisierung der
scher Strukturen und die Regelbindung eingeschrie-                Arbeitszeit gehörte allerdings auch zu den Prioritäten
ben. In den nationalkonservativen Staatsprojekten                 der belgischen Rechtsregierung.
kommt es in der Programmatik und Praxis zu einer

               Neo-Nationalismus in der EU: Sozio-ökonomische Programmatik und Praxis                                    5
Spiegelbildlich zu einer restriktiven Budgetpolitik und           ligen Landes in der europäischen Arbeitsteilung und
einer verteilungspolitisch die BezieherInnen niedri-              den neoliberalen Regulationsmodus der EU maßgeb-
ger Einkommen verhältnismäßig stark belastenden                   lich geformt. Die neo-nationalistischen Parteien lassen
Steuerpolitik ist die Sozialpolitik tendenziell restriktiv        sich verschiedenen Strömungen zuordnen und zeigen
ausgerichtet – die nationalkonservative PiS-Regierung             Differenzierungen in der Programmatik. Daher muss
macht hier allerdings eine Ausnahme. In den west-                 der Umgang mit den neo-nationalistischen Partei-
europäischen Ländern, in denen es einen substanziel-              en ihren jeweiligen Spezifika Rechnung tragen. Die
len Bevölkerungsanteil mit migrantischem Hintergrund              polit-ökonomischen Faktoren, welche den Aufstieg der
gibt, vertreten neo-nationalistische Parteien – mit               neo-nationalistischen Parteien begünstigen, sind zu
unterschiedlich starker Ausprägung – einen exkludie-              identifizieren und zu bearbeiten. Zu diesen Faktoren
renden Sozialstaatsnationalismus. Diskriminierende                gehören die ungleichen Entwicklungsmuster der EU
Vorschläge und Politiken sind hier z.T. auch gegen lang           und die einseitige Wettbewerbsorientierung. Letztere
ansässige MigrantInnen erkennbar. Kürzungen bei                   ist sehr stark auf preisliche Wettbewerbsfähigkeit
Sozialleistungen besonders verwundbarer Gruppen,                  abgestellt und sieht hierfür die Löhne als zentrale Va-
darunter speziell auch Flüchtlingen, stellen z.T. das             riable. Hier haben ArbeitnehmerInnenorganisationen
Einfallstor für breiter angelegte Leistungseinschrän-             auf Veränderungen in der Wirtschaftspolitik zu drän-
kungen im Sozialbereich dar.                                      gen. Ungeachtet der Unterschiede in den neo-nationa-
                                                                  listischen Positionierungen ist es sinnvoll, wenn sich
Aussagen zu den Geschlechterverhältnissen sind                    ArbeitnehmerInnenorganisationen in der EU über ihre
bei vielen neo-nationalistischen Parteien zu finden. In           Erfahrungen mit neo-nationalistischen Parteien unter
deren Programmatik nehmen sie zum Teil sogar einen                einander austauschen und von einander lernen.
ziemlich prominenten Platz ein. Nationalkonservative
Positionen sind hier auf eine Restauration überkom-               Sie sollten sich mit den Problemdiagnosen der neo-na-
mener Geschlechterverhältnisse orientiert. Das bedeu-             tionalistischen Parteien auseinandersetzten und
tet unter anderem, dass Frauen wieder verstärkt auf               unzureichende wie auch einseitige Problemdiagnosen
eine Rolle als Mutter und Hausfrau festgelegt werden              herausarbeiten und kritisieren. Zwei besonders typi-
sollen. Konservativ geprägte Positionen machen sich               sche einseitige Problemdiagnosen seien hier erwähnt.
in diesen Fragen vielfach auch neo-nationalistische               Neo-nationalistische Parteien neoliberaler Ausrichtung
Parteien zu Eigen, die in der Wirtschaftspolitik deutlich         sehen den Staat als Ursache von Problemen und blen-
neoliberale Positionen vertreten. Die auf eine Restau-            den die Unternehmerseite als mögliche Problemursa-
ration überkommener Geschlechterrollen orientierte                che völlig aus. Viele der neo-nationalistischen Parteien
Politik findet in der Sozialpolitik sehr konkreten Nieder-        sehen MigrantInnen und Flüchtlinge als Hauptursache
schlag. So wird sowohl in Parteiprogrammen als auch               für sozio-ökonomische Problemlagen wie Arbeitslosig-
in der Regierungspraxis im Bereich der Sozialpolitik              keit. Dies ist im Kern eine Sündenbocktheorie.
oft ein starker Akzent bei der Familienpolitik gesetzt.
Die familienpolitischen Leistungen setzen oft Anrei-              Die Antwort neo-nationalistischer Parteien auf so-
ze für Frauen, sich der Kindererziehung zu widmen.                zio-ökonomische Probleme besteht vielfach in einer
Dies impliziert eine schwächere Präsenz von Frauen                Politik des Auschlusses und der Abgrenzung nach
auf dem Arbeitsmarkt. Der Ausbau von öffentlichen                 unten. Ihre Sozialpolitik ist in der Regel exkludierend
Kinderbetreuungseinrichtungen und auch anderen auf                angelegt. Ausschließende Politiken richten sich vor
Betreuungs- und Sorgeleistungen orientierten Diens-               allem gegen MigrantInnen und Flüchtlinge. Oft werden
ten genießt bei neo-nationalistischen Parteien keine              aber auch besonders verwundbare Gruppen wie Lang-
Priorität. Teils wird offen familären Sorgeleistungen,            zeitarbeitslose und Obdachlose stigmatisiert. Kürzun-
die weitestgehend von Frauen erbracht werden, der                 gen bei besonders verwundbaren und stigmatisierten
Vorzug vor öffentlichen Angeboten gegeben. Zum Teil               Gruppen stellen dann ein ideales Einfallstor für eine
lassen die neo-nationalistischen Parteien, vor allem              breiter angelegte Politik des Sozialabbaus dar. Diesem
aus dem weiter rechts stehenden Spektrum, starke                  exkludierenden Ansatz hätten ArbeitnehmerInnenor-
Vorbehalte gegen eine Gleichstellungspolitik erkennen.            ganisationen eine Politik der Inklusion entgegenzuset-
Mithin ist neo-nationalistischen Politik als speziell             zen, die auf einheitliche Standards und breit angelegte
nachteilig für ArbeitnehmerInnen anzusehen.                       Schutzmaßnahmen setzt. Diese inkludierende Politik
                                                                  muss sich auch in der Organisations- und Vertretungs-
Was sind Handlungsoptionen für ArbeitnehmerInne-                  politik von ArbeitnehmerInnenorganisationen selbst
norganisationen? Hierbei ist zunächst einmal festzu-              widerspiegeln.
halten, dass die Programmatik und Regierungspraxis
von neo-nationalistischen Parteien eine Reaktion auf              Die Geschlechterpolitik der neo-nationalistischen
konkrete sozio-ökonomische Problemlagen ist. Diese                Kräfte ist aus Sicht von ArbeitnehmerInnenorgani-
Problemlagen werden durch die Stellung des jewei-                 sationen kritisch zu betrachten. Die ArbeitnehmerIn-

               Neo-Nationalismus in der EU: Sozio-ökonomische Programmatik und Praxis                                    6
nenorganisationen müssten sich besonders gegen
Diskriminierungen am Arbeitsplatz, bei Bezahlung und
auf dem Arbeitsmarkt wenden. Gerade auch aus einer
Geschlechterperspektive ist der Ausbau umfassender
und gut entlohnter öffentlicher Dienst zentral.

Speziell die Politik stark neoliberal orientierter neo-na-
tionalistischer Parteien ist auf die Schwächung der
ArbeitnehmerInnenorganisationen gerichtet. Hier geht
es den neo-nationalistischen Kräften vor allem um die
Schwächung der institutionellen Macht von Arbeitneh-
merInnenorganisationen, beispielsweise über die Aus-
höhlung sozialpartnerschaftlicher Arrangements. Da-
her müssen die ArbeitnehmerInnenorganisationen die
Wichtigkeit von Gegenmacht der ArbeitnehmerInnen
offensiv vertreten. Bei Angriffen neo-nationalistischer
Regierungsparteien auf bestehende institutionelle Ar-
rangements haben ArbeitnehmerInnenorganisationen
oft einerseits versucht, institutionelle Kanäle aufrecht
zu erhalten, und andererseits bei spezifischen Konflik-
ten auch Kampfmaßnahmen ergriffen.

Damit ArbeitnehmerInnenorganisationen ihre Positio-
nen wirksam in die politische Debatte einbringen kön-
nen, sind pluralistische Medien, gerade auch öffent-
lich-rechtliche Medien, erforderlich. Ein Rechtsweg bei
Arbeitskonflikten ist nur dann wirksam, wenn Rechts-
staatlichkeit herrscht. Eine wirksame Verteidigung von
ArbeitnehmerInneninteressen setzt demokratische
Pluralität und Rechtsstaatlichkeit voraus. Diese müs-
sen daher für ArbeitnehmerInnenorganisationen hohe
Priorität haben.

Auf den genannten Feldern gibt es Möglichkeiten
zur Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen
Kräften, die genutzt werden sollten. Wichtig ist es für
ArbeitnehmerInnenorganisationen, einen umfassen-
den Blick auf die Programmatik und Praxis neo-natio-
nalitischer Parteien zu haben und in der Auseinander-
setzung mit diesen auch pro-aktiv Themen zu setzen.

                                                                  Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr. 179,
                                                                  Working-Paper Reihe der AK Wien. Herausgegeben
                                                                  von der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statis-
                                                                  tik der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien.

                                                                  Neo-Nationalismus in der EU: sozio-ökonomische
                                                                  Programmatik und Praxis

                                                                  Joachim Becker (unter Mitarbeit von: Justyna Kajta,
                                                                  Adam Mrozowicki, László Neumann, Koen Smet),
                                                                  Oktober 2018.

               Neo-Nationalismus in der EU: Sozio-ökonomische Programmatik und Praxis                                   7
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Die Aufgaben des 1991 eröffneten AK EUROPA Büros in Brüssel sind einerseits die Repräsentation der BAK
gegenüber europäischen Institutionen und Interessensorganisationen, das Monitoring von EU-Aktivitäten und
die Wissensweitergabe von Brüssel nach Österreich, sowie gemeinsam mit den Länderkammern erarbeitete
Expertise und Standpunkte der Arbeiterkammer in Brüssel zu lobbyieren.
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