Nervenkompressionssyndrome der hinteren Schädelgrube
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MEDIZIN Übersichtsarbeit Nervenkompressionssyndrome der hinteren Schädelgrube Diagnostik und Therapie Jörg Baldauf, Christian Rosenstengel, Henry W. S. Schroeder N eurovaskuläre Kompressionssyndrome sind kli- Zusammenfassung nisch gekennzeichnet durch Funktionsstörungen einzelner Hirnnerven. Das häufigste Kompres- Hintergrund: Nervenkompressionssyndrome der hinteren Schädelgrube können zu sionssyndrom betrifft den N. trigeminus und führt zur schweren Beeinträchtigungen der Lebensqualität führen. Häufig besteht Unsicher- Trigeminusneuralgie, gefolgt vom Hemispasmus facialis, heit hinsichtlich der optimalen Therapie. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die- der durch eine vaskuläre Kompression des N. facialis se Erkrankungen und deren Therapiestrategien. verursacht wird. Weniger bekannte Nervenkompressions- Methode: Der Artikel basiert auf einer selektiven Literaturrecherche in PubMed so- syndrome können zu Störungen des N. glossopharyn- wie der wissenschaftlichen Analyse des eigenen Patientenkollektives. geus, des N. intermedius oder des N. vestibulocochlearis führen. Sehr selten sind der N. oculomotorius oder Ergebnisse: Nervenkompressionssyndrome beruhen auf einer Kompression eines N. abducens betroffen. Hirnnerven durch eine Arterie oder Vene an dessen Austritts- beziehungsweise Ein- Den Kompressionssyndromen liegt die gleiche pa- trittszone am Hirnstamm. Das bekannteste neurovaskuläre Kompressionssyndrom thophysiologische Ursache zugrunde. Im Bereich der ist die Trigeminusneuralgie, gefolgt vom Hemispasmus facialis. Weniger bekannt Nervenaustritts-/Eintrittszone am Hirnstamm („root en- sind die Glossopharyngeusneuralgie, die Intermediusneuralgie und die vestibuläre try“/„root exit zone“ [REZ]) kommt es zu einem Kon- Paroxysmie. Die initiale Therapie der Trigeminusneuralgie ist medikamentös mit An- takt zwischen dem Hirnnerven und einem arteriellen tikonvulsiva der Gruppe der Natriumkanal-Blocker, wie Carbamazepin. Beim Hemi- oder, seltener, einem venösen Blutgefäß. An dieser „na- spasmus facialis wird hingegen die Botolinumtoxininjektion empfohlen, die häufig in türlichen Schwachstelle“, an der zentrales Myelin in einer guten Rückbildung der Spasmen resultiert. Bei Versagen dieser Therapien ist peripheres Myelin übergeht, ist der Nerv besonders an- die mikrovaskuläre Dekompressionsoperation indiziert, bei der das den Nerven irri- tierende Gefäß vom Nerven gelöst und dauerhaft auf Distanz gehalten werden soll. fällig für mechanische Irritationen, die dann die Symp- Die Datenlage hinsichtlich der Behandlungsstrategien dieser Erkrankungen stützt tomatik hervorrufen. sich kaum auf randomisierte, kontrollierte Studien. Die Arbeit erläutert die einzelnen neurovaskulären Kompressionssyndrome der hinteren Schädelgrube und Schlussfolgerung: Die meisten Nervenkompressionssyndrome der hinteren Schä- diskutiert verschiedene Therapiemöglichkeiten. delgrube können primär medikamentös behandelt werden. Es kann jedoch im Krankheitsverlauf zu einem Therapieversagen oder zu störenden Nebenwirkungen Methoden kommen. Dann besteht die Indikation zur mikrovaskulären Dekompressionsoperati- Es wurde eine Literaturrecherche in PubMed durchge- on, die als kausale Therapie mit sehr guten Ergebnissen durchgeführt werden kann. führt, die folgende Begriffe beinhaltete: „neurovascular compression syndrome“, „cranial neuralgia“, „trigeminal Zitierweise neuralgia“, „hemifacial spasm“, „glossopharyngeal neu- Baldauf J, Rosenstengel C, Schroeder HWS: Nerve compression syndrome in ralgia“, „vestibular nerve compression“, „vestibular paro- the posterior cranial fossa—diagnosis and treatment. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: xysmia“, „intermedius neuralgia“ und „microvascular de- 54–60. DOI: 10.3238/arztebl.2019.0054 compression“. Es wurden vorwiegend größere Studien der letzten 20 Jahre berücksichtigt. Hinsichtlich der Da- tenlage ist zu erwähnen, dass man zu den neurovaskulä- ren Kompressionssyndromen nicht ausreichend auf kon- trollierte Studien zurückgreifen kann. Insbesondere die Wertigkeit der interventionellen beziehungsweise invasi- ven Therapieverfahren beruht in erster Linie auf Verlaufs- kontrollstudien, die auf der Auswertung von Langzeiter- gebnissen unterschiedlich großer Fallserien basieren. Diagnostik Bei Verdacht auf ein Nervenkompressionssyndrom Klinik für Neurochirurgie, Universitätsmedizin Greifswald: PD Dr. med. Jörg Baldauf, sollte immer eine Bildgebung mit der Magnetresonanz- Dr. med. Christian Rosenstengel, Prof. Dr. med. Henry W. S. Schroeder tomografie (MRT) durchgeführt werden. Neben hoch- 54 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 116 | Heft 4 | 25. Januar 2019
MEDIZIN a b Abbildung 1: Magnetresonanztomografie beim Hemispasmus facialis a) die TOF („time of flight“) und b) CISS-Sequenz („constructive interference in steady-state“) in axialer Schnittebene zeigen deutlich die vaskuläre Kompression des N. facialis (Pfeil, F) durch die untere hintere Kleinhirnarterie (Pfeilkopf, P). auflösenden 3D-T2-gewichteten Sequenzen, wie zum gie findet man unter anderem bei Patienten mit Multip- Beispiel der CISS-Sequenz („constructive interference ler Sklerose, wobei typische Entmarkungsherde im in steady-state“) sollte auch eine 3D-TOF(„time of Hirnstamm sichtbar sein können (e3, e4). Außerdem flight“)-Angiografie durchgeführt werden, um sicher kann sie durch Tumore verursacht werden. zwischen arterieller und venöser Kompression unter- Die primäre Therapie beider Formen der Trigemi- scheiden zu können (Abbildung 1) (1, 2, e1). Außerdem nusneuralgie ist medikamentös und beruht auf der Gabe dient die MRT auch dazu, andere Prozesse auszuschlie- von Natriumkanalblockern, die auch in der Epilepsie- ßen, die ursächlich für die Symptomatik sein könnten, behandlung eingesetzt werden. Evidenzbasiert steht die wie zum Beispiel Tumore oder Aneurysmen. Gabe von Carbamazepin als Mittel der Wahl an erster Stelle der Behandlung (6, 7). Bei der symptomatischen Trigeminusneuralgie Neuralgie wird, wenn möglich, auch die Grunderkran- Die Trigeminusneuralgie ist mit einer Inzidenz von kung therapiert, zum Beispiel durch Tumoroperation. 4–5/100 000 (> 60 Jahre bis 20/100 000) das häufigste Bei Versagen der Pharmakotherapie oder bei Neben- neurovaskuläre Kompressionssyndrom (3, 4). Auf der wirkungen (zum Beispiel Müdigkeit, Schwindel, Grundlage dieses Wertes kann man für Deutschland kognitive Probleme) können die mikrovaskuläre von einer Inzidenz von rund 4 200 ausgehen. Die Dekompression (MVD), perkutane Verfahren (Thermo- Schmerzsymptomatik tritt meist streng einseitig für koagulation, Glyzerinrhizolyse, Ballonkompression des wenige Sekunden bis Minuten auf und geht mit anfalls- Ganglion Gasseri) oder eine radiochirurgische Behand- artig auftretenden, lanzinierenden Schmerzen im Ge- lung empfohlen werden (e5, e6). Die perkutanen Verfah- sicht einher und betrifft zumeist den zweiten oder drit- ren sollten unseres Erachtens nur in Betracht gezogen ten Nervenast. Die Attacken können spontan auftreten, werden, wenn kein neurovaskulärer Konflikt vorliegt, da aber auch durch äußere Reize (unter anderem Kauen, die MVD bei einem vorliegenden Konflikt einen besse- Berührung) getriggert werden. Sie können phasenweise ren und längerfristigen Erfolg garantieren kann und mit über Wochen oder Monate vorhanden sein. Eine spon- weniger Komplikationen einhergeht (8–10). tane Remission für Monate oder Jahre ist möglich. Im Die MVD nach Jannetta hat als kausale Therapie der zeitlichen Verlauf kann die Frequenz der Attacken zu- klassischen Trigeminusneuralgie die höchste Langzeit- nehmen und der Schmerz dauerhafter sein (5). Unter- erfolgsrate (11). In größeren Fallstudien erreicht die schieden werden die klassische (idiopathische) von der MVD eine Schmerzfreiheit/Schmerzlinderung von symptomatischen Neuralgie, wobei letztere wesentlich 68 % bis über 90 % (12–15, e7–e9). Des Weiteren ist seltener auftritt. Der klassischen Trigeminusneuralgie die MVD der radiochirurgischen Behandlung bezüglich liegt meist ein neurovaskulärer Konflikt zugrunde, der der frühen als auch Langzeit-Schmerzfreiheit klar über- durch die Kompression des Nervus trigeminus an der legen, wie Metaanalysen zeigen (16, 17). Nach fünf REZ durch ein Blutgefäß hervorgerufen wird. Häufig Jahren sind noch weit über 80 % der Patienten nach komprimiert die obere Kleinhirnarterie den Nervus tri- MVD schmerzfrei. Selbst nach zehn Jahren wird noch geminus (e2). Die symptomatische Trigeminusneural- von einer Erfolgsrate von über 70 % berichtet (14, 15). Deutsches Ärzteblatt | Jg. 116 | Heft 4 | 25. Januar 2019 55
MEDIZIN TABELLE 1 „ultima ratio“-Therapieoption bei therapierefraktärer Trigeminusneuralgie darstellt. Patienten, die bereits ver- Ergebnisse Trigeminusneuralgie* schiedenste Therapieoptionen ohne dauerhafte Schmerz- Trigeminusneuralgie Gesamt (175) linderung durchlaufen haben, können von diesem opera- tiven Eingriff profitieren. Wir hatten unter anderem Geschlechterverteilung Männlich 72 Weiblich 103 erfreuliche Ergebnisse bei Patienten mit Multipler Skle- Durchschnittsalter 62,3 Jahre (20–89 Jahre) rose. Bei der Operation können bis zu 2/3 der sensiblen Beschwerdedauer 7,8 Jahre (1–33 Jahre) Fasern des Trigeminusnerven durchtrennt werden Ergebnisse/Outcome Direkt postop (175) FU>12 Monate (113) (13, e12). Da der erste Trigeminusast wegen der Gefahr Mittl. Follow-up 53 Monate der Keratitis neuroparalytica nicht durchtrennt werden Schmerzbefreiung 155 (88,6 %) 91 (80,5 %) darf, kann nur die Neuralgie im 2. und 3. Ast behandelt werden. Im Rahmen der Operationsaufklärung sollte 50% Besserung 4 (2 %) 12 (10 %) darauf hingewiesen werden, dass nach einer PSR eine Permanente Morbidität Taubheit im entsprechenden Gesichtsbereich auftreten Hypakusis 3 (1,7 %) wird, die von unseren Patienten jedoch nicht als störend empfunden wurde. Es besteht ein Risiko, nach PSR Hypästhesie 5 (2,9 %) brennende Missempfindungen im betroffenen Hautareal *Daten aus der eigenen Trigeminusneuralgie-Patientenserie (175 Patienten mit mikrovaskulären Dekom- (Anästhesia dolorosa) oder Probleme beim Essen/Kauen pressionsoperationen). Dargestellt ist die Schmerzverbesserung direkt postoperativ und im Verlauf. Zusätz- zu entwickeln (20). Diese negativen Erfahrungen haben lich wird die Anzahl der Patienten mit einer permanenten Morbidität hinsichtlich einer Hörminderung und Sensibilitätsstörung der betroffenen Seite angegeben. wir bisher nicht gemacht. Die Anästhesia dolorosa gilt eher als seltene Komplikation der ablativen Verfahren und ist schwer zu behandeln (6). Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass Abbildung 2 Babinski-2-Zeichen ein direkter Vergleich der invasiven oder operativen beim Hemispasmus Methoden der Behandlung der Trigeminusneuralgie facialis. nicht zufriedenstellend, evidenzbasiert durchgeführt Während der werden kann (21). Eine ausführliche Cochrane Analyse Spasmen hebt sich von 2011 belegt diesen Fakt zusätzlich (22). die Augenbraue und gleichzeitig Hemispasmus facialis schließt sich das Epidemiologisch ist der Hemispasmus facialis kaum er- Auge. fasst worden. In einer Studie aus Olmsted County, Min- nesota wurde die mittlere jährliche Inzidenz mit 0,81 pro 100 000 bei Frauen und 0,74 pro 100 000 bei Män- nern angegeben. Die mittlere Prävalenz betrug 11/100 000 Einwohner (23). Damit ist in Deutschland derzeit von etwa 9 000 Erkrankten auszugehen. Der Hemispasmus facialis ist gekennzeichnet durch unwill- kürliche tonische und/oder klonische Kontraktionen der Gesichtsmuskulatur, welche streng einseitig auftre- ten. Typischerweise ist das Platysma mitbetroffen (e13). Die Spasmen können willkürlich nicht unter- drückt werden und persistieren während des Schlafes. Klinisch findet sich das „Babinski 2-Zeichen“ . Dieses Unsere Erfahrungen zeigen bisher vergleichbar gute bis ist dadurch gekennzeichnet, dass sich während der sehr gute Ergebnisse (Tabelle 1) (e10). Eine Altersbe- Spasmen die Augenbraue hebt, während das Auge ge- schränkung bezüglich der MVD gibt es nicht, da auch schlossen wird (Abbildung 2). Beim Gesunden lässt bei älteren Patienten (> 75 Jahre) sehr gute Ergebnisse sich ein solches Bewegungsmuster nicht reproduzieren erzielt werden (e11). Komplikationen der Operation (e14). Der Hemispasmus ist in der Regel eine Blick- sind selten und schließen das Risiko der Hörminde- diagnose, kann allerdings elektrophysiologisch durch rung/Anakusis und sensible Defizite ein. Im Langzeit- die Ableitung einer pathologischen Erregungsausbrei- verlauf wurde in verschiedenen Studien zum Beispiel tung („lateral spreads“) bestätigt werden (24). Beson- eine dauerhafte Beeinträchtigung des Hörnerven von ders belastend ist, dass die Gesichtsspasmen auch als 0,1–3 % angegeben (18). Das Risiko, einen Kleinhirn- psychogene Erkrankung verkannt werden (e15). Diffe- infarkt zu erleiden, wird in der Mehrzahl der Fallstudi- renzialdiagnosen zum Hemispasmus facialis sind unter en mit unter 1 % angegeben (12, 15, 19). Die Mortali- anderem der Blepharospasmus, faciale Dystonien, die tätsrate liegt im Vergleich verschiedener Studien bei tardive Dyskinesie, motorische Tics sowie Synkinesien 0,3 % (12, 15, 18). nach Verletzungen des N. facialis (25, 26, e16, e17). Zuletzt soll die partielle sensorische Rhizotomie Die Evidenz der Daten zur Behandlung des Hemi- (PSR) erwähnt werden, die aus unserer Sicht eine spasmus facialis ist gering. Zur medikamentösen Be- 56 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 116 | Heft 4 | 25. Januar 2019
MEDIZIN handlung des Hemispasmus facialis werden vor allem TABELLE 2 Antikonvulsiva empfohlen, deren Wirksamkeit häufig nicht zufriedenstellend ist. Die Behandlung mit Botuli- Ergebnisse Hemispasmus facialis* num-Neurotoxin (BTX) hat sich als Standard in der Hemispasmus facialis Gesamt: 320 Patienten symptomatischen Therapie etabliert. Die Wirksamkeit Geschlechterverteilung männlich 120 weiblich 200 von BTX beruht auf der Blockade der kalziumabhängi- gen Acetylcholinfreisetzung an den Synapsen, woraus Durchschnittsalter 54,89 Jahre (22–81 Jahre) eine reversible Lähmung der betroffenen Muskulatur Beschwerdedauer 7,84 Jahre (1–35 Jahre) resultiert (e18). Die Injektion erfolgt direkt in die be- Follow-up (FU) direkt postoperativ (320) FU > 12 Monate (201) troffene Muskulatur. Der klinische Effekt setzt nach keine Spasmen 178 (55,63 %) 156 (79,00 %) 3–6 Tagen ein. Die Wirkdauer ist auf etwa drei Monate begrenzt. Transiente Nebenwirkungen treten bei etwa Reduktion der Spasmen 53 (16,56 %) 22 (9,95 %) um 90 % 20 % der Patienten auf. Dazu zählen unter anderem Ptosis, Facialisparese, selten Doppelbilder und Kopf- Reduktion der Spasmen 62 (19,38 %) 20 (10,00 %) schmerzen (e19). um 50 % Die einzige Möglichkeit einer kausalen Therapie ist keine Besserung 27 (8,44 %) 3 (1,50 %) die MVD. Bei Patienten mit ausgeprägter Symptomatik Morbidität (bei insgesamt 339 Operationen) empfehlen wir eine frühzeitige Operation, da einige un- transient permanent serer Patienten bereits strukturelle Schäden am N. fa- cialis aufwiesen, und die Rückbildung der Spasmen Schwindel 11 (3,2 %) 2 (0,6 %) nicht zufriedenstellend war. Größere Studien zeigen Hypakusis 34 (10 %) 8 (2,4 %) sehr gute Erfolgsraten nach Operation mit 85–90 % Anakusis 9 (2,7 %) 9 (2,7 %) Spasmusfreiheit (27). Dies deckt sich auch mit unseren Facialisparese durch 5 (1,5 %) 2 (0,6 %, diskret) Ergebnissen (Tabelle 2). Hauptrisiko der MVD beim chirurgische Präparation Hemispasmus facialis ist eine Hörminderung bezie- Facialisparese spontan 22 (6,4 %) 1 (0,3 %, diskret) hungsweise Anakusis. In größeren Studien wird eine nach 10. Tag Rate von 1,5–8 % angegeben (28, 29, e20). Bei unseren Patienten beobachteten wir eine Ertaubungsrate von * Daten aus der eigenen Hemispasmus facialis-Patientenserie 3 %. Eine permanente hochgradige Fazialisparese wur- (320 Patienten mit insgesamt 339 mikrovaskulären Dekompressionsoperationen; davon 19 Revisionsoperationen bei unzureichendem Erfolg beziehungsweise bei Rezidiven). de unsererseits im Langzeitverlauf noch nie gesehen. Dargestellt ist die Symptomverbesserung direkt postoperativ und im Verlauf von > 12 Monaten. Allerdings konnten auch wir eine verzögerte Fazialis- Zusätzlich wird die Anzahl der Patienten mit einer transienten und permanenten Morbidität der betroffenen Seite angegeben. parese innerhalb von 10–14 Tagen nach der Operation bei 7 % unserer Patienten beobachten (30, 31, e20). Möglicherweise spielt hier die Reaktivierung eines Herpes zoster eine Rolle. Die genaue Ätiologie ist noch rationen des Nervus facialis oder cochlearis frühzeitig nicht eindeutig geklärt (31). Erfreulicherweise bildet erkannt und darauf reagiert werden. Unter mikroskopi- sich diese Symptomatik meist vollständig zurück. Ak- scher Sicht wird der Kleinhirnbrückenwinkel freigelegt tuelle Übersichtsarbeiten mit großen Patientenzahlen und der entsprechende Hirnnerv dargestellt. Zu diesem geben das Risiko für einen Schlaganfall mit 0,1 % und Zeitpunkt erfolgt die endoskopische Inspektion, die die auch die Mortalitätsrate mit 0,1 % an (27, 32, e21). vaskuläre Kompression hervorragend zeigt (Abbildung 4). Nach Mobilisation des Gefäßes vom betroffenen Mikrovaskuläre Dekompressionsoperation Nerven wird, um die Distanz zwischen dem kompri- Die mikrovaskuläre Dekompression wird an unserer mierenden Gefäß und Nerven aufrecht zu erhalten, Tef- Klinik als endoskopisch-assistierte mikrochirurgische lonwatte zwischen diesen Strukturen platziert (Abbil- Operation durchgeführt (33). Das bedeutet, dass die dung 4). Manchmal wird das komprimierende Gefäß wesentlichen operativen Schritte unter dem Operati- auch mit einer Teflonschlinge an die harte Hirnhaut ge- onsmikroskop durchgeführt werden. Das Endoskop näht (Abbildung 4 d). wird an bestimmten Punkten der Operation zu Hilfe ge- nommen, um die lokale Anatomie an der REZ besser (Vagus-)Glossopharyngeusneuralgie beurteilen zu können, die vor allem beim Hemispasmus Die (Vagus-)Glossopharyngeusneuralgie ist selten und facialis häufig mit dem Mikroskop nicht gut einsehbar stellt etwa 0,2–1,3 % aller „Gesichtsschmerz-Syndro- ist (Abbildung 3). Ziel der mikrovaskulären Dekom- me“ (34, e22). Ihre Inzidenz wird mit etwa 0,7/100 000 pressionsoperation ist die Beseitigung des Gefäß-Ner- angegeben (4). Kommt es im Bereich der REZ des ven-Kontaktes durch Trennung der Strukturen vonei- N. glossopharyngeus zu einem neurovaskulären Kon- nander und das langfristige Verhindern der Neuentste- flikt, kann dies plötzlich auftretende, lanzinierende hung einer neurovaskulären Kompression. Schmerzen im Bereich der von den auriculären bezie- Der Eingriff erfolgt unter Allgemeinanästhesie über hungsweise pharyngealen Ästen des IX. (Glossoparyn- eine retrosigmoidale Kraniotomie. Obligat ist ein konti- geus) und X. (Vagus) Hirnnerven sensibel versorgten nuierliches Neuromonitoring mit Facialis-EMG und Areale hervorrufen. Der Schmerz ist typischerweise im akustisch-evozierten Potenzialen (26). So können Alte- hinteren Bereich der Zunge, den Tonsillen, dem Pha- Deutsches Ärzteblatt | Jg. 116 | Heft 4 | 25. Januar 2019 57
MEDIZIN Abbildung 3: Endoskop-assistierte mikrovaskuläre Dekompression beim Hemispasmus facialis a) Die endoskopische Inspektion zeigt die vaskuläre Kompression des N. facialis (F) durch eine Schlinge der hinteren unteren Klein- hirnarterie (P), während die vordere untere Kleinhirnarterie (A) pa- rallel zum Nerven verläuft. b) Während der Inspektion mit dem Operationsmikroskop erkennt man die hintere untere Kleinhirnarterie (P), kann aber die eigentli- che Kompressionsstelle nicht direkt einsehen, da sie sich hinter der unteren Hirnnervengruppe (IX = N. glossopharyngeus und a b X = N. vagus) befindet. c) Nach Mobilisation der Arterie (P) zeigt sich bei der endoskopischen Inspektion, dass der N. facialis (F) durch die jahrelange Kompression (14 Jahre symptomatisch) papierdünn ausgezogen ist (Pfeil). Man erkennt durch den Nerven hindurchscheinend die Hirnstammgefäße. d) Zwei Teflonwatten wurden so platziert, dass die hintere untere Kleinhirnarterie (P) vom N. facialis (F) weggehalten wird, ohne dass sie den Facialis im Bereich der Kompressionsstelle berühren. Aufgrund der schweren morphologischen Veränderungen des N. facialis durch die jahrelange Kompression hat die Rückbildung des Hemispasmus 13 Monate gedauert. Die untere vordere Klein- c d hirnarterie (A) ist ebenfalls markiert. Abbildung 4: Endoskop-assistierte mikrovaskuläre Dekompression bei der Trigeminusneuralgie a) Darstellung des N. trigeminus (T) und der oberen Kleinhirnarterie (S) mit dem Operationsmikroskop b) endoskopische Inspektion (0°-Optik) mit Darstellung des gesamten zisternalen Verlaufs des N. trigeminus (T) und der oberen Klein- hirnarterie (S) c) Die endoskopische Inspektion mit der 30°-Optik zeigt die schwere vaskuläre Kompression des N. trigeminus (T) durch die elongierte Schlinge der oberen Kleinhirnarterie (S). a b d) Nach Transposition der Kleinhirnarterie (S) wurde diese mit einer Teflonschlinge an das Tentorium hochgenäht. Idealerweise liegt der N. trigeminus (T) nach der Dekompression völlig frei und hat auch keinen Kontakt mit der eingebrachten Teflonwatte. In der Nähe er- kennt man den N. abducens (Pfeil A) und den N. vestibulocochlea- ris (V). c d rynx, Larynx sowie dem Mittelohr und dem Kieferwin- gie. Konservative Behandlungsmöglichkeiten bestehen kel lokalisiert. Die Symptomatik kann durch Trigger vor allem in der Gabe von Antikonvulsiva, welche zu- (zum Beispiel Schlucken, Kauen) ausgelöst werden. sätzlich mit Antidepressiva kombiniert werden können Vereinzelt kann es aufgrund der Vagus-Beteiligung zu- (e23). Als Goldstandard ist die operative Therapie im sätzlich zu Bradycardien, Asystolien, Krämpfen oder Sinne einer mikrovaskulären Dekompression anzusehen synkopalen Episoden kommen (35). Ähnlich der Trige- (37). Weitere Behandlungsmöglichkeiten bestehen in minusneuralgie kann es Phasen der Remission sowie der Radiofrequenz-Ablation sowie der Radiatio (38). ein erneutes Auftreten der Symptome geben (36). Die Erfolgsrate der mikrovaskulären Dekompression Es handelt sich bei der Erkrankung um eine klinische wird mit über 90 % angegeben (34, 39, 40). Diagnose. Sie kann erhärtet werden, wenn eine lokale Anästhesie der Rachenregion während des Anfalles eine Neurovaskuläre Kompression des VIII. Hirnnerven sofortige Schmerzlinderung bewirkt. Differenzialdia- Peter Jannetta, der die Methode der mikrovaskulären gnostisch kann vor allem die Abgrenzung zur Trigemi- Dekompressionsoperation in den 1970er und 1980er nusneuralgie schwierig sein, da die betroffenen Areale Jahren bei den Neurochirurgen populär machte , berich- eng benachbart sind und der Schmerzcharakter ähnlich tete bereits über Ergebnisse zum Kompressionssyn- ist. Weitere Differenzialdiagnosen sind die obere Laryn- drom des VIII. Hirnnerven (11, e24). Er stellte fest, geus-Neuralgie sowie die Nervus-intermedius-Neural- dass einige Patienten mit Schwindel von einer Operati- 58 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 116 | Heft 4 | 25. Januar 2019
MEDIZIN die Durchtrennung des N. intermedius empfohlen. Lei- Kernaussagen der ist die Evidenz hinsichtlich der Therapiemöglich- keiten aufgrund der Seltenheit der Erkrankung sehr ge- ● Das häufigste Nervenkompressionssyndrom der hinteren ring (e28–30). Schädelgrube ist die Trigeminusneuralgie, gefolgt vom Hemi- spasmus facialis. Resüme ● Die Ursache der neurovaskulären Kompressionssyndrome ist Das am häufigsten auftretende neurovaskulären Kom- meist eine Kompression eines Hirnnerven durch eine Arterie pressionssyndrom ist die Trigeminusneuralgie, gefolgt oder Vene an dessen Austritts- oder Eintrittszone am Hirn- vom Hemispasmus facialis. Aufgrund der heutzutage stamm. vorhandenen hochauflösenden 3D-MRT kann die Dia- gnose bei typischer Klinik sehr gut verifiziert werden. ● Die Diagnose kann bei typischen klinischen Symptomen Die MVD erlaubt bei diesen Patienten eine kausale durch eine hochauflösende 3D-Magnetresonanztomografie Therapie. Daher sollten Patienten bei Versagen der verifiziert werden. konservativen Therapie frühzeitig über die Möglichkeit ● Die meisten Nervenkompressionssyndrome werden initial der operativen Behandlung informiert werden. Die sel- medikamentös behandelt, zum Beispiel die Trigeminusneu- tene Vagus/-Glossopharyngeusneuralgie kann ebenfalls ralgie mit Carbamazepin oder der Hemispasmus facialis mit- operativ mittels einer MVD behandelt werden, sodass tels Botoxinjektionen. bei medikamentös therapierefraktärer Symptomatik die ● Eine kausale Therapie dieser Erkrankungen ist nur durch die Operation indiziert ist. mikrovaskuläre Dekompressionsoperation möglich und sollte Die vestibuläre Paroxysmie beruht auf einem Kom- bei medikamentöser Therapieresistenz oder Nebenwirkun- pressionssyndrom des VIII. Hirnnerven. Auch wenn gen frühzeitig in Betracht gezogen werden. beim Tinnitus einzelne Erfolge nach MVD berichtet wurden, können hierzu aufgrund der Literatur keine klaren Empfehlungen gegeben werden. Ein bildgebend nachgewiesener neurovaskulärer Konflikt, den VIII. Hirnnerven betreffend, sollte auf jeden Fall immer sehr on profitieren, beim Tinnitus jedoch kein Effekt zu ver- kritisch betrachtet werden, da dieser häufig auch bei zeichnen war. Diese Symptome sind bis heute in der asymptomatischen Patienten gesehen wird. Nach der- Diskussion, ob eine neurovaskuläre Kompression als zeitigem Erkenntnisstand sind die Intermediusneural- Ursache der Beschwerden überhaupt in Betracht gezo- gie und eine vestibuläre Paroxysmie, die auf Carbama- gen werden kann. Es bedarf einer sehr genauen neuro- zepin anspricht, eine potenzielle Indikation für eine physiologischen, bildgebenden und klinischen Beurtei- MVD. lung (e25). Es haben sich nur wenige Studien diesem Danksagung Thema gewidmet (e26, e27). Klinische Bedeutung hat Die Autoren danken Marc Matthes für die Bearbeitung der Abbildungen die vestibuläre Paroxysmie, die durch wenige Sekun- sowie statistische Aufarbeitung der eigenen Daten, die in diesem den bis eine Minute dauernde Dreh- oder Schwank- Manuskript präsentiert werden. schwindelattacken gekennzeichnet ist (e26). Tatsäch- Interessenkonflikt lich steht hier die medikamentöse Therapie mit Carba- PD Baldauf erhielt Erstattung von Reise- und Übernachtungskosten sowie Honorare für Vortragstätigkeiten von Karl Storz. mazepin im Vordergrund. Bei Therapieversagen kann Prof. Schroeder wurde für eine Beratertätigkeit honoriert von Karl Storz. die MVD erwogen werden. Eine Aussage über einen Des Weiteren erhielt er Erstattung von Reise- und Übernachtungskosten neurovaskulären Zusammenhang in Bezug auf einen sowie Honorare für Vortragstätigkeiten von Karl Storz. chronischen Tinnitus kann kaum getroffen werden. Ei- Dr. Rosenstengel erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht. ne systematische Übersicht von Nash et al. berichtete über eine Erfolgsrate von 60 % bei ausschließlich vor- Manuskriptdaten eingereicht: 29. 3. 2018, revidierte Fassung angenommen: 4. 10. 2018 handenem Tinnitus, bezog sich allerdings nur auf 43 Fälle, die nach einer ausführlichen Literaturrecherche Literatur übrig blieben (e27). 1. Donahue JH, Ornan DA, Mukherjee S: Imaging of vascular compression syndromes. Radiol Clin North Am 2017; 55: 123–38. 2. El Refaee E, Langner S, Baldauf J, Matthes M, Kirsch M, Schroeder Intermediusneuralgie HW: Value of 3-dimensional high-resolution magnetic resonance Die Intermediusneuralgie, auch als Geniculatumneural- imaging in detecting the offending vessel in hemifacial spasm: comparison with intraoperative high definition endoscopic gie bezeichnet, ist eine sehr seltene Erkrankung. Nur visualization. Neurosurgery 2013; 73: 58–67.discussion 67. 174 Fälle wurden zwischen 1932 und 2018 beschrieben 3. Katusic S, Williams DB, Beard CM, Bergstralh EJ, Kurland LT: (e28–e30). Typisch sind kurze, stechende Schmerzatta- Epidemiology and clinical features of idiopathic trigeminal neuralgia and glossopharyngeal neuralgia: similarities and differences. Rochester, cken im inneren Gehörgang (e31). Die Schmerzen kön- Minnesota, 1945–1984. Neuroepidemiology 1991; 10: 276–81. nen mit Tränenbildung und Geschmackssensationen 4. Manzoni GC, Torelli P: Epidemiology of typical and atypical craniofacial einhergehen. Die Erkrankung wird meist durch eine neuralgias. Neurol Sci 2005; 26(Suppl 2): s65–s67. vaskuläre Kompression des N. intermedius hervorgeru- 5. Fromm GH: Trigeminal neuralgia and related disorders. Neurol Clin 1989; 7: 305–19. fen, kann aber auch durch einen Herpes Zoster verur- 6. DGN: Leitlinie Trigeminusneuralgie. 2012. www.dgn.org/leitlinien/ sacht werden. Bei medikamentöser Therapieresistenz 2287-ll-58–012-trigeminusneuralgie (last accessed on 30 October wird neben der mikrovaskulären Dekompression auch 2018). Deutsches Ärzteblatt | Jg. 116 | Heft 4 | 25. Januar 2019 59
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