Nicht ohne Dich! - Störung mit Trennungsangst - Ruhr-Universität Bochum
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PSYCH up2date 1 · 2019 Neurotische, somatoforme und Belastungsstörungen 5 Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt. Nicht ohne Dich! – Störung mit Trennungsangst Katharina Sommer Michael W. Lippert Kathrin Schuck Silvia Schneider VNR: 2760512019156643213 DOI: 10.1055/s-0043-119478 PSYCH up2date 2019; 13 (1): 39–54 ISSN 2194-8895 © 2019 Georg Thieme Verlag KG
CME-Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: Dissoziative Symptome und Störungen K. Priebe, C. Stiglmayr, Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung C. Schmahl Heft 6/2018 R. Rosner, A. Nocon, M. Olff Heft 5/2013 Anpassungsstörungen: eine schwierige Diagnose S. Schroth, Generalisierte Angststörung J. Hoyer, J. Plag Heft 2/2013 V. Köllner Heft 5/2018 Pathologisches Horten und Sammeln als Erkrankung des Evidenzbasierte Therapie somatoformer Störungen Zwangsspektrums D. Schön, A. Wahl-Kordon, B. Zurowski M. Depping, B. Löwe Heft 2/2018 Heft 1/2013 Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter S. Walitza, Das Depersonalisations-Derealisationssyndrom M. Michal C. Rütter, V. Brezinka Heft 5/2017 Heft 1/2013 Dermatillomanie (Skin-Picking-Störung): Diagnostik, Erklärung Emotionsbezogene Techniken in der Psychotherapie G. Jacob, und Behandlung L. M. Mehrmann, A. L. Gerlach, A. Hunger C.-H. Lammers Heft 5/2012 Heft 4/2017 Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt. Zwangsspektrumerkrankungen M. Anlauf, A. Kordon Spezifische Phobien A. Hamm Heft 3/2017 Heft 3/2010 Diagnostik somatoformer Störungen C. Lahmann, C. Allwang, Anpassungsstörungen S. Elstner, A. Diefenbacher Heft 1/2009 A. Dinkel Heft 5/2016 Dissoziative Störungen K. Priebe, C. Schmahl Heft 4/2008 EMDR in der Psychotherapie: Einsatzmöglichkeiten, Wirksamkeit und Begrenzungen M. Stephan Heft 4/2016 Somatoforme Störungen und Hypochondrie R. Mewes, W. Rief Heft 3/2008 Panikstörung und Agoraphobie P. Kindermann, M. Mühlberger, U. Voderholzer Heft 2/2016 Panikstörung und Agoraphobie N. Vriends, J. Margraf Heft 2/2008 Pharmakotherapie bei Angsterkrankungen P. Zwanzger Heft 2/2016 Diagnostik der Generalisierten Angststörungen T. Bär, M. Linden Heft 1/2008 Die körperdysmorphe Störung: aktuelle Entwicklungen zu Diagnostik, Störungswissen und Therapie K. Schieber, Soziale Phobien erkennen und behandeln K. Consbruch, A. Martin Heft 1/2016 U. Stangier Heft 4/2007 Soziale Angststörung J. Lin, I. Struina, U. Stangier Heft 2/2014 Zwangsstörungen U. Voderholzer, A. Külz Heft 3/2007 Störungsspezifische Therapie der Zwangsstörungen Posttraumatische Belastungsstörungen U. Schnyder U. Voderholzer, M. Müller, A. Külz Heft 1/2014 Heft 1/2007 Angststörungen im Kindes- und Jugendalter S. Schneider, S. Seehagen Heft 6/2013 A L L ES O NL INE L E SEN J E T ZT F RE I S C HA LT E N Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: Sie haben Ihre Zeitschrift noch nicht online wie offline, am PC und mobil, alle bereits freigeschaltet? Ein Klick genügt: erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! www.thieme.de/eref-registrierung https://eref.thieme.de/psych-u2d
CME-Fortbildung Nicht ohne Dich! – Störung mit Trennungsangst Katharina Sommer, Michael W. Lippert, Kathrin Schuck, Silvia Schneider Die Störung mit Trennungsangst gehört zu den frühesten psychischen Störungen des Kindesalters. Ihr Verlauf ist unter den Angststörungen des Kindes- und Jugend- alters besonders ungünstig. Neben den Beeinträchtigungen durch die Störung selbst ist sie zudem ein Risikofaktor für die Entwicklung weiterer Angststörungen im Erwachsenenalter. Seit Erscheinen des DSM-5 kann die Störung mit Trennungs- angst auch im Erwachsenenalter vergeben werden. Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt. Klassifikation der Störung Darstellung der Störung Die Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-5 stellen in- haltlich äquivalente Kriterien zur Diagnose der Störung mit Trennungsangst auf. Unterschiede finden sich im Be- D E F I N IT I O N ginn der Störung: Während im DSM-5 die Störung auch Trennungsangst ist ein Phänomen, das sowohl als entwicklungsphasentypische Erscheinung in der „normalen“ Entwicklung als auch mit pathologischer Relevanz im Rahmen psychischer Störungen auf- H I N T E RG RU N DWI S S E N treten kann. Beschreibung der Störung mit Trennungsangst Laut DSM-5 zeichnet sich die Störung mit Trennungsangst durch eine exzessive und unrealistische Angst in Erwartung oder un- Unter der alterstypischen Trennungsangst wird die Pro- mittelbar bei einer Trennung von Eltern oder anderen engen testreaktion eines Kindes bei der Trennung von der pri- Bezugspersonen aus. Im Rahmen dessen müssen mindestens mären Bezugsperson verstanden. Diese beginnt typi- 3 trennungsbezogene Auffälligkeiten hinsichtlich der kindlichen scherweise im Alter zwischen sieben und zwölf Monaten, Kognitionen, des Verhaltens sowie somatischen Beschwerden erreicht ihren Höhepunkt im Alter zwischen 15 und 18 beschrieben werden. Diese umfassen: Monaten und nimmt daraufhin kontinuierlich wieder ab. ▪ wiederkehrendes, starkes Leid bei der Trennung oder bei Dieser Verlauf ist insofern als typisch zu bewerten, als Erwartung einer Trennung von einer Bezugsperson dass er bei einem Großteil der Kinder in dieser Alters- ▪ anhaltende Sorge vor dem Verlust einer Bezugsperson (z. B. gruppe über verschiedene Kulturen hinweg beobachtet durch Krankheit) oder vor einem Unglück, das eine Trennung werden kann und die Reaktion der Kinder nicht von Dauer von der Bezugsperson verursacht (z. B. Entführung, Unfall) ist. Im Kontrast dazu steht die klinische Diagnose der ▪ beständige Angst, auszugehen (z. B. Kindergarten-, Schul- Trennungsangst als kindliche Angststörung [1]. besuche oder Besuche bei Großeltern oder Freunden) oder alleine in bekannter oder in fremder Umgebung zu bleiben Merke ▪ Albträume von Trennungssituationen Die wichtigsten Faktoren zur Abgrenzung entwick- ▪ somatische Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen lungsphasentypischer von pathologischen Reaktio- sowie Übelkeit und Erbrechen. nen stellen das Alter sowie der Leidensdruck dar. Diese Beschwerden müssen 1. zur Beeinträchtigungen in schulischen, beruflichen, sozialen oder Klinisch relevante Trennungsangst wird ab dem Alter von anderen wichtigen Lebensbereichen führen und etwa 3 oder 4 Jahren diagnostiziert, in dem für den Groß- 2. mindestens einen Monat lang präsent sein. teil der Kinder Trennungen von Bezugspersonen nur noch Nicht zuletzt muss für die Diagnose sichergestellt sein, dass die selten eine Belastung darstellen. Für eine klinische Diag- Symptome des Kindes nicht besser durch andere psychische nose ausschlaggebend ist auch, wie stark das Kind durch Störungen erklärt werden können [3]. die Angst in seinem Alltag (bspw. Schul- oder Kindergar- tenbesuch) beeinträchtigt wird. Sommer K et al. Nicht ohne Dich! … PSYCH up2date 2019; 13: 39–54 39
CME-Fortbildung FAL L B E I S P I E L H I N T E RG RU N DWI S S E N Anamnese Trennungsangst im Erwachsenenalter Simon ist 10 Jahre alt und hat große Schwierigkeiten, Seit Erscheinen des DSM-5 ist eine Diagnose der Stö- alleine zu bleiben. Am Tag hält sich Simon nie alleine rung mit Trennungsangst auch im Erwachsenenalter im Zimmer auf und besucht Freunde nur in Beglei- möglich. Bis auf die Dauer der Symptome gleichen tung der Mutter. Wenn er bei den Großeltern bleiben die Kriterien hier denen des Kindesalters: Im Gegen- soll, kommt es bei der Verabschiedung zu Streit und satz zum Kindesalter muss die Furcht, Angst oder Wutanfällen, bei denen er weinend um sich schlägt. Vermeidung bei Erwachsenen mindestens 6 Monate Oft bleiben Simons Mutter oder sogar beide Eltern lang anhalten. Während die kindliche Angst vor allem deswegen zu Hause. Simon erzählt, dass er sich gro- der Trennung von den Eltern gilt, bezieht sich die ße Sorgen um seine Mutter mache. Er habe Angst, Angst im Erwachsenenalter vorwiegend auf die Tren- dass seine Eltern einen Unfall haben oder mit dem nung vom Partner, von Familienmitgliedern oder Flugzeug abstürzen könnten. Er befürchte auch, dass Freunden. Einbrecher kommen und ihn entführen könnten, Laut Umfragen der WHO zeigen sich bei Einbezug der wenn er nicht bei den Eltern sei. Auch der Schul- Patienten mit Trennungsangst mit Beginn im Er- besuch ist für Simon schwierig. Vor allem montags wachsenenalter Lebenszeitprävalenzen von 4,8 %. beklagt er starke Bauchschmerzen und Übelkeit. An Der Beginn der Erkrankung lag in 43,1 % der Fälle Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt. Tagen, an denen er die Schule besucht, lässt er sich nach dem 18. Lebensjahr. In etwa 75 % der Fälle mit nicht selten abholen. Simons Mutter ist sehr besorgt Beginn in der Kindheit lag das Erkrankungsalter noch um ihren Sohn, sodass sie sich an diesen Tagen frei- vor dem 10. Lebensjahr [4]. nimmt und sich intensiv um ihn kümmert. Besuche Die 12-Monats-Prävalenz im Erwachsenenalter liegt bei Ärzten ergaben keinerlei somatische Erklärungen in den USA bei 0,9–1,9 %. Wie auch bei der Störung für Simons Beschwerden. mit Trennungsangst im Kindesalter zeigen sich ko- Nachts kommt Simon häufig ins Bett der Eltern we- morbid häufig andere Angststörungen sowie depres- gen starker Albträume. In letzter Zeit kam es zuneh- sive Störungen. Bei Trennungsangst mit Beginn im mend zu Streit zwischen den Eltern, da vor allem sein Erwachsenenalter sind komorbid komplizierte Trauer Vater das Eheleben immer mehr als gefährdet erlebt. und PTBS zu betrachten, da die späte Entwicklung Auch Simon ist unglücklich, da er in der Klasse den der Störung nicht selten im Zusammenhang mit dem Anschluss an seine Freunde verliert, da er sich weder Verlust von nahen Angehörigen steht [5]. verabreden, noch an der Klassenfahrt teilnehmen kann. im Erwachsenenalter vergeben werden kann, sieht das Epidemiologie und Verlauf ICD-10 einen Beginn der Trennungsangst vor dem 6. Le- Mit einem Erstauftrittsgipfel von ca. 7 Jahren zeigt die bensjahr vor [2]. Störung unter den Angststörungen im Kindes- und Ju- gendalter den frühsten Beginn, tritt vorwiegend vor der Gerade die körperlichen Beschwerden geben den Eltern Pubertät auf und nimmt mit zunehmendem Altersverlauf häufig Anlass zur Sorge. Sie sollten medizinisch abgeklärt wieder ab. werden, sind jedoch meist im Rahmen der Trennungs- angst zu erklären. So kann man häufig beobachten, dass Merke die berichteten Beschwerden nachlassen oder gar nicht Etwa 3 % der Kinder leiden an einer Störung mit Tren- erst auftreten, wenn die Kinder die gefürchtete Situation nungsangst. Jungen und Mädchen sind gleich häufig vermeiden können. betroffen. Zum Schutz des Kindes vermeiden Eltern infolge dessen Häufig bilden Kinder mit einer Störung mit Trennungs- häufig selbst Trennungssituationen und schicken so angst darüber hinaus auch weitere Störungen aus; dabei bspw. das Kind nicht in die Schule oder den Kindergarten zeigt sich vor allem eine hohe Komorbidität mit anderen oder aber bleiben bei Treffen mit Freunden bei ihnen. Angststörungen. Etwa ein Drittel der Kinder mit Störung Dies reduziert zwar kurzfristig die Angst des Kindes, ist je- weist außerdem Depressionen und etwa ein Fünftel eine doch langfristig ein aufrechterhaltender Faktor der Stö- ADHS oder Störung mit oppositionellem Trotzverhalten rung. auf [6]. Längsschnittlich haben Kinder mit Trennungs- angst im Erwachsenenalter ein erhöhtes Risiko zur Ent- wicklung einer Panikstörung und/oder Agoraphobie [7]. 40 Sommer K et al. Nicht ohne Dich! … PSYCH up2date 2019; 13: 39–54
Zudem findet sich in retrospektiven Studien mit erwach- und Verhaltensweisen des Elternteils dysfunktionale Ko- senen Trennungsangst-Patienten eine höhere Wahr- gnitionen (z. B. „Die Welt ist nicht sicher.“) und kognitive scheinlichkeit für Persönlichkeitsstörungen (Cluster C), Verzerrungen (z. B. „Es droht Gefahr.“) sowie vermeiden- sofern sie bereits in der Kindheit Trennungsangst aufwie- de Problemlösestrategien des Elternteils („Es ist besser, sen [8]. als Kind nicht allein zu sein.“). Nicht zuletzt gibt es bei jungen Erwachsenen mit der Merke Diagnose einer Trennungsangst in der Kindheit Hinweise Das Kind erwirbt über unterschiedliche Lernprozesse auf schlechtere gesundheitliche Konditionen wie chro- überdauernde psychologische Merkmale, die sein nische Erkrankungen oder Übergewicht [9]. Risiko für die Entwicklung der Trennungsangst er- höhen. Modelle zur Ätiologie Aufrechterhaltende Faktoren In der Literatur werden die Angststörungen häufig als Ge- Kommen nun kritische normative und/oder individuelle samtheit betrachtet, sodass Angaben für spezifische Entwicklungs-/Lebensereignisse (z. B. Fremdeln, Kinder- Angststörungen nicht immer möglich sind. Erste explizite garteneintritt, Verlust eines Elternteils) als auslösende Modelle zur Trennungsangst: Faktoren hinzu, kann es bei anstehenden Trennungssitua- ▪ das „Modell zur Entwicklung und Aufrechterhaltung tionen zu einem Aufschaukelungsprozess kommen, der Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt. von Trennungsangst“ [1] sowie zu einer massiven Erregung und Angst führt, die nur ▪ die „Suffocation False Alarm Hypothese“ [10] durch das Vermeiden oder Verlassen der Trennungssitua- tion aufgelöst werden kann. Dabei nehmen verschiedene Modell zur Entwicklung und Aufrechterhaltung Faktoren wie die Art der Situation, die aktuelle Befindlich- von Trennungsangst keit des Kindes oder des Elternteils Einfluss auf den Auf- Das ätiologische Modell bietet einen umfassenden An- schaukelungsprozess. satz zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung mit Trennungsangst. In diesem Modell wird Merke davon ausgegangen, dass die Entwicklung und Aufrecht- Das Modell betont, dass der Aufschaukelungsprozess erhaltung der Störung nur durch die Interaktion von nicht nur beim Kind, sondern auch bei dem Merkmalen der Eltern und des Kindes zu verstehen ist. anwesenden Elternteil stattfindet. Im Sinne eines Diathese-Stress-Modells unterscheidet das Modell zwischen stabilen und überdauernden Merk- Typischerweise beginnt der Prozess mit dysfunktionalen malen aufseiten des Kindes und der Eltern, auslösenden Gedanken des Elternteils (z. B. „Mein Kind ist noch zu Faktoren und aufrechterhaltenden Faktoren für die Stö- jung, um diesen Schritt zu tun.“) oder des Kindes (z. B. rung mit Trennungsangst. „Ich kann das nicht.“), denen körperliche Symptome fol- gen (Elternteil: Herzklopfen, Schwitzen, Kind: Bauch- Bedingungsfaktoren schmerzen, schnelles Atmen). Sowohl das Elternteil als Ausgangspunkt dieses Modells ist die elterliche psy- auch das Kind erleben emotionalen Stress, entwickeln chische Befindlichkeit, die neben genetischen Faktoren Angst und versuchen, mit dysfunktionalen Copingstrate- insbesondere die Ausprägung elterlicher psychopatholo- gien auf die Angst zu reagieren. So versuchen die Eltern gischer Symptome, allgemeiner Selbstwirksamkeits- mit viel Zureden und durch wiederholtes Fragen wie z. B. erwartung und psychischer Gesundheit umfasst. „Meinst Du, Du schaffst das?“ oder „Es wird bestimmt nichts passieren.“, das Kind zu beruhigen. Das Kind ver- Diese Variablen prägen die kindliche Vulnerabilität. So- sucht, durch Anklammern an das Elternteil die anstehen- wohl die elterliche Befindlichkeit als auch die Vulnerabili- de Trennung zu verhindern. Die dysfunktionalen Gedan- tät des Kindes bestimmen die Qualität und Quantität der ken von Eltern und Kind nehmen zu und werden qualitativ Kognitionen und Verhaltensweisen der Eltern gegenüber immer bedrohlicher. Körpersymptome und Angst ver- ihrem Kind. Diese bilden die frühesten impliziten und ex- stärken sich und auch das dysfunktionale Coping nimmt pliziten Lernerfahrungen des Kindes. So führt etwa eine zu. Die Angst bei Eltern und Kind wird so massiv, dass Ver- überdauernde negative emotionale Befindlichkeit eines meidung oder Verlassen der Trennungssituation die ein- Elternteils (z. B. durch Angst- und depressive Symptome) zige Lösung scheint. und auch eine von den Eltern bereits früh wahrgenom- mene erhöhte Verletzlichkeit des Kindes zu dysfunktiona- len Gedanken bezüglich des eigenen Kindes (z. B. „Mein Kind ist sehr sensibel und bedarf besonderen Schutzes.“). Dies prägt wiederum einen Erziehungsstil, der durch Überfürsorglichkeit und hohe Kontrolle charakterisiert ist. Das Kind übernimmt durch ängstliche Instruktionen Sommer K et al. Nicht ohne Dich! … PSYCH up2date 2019; 13: 39–54 41
CME-Fortbildung Studien zeigten, dass Kinder, die eine stabile behaviorale T I P P F Ü R DI E P R A XI S Inhibition aufwiesen, häufiger an einer Angststörung er- Durch die Vermeidung oder das Verlassen der Situa- krankten. In Bezug zur elterlichen Psychopathologie zeig- tion kommt es kurzfristig zu einer emotionalen Ent- ten verschiedene Studien, dass Kinder von Eltern mit lastung bei Eltern und Kind, mittel- und langfristig einer Angststörung häufiger eine hohe Ausprägung von führt dieses Verhalten jedoch dazu, dass die Risiko- behavioraler Inhibition zeigten [11]. merkmale von Kind und Eltern weiter gefestigt wer- den und die Trennungsangst des Kindes sich immer Merke weiter manifestiert. Auch die Art der Bindung beeinflusst eine vorhan- dene Prädisposition für eine Angsterkrankung. Empirische Belege – bedingende Faktoren In einer prospektiven Längsschnittstudie zeigte sich, dass Erste empirische Unterstützung erfährt das Modell durch ein unsicher/widersetzender Bindungsstil in der Kindheit verschiedene Studien aus dem Bereich der Entwicklungs- das Risiko für eine Angststörung im Alter von 18 Jahren psychologie, Entwicklungspsychopathologie und Kli- verdoppelte. Diverse Studien im Kontext kindlicher Psy- nischen Kinder- und Jugendpsychologie. Eine detaillierte chopathologie schlagen hier eine Brücke zwischen elter- Zusammenschau inklusive der Originalquellen ist im ak- licher Psychopathologie und dem Bindungsverhalten. So tuellen Kapitel von Lavallee und Schneider zu finden [6]. wiesen bspw. Studien auf mangelnde Responsivität und Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt. weniger Feinfühligkeit bei depressiven Müttern gegen- Elterliche Psychopathologie über ihren Kindern hin [12]. Für Mütter mit einer Border- Gut untersucht ist die familiale Transmission der Störung line-Persönlichkeitsstörung ergaben sich Hinweise auf mit Trennungsangst. Bereits eine Reihe von Studien un- weniger feinfühliges und hoch kontrollierendes Interak- terstützt die Annahme des Zusammenhangs elterlicher tionsverhalten, was wiederum mit unsicherer Bindung Psychopathologie mit der Störung mit Trennungsangst und dysfunktionaler Emotionsregulation des Kindes asso- im Kindesalter. So zeigten bisherige Untersuchungen ziiert ist [13]. eine erhöhte Prävalenz von Trennungsangst bei Kindern, deren Eltern an einer Panikstörung, einer Major Depres- Erziehungsstil und elterliche Kognitionen sion, einer Agoraphobie oder einer sozialen oder spezi- Die Rolle der Eltern-Kind-Interaktion und des Erziehungs- fischen Phobie erkrankt waren. Darüber hinaus wurde stils in Familien mit einem ängstlichen Kind oder einem nachgewiesen, dass mütterliche Angst im 9. Lebensjahr ängstlichen Elternteil ist ebenfalls in Form von Fragebo- des Kindes die Entwicklung einer Trennungsangst im generhebungen und auch von Verhaltensbeobachtungen 11. Lebensjahr vorhersagte. vielfach untersucht worden. Hinsichtlich des Zusammen- hangs elterlichen Erziehungsverhaltens und der Genese Vulnerabilität von Ängsten zeigt die aktuelle Studienlage, dass Kinder In der Vermittlung zwischen der elterlichen Psychopatho- mit Angststörungen ihre Familien als weniger akzeptie- logie und einer möglichen Pathologie des Kindes werden rend und Autonomie gewährend, weniger kontaktfreudig verschiedene Mechanismen vermutet, welche die Vulne- und unterstützend sowie konfliktreicher erlebten als Kin- rabilität des Kindes bedingen. Im Fokus stehen hier die El- der ohne Angststörungen. Außerdem gibt es Hinweise tern-Kind-Bindung und das Temperament des Kindes. In darauf, dass Eltern von Kindern mit Angststörungen so- mehreren Querschnittsuntersuchungen konnten bereits wie Eltern mit einer Angststörung mehr Ablehnung und Assoziationen zwischen behavioraler Inhibition als Tem- Kontrolle in der Interaktion mit ihren Kindern aufwiesen peramentsmerkmal und verschiedenen Angststörungen im Vergleich zu Müttern in der Kontrollgruppe. Neben im Kindes- und Jugendalter aufgezeigt werden. der elterlichen Kontrolle und dem geringen Ausmaß an „Autonomiegewährung“ zeigte zudem exzessives „Über- engagement“ einen signifikanten Zusammenhang mit D E F I N IT I O N kindlicher Angst. Behaviorale Inhibition Hinsichtlich der Untersuchung der Richtung dieser korre- Unter behavioraler Inhibition versteht man ein lativen Zusammenhänge geben neuere Längsschnitt- zurückgezogenes und scheues Verhalten in neuen, und experimentelle Studien erste Hinweise, dass ein Er- unvertrauten Situationen, das mit hoher sympathi- ziehungsstil, der durch hohe Überfürsorglichkeit und scher Erregung einhergeht. Kontrolle gekennzeichnet ist, das Ausmaß der Angst des Kindes vorhersagt. Basierend auf diesen Befunden ver- muten verschiedene Autoren, dass frühe Erfahrungen von Überfürsorge und hoher elterlicher Kontrolle bei Kin- dern die Sichtweise prägen, die Welt als bedrohlich wahr- zunehmen. Der Aufbau von Selbstwirksamkeit sowie die 42 Sommer K et al. Nicht ohne Dich! … PSYCH up2date 2019; 13: 39–54
Entwicklung des Gefühls von Kontrolle werden hierdurch bung von klassischen und operanten Konditionierungs- behindert, was wiederum das Risiko erhöht, eine Angst- prozessen. So beschreibt die Zwei-Faktoren-Theorie von störung zu entwickeln. Mowrer im ersten Schritt einen Erwerb der Angst durch klassische Konditionierung: Eine zunächst neutrale Situa- Mit Blick auf die elterlichen Kognitionen konnte bereits tion, wie z.B das Alleine-zu-Hause-Bleiben wird durch die gezeigt werden, dass Eltern von Kindern mit Trennungs- Paarung mit aversivem Erleben, wie z. B. große Angst und angst eine geringere Selbstwirksamkeit hinsichtlich der Sorge aufgrund von Verspätung der Eltern, negativ be- eigenen Erziehungskompetenzen aufweisen als Eltern setzt. Im zweiten Schritt greifen operante Lernmechanis- von Kindern mit sozialer Phobie oder ohne psychische men: Die Situation wird zukünftig vermieden. Somit ent- Störung (z. B. „Mutter bzw. Vater zu sein, macht mich fällt das negative Erleben (negative Verstärkung). Gleich- ängstlich und angespannt.“). Dieselbe Studie zeigte auch, zeitig kann es auch dazu kommen, dass die Eltern sich dass Eltern von Kindern mit einer Angststörung mehr dys- aufgrund der Angst mehr oder intensiver mit dem Kind funktionale Gedanken bezüglich ihres Kindes aufweisen beschäftigen (positive Verstärkung durch Aufmerksam- als Eltern von Kindern ohne psychische Störungen (z. B. keit) [16]. „Wenn mein Kind unglücklich ist, habe ich versagt.“). Erste Hinweise auf störungsspezifische Aufschaukelungs- Modelllernen/Instruktionslernen prozesse, die aus der Interaktion von elterlichen und Andy Field konnte in einer Reihe von kreativen Studien kindlichen Kognitionen resultieren, finden sich in einer Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt. zeigen, dass Ängste bei Kindern durch Instruktionslernen Studie von Kossowsky und Kollegen. Hier konnte gezeigt vermittelt werden können. Die Arbeitsgruppe zeigte Kin- werden, dass – im Vergleich zu einer klinischen Kontroll- dern im Alter von 7–9 Jahren 2 Puppen, die sie vorher gruppe anderer Angststörungen – nur Trennungsangst- noch nie gesehen hatten. Die Kinder bekamen dann ent- Patienten auf eine Trennungssituation mit einer erhöhten weder in Form eines Videos oder einer erzählten Ge- autonomen Aktivität reagieren und dass die Trennungs- schichte positive oder negative Informationen über die angst-Kinder signifikant häufiger die Situation abbrechen Puppen. Die positiven Informationen veränderten die Be- wollen. wertungen der Puppen nicht. Die negativen Informatio- nen sorgten für eine bedrohlichere Wahrnehmung der Es bleibt jedoch ersichtlich, dass Bedingungsfaktoren bis- Puppen ausschließlich dann, wenn sie in der erzählten her deutlich stärker im Fokus der Forschung lagen als auf- Geschichte vermittelt wurden, vor allem dann, wenn die rechterhaltende Faktoren, sodass weitere Forschung not- Geschichten von Erwachsenen erzählt wurden. wendig ist, um diese Lücke zu schließen. Merke Suffocation-False-Alarm-Hypothese Die Eltern vermitteln ein wichtiges Bild für die Kinder Die „Trennungsangst-Hypothese der Panikstörung“ be- im Umgang mit bedrohlichen Situationen und zieht sich auf die Ähnlichkeiten zwischen Kindern mit nehmen Einfluss auf die kindlichen Verhaltensweisen Trennungsangst und Erwachsenen mit Panikstörung. Als und Kognitionen [14]. biologischer Mechanismus hinter beiden Störungen wird angenommen, dass die bei Panikpatienten beobachteten Eine Studie zur Untersuchung der kindlichen Kognitionen Atemunregelmäßigkeiten auf überempfindliche CO2- zeigte so eindrücklich kognitive Verzerrungen hinsicht- Sensoren zurückzuführen sind [10]. Der Wert des arte- lich der Bewertung der Bedrohlichkeit von Situationen riellen CO2-Drucks (pCO2) beeinflusst die Atemsteue- bei Kindern, deren Eltern an einer Panikstörung erkrankt rung: Eine Zunahme des pCO2 führt zu einer Steigerung waren, im Vergleich zu Kindern gesunder Eltern [15]. der Atemtätigkeit. Die erhöhte CO2-Empfindlichkeit wur- de zunächst als Risikofaktor für die Panikstörung ange- Auslöser nommen und wurde dann auch mit der Störung mit Tren- Die dargestellten Faktoren stellen erste Bedingungen für nungsangst in der Kindheit in Verbindung gebracht. die Entwicklung einer Störung mit Trennungsangst dar, deren Ausmaß und Interaktion es zu betrachten gilt. Einige Studien zur Untersuchung von Atemanomalien ha- Nichtsdestotrotz bedarf das Wissen um konkrete Aus- ben Unterschiede zwischen Kindern mit gemischten löser der Störung mit Trennungsangst weiterer For- Angstgruppen, einschließlich Trennungsangst, und nicht schung, z. B. mit Blick auf Resilienzfaktoren. ängstlichen Kindern gefunden. Störungsspezifische Un- terschiede in der Atmung konnten jedoch in einer Studie, Empirische Belege für Aufrechterhaltung in der speziell Kinder mit Trennungsangst mit Kindern mit Bezüglich der Aufrechterhaltung von Trennungsangst anderen Angststörungen und Kindern ohne psychische gibt es erstaunlich wenig Forschung. Allgemeine Modelle Störungen verglichen wurden, nicht reproduziert wer- zur Aufrechterhaltung von Angststörungen können aller- den. Somit können die vorliegenden Befunde bei Kindern dings auch auf die Störung mit Trennungsangst ange- mit Trennungsangst die von Klein aufgestellte „Suffoca- wendet werden. Im Vordergrund steht hier die Beschrei- tion-False-Alarm-Hypothese“ nicht bestätigen. Insge- Sommer K et al. Nicht ohne Dich! … PSYCH up2date 2019; 13: 39–54 43
CME-Fortbildung samt scheinen die Reaktionen auf Veränderungen des So hat bspw. bei dem ersten Kontakt das Kind noch Kör- pCO2-Wertes bei Kindern mit Trennungsangst viel weni- perkontakt zur Bezugsperson im Gespräch mit dem The- ger ausgeprägt als bei Patienten mit Panikstörung. rapeuten. Im nächsten Schritt führt das Kind das Ge- spräch mit dem Therapeuten, ohne dabei Körperkontakt zur Bezugsperson zu haben. Danach bleibt die Bezugsper- Diagnostik son mit im Raum, sitzt aber nicht unmittelbar neben dem Für eine sichere Diagnostik der Störung mit Trennungs- Kind. Im letzten Schritt sitzt dann die Bezugsperson wäh- angst ist es wichtig, verschiedene Methoden und Aus- rend des Gesprächs vor der Tür und wartet. kunftsquellen zu kombinieren. Hierfür sollten diagnosti- sche Interviews, Fragebögen sowie Verhaltensbeobach- Fragebögen tungen parallel eingesetzt werden. Neben der Explora- Eine gute Möglichkeit zur Ergänzung der Diagnostik mit- tion der aktuellen Symptomatik sollten dabei auch ihre hilfe von Interviews bieten Fragebögen. Hier sind vor al- aufrechterhaltenden und auslösenden Bedingungen so- lem das Trennungsangst-Vermeidungsinventar (TAVI, wie ggf. komorbide psychische Störungen erfragt wer- [18]), der „Childhood Anxiety Sensitivity Index“ (CASI, den. [19]) sowie der „Basler Bilder-Angst-Test“ [20]) bereits gut etabliert (▶ Tab. 1). Cave Aufgrund der starken körperlichen Beschwerden des Familiendiagnostik Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt. Kindes darf eine gründliche organische Differenzial- Aufgrund der besonderen Bedeutung familiärer Merk- diagnostik nicht vergessen werden. male empfiehlt sich der Einbezug der Eltern in Diagnostik und Therapie. Dabei sollten diese nicht nur zur Explora- Erfahrungsgemäß zeigt sich, dass der Bericht der Eltern tion der Symptome der Kinder mit einbezogen werden. und der des behandelnden Arztes zur Ursache der soma- tischen Beschwerden nicht übereinstimmen muss. Diese Diskrepanz ist von großer Bedeutung für die weitere The- T I P P F Ü R DI E P R A XI S rapie und sollte daher immer geprüft und thematisiert In der diagnostischen Phase sollte auch das Vorliegen werden. elterlicher Angst und der Umgang der Eltern mit den gegebenenfalls vorliegenden eigenen Angstsympto- Idealerweise durchlaufen Familien mit betroffenen Kin- men exploriert werden. Leiden die Eltern ebenfalls an dern folgende Schritte: einer Angsterkrankung, sollte diesen eine eigene Be- ▪ gemeinsames Erstgespräch mit Eltern und Kind, für ei- handlung zur Unterstützung der Therapie des Kindes nen Überblick über die Problematik sowie Aufklärung nahegelegt werden. über den Verlauf der Therapie ▪ Differenzialdiagnostik mithilfe eines strukturierten In- terviews, jeweils separat mit Eltern bzw. Kind (z. B. Darüber hinaus empfiehlt sich auch die Erfassung wei- Kinder-DIPS‑OA, [17]) terer familiärer Merkmale, wie z. B. der Identifikation von ▪ medizinische Differenzialdiagnostik zum Ausschluss Dynamiken innerhalb der Familienmitglieder. Eine gute organischer Ursachen diagnostische Ergänzung bietet hier der „Familienidentifi- ▪ Einsatz von Fragebögen und evtl. Tagebüchern, in de- kationstest“ zur Erfassung des Ausmaßes der Identifika- nen schwierige Situationen und Symptome sowie tion der Familienmitglieder miteinander sowie der Selbst- mögliche Bewältigungsversuche protokolliert werden kongruenz des Kindes (FIT, [21]). ▪ Problemanalyse zur Erfassung der auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen Das „subjektive Familienbild“ gibt zudem einen Eindruck der emotionalen Valenz innerhalb der Familie (wie wohl Insbesondere bei jüngeren Kindern mit Trennungsangst fühlt sich das Kind gegenüber dem Vater/der Mutter) kann es zunächst schwierig sein, mit dem Kind alleine und der Autonomie (wie autonom fühlt sich das Kind ge- das diagnostische Gespräch zu führen. Manche Kinder genüber dem Vater/der Mutter, den einzelnen Familien- weigern sich oder weinen, wenn sie mit dem Therapeu- mitgliedern) (SFB, [22]). ten alleine im Therapieraum verbleiben sollen. In solchen Fällen werden die ersten Sitzungen nur dazu genutzt, das In der Regel reicht eines dieser Verfahren aus, um not- Kind an die neue Situation und den Therapeuten zu ge- wendige Informationen zur familiären Struktur zu erhal- wöhnen. ten. Merke Zu Beginn kann es notwendig sein, die Eltern im Gespräch dabeizuhaben, wobei die Anwesenheit der Eltern Schritt für Schritt abgebaut wird. 44 Sommer K et al. Nicht ohne Dich! … PSYCH up2date 2019; 13: 39–54
▶ Tab. 1 Überblick über diagnostische Fragebögen. Test Inhalt Alter Skala Beispiel-Items TAVI Schweregrad Vermeidungs- 5–16 0 = nie Ich vermeide … verhalten des Kindes in 1 = selten ▪ alleine zu Hause zu sein. Trennungssituationen 2 = die Hälfte der Zeit ▪ allein in den Kindergarten/die Schule zu Selbst- und Fremdbeurteilung 3 = meistens gehen. ▪ alleine zu Freunden/Freundinnen zu gehen. 4 = immer CASI Erfassung der Angstsensitivität 8–17 1 = nie ▪ Ich möchte nicht, dass andere Menschen es (syn. Angst vor der Angst) 2 = manchmal merken, wenn ich mich ängstlich fühle. 3 = häufig ▪ Wenn ich mich nicht auf meine Schulauf- gaben konzentrieren kann, befürchte ich, verrückt zu werden. ▪ Es macht mir Angst, wenn ich mich zittrig fühle. B‑BAT Dimensionale Erfassung von 4–8 4 Punkte Skala: ▪ Präsentation von Bildern, auf denen das Ängstlichkeit und Vermeidung 0 = keine Angst/Vermeidung Modellkind Angstsymptome zeigt oder nicht 3 = starke Angst/Vermeidung) ▪ Auswahl eines Bildes durch das Kind nach Ähnlichkeit des Modells zum Kind selbst Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt. Verhaltensbeobachtung Soziale Phobie/soziale Angststörung Hilfreich ist zudem, dass der Therapeut die Möglichkeit Auch Kinder und Jugendliche mit sozialer Phobie verwei- bekommt, das beschriebene Problemverhalten selbst zu gern teilweise den Schulbesuch. Der Grund hierfür ist je- beobachten. Das gibt die Möglichkeit, berichtete Auffäl- doch ein anderer: Kinder mit einer sozialen Phobie fürch- ligkeiten zu validieren und darüber hinaus aufrechterhal- ten die Bewertung durch andere. Sie haben Angst, sich zu tende Faktoren zu identifizieren. blamieren oder etwas Peinliches zu sagen. Typische ge- fürchtete Situationen von sozialphobischen Kindern sind Merke vor anderen sprechen, sich in der Schule melden, der Be- Neben einer direkten Beobachtung von Trennungs- such eines Kindergeburtstages, u. v. a. m. Anders als für situationen sind auch Video- oder Audioaufzeichnun- Kinder mit Trennungsangst verschwindet für sozialphobi- gen hilfreich. sche Kinder die Angst vor Bewertung nicht durch das Bei- sein der Bezugsperson. So werden etwa die Eltern von einem Kind mit der Angst, alleine einzuschlafen, in Abhängigkeit von der Woh- Generalisierte Angststörung nungssituation gebeten, eine Videokamera, einen Audio- Die Ängste und Sorgen von Kindern mit Trennungsangst rekorder oder das Smartphone z. B. im Schlafzimmer des beziehen sich überwiegend auf die Trennung von zu Hau- Kindes zu Beginn der Zubettgeh-Situation einzuschalten se oder von den Hauptbezugspersonen. In Abgrenzung und die Aufnahme erst zu beenden, wenn das Kind einge- hierzu berichten Kinder mit generalisierter Angststörung schlafen ist. Die Video- bzw. Audioaufzeichnung wird in über eine Vielzahl von Sorgen und Ängsten, die sich auf der nächsten Sitzung gemeinsam mit den Eltern ana- Situationen und Lebensbereiche beziehen wie Unpünkt- lysiert. Hier reicht es meist aus, wenn mehrere Ausschnit- lichkeit, sich richtig verhalten zu haben, gut genug in der te von wenigen Minuten (z. B. erste Aufforderung an das Schule oder im Sport zu sein oder genug Freunde zu ha- Kind, ins Bett zu gehen, erster und zweiter Versuch des ben. Elternteils, das Kinderschlafzimmer zu verlassen etc.) ge- meinsam diskutiert werden. Störung des Sozialverhaltens Jugendliche mit einer Störung des Sozialverhaltens ver- Differenzialdiagnose weigern, ähnlich wie Kinder mit einer Störung mit Tren- Neben der ausführlichen Exploration der Symptome ist nungsangst, den Schulbesuch. Im Unterschied zu tren- für die Abgrenzung von anderen Störungen wichtig, die nungsängstlichen Kindern, die zu Hause in der Nähe der zentralen Befürchtungen des Kindes oder Jugendlichen Bezugsperson bleiben möchten, wollen Jugendliche je- währen einer Trennungssituation zu erfassen. Diese bie- doch die Zeit mit Freunden verbringen oder durch die Ge- ten Hilfestellung, die Trennungsangst von anderen mög- gend ziehen. Des Weiteren gehören eindeutige Verstöße lichen Ängsten des Kindes- und Jugendalters abzugren- gegen gesellschaftliche Regeln und Normen, wie etwa zen. Ladendiebstahl, Gewalt gegen andere oder Ähnliches, zum Erscheinungsbild der Störung des Sozialverhaltens, Sommer K et al. Nicht ohne Dich! … PSYCH up2date 2019; 13: 39–54 45
CME-Fortbildung die Kinder mit Störung mit Trennungsangst nicht aufwei- eigenen Bewältigungsmöglichkeiten. Neben dem Abbau sen. von Angst im engeren Sinne steht im Fokus, die Auto- nomie und Selbstwirksamkeitsüberzeugung des Kindes Agoraphobie/Panikstörung zu stärken. Die Kinder werden „stark gemacht“, um Bei Kindern und Jugendlichen mit Trennungsangst kön- schwierige Situationen und Probleme anzugehen und zu nen anstehende Trennungen zu starker Angst und Panik- lösen. anfällen führen. Im Unterschied zur Panikstörung und Agoraphobie bezieht sich die Angst des trennungsängst- Eine Reihe neuer verhaltenstherapeutischer Programme lichen Kindes auf die Trennung von der Bezugsperson betont vor allem die Bedeutung familiärer Aspekte und oder von zu Hause. Die Befürchtung im Rahmen einer Pa- bezieht die Eltern deutlich in die Behandlung des Kindes nikstörung bezieht sich hingegen auf das Auftreten eines mit ein. Im Fokus stehen hier Veränderungen des Erzie- Panikanfalls und seiner Folgen („Ich könnte sterben/um- hungsstils sowie Coaching in der Modellrolle bei angst- fallen/erbrechen.“). Ein weiterer Unterschied zur Panik- auslösenden Situationen. Bisherige Forschungsergebnis- störung besteht darin, dass die Panikanfälle immer im se zeigen jedoch keine Vorteile, aber auch keine Nachtei- Kontext von drohenden Trennungssituationen entstehen le des Elterneinbezuges im Vergleich zur reinen Psycho- und nicht aus heiterem Himmel. therapie von Angststörungen bei Kindern [23, 24]. Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt. T I P P F Ü R DI E P R A XI S FAL L B E I S P I E L Speziell für die Behandlung der Störung mit Tren- Diagnostik nungsangst liegt erst ein empirisch überprüftes ver- Nachdem Simon vermehrt in der Schule gefehlt hat haltenstherapeutisches Behandlungsprogramm vor: und die Eltern sich auch durch die Lehrerin zuneh- Das „Trennungsangstprogramm für Familien“ [25]. mend unter Druck gesetzt fühlen, suchen sie zum Das TAFF ist ein Programm für Kinder im Alter von wiederholten Male den Kinderarzt auf, um Simons 4–13 Jahren und ihre Eltern. Beschwerden abzuklären. Dieser legt ihnen eine Be- handlung bei einem Kinder- und Jugendlichenpsy- Trennungsangstprogramm für Familien chotherapeuten nahe. Das Erstgespräch findet mit allen dreien gemeinsam statt. In der zweiten Sitzung Das „TAFF“ ist auf insgesamt 16 Sitzungen ausgelegt. Da- schafft es Simon, mit der Therapeutin alleine in den von werden 4 Sitzungen mit dem Kind alleine, 4 Sitzun- Therapieraum zu gehen. Seine Mutter muss ihm aber gen mit den Eltern alleine und 8 Sitzungen gemeinsam mehrfach zusichern, im Wartezimmer auf ihn zu mit Kind und Eltern gestaltet. In den ersten 4 Sitzungen warten. Im Rahmen der Diagnostik wird mit der steht die Psychoedukation sowie die Vorbereitung auf Mutter sowie mit Simon das Kinder-DIPS durch- die Umsetzung neuer Strategien im Alltag im Vorder- geführt. Bei Simon wird dies aufgrund der Dauer in grund. 2 Sitzungen aufgeteilt. In beiden strukturierten Interviews zeigt sich, dass die Diagnose der Tren- Inhaltlich sind die ersten 4 Kind- bzw. Elternsitzungen nungsangst sowohl nach Elternurteil als auch Bericht sehr ähnlich. Um jedoch eine kindgerechte und auf die des Kindes erfüllt ist. Auch die zusätzliche Diagnostik kindlichen Bedürfnisse angepasste Psychoedukation und mit störungsübergreifenden (CASI) sowie störungs- Vorbereitung auf die Exposition gewährleisten zu kön- spezifischen Fragebögen (TAVI) zeigt deutliche Auf- nen, wurden die ersten 4 Sitzungen des Programms für fälligkeiten im Bereich der Angstsymptomatik. Eltern und Kind separat konzipiert. Großer Wert wurde dabei auf kindgerechte Therapiematerialien gelegt, die ohne Lesefertigkeiten vom Kind genutzt werden kön- nen. Therapie Kind-Sitzungen In den letzten Jahren hat die Verhaltenstherapie bei Psychoedukation Angststörungen im Kindes- und Jugendalter eine enorme Das Kind wird über normale und pathologische Angst Entwicklung durchlaufen. Während die ersten Behand- aufgeklärt. Anhand von anschaulichen Bildmaterialien lungsbeschreibungen in enger Anlehnung an lerntheore- werden ihm die 3 Komponenten der Angst (Körpersymp- tische Überlegungen den Fokus auf die „Umkonditionie- tome, Gedanken, Verhalten), Ätiologie und Aufrecht- rung“ angstauslösender Reize und Löschung der Angst- erhaltung der Trennungsangst erklärt. Entscheidend ist reaktion richteten, thematisieren neuere Programme hier das Prinzip des „geleiteten Entdeckens“. Die Inhalte bspw. auch kognitive Aspekte der Angst, wie die Befürch- werden in kindgerechter Weise und Dosierung gemein- tungen und Bewertungen des Kindes bezüglich der sam mit dem Kind erarbeitet und dem Kind wird die Mög- angstauslösenden Situation oder seine Einschätzung der lichkeit gegeben, eigene Symptome der Angst, Befürch- 46 Sommer K et al. Nicht ohne Dich! … PSYCH up2date 2019; 13: 39–54
tungen und Bewältigungsstrategien in der Theorie wie- Im Folgenden sollen diese Übungserfahrungen auf die derzufinden. Trennungsangst des Kindes übertragen werden und das Vermeidungsverhalten als Angstverstärker identifiziert TAFF-Gedanken werden. Der Therapeut sollte sorgfältig nachfragen, ob Im nächsten Schritt lernt das Kind seine „Panikgedan- das Kind schon ansatzweise Habituationserfahrungen in ken“, welche die Angst in Trennungssituationen verstär- Trennungsangst-Situationen sammeln konnte. Mit dem ken, zu identifizieren und zu korrigieren. Dem Kind wird Kind erarbeitet er zudem, dass die Angst immer schlim- erläutert, wie Gedanken, Gefühle und Verhalten mit- mer wird, wenn man sie vermeidet und sich ihr nicht einander zusammenhängen. Nach der Identifizierung, stellt. Überprüfung und Modifikation der angstauslösenden Ge- danken werden mit dem Kind TAFF-Gedanken und Merke Selbstinstruktionen erarbeitet, die helfen sollen, die Ziel ist es, dem Kind zu vermitteln, dass man auch die angstauslösenden Situationen zu bewältigen. Selbst- Angstbewältigung üben kann. instruktionen zur Steigerung der Selbstwirksamkeit kön- nen z. B. mit dem Kind auf Karteikärtchen geschrieben Die kognitive Vorbereitung schließt mit dem Resümee ab, werden, die es in angstauslösenden Situationen bei sich dass man die Angst nur bewältigen kann, wenn man re- tragen kann. Beispiele für solche Selbstinstruktionen gelmäßig übt, der Angst zu begegnen („Wie sonst kann sind: „Ich bin mutig!“ oder „Ich bin stark!“ Unterstützend ich merken, dass nichts Schlimmes passiert?“). Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt. können hier auch Mut machende Figuren (z. B. Pippi Langstrumpf) oder Objekte (z. B. „Mutstein“) eingesetzt Eltern-Sitzungen werden. Trennung als Entwicklungsaufgabe Die Eltern werden über das Störungsbild der Trennungs- Ziel aller Strategien ist es, die Selbstwirksamkeitsüber- angst informiert und mit dem Konzept der Entwicklungs- zeugung des Kindes zu fördern. aufgaben vertraut gemacht. Es wird erläutert, dass die Ausbildung von Angststörungen als Folge einer nicht be- Vorbereitung auf die Konfrontation wältigten Entwicklungsaufgabe verstanden werden kann. Zum Abbau der Vermeidung von Trennungssituationen So ist etwa denkbar, dass die nicht bewältigte Entwick- werden mit dem Kind Konfrontationsübungen in vivo ge- lungsaufgabe „Aufbau von Autonomie“ (ab dem Alter plant. von etwa 3 Jahren), die Entwicklung einer Störung mit Trennungsangst begünstigt. Es wird verdeutlicht, dass Cave die erfolgreiche Bewältigung von Trennungen von Be- Bedingung für die Durchführung der Konfrontation zugspersonen als wichtiger Meilenstein in der Entwick- ist eine sorgfältige Vorbereitung des Kindes. lung eines Kindes zu betrachten ist. Die Konfrontation in vivo sollte nur durchgeführt werden, wenn Eltern und möglichst auch das Kind explizit zustim- T I P P F Ü R DI E P R A XI S men. Anhand von Angstverlaufskurven wird das Rational Viele Eltern sind erleichtert, wenn der Therapeut der Konfrontationsbehandlung vorgestellt. herausstellt, dass Trennungen schmerzvoll und schwierig sein können, das Kind aber gleichzeitig Dabei ist es sinnvoll, auf individuelle Habituationserfah- an der erfolgreichen Bewältigung solcher Aufgaben rungen des Kindes zurückzugreifen. Jedes Kind hat die Er- wächst und an Selbstbewusstsein gewinnt. fahrung gemacht, dass neue Fertigkeiten erworben wer- den können bzw. Aufregung und Angst verschwinden, wenn man die Gelegenheit nutzt zu üben. Sei es das Dysfunktionale Gedanken der Eltern Schwimmen, Fahrradfahren oder Schreiben lernen oder Die Bearbeitung dysfunktionaler Gedanken der Eltern in auch sich in einer neuen Gruppe von Kindern mit der Zeit Bezug auf das Kind nimmt im TAFF-Programm eine zentra- wohler zu fühlen; das Gemeinsame dieser Situationen le Rolle ein. Unter dysfunktionalen Gedanken der Eltern war das regelmäßige Üben. Mithilfe des geleiteten Ent- werden alle die Annahmen und Befürchtungen der Eltern deckens wird das Kind systematisch nach solchen Erfah- verstanden, die die Eltern daran hindern, das Kind in der rungen befragt und es wird herausgearbeitet, dass Auseinandersetzung mit seiner unangemessenen Angst „Übung den Meister macht“. Es ist für Therapeuten oft zu unterstützen und es in seiner Autonomieentwicklung erstaunlich zu sehen, wie bereits 5 Jahre alte Kinder über behindern. Beispiele für solche Gedanken sind: „Ich bin solche Übungserfahrungen detailliert berichten und von eine schlechte Mutter/ein schlechter Vater, wenn ich mein sich aus formulieren, dass das Üben zum Erfolg geführt Kind in dieser Situation allein lasse“, „Ich bin schuld, dass hat. mein Kind ängstlich ist“ oder „Ich darf mein Kind nicht so leiden lassen“; „Mein Kind wird durch zu starke Angst trau- matisiert und für immer Schaden nehmen“. Sommer K et al. Nicht ohne Dich! … PSYCH up2date 2019; 13: 39–54 47
CME-Fortbildung Im Gespräch mit den Eltern werden die dysfunktionalen Gedanken systematisch auf ihren Realitätsgehalt über- FAL L B E I S P I E L prüft und korrigiert. Es werden alternative Gedanken er- Therapie arbeitet (z. B. „Das Bewältigen der Angst wird mein Kind Zu Beginn der Therapie ist die Familie erleichtert zu stärken und selbstbewusster machen“), die den Eltern hören, dass 3 % der Kinder unter einer Trennungs- helfen sollen, im späteren Teil der Therapie das Kind bei angst leiden. Gemeinsam erarbeiten Simon und sein der Durchführung der Konfrontationsübungen adäquat Therapeut, warum Menschen Angst haben und wann zu unterstützen. Angst vielleicht zu viel ist. Mithilfe des 3-Komponen- ten-Modells von Angst finden sie heraus, dass Simon Vorbereitung auf die Konfrontation in Erwartung einer Trennungssituation vor allem kör- Anhand von Angstverlaufskurven und aufbauend auf perliche Symptome belasten. Außerdem habe er Ge- lerntheoretischen Ansätzen zur Entstehung und Auf- danken wie „Meine Eltern könnten bei einem Auto- rechterhaltung von Ängsten wird auch in den Elternsit- unfall sterben“. Auf der Verhaltensebene beobachten zungen das Rational für die Konfrontation eingeführt. sie, dass sich seine Angst typischerweise in Weinen Die grafische Darstellung des Angstverlaufs hat sich da- und Betteln, dass die Eltern doch zu Hause bleiben bei als sehr hilfreich erwiesen. Anhand der Angstverlaufs- sollen, zeigt. Mithilfe einer Lernerfahrung, in der Si- kurven kann gezeigt werden, dass die Angst kontinuier- mon seine Angst und Nervosität überwinden konnte lich abnimmt, je häufiger die angstauslösende Situation (Schwimmen Lernen) und dem Vergleich mit einer Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt. geübt wird. Des Weiteren kann herausgearbeitet werden, Trennungssituation, wird mit Simon das Konfrontati- dass Vermeidungsverhalten die Angst nur kurzfristig re- onsrational erarbeitet. Dysfunktionale Angstgedan- duziert, jedoch mittel- und langfristig diese aufrecht- ken werden hilfreichen, Mut fördernden Gedanken erhält und verstärkt. So wird ein Kind, das es vermeidet, gegenübergestellt, wie z. B. „Meine Eltern sind im- zur Geburtstagsfeier eines Freundes zu gehen, bei der mer wieder gekommen, sie werden auch dieses Mal nächsten Einladung wieder Angst verspüren, da die Er- wiederkommen“. fahrung ausbleibt, dass der Geburtstagsbesuch keine Be- Mit den Eltern werden ihre eigenen Gedanken in drohung darstellt. einer Trennungssituation exploriert. Vor allem Si- mons Mutter äußert Sorgen, ihren Sohn mit seiner Angst zu konfrontieren. Sie beschreibt Schuldgefühle T I P P F Ü R DI E P R A XI S bei dem Gedanken, ihren Sohn mit seiner Angst al- Den Eltern sollte vor der Konfrontation mitgeteilt leine zu lassen. Daher wird das Konfrontationsrational werden, dass Flucht und Vermeidungsverhalten im Detail diskutiert und besprochen, dass die Unter- verhindert werden, weil man dem Kind helfen stützung des Vermeidungsverhaltens zur Aufrecht- möchte, die Angst auszuhalten und letztendlich erhaltung von Simons Ängsten beiträgt. Außerdem zu bewältigen. wird erklärt, dass die Konfrontationsübungen Simon die Möglichkeit geben können, sich in einer Angst- situation kompetent zu erleben. Der Therapeut erarbeitet gemeinsam mit den Eltern Möglichkeiten für einen hilfreichen Umgang mit der Tren- nungsangst des Kindes. Ziel ist es, der Angstsymptomatik des Kindes verständnisvoll und sensibel zu begegnen. Konkret werden hilfreiche Strategien zur Unterstützung des Kindes diskutiert und im Rollenspiel umgesetzt. Den Eltern wird vermittelt, mutiges, angstbewältigendes Ver- rend die Eltern einkaufen, oder das Übernachten bei halten zu verstärken, ängstliches Verhalten jedoch nicht einem Freund. Ein Beispiel für eine mittelschwere Übung weiter zu beachten. ist die Verabschiedung der Mutter aus der Praxis für einen klar definierten Zeitraum. Eltern-Kind-Sitzungen Angsthierarchie Merke In der ersten gemeinsamen Sitzung mit Kind und Eltern Wichtig ist, das Aufsuchen der Angstsituation sowie sammeln sie mit Unterstützung des Therapeuten Angst- das Ertragen der Angst zu honorieren. situationen für die Expositionsübungen und bringen die- se bezüglich der Angstintensität in eine hierarchische Ab- folge. Ziel ist es, für jede Hierarchiestufe eine konkrete Übung zu finden und einen verbindlichen Verstärkerplan aufzustellen. Dies ist für jedes Kind mit Trennungsangst individuell zu beurteilen. Als schwierigste Situation könn- te bspw. festgehalten werden, alleine zu bleiben, wäh- 48 Sommer K et al. Nicht ohne Dich! … PSYCH up2date 2019; 13: 39–54
Vorgehen bei der Konfrontation Coaching der Eltern ZIE L DER KO N FRO NT ATIO N T I P P F Ü R DI E P R A XI S Das Ziel der Konfrontation ist, dass Kind und Eltern Während der Therapie sollte mit den Eltern kontinu- die Erfahrungen machen können, dass angstaus- ierlich daran gearbeitet werden, die Kinder im Um- lösende Situationen ausgehalten werden können, gang mit ihrer Angst funktional zu unterstützen und ohne dass die befürchteten unangenehmen Folgen die Selbstständigkeit des Kindes zu fördern. eintreten. Beim Coaching sollen auch durch Eltern vermittelte Besonders die ersten Übungen müssen sorgfältig geplant Metabotschaften thematisiert werden (z. B. fehlendes und durchgeführt werden, da sie entscheidend für den Zutrauen in das Kind durch Überbehütung) sowie eigene weiteren Therapieverlauf sind. Eine schlecht geplante dysfunktionale Gedanken der Eltern bezüglich einer Tren- bzw. durchgeführte Konfrontationsübung kann unter nung. Besonders hilfreich zeigen sich hier Rollenspiele, in Umständen ein motiviertes Kind und motivierte Eltern denen die Eltern den Umgang mit ihrem Kind in Angst- zu einem Abbruch der Konfrontation bewegen. Die Be- situationen konkret einüben können. Hinsichtlich der Er- gleitung der ersten Übungen durch den Therapeuten ziehungskompetenzen sollte der Therapeut das Konzept Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt. stellt daher sicher, dass das Kind schnell die zu übende des autoritativen Erziehungsstils vorstellen. Dieses be- Situation aufsucht (ohne lange Diskussionen mit dem zeichnet einen Erziehungsstil, der durch hohe Wertschät- Kind vorab) und lange genug in der Situation verweilt, so- zung des Kindes und klare Regeln und Grenzen geprägt dass die Erfahrung gemacht werden kann, dass die Angst ist. Die Eltern begegnen dem Kind mit emotionaler Wär- abnimmt. me und Akzeptanz bei gleichzeitig eigener Autorität. An- hand von konkreten Beispielen wird dieser Stil in den Sit- Ganz entscheidend ist, dass die Übungen systematisch zungen und im Alltag eingeübt. und dicht genug aufeinander erfolgen – auch außerhalb der Therapie. Eine überdauernde Reduktion der Angst ist nur dann gewährleistet, wenn Habituationserfahrungen häufig und in kurzen Abständen zueinander erfolgen. FAL L B E I S P I E L Hierfür ist eine enge Unterstützung durch die Eltern not- Konfrontation wendig. Vor Beginn der Expositionsübungen stimmen Zu Beginn der Übung wird mit Simon und seiner Mutter noch ein- das Kind und die Eltern durch den Abschluss eines „Thera- mal genau der Ablauf besprochen. Simon und sein Therapeut haben pievertrags“ daher explizit zu, die Konfrontation zu unter- sich eine Situation mit mittlerer Schwierigkeit aus der Angsthierar- stützen und mit den vereinbarten Übungen einverstan- chie ausgesucht. Simons Mutter wird die Praxis für 10 Minuten ver- den zu sein. lassen, die Zeit wird mit einer Stoppuhr gestoppt. Während der Übung beobachten Simon und sein Therapeut genau die Stärke Die Übungen beginnen mit leicht bis mittel stark angst- seiner Angstsymptome auf einer Skala von 0–100. Vor der Übung auslösenden Situationen. Ziel der Konfrontationsübun- formuliert Simon seine Befürchtung („Meine Mama wird nicht wie- gen ist ein deutlicher Angstanstieg und das Verbleiben in derkommen.“). Während der Übung fragt der Therapeut immer der Situation, bis die Habituation eintritt. wieder nach der Höhe der Angstsymptomatik und wie sich diese in Gedanken und Körperempfindungen äußert. Er erinnert Simon Operante Techniken zur Motivationsförderung auch an die hilfreichen Gedanken („Ich schaff das.“). Die Angst Entscheidend für die Therapie ist zudem die Motivation steigt zunächst stark an (Angst = 100 %). Simon gibt an, starkes des Kindes. Um diese zu halten und zu fördern, sollten Herzklopfen zu haben und Angstgedanken, dass der Mutter etwas Therapiefortschritte unbedingt positiv verstärkt werden. passieren können. Mit Unterstützung seines Therapeuten schafft er Die Auswahl und Dosierung der Belohnung muss dabei es aber, in der Situation zu bleiben und bemerkt zunehmend einen gut überlegt sein und vor allem durch verbales Lob be- Abfall seiner Angst. Kurz vor Ende der Übung liegt seine Angst bei gleitet werden. Der Verstärker sollte individuell für jedes 40. Bei der Nachbesprechung überprüft Simon seine vorher geäu- Kind passend ausgewählt werden, zeitlich sofort und kon- ßerte Befürchtung und stellt fest, dass diese nicht eingetreten ist. sequent nach dem erwünschten Verhalten (z. B. Verblei- Das Aushalten der Situation wird im Anschluss neben ausgiebigem ben in der Situation trotz Angst) erfolgen. Für unter- Lob durch die vorher besprochene Belohnung (gemeinsames Spiel schiedlich große Fortschritte sollten dementsprechend mit Mutter und Therapeut) belohnt. Simon ist sichtlich stolz, die verschieden große Belohnungen erfolgen. Situation bewältigt zu haben. Sommer K et al. Nicht ohne Dich! … PSYCH up2date 2019; 13: 39–54 49
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