Nicht ohne Dich! - Störung mit Trennungsangst - Ruhr-Universität Bochum

 
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PSYCH up2date
                                                1 · 2019

Neurotische, somatoforme und Belastungsstörungen             5

                                                                 Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt.
               Nicht ohne Dich! –
               Störung mit Trennungsangst
                                       Katharina Sommer
                                       Michael W. Lippert
                                           Kathrin Schuck
                                          Silvia Schneider

 VNR: 2760512019156643213
 DOI: 10.1055/s-0043-119478
 PSYCH up2date 2019; 13 (1): 39–54
 ISSN 2194-8895
 © 2019 Georg Thieme Verlag KG
CME-Fortbildung

  Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen:
  Dissoziative Symptome und Störungen K. Priebe, C. Stiglmayr,         Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung
  C. Schmahl Heft 6/2018                                               R. Rosner, A. Nocon, M. Olff Heft 5/2013

  Anpassungsstörungen: eine schwierige Diagnose S. Schroth,            Generalisierte Angststörung J. Hoyer, J. Plag Heft 2/2013
  V. Köllner Heft 5/2018
                                                                       Pathologisches Horten und Sammeln als Erkrankung des
  Evidenzbasierte Therapie somatoformer Störungen                      Zwangsspektrums D. Schön, A. Wahl-Kordon, B. Zurowski
  M. Depping, B. Löwe Heft 2/2018                                      Heft 1/2013

  Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter S. Walitza,               Das Depersonalisations-Derealisationssyndrom M. Michal
  C. Rütter, V. Brezinka Heft 5/2017                                   Heft 1/2013

  Dermatillomanie (Skin-Picking-Störung): Diagnostik, Erklärung        Emotionsbezogene Techniken in der Psychotherapie G. Jacob,
  und Behandlung L. M. Mehrmann, A. L. Gerlach, A. Hunger              C.-H. Lammers Heft 5/2012
  Heft 4/2017

                                                                                                                                     Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt.
                                                                       Zwangsspektrumerkrankungen M. Anlauf, A. Kordon
  Spezifische Phobien A. Hamm Heft 3/2017                              Heft 3/2010

  Diagnostik somatoformer Störungen C. Lahmann, C. Allwang,            Anpassungsstörungen S. Elstner, A. Diefenbacher Heft 1/2009
  A. Dinkel Heft 5/2016
                                                                       Dissoziative Störungen K. Priebe, C. Schmahl Heft 4/2008
  EMDR in der Psychotherapie: Einsatzmöglichkeiten,
  Wirksamkeit und Begrenzungen M. Stephan Heft 4/2016                  Somatoforme Störungen und Hypochondrie R. Mewes,
                                                                       W. Rief Heft 3/2008
  Panikstörung und Agoraphobie P. Kindermann, M. Mühlberger,
  U. Voderholzer Heft 2/2016                                           Panikstörung und Agoraphobie N. Vriends, J. Margraf
                                                                       Heft 2/2008
  Pharmakotherapie bei Angsterkrankungen P. Zwanzger
  Heft 2/2016                                                          Diagnostik der Generalisierten Angststörungen T. Bär,
                                                                       M. Linden Heft 1/2008
  Die körperdysmorphe Störung: aktuelle Entwicklungen
  zu Diagnostik, Störungswissen und Therapie K. Schieber,              Soziale Phobien erkennen und behandeln K. Consbruch,
  A. Martin Heft 1/2016                                                U. Stangier Heft 4/2007

  Soziale Angststörung J. Lin, I. Struina, U. Stangier Heft 2/2014     Zwangsstörungen U. Voderholzer, A. Külz Heft 3/2007

  Störungsspezifische Therapie der Zwangsstörungen                     Posttraumatische Belastungsstörungen U. Schnyder
  U. Voderholzer, M. Müller, A. Külz Heft 1/2014                       Heft 1/2007

  Angststörungen im Kindes- und Jugendalter S. Schneider,
  S. Seehagen Heft 6/2013

     A L L ES O NL INE L E SEN                                           J E T ZT F RE I S C HA LT E N
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CME-Fortbildung

        Nicht ohne Dich! –
        Störung mit Trennungsangst
        Katharina Sommer, Michael W. Lippert, Kathrin Schuck, Silvia Schneider

        Die Störung mit Trennungsangst gehört zu den frühesten psychischen Störungen
        des Kindesalters. Ihr Verlauf ist unter den Angststörungen des Kindes- und Jugend-
        alters besonders ungünstig. Neben den Beeinträchtigungen durch die Störung
        selbst ist sie zudem ein Risikofaktor für die Entwicklung weiterer Angststörungen
        im Erwachsenenalter. Seit Erscheinen des DSM-5 kann die Störung mit Trennungs-
        angst auch im Erwachsenenalter vergeben werden.

                                                                                                                                                             Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt.
                                                                          Klassifikation der Störung
Darstellung der Störung
                                                                          Die Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-5 stellen in-
                                                                          haltlich äquivalente Kriterien zur Diagnose der Störung
                                                                          mit Trennungsangst auf. Unterschiede finden sich im Be-
    D E F I N IT I O N
                                                                          ginn der Störung: Während im DSM-5 die Störung auch
    Trennungsangst ist ein Phänomen, das sowohl als
    entwicklungsphasentypische Erscheinung in der
    „normalen“ Entwicklung als auch mit pathologischer
    Relevanz im Rahmen psychischer Störungen auf-                                H I N T E RG RU N DWI S S E N
    treten kann.
                                                                                 Beschreibung der Störung mit Trennungsangst
                                                                                 Laut DSM-5 zeichnet sich die Störung mit Trennungsangst durch
                                                                                 eine exzessive und unrealistische Angst in Erwartung oder un-
Unter der alterstypischen Trennungsangst wird die Pro-                           mittelbar bei einer Trennung von Eltern oder anderen engen
testreaktion eines Kindes bei der Trennung von der pri-                          Bezugspersonen aus. Im Rahmen dessen müssen mindestens
mären Bezugsperson verstanden. Diese beginnt typi-                               3 trennungsbezogene Auffälligkeiten hinsichtlich der kindlichen
scherweise im Alter zwischen sieben und zwölf Monaten,                           Kognitionen, des Verhaltens sowie somatischen Beschwerden
erreicht ihren Höhepunkt im Alter zwischen 15 und 18                             beschrieben werden. Diese umfassen:
Monaten und nimmt daraufhin kontinuierlich wieder ab.                            ▪ wiederkehrendes, starkes Leid bei der Trennung oder bei
Dieser Verlauf ist insofern als typisch zu bewerten, als                            Erwartung einer Trennung von einer Bezugsperson
dass er bei einem Großteil der Kinder in dieser Alters-                          ▪ anhaltende Sorge vor dem Verlust einer Bezugsperson (z. B.
gruppe über verschiedene Kulturen hinweg beobachtet                                 durch Krankheit) oder vor einem Unglück, das eine Trennung
werden kann und die Reaktion der Kinder nicht von Dauer                             von der Bezugsperson verursacht (z. B. Entführung, Unfall)
ist. Im Kontrast dazu steht die klinische Diagnose der                           ▪ beständige Angst, auszugehen (z. B. Kindergarten-, Schul-
Trennungsangst als kindliche Angststörung [1].                                      besuche oder Besuche bei Großeltern oder Freunden) oder
                                                                                    alleine in bekannter oder in fremder Umgebung zu bleiben
           Merke                                                                 ▪ Albträume von Trennungssituationen
Die wichtigsten Faktoren zur Abgrenzung entwick-                                 ▪ somatische Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen
lungsphasentypischer von pathologischen Reaktio-                                    sowie Übelkeit und Erbrechen.
nen stellen das Alter sowie der Leidensdruck dar.                                Diese Beschwerden müssen
                                                                                 1. zur Beeinträchtigungen in schulischen, beruflichen, sozialen oder
Klinisch relevante Trennungsangst wird ab dem Alter von                             anderen wichtigen Lebensbereichen führen und
etwa 3 oder 4 Jahren diagnostiziert, in dem für den Groß-                        2. mindestens einen Monat lang präsent sein.
teil der Kinder Trennungen von Bezugspersonen nur noch
                                                                                 Nicht zuletzt muss für die Diagnose sichergestellt sein, dass die
selten eine Belastung darstellen. Für eine klinische Diag-
                                                                                 Symptome des Kindes nicht besser durch andere psychische
nose ausschlaggebend ist auch, wie stark das Kind durch
                                                                                 Störungen erklärt werden können [3].
die Angst in seinem Alltag (bspw. Schul- oder Kindergar-
tenbesuch) beeinträchtigt wird.

Sommer K et al. Nicht ohne Dich! …   PSYCH up2date 2019; 13: 39–54                                                                                      39
CME-Fortbildung

                  FAL L B E I S P I E L                                           H I N T E RG RU N DWI S S E N
                  Anamnese                                                        Trennungsangst im Erwachsenenalter
                  Simon ist 10 Jahre alt und hat große Schwierigkeiten,          Seit Erscheinen des DSM-5 ist eine Diagnose der Stö-
                  alleine zu bleiben. Am Tag hält sich Simon nie alleine         rung mit Trennungsangst auch im Erwachsenenalter
                  im Zimmer auf und besucht Freunde nur in Beglei-               möglich. Bis auf die Dauer der Symptome gleichen
                  tung der Mutter. Wenn er bei den Großeltern bleiben            die Kriterien hier denen des Kindesalters: Im Gegen-
                  soll, kommt es bei der Verabschiedung zu Streit und            satz zum Kindesalter muss die Furcht, Angst oder
                  Wutanfällen, bei denen er weinend um sich schlägt.             Vermeidung bei Erwachsenen mindestens 6 Monate
                  Oft bleiben Simons Mutter oder sogar beide Eltern              lang anhalten. Während die kindliche Angst vor allem
                  deswegen zu Hause. Simon erzählt, dass er sich gro-            der Trennung von den Eltern gilt, bezieht sich die
                  ße Sorgen um seine Mutter mache. Er habe Angst,                Angst im Erwachsenenalter vorwiegend auf die Tren-
                  dass seine Eltern einen Unfall haben oder mit dem              nung vom Partner, von Familienmitgliedern oder
                  Flugzeug abstürzen könnten. Er befürchte auch, dass            Freunden.
                  Einbrecher kommen und ihn entführen könnten,                   Laut Umfragen der WHO zeigen sich bei Einbezug der
                  wenn er nicht bei den Eltern sei. Auch der Schul-              Patienten mit Trennungsangst mit Beginn im Er-
                  besuch ist für Simon schwierig. Vor allem montags              wachsenenalter Lebenszeitprävalenzen von 4,8 %.
                  beklagt er starke Bauchschmerzen und Übelkeit. An              Der Beginn der Erkrankung lag in 43,1 % der Fälle

                                                                                                                                                           Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt.
                  Tagen, an denen er die Schule besucht, lässt er sich           nach dem 18. Lebensjahr. In etwa 75 % der Fälle mit
                  nicht selten abholen. Simons Mutter ist sehr besorgt           Beginn in der Kindheit lag das Erkrankungsalter noch
                  um ihren Sohn, sodass sie sich an diesen Tagen frei-           vor dem 10. Lebensjahr [4].
                  nimmt und sich intensiv um ihn kümmert. Besuche                Die 12-Monats-Prävalenz im Erwachsenenalter liegt
                  bei Ärzten ergaben keinerlei somatische Erklärungen            in den USA bei 0,9–1,9 %. Wie auch bei der Störung
                  für Simons Beschwerden.                                        mit Trennungsangst im Kindesalter zeigen sich ko-
                  Nachts kommt Simon häufig ins Bett der Eltern we-              morbid häufig andere Angststörungen sowie depres-
                  gen starker Albträume. In letzter Zeit kam es zuneh-           sive Störungen. Bei Trennungsangst mit Beginn im
                  mend zu Streit zwischen den Eltern, da vor allem sein          Erwachsenenalter sind komorbid komplizierte Trauer
                  Vater das Eheleben immer mehr als gefährdet erlebt.            und PTBS zu betrachten, da die späte Entwicklung
                  Auch Simon ist unglücklich, da er in der Klasse den            der Störung nicht selten im Zusammenhang mit dem
                  Anschluss an seine Freunde verliert, da er sich weder          Verlust von nahen Angehörigen steht [5].
                  verabreden, noch an der Klassenfahrt teilnehmen
                  kann.

               im Erwachsenenalter vergeben werden kann, sieht das             Epidemiologie und Verlauf
               ICD-10 einen Beginn der Trennungsangst vor dem 6. Le-           Mit einem Erstauftrittsgipfel von ca. 7 Jahren zeigt die
               bensjahr vor [2].                                               Störung unter den Angststörungen im Kindes- und Ju-
                                                                               gendalter den frühsten Beginn, tritt vorwiegend vor der
               Gerade die körperlichen Beschwerden geben den Eltern            Pubertät auf und nimmt mit zunehmendem Altersverlauf
               häufig Anlass zur Sorge. Sie sollten medizinisch abgeklärt      wieder ab.
               werden, sind jedoch meist im Rahmen der Trennungs-
               angst zu erklären. So kann man häufig beobachten, dass                     Merke
               die berichteten Beschwerden nachlassen oder gar nicht           Etwa 3 % der Kinder leiden an einer Störung mit Tren-
               erst auftreten, wenn die Kinder die gefürchtete Situation       nungsangst. Jungen und Mädchen sind gleich häufig
               vermeiden können.                                               betroffen.

               Zum Schutz des Kindes vermeiden Eltern infolge dessen           Häufig bilden Kinder mit einer Störung mit Trennungs-
               häufig selbst Trennungssituationen und schicken so              angst darüber hinaus auch weitere Störungen aus; dabei
               bspw. das Kind nicht in die Schule oder den Kindergarten        zeigt sich vor allem eine hohe Komorbidität mit anderen
               oder aber bleiben bei Treffen mit Freunden bei ihnen.           Angststörungen. Etwa ein Drittel der Kinder mit Störung
               Dies reduziert zwar kurzfristig die Angst des Kindes, ist je-   weist außerdem Depressionen und etwa ein Fünftel eine
               doch langfristig ein aufrechterhaltender Faktor der Stö-        ADHS oder Störung mit oppositionellem Trotzverhalten
               rung.                                                           auf [6]. Längsschnittlich haben Kinder mit Trennungs-
                                                                               angst im Erwachsenenalter ein erhöhtes Risiko zur Ent-
                                                                               wicklung einer Panikstörung und/oder Agoraphobie [7].

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Zudem findet sich in retrospektiven Studien mit erwach-              und Verhaltensweisen des Elternteils dysfunktionale Ko-
senen Trennungsangst-Patienten eine höhere Wahr-                     gnitionen (z. B. „Die Welt ist nicht sicher.“) und kognitive
scheinlichkeit für Persönlichkeitsstörungen (Cluster C),             Verzerrungen (z. B. „Es droht Gefahr.“) sowie vermeiden-
sofern sie bereits in der Kindheit Trennungsangst aufwie-            de Problemlösestrategien des Elternteils („Es ist besser,
sen [8].                                                             als Kind nicht allein zu sein.“).

Nicht zuletzt gibt es bei jungen Erwachsenen mit der                             Merke
Diagnose einer Trennungsangst in der Kindheit Hinweise               Das Kind erwirbt über unterschiedliche Lernprozesse
auf schlechtere gesundheitliche Konditionen wie chro-                überdauernde psychologische Merkmale, die sein
nische Erkrankungen oder Übergewicht [9].                            Risiko für die Entwicklung der Trennungsangst er-
                                                                     höhen.

Modelle zur Ätiologie                                                Aufrechterhaltende Faktoren
In der Literatur werden die Angststörungen häufig als Ge-            Kommen nun kritische normative und/oder individuelle
samtheit betrachtet, sodass Angaben für spezifische                  Entwicklungs-/Lebensereignisse (z. B. Fremdeln, Kinder-
Angststörungen nicht immer möglich sind. Erste explizite             garteneintritt, Verlust eines Elternteils) als auslösende
Modelle zur Trennungsangst:                                          Faktoren hinzu, kann es bei anstehenden Trennungssitua-
▪ das „Modell zur Entwicklung und Aufrechterhaltung                  tionen zu einem Aufschaukelungsprozess kommen, der

                                                                                                                                         Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt.
    von Trennungsangst“ [1] sowie                                    zu einer massiven Erregung und Angst führt, die nur
▪ die „Suffocation False Alarm Hypothese“ [10]                       durch das Vermeiden oder Verlassen der Trennungssitua-
                                                                     tion aufgelöst werden kann. Dabei nehmen verschiedene
Modell zur Entwicklung und Aufrechterhaltung                         Faktoren wie die Art der Situation, die aktuelle Befindlich-
von Trennungsangst                                                   keit des Kindes oder des Elternteils Einfluss auf den Auf-
Das ätiologische Modell bietet einen umfassenden An-                 schaukelungsprozess.
satz zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung
der Störung mit Trennungsangst. In diesem Modell wird                           Merke
davon ausgegangen, dass die Entwicklung und Aufrecht-                Das Modell betont, dass der Aufschaukelungsprozess
erhaltung der Störung nur durch die Interaktion von                  nicht nur beim Kind, sondern auch bei dem
Merkmalen der Eltern und des Kindes zu verstehen ist.                anwesenden Elternteil stattfindet.
Im Sinne eines Diathese-Stress-Modells unterscheidet
das Modell zwischen stabilen und überdauernden Merk-                 Typischerweise beginnt der Prozess mit dysfunktionalen
malen aufseiten des Kindes und der Eltern, auslösenden               Gedanken des Elternteils (z. B. „Mein Kind ist noch zu
Faktoren und aufrechterhaltenden Faktoren für die Stö-               jung, um diesen Schritt zu tun.“) oder des Kindes (z. B.
rung mit Trennungsangst.                                             „Ich kann das nicht.“), denen körperliche Symptome fol-
                                                                     gen (Elternteil: Herzklopfen, Schwitzen, Kind: Bauch-
Bedingungsfaktoren                                                   schmerzen, schnelles Atmen). Sowohl das Elternteil als
Ausgangspunkt dieses Modells ist die elterliche psy-                 auch das Kind erleben emotionalen Stress, entwickeln
chische Befindlichkeit, die neben genetischen Faktoren               Angst und versuchen, mit dysfunktionalen Copingstrate-
insbesondere die Ausprägung elterlicher psychopatholo-               gien auf die Angst zu reagieren. So versuchen die Eltern
gischer Symptome, allgemeiner Selbstwirksamkeits-                    mit viel Zureden und durch wiederholtes Fragen wie z. B.
erwartung und psychischer Gesundheit umfasst.                        „Meinst Du, Du schaffst das?“ oder „Es wird bestimmt
                                                                     nichts passieren.“, das Kind zu beruhigen. Das Kind ver-
Diese Variablen prägen die kindliche Vulnerabilität. So-             sucht, durch Anklammern an das Elternteil die anstehen-
wohl die elterliche Befindlichkeit als auch die Vulnerabili-         de Trennung zu verhindern. Die dysfunktionalen Gedan-
tät des Kindes bestimmen die Qualität und Quantität der              ken von Eltern und Kind nehmen zu und werden qualitativ
Kognitionen und Verhaltensweisen der Eltern gegenüber                immer bedrohlicher. Körpersymptome und Angst ver-
ihrem Kind. Diese bilden die frühesten impliziten und ex-            stärken sich und auch das dysfunktionale Coping nimmt
pliziten Lernerfahrungen des Kindes. So führt etwa eine              zu. Die Angst bei Eltern und Kind wird so massiv, dass Ver-
überdauernde negative emotionale Befindlichkeit eines                meidung oder Verlassen der Trennungssituation die ein-
Elternteils (z. B. durch Angst- und depressive Symptome)             zige Lösung scheint.
und auch eine von den Eltern bereits früh wahrgenom-
mene erhöhte Verletzlichkeit des Kindes zu dysfunktiona-
len Gedanken bezüglich des eigenen Kindes (z. B. „Mein
Kind ist sehr sensibel und bedarf besonderen Schutzes.“).
Dies prägt wiederum einen Erziehungsstil, der durch
Überfürsorglichkeit und hohe Kontrolle charakterisiert
ist. Das Kind übernimmt durch ängstliche Instruktionen

Sommer K et al. Nicht ohne Dich! …   PSYCH up2date 2019; 13: 39–54                                                                  41
CME-Fortbildung

                                                                             Studien zeigten, dass Kinder, die eine stabile behaviorale
                  T I P P F Ü R DI E P R A XI S                              Inhibition aufwiesen, häufiger an einer Angststörung er-
                  Durch die Vermeidung oder das Verlassen der Situa-         krankten. In Bezug zur elterlichen Psychopathologie zeig-
                  tion kommt es kurzfristig zu einer emotionalen Ent-        ten verschiedene Studien, dass Kinder von Eltern mit
                  lastung bei Eltern und Kind, mittel- und langfristig       einer Angststörung häufiger eine hohe Ausprägung von
                  führt dieses Verhalten jedoch dazu, dass die Risiko-       behavioraler Inhibition zeigten [11].
                  merkmale von Kind und Eltern weiter gefestigt wer-
                  den und die Trennungsangst des Kindes sich immer                     Merke
                  weiter manifestiert.                                       Auch die Art der Bindung beeinflusst eine vorhan-
                                                                             dene Prädisposition für eine Angsterkrankung.

               Empirische Belege – bedingende Faktoren                       In einer prospektiven Längsschnittstudie zeigte sich, dass
               Erste empirische Unterstützung erfährt das Modell durch       ein unsicher/widersetzender Bindungsstil in der Kindheit
               verschiedene Studien aus dem Bereich der Entwicklungs-        das Risiko für eine Angststörung im Alter von 18 Jahren
               psychologie, Entwicklungspsychopathologie und Kli-            verdoppelte. Diverse Studien im Kontext kindlicher Psy-
               nischen Kinder- und Jugendpsychologie. Eine detaillierte      chopathologie schlagen hier eine Brücke zwischen elter-
               Zusammenschau inklusive der Originalquellen ist im ak-        licher Psychopathologie und dem Bindungsverhalten. So
               tuellen Kapitel von Lavallee und Schneider zu finden [6].     wiesen bspw. Studien auf mangelnde Responsivität und

                                                                                                                                                        Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt.
                                                                             weniger Feinfühligkeit bei depressiven Müttern gegen-
               Elterliche Psychopathologie                                   über ihren Kindern hin [12]. Für Mütter mit einer Border-
               Gut untersucht ist die familiale Transmission der Störung     line-Persönlichkeitsstörung ergaben sich Hinweise auf
               mit Trennungsangst. Bereits eine Reihe von Studien un-        weniger feinfühliges und hoch kontrollierendes Interak-
               terstützt die Annahme des Zusammenhangs elterlicher           tionsverhalten, was wiederum mit unsicherer Bindung
               Psychopathologie mit der Störung mit Trennungsangst           und dysfunktionaler Emotionsregulation des Kindes asso-
               im Kindesalter. So zeigten bisherige Untersuchungen           ziiert ist [13].
               eine erhöhte Prävalenz von Trennungsangst bei Kindern,
               deren Eltern an einer Panikstörung, einer Major Depres-       Erziehungsstil und elterliche Kognitionen
               sion, einer Agoraphobie oder einer sozialen oder spezi-       Die Rolle der Eltern-Kind-Interaktion und des Erziehungs-
               fischen Phobie erkrankt waren. Darüber hinaus wurde           stils in Familien mit einem ängstlichen Kind oder einem
               nachgewiesen, dass mütterliche Angst im 9. Lebensjahr         ängstlichen Elternteil ist ebenfalls in Form von Fragebo-
               des Kindes die Entwicklung einer Trennungsangst im            generhebungen und auch von Verhaltensbeobachtungen
               11. Lebensjahr vorhersagte.                                   vielfach untersucht worden. Hinsichtlich des Zusammen-
                                                                             hangs elterlichen Erziehungsverhaltens und der Genese
               Vulnerabilität                                                von Ängsten zeigt die aktuelle Studienlage, dass Kinder
               In der Vermittlung zwischen der elterlichen Psychopatho-      mit Angststörungen ihre Familien als weniger akzeptie-
               logie und einer möglichen Pathologie des Kindes werden        rend und Autonomie gewährend, weniger kontaktfreudig
               verschiedene Mechanismen vermutet, welche die Vulne-          und unterstützend sowie konfliktreicher erlebten als Kin-
               rabilität des Kindes bedingen. Im Fokus stehen hier die El-   der ohne Angststörungen. Außerdem gibt es Hinweise
               tern-Kind-Bindung und das Temperament des Kindes. In          darauf, dass Eltern von Kindern mit Angststörungen so-
               mehreren Querschnittsuntersuchungen konnten bereits           wie Eltern mit einer Angststörung mehr Ablehnung und
               Assoziationen zwischen behavioraler Inhibition als Tem-       Kontrolle in der Interaktion mit ihren Kindern aufwiesen
               peramentsmerkmal und verschiedenen Angststörungen             im Vergleich zu Müttern in der Kontrollgruppe. Neben
               im Kindes- und Jugendalter aufgezeigt werden.                 der elterlichen Kontrolle und dem geringen Ausmaß an
                                                                             „Autonomiegewährung“ zeigte zudem exzessives „Über-
                                                                             engagement“ einen signifikanten Zusammenhang mit
                  D E F I N IT I O N                                         kindlicher Angst.
                  Behaviorale Inhibition
                                                                             Hinsichtlich der Untersuchung der Richtung dieser korre-
                  Unter behavioraler Inhibition versteht man ein
                                                                             lativen Zusammenhänge geben neuere Längsschnitt-
                  zurückgezogenes und scheues Verhalten in neuen,
                                                                             und experimentelle Studien erste Hinweise, dass ein Er-
                  unvertrauten Situationen, das mit hoher sympathi-
                                                                             ziehungsstil, der durch hohe Überfürsorglichkeit und
                  scher Erregung einhergeht.
                                                                             Kontrolle gekennzeichnet ist, das Ausmaß der Angst des
                                                                             Kindes vorhersagt. Basierend auf diesen Befunden ver-
                                                                             muten verschiedene Autoren, dass frühe Erfahrungen
                                                                             von Überfürsorge und hoher elterlicher Kontrolle bei Kin-
                                                                             dern die Sichtweise prägen, die Welt als bedrohlich wahr-
                                                                             zunehmen. Der Aufbau von Selbstwirksamkeit sowie die

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Entwicklung des Gefühls von Kontrolle werden hierdurch               bung von klassischen und operanten Konditionierungs-
behindert, was wiederum das Risiko erhöht, eine Angst-               prozessen. So beschreibt die Zwei-Faktoren-Theorie von
störung zu entwickeln.                                               Mowrer im ersten Schritt einen Erwerb der Angst durch
                                                                     klassische Konditionierung: Eine zunächst neutrale Situa-
Mit Blick auf die elterlichen Kognitionen konnte bereits             tion, wie z.B das Alleine-zu-Hause-Bleiben wird durch die
gezeigt werden, dass Eltern von Kindern mit Trennungs-               Paarung mit aversivem Erleben, wie z. B. große Angst und
angst eine geringere Selbstwirksamkeit hinsichtlich der              Sorge aufgrund von Verspätung der Eltern, negativ be-
eigenen Erziehungskompetenzen aufweisen als Eltern                   setzt. Im zweiten Schritt greifen operante Lernmechanis-
von Kindern mit sozialer Phobie oder ohne psychische                 men: Die Situation wird zukünftig vermieden. Somit ent-
Störung (z. B. „Mutter bzw. Vater zu sein, macht mich                fällt das negative Erleben (negative Verstärkung). Gleich-
ängstlich und angespannt.“). Dieselbe Studie zeigte auch,            zeitig kann es auch dazu kommen, dass die Eltern sich
dass Eltern von Kindern mit einer Angststörung mehr dys-             aufgrund der Angst mehr oder intensiver mit dem Kind
funktionale Gedanken bezüglich ihres Kindes aufweisen                beschäftigen (positive Verstärkung durch Aufmerksam-
als Eltern von Kindern ohne psychische Störungen (z. B.              keit) [16].
„Wenn mein Kind unglücklich ist, habe ich versagt.“).
                                                                     Erste Hinweise auf störungsspezifische Aufschaukelungs-
Modelllernen/Instruktionslernen                                      prozesse, die aus der Interaktion von elterlichen und
Andy Field konnte in einer Reihe von kreativen Studien               kindlichen Kognitionen resultieren, finden sich in einer

                                                                                                                                       Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt.
zeigen, dass Ängste bei Kindern durch Instruktionslernen             Studie von Kossowsky und Kollegen. Hier konnte gezeigt
vermittelt werden können. Die Arbeitsgruppe zeigte Kin-              werden, dass – im Vergleich zu einer klinischen Kontroll-
dern im Alter von 7–9 Jahren 2 Puppen, die sie vorher                gruppe anderer Angststörungen – nur Trennungsangst-
noch nie gesehen hatten. Die Kinder bekamen dann ent-                Patienten auf eine Trennungssituation mit einer erhöhten
weder in Form eines Videos oder einer erzählten Ge-                  autonomen Aktivität reagieren und dass die Trennungs-
schichte positive oder negative Informationen über die               angst-Kinder signifikant häufiger die Situation abbrechen
Puppen. Die positiven Informationen veränderten die Be-              wollen.
wertungen der Puppen nicht. Die negativen Informatio-
nen sorgten für eine bedrohlichere Wahrnehmung der                   Es bleibt jedoch ersichtlich, dass Bedingungsfaktoren bis-
Puppen ausschließlich dann, wenn sie in der erzählten                her deutlich stärker im Fokus der Forschung lagen als auf-
Geschichte vermittelt wurden, vor allem dann, wenn die               rechterhaltende Faktoren, sodass weitere Forschung not-
Geschichten von Erwachsenen erzählt wurden.                          wendig ist, um diese Lücke zu schließen.

           Merke                                                     Suffocation-False-Alarm-Hypothese
Die Eltern vermitteln ein wichtiges Bild für die Kinder              Die „Trennungsangst-Hypothese der Panikstörung“ be-
im Umgang mit bedrohlichen Situationen und                           zieht sich auf die Ähnlichkeiten zwischen Kindern mit
nehmen Einfluss auf die kindlichen Verhaltensweisen                  Trennungsangst und Erwachsenen mit Panikstörung. Als
und Kognitionen [14].                                                biologischer Mechanismus hinter beiden Störungen wird
                                                                     angenommen, dass die bei Panikpatienten beobachteten
Eine Studie zur Untersuchung der kindlichen Kognitionen              Atemunregelmäßigkeiten auf überempfindliche CO2-
zeigte so eindrücklich kognitive Verzerrungen hinsicht-              Sensoren zurückzuführen sind [10]. Der Wert des arte-
lich der Bewertung der Bedrohlichkeit von Situationen                riellen CO2-Drucks (pCO2) beeinflusst die Atemsteue-
bei Kindern, deren Eltern an einer Panikstörung erkrankt             rung: Eine Zunahme des pCO2 führt zu einer Steigerung
waren, im Vergleich zu Kindern gesunder Eltern [15].                 der Atemtätigkeit. Die erhöhte CO2-Empfindlichkeit wur-
                                                                     de zunächst als Risikofaktor für die Panikstörung ange-
Auslöser                                                             nommen und wurde dann auch mit der Störung mit Tren-
Die dargestellten Faktoren stellen erste Bedingungen für             nungsangst in der Kindheit in Verbindung gebracht.
die Entwicklung einer Störung mit Trennungsangst dar,
deren Ausmaß und Interaktion es zu betrachten gilt.                  Einige Studien zur Untersuchung von Atemanomalien ha-
Nichtsdestotrotz bedarf das Wissen um konkrete Aus-                  ben Unterschiede zwischen Kindern mit gemischten
löser der Störung mit Trennungsangst weiterer For-                   Angstgruppen, einschließlich Trennungsangst, und nicht
schung, z. B. mit Blick auf Resilienzfaktoren.                       ängstlichen Kindern gefunden. Störungsspezifische Un-
                                                                     terschiede in der Atmung konnten jedoch in einer Studie,
Empirische Belege für Aufrechterhaltung                              in der speziell Kinder mit Trennungsangst mit Kindern mit
Bezüglich der Aufrechterhaltung von Trennungsangst                   anderen Angststörungen und Kindern ohne psychische
gibt es erstaunlich wenig Forschung. Allgemeine Modelle              Störungen verglichen wurden, nicht reproduziert wer-
zur Aufrechterhaltung von Angststörungen können aller-               den. Somit können die vorliegenden Befunde bei Kindern
dings auch auf die Störung mit Trennungsangst ange-                  mit Trennungsangst die von Klein aufgestellte „Suffoca-
wendet werden. Im Vordergrund steht hier die Beschrei-               tion-False-Alarm-Hypothese“ nicht bestätigen. Insge-

Sommer K et al. Nicht ohne Dich! …   PSYCH up2date 2019; 13: 39–54                                                                43
CME-Fortbildung

               samt scheinen die Reaktionen auf Veränderungen des           So hat bspw. bei dem ersten Kontakt das Kind noch Kör-
               pCO2-Wertes bei Kindern mit Trennungsangst viel weni-        perkontakt zur Bezugsperson im Gespräch mit dem The-
               ger ausgeprägt als bei Patienten mit Panikstörung.           rapeuten. Im nächsten Schritt führt das Kind das Ge-
                                                                            spräch mit dem Therapeuten, ohne dabei Körperkontakt
                                                                            zur Bezugsperson zu haben. Danach bleibt die Bezugsper-
               Diagnostik                                                   son mit im Raum, sitzt aber nicht unmittelbar neben dem
               Für eine sichere Diagnostik der Störung mit Trennungs-       Kind. Im letzten Schritt sitzt dann die Bezugsperson wäh-
               angst ist es wichtig, verschiedene Methoden und Aus-         rend des Gesprächs vor der Tür und wartet.
               kunftsquellen zu kombinieren. Hierfür sollten diagnosti-
               sche Interviews, Fragebögen sowie Verhaltensbeobach-         Fragebögen
               tungen parallel eingesetzt werden. Neben der Explora-        Eine gute Möglichkeit zur Ergänzung der Diagnostik mit-
               tion der aktuellen Symptomatik sollten dabei auch ihre       hilfe von Interviews bieten Fragebögen. Hier sind vor al-
               aufrechterhaltenden und auslösenden Bedingungen so-          lem das Trennungsangst-Vermeidungsinventar (TAVI,
               wie ggf. komorbide psychische Störungen erfragt wer-         [18]), der „Childhood Anxiety Sensitivity Index“ (CASI,
               den.                                                         [19]) sowie der „Basler Bilder-Angst-Test“ [20]) bereits
                                                                            gut etabliert (▶ Tab. 1).
                         Cave
               Aufgrund der starken körperlichen Beschwerden des            Familiendiagnostik

                                                                                                                                                        Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt.
               Kindes darf eine gründliche organische Differenzial-         Aufgrund der besonderen Bedeutung familiärer Merk-
               diagnostik nicht vergessen werden.                           male empfiehlt sich der Einbezug der Eltern in Diagnostik
                                                                            und Therapie. Dabei sollten diese nicht nur zur Explora-
               Erfahrungsgemäß zeigt sich, dass der Bericht der Eltern      tion der Symptome der Kinder mit einbezogen werden.
               und der des behandelnden Arztes zur Ursache der soma-
               tischen Beschwerden nicht übereinstimmen muss. Diese
               Diskrepanz ist von großer Bedeutung für die weitere The-        T I P P F Ü R DI E P R A XI S
               rapie und sollte daher immer geprüft und thematisiert           In der diagnostischen Phase sollte auch das Vorliegen
               werden.                                                         elterlicher Angst und der Umgang der Eltern mit den
                                                                               gegebenenfalls vorliegenden eigenen Angstsympto-
               Idealerweise durchlaufen Familien mit betroffenen Kin-          men exploriert werden. Leiden die Eltern ebenfalls an
               dern folgende Schritte:                                         einer Angsterkrankung, sollte diesen eine eigene Be-
               ▪ gemeinsames Erstgespräch mit Eltern und Kind, für ei-         handlung zur Unterstützung der Therapie des Kindes
                  nen Überblick über die Problematik sowie Aufklärung          nahegelegt werden.
                  über den Verlauf der Therapie
               ▪ Differenzialdiagnostik mithilfe eines strukturierten In-
                  terviews, jeweils separat mit Eltern bzw. Kind (z. B.     Darüber hinaus empfiehlt sich auch die Erfassung wei-
                  Kinder-DIPS‑OA, [17])                                     terer familiärer Merkmale, wie z. B. der Identifikation von
               ▪ medizinische Differenzialdiagnostik zum Ausschluss         Dynamiken innerhalb der Familienmitglieder. Eine gute
                  organischer Ursachen                                      diagnostische Ergänzung bietet hier der „Familienidentifi-
               ▪ Einsatz von Fragebögen und evtl. Tagebüchern, in de-       kationstest“ zur Erfassung des Ausmaßes der Identifika-
                  nen schwierige Situationen und Symptome sowie             tion der Familienmitglieder miteinander sowie der Selbst-
                  mögliche Bewältigungsversuche protokolliert werden        kongruenz des Kindes (FIT, [21]).
               ▪ Problemanalyse zur Erfassung der auslösenden und
                  aufrechterhaltenden Bedingungen                           Das „subjektive Familienbild“ gibt zudem einen Eindruck
                                                                            der emotionalen Valenz innerhalb der Familie (wie wohl
               Insbesondere bei jüngeren Kindern mit Trennungsangst         fühlt sich das Kind gegenüber dem Vater/der Mutter)
               kann es zunächst schwierig sein, mit dem Kind alleine        und der Autonomie (wie autonom fühlt sich das Kind ge-
               das diagnostische Gespräch zu führen. Manche Kinder          genüber dem Vater/der Mutter, den einzelnen Familien-
               weigern sich oder weinen, wenn sie mit dem Therapeu-         mitgliedern) (SFB, [22]).
               ten alleine im Therapieraum verbleiben sollen. In solchen
               Fällen werden die ersten Sitzungen nur dazu genutzt, das     In der Regel reicht eines dieser Verfahren aus, um not-
               Kind an die neue Situation und den Therapeuten zu ge-        wendige Informationen zur familiären Struktur zu erhal-
               wöhnen.                                                      ten.

                          Merke
               Zu Beginn kann es notwendig sein, die Eltern im
               Gespräch dabeizuhaben, wobei die Anwesenheit der
               Eltern Schritt für Schritt abgebaut wird.

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▶ Tab. 1 Überblick über diagnostische Fragebögen.

    Test            Inhalt                                     Alter   Skala                          Beispiel-Items
    TAVI            Schweregrad Vermeidungs-                   5–16    0 = nie                        Ich vermeide …
                    verhalten des Kindes in                            1 = selten                     ▪ alleine zu Hause zu sein.
                    Trennungssituationen                               2 = die Hälfte der Zeit        ▪ allein in den Kindergarten/die Schule zu
                    Selbst- und Fremdbeurteilung                       3 = meistens                     gehen.
                                                                                                      ▪ alleine zu Freunden/Freundinnen zu gehen.
                                                                       4 = immer
    CASI            Erfassung der Angstsensitivität            8–17    1 = nie                        ▪ Ich möchte nicht, dass andere Menschen es
                    (syn. Angst vor der Angst)                         2 = manchmal                     merken, wenn ich mich ängstlich fühle.
                                                                       3 = häufig                     ▪ Wenn ich mich nicht auf meine Schulauf-
                                                                                                        gaben konzentrieren kann, befürchte ich,
                                                                                                        verrückt zu werden.
                                                                                                      ▪ Es macht mir Angst, wenn ich mich zittrig
                                                                                                        fühle.
    B‑BAT           Dimensionale Erfassung von                 4–8     4 Punkte Skala:                ▪ Präsentation von Bildern, auf denen das
                    Ängstlichkeit und Vermeidung                       0 = keine Angst/Vermeidung       Modellkind Angstsymptome zeigt oder nicht
                                                                       3 = starke Angst/Vermeidung)   ▪ Auswahl eines Bildes durch das Kind nach
                                                                                                        Ähnlichkeit des Modells zum Kind selbst

                                                                                                                                                         Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt.
Verhaltensbeobachtung                                                      Soziale Phobie/soziale Angststörung
Hilfreich ist zudem, dass der Therapeut die Möglichkeit                    Auch Kinder und Jugendliche mit sozialer Phobie verwei-
bekommt, das beschriebene Problemverhalten selbst zu                       gern teilweise den Schulbesuch. Der Grund hierfür ist je-
beobachten. Das gibt die Möglichkeit, berichtete Auffäl-                   doch ein anderer: Kinder mit einer sozialen Phobie fürch-
ligkeiten zu validieren und darüber hinaus aufrechterhal-                  ten die Bewertung durch andere. Sie haben Angst, sich zu
tende Faktoren zu identifizieren.                                          blamieren oder etwas Peinliches zu sagen. Typische ge-
                                                                           fürchtete Situationen von sozialphobischen Kindern sind
            Merke                                                          vor anderen sprechen, sich in der Schule melden, der Be-
Neben einer direkten Beobachtung von Trennungs-                            such eines Kindergeburtstages, u. v. a. m. Anders als für
situationen sind auch Video- oder Audioaufzeichnun-                        Kinder mit Trennungsangst verschwindet für sozialphobi-
gen hilfreich.                                                             sche Kinder die Angst vor Bewertung nicht durch das Bei-
                                                                           sein der Bezugsperson.
So werden etwa die Eltern von einem Kind mit der Angst,
alleine einzuschlafen, in Abhängigkeit von der Woh-                        Generalisierte Angststörung
nungssituation gebeten, eine Videokamera, einen Audio-                     Die Ängste und Sorgen von Kindern mit Trennungsangst
rekorder oder das Smartphone z. B. im Schlafzimmer des                     beziehen sich überwiegend auf die Trennung von zu Hau-
Kindes zu Beginn der Zubettgeh-Situation einzuschalten                     se oder von den Hauptbezugspersonen. In Abgrenzung
und die Aufnahme erst zu beenden, wenn das Kind einge-                     hierzu berichten Kinder mit generalisierter Angststörung
schlafen ist. Die Video- bzw. Audioaufzeichnung wird in                    über eine Vielzahl von Sorgen und Ängsten, die sich auf
der nächsten Sitzung gemeinsam mit den Eltern ana-                         Situationen und Lebensbereiche beziehen wie Unpünkt-
lysiert. Hier reicht es meist aus, wenn mehrere Ausschnit-                 lichkeit, sich richtig verhalten zu haben, gut genug in der
te von wenigen Minuten (z. B. erste Aufforderung an das                    Schule oder im Sport zu sein oder genug Freunde zu ha-
Kind, ins Bett zu gehen, erster und zweiter Versuch des                    ben.
Elternteils, das Kinderschlafzimmer zu verlassen etc.) ge-
meinsam diskutiert werden.                                                 Störung des Sozialverhaltens
                                                                           Jugendliche mit einer Störung des Sozialverhaltens ver-
Differenzialdiagnose                                                       weigern, ähnlich wie Kinder mit einer Störung mit Tren-
Neben der ausführlichen Exploration der Symptome ist                       nungsangst, den Schulbesuch. Im Unterschied zu tren-
für die Abgrenzung von anderen Störungen wichtig, die                      nungsängstlichen Kindern, die zu Hause in der Nähe der
zentralen Befürchtungen des Kindes oder Jugendlichen                       Bezugsperson bleiben möchten, wollen Jugendliche je-
währen einer Trennungssituation zu erfassen. Diese bie-                    doch die Zeit mit Freunden verbringen oder durch die Ge-
ten Hilfestellung, die Trennungsangst von anderen mög-                     gend ziehen. Des Weiteren gehören eindeutige Verstöße
lichen Ängsten des Kindes- und Jugendalters abzugren-                      gegen gesellschaftliche Regeln und Normen, wie etwa
zen.                                                                       Ladendiebstahl, Gewalt gegen andere oder Ähnliches,
                                                                           zum Erscheinungsbild der Störung des Sozialverhaltens,

Sommer K et al. Nicht ohne Dich! …   PSYCH up2date 2019; 13: 39–54                                                                                  45
CME-Fortbildung

               die Kinder mit Störung mit Trennungsangst nicht aufwei-      eigenen Bewältigungsmöglichkeiten. Neben dem Abbau
               sen.                                                         von Angst im engeren Sinne steht im Fokus, die Auto-
                                                                            nomie und Selbstwirksamkeitsüberzeugung des Kindes
               Agoraphobie/Panikstörung                                     zu stärken. Die Kinder werden „stark gemacht“, um
               Bei Kindern und Jugendlichen mit Trennungsangst kön-         schwierige Situationen und Probleme anzugehen und zu
               nen anstehende Trennungen zu starker Angst und Panik-        lösen.
               anfällen führen. Im Unterschied zur Panikstörung und
               Agoraphobie bezieht sich die Angst des trennungsängst-       Eine Reihe neuer verhaltenstherapeutischer Programme
               lichen Kindes auf die Trennung von der Bezugsperson          betont vor allem die Bedeutung familiärer Aspekte und
               oder von zu Hause. Die Befürchtung im Rahmen einer Pa-       bezieht die Eltern deutlich in die Behandlung des Kindes
               nikstörung bezieht sich hingegen auf das Auftreten eines     mit ein. Im Fokus stehen hier Veränderungen des Erzie-
               Panikanfalls und seiner Folgen („Ich könnte sterben/um-      hungsstils sowie Coaching in der Modellrolle bei angst-
               fallen/erbrechen.“). Ein weiterer Unterschied zur Panik-     auslösenden Situationen. Bisherige Forschungsergebnis-
               störung besteht darin, dass die Panikanfälle immer im        se zeigen jedoch keine Vorteile, aber auch keine Nachtei-
               Kontext von drohenden Trennungssituationen entstehen         le des Elterneinbezuges im Vergleich zur reinen Psycho-
               und nicht aus heiterem Himmel.                               therapie von Angststörungen bei Kindern [23, 24].

                                                                                                                                                        Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt.
                                                                               T I P P F Ü R DI E P R A XI S
                  FAL L B E I S P I E L                                        Speziell für die Behandlung der Störung mit Tren-
                  Diagnostik                                                   nungsangst liegt erst ein empirisch überprüftes ver-
                  Nachdem Simon vermehrt in der Schule gefehlt hat             haltenstherapeutisches Behandlungsprogramm vor:
                  und die Eltern sich auch durch die Lehrerin zuneh-           Das „Trennungsangstprogramm für Familien“ [25].
                  mend unter Druck gesetzt fühlen, suchen sie zum              Das TAFF ist ein Programm für Kinder im Alter von
                  wiederholten Male den Kinderarzt auf, um Simons              4–13 Jahren und ihre Eltern.
                  Beschwerden abzuklären. Dieser legt ihnen eine Be-
                  handlung bei einem Kinder- und Jugendlichenpsy-
                                                                            Trennungsangstprogramm für Familien
                  chotherapeuten nahe. Das Erstgespräch findet mit
                  allen dreien gemeinsam statt. In der zweiten Sitzung      Das „TAFF“ ist auf insgesamt 16 Sitzungen ausgelegt. Da-
                  schafft es Simon, mit der Therapeutin alleine in den      von werden 4 Sitzungen mit dem Kind alleine, 4 Sitzun-
                  Therapieraum zu gehen. Seine Mutter muss ihm aber         gen mit den Eltern alleine und 8 Sitzungen gemeinsam
                  mehrfach zusichern, im Wartezimmer auf ihn zu             mit Kind und Eltern gestaltet. In den ersten 4 Sitzungen
                  warten. Im Rahmen der Diagnostik wird mit der             steht die Psychoedukation sowie die Vorbereitung auf
                  Mutter sowie mit Simon das Kinder-DIPS durch-             die Umsetzung neuer Strategien im Alltag im Vorder-
                  geführt. Bei Simon wird dies aufgrund der Dauer in        grund.
                  2 Sitzungen aufgeteilt. In beiden strukturierten
                  Interviews zeigt sich, dass die Diagnose der Tren-        Inhaltlich sind die ersten 4 Kind- bzw. Elternsitzungen
                  nungsangst sowohl nach Elternurteil als auch Bericht      sehr ähnlich. Um jedoch eine kindgerechte und auf die
                  des Kindes erfüllt ist. Auch die zusätzliche Diagnostik   kindlichen Bedürfnisse angepasste Psychoedukation und
                  mit störungsübergreifenden (CASI) sowie störungs-         Vorbereitung auf die Exposition gewährleisten zu kön-
                  spezifischen Fragebögen (TAVI) zeigt deutliche Auf-       nen, wurden die ersten 4 Sitzungen des Programms für
                  fälligkeiten im Bereich der Angstsymptomatik.             Eltern und Kind separat konzipiert. Großer Wert wurde
                                                                            dabei auf kindgerechte Therapiematerialien gelegt, die
                                                                            ohne Lesefertigkeiten vom Kind genutzt werden kön-
                                                                            nen.

               Therapie                                                     Kind-Sitzungen
               In den letzten Jahren hat die Verhaltenstherapie bei         Psychoedukation
               Angststörungen im Kindes- und Jugendalter eine enorme        Das Kind wird über normale und pathologische Angst
               Entwicklung durchlaufen. Während die ersten Behand-          aufgeklärt. Anhand von anschaulichen Bildmaterialien
               lungsbeschreibungen in enger Anlehnung an lerntheore-        werden ihm die 3 Komponenten der Angst (Körpersymp-
               tische Überlegungen den Fokus auf die „Umkonditionie-        tome, Gedanken, Verhalten), Ätiologie und Aufrecht-
               rung“ angstauslösender Reize und Löschung der Angst-         erhaltung der Trennungsangst erklärt. Entscheidend ist
               reaktion richteten, thematisieren neuere Programme           hier das Prinzip des „geleiteten Entdeckens“. Die Inhalte
               bspw. auch kognitive Aspekte der Angst, wie die Befürch-     werden in kindgerechter Weise und Dosierung gemein-
               tungen und Bewertungen des Kindes bezüglich der              sam mit dem Kind erarbeitet und dem Kind wird die Mög-
               angstauslösenden Situation oder seine Einschätzung der       lichkeit gegeben, eigene Symptome der Angst, Befürch-

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tungen und Bewältigungsstrategien in der Theorie wie-                Im Folgenden sollen diese Übungserfahrungen auf die
derzufinden.                                                         Trennungsangst des Kindes übertragen werden und das
                                                                     Vermeidungsverhalten als Angstverstärker identifiziert
TAFF-Gedanken                                                        werden. Der Therapeut sollte sorgfältig nachfragen, ob
Im nächsten Schritt lernt das Kind seine „Panikgedan-                das Kind schon ansatzweise Habituationserfahrungen in
ken“, welche die Angst in Trennungssituationen verstär-              Trennungsangst-Situationen sammeln konnte. Mit dem
ken, zu identifizieren und zu korrigieren. Dem Kind wird             Kind erarbeitet er zudem, dass die Angst immer schlim-
erläutert, wie Gedanken, Gefühle und Verhalten mit-                  mer wird, wenn man sie vermeidet und sich ihr nicht
einander zusammenhängen. Nach der Identifizierung,                   stellt.
Überprüfung und Modifikation der angstauslösenden Ge-
danken werden mit dem Kind TAFF-Gedanken und                                      Merke
Selbstinstruktionen erarbeitet, die helfen sollen, die               Ziel ist es, dem Kind zu vermitteln, dass man auch die
angstauslösenden Situationen zu bewältigen. Selbst-                  Angstbewältigung üben kann.
instruktionen zur Steigerung der Selbstwirksamkeit kön-
nen z. B. mit dem Kind auf Karteikärtchen geschrieben                Die kognitive Vorbereitung schließt mit dem Resümee ab,
werden, die es in angstauslösenden Situationen bei sich              dass man die Angst nur bewältigen kann, wenn man re-
tragen kann. Beispiele für solche Selbstinstruktionen                gelmäßig übt, der Angst zu begegnen („Wie sonst kann
sind: „Ich bin mutig!“ oder „Ich bin stark!“ Unterstützend           ich merken, dass nichts Schlimmes passiert?“).

                                                                                                                                          Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt.
können hier auch Mut machende Figuren (z. B. Pippi
Langstrumpf) oder Objekte (z. B. „Mutstein“) eingesetzt              Eltern-Sitzungen
werden.                                                              Trennung als Entwicklungsaufgabe
                                                                     Die Eltern werden über das Störungsbild der Trennungs-
Ziel aller Strategien ist es, die Selbstwirksamkeitsüber-            angst informiert und mit dem Konzept der Entwicklungs-
zeugung des Kindes zu fördern.                                       aufgaben vertraut gemacht. Es wird erläutert, dass die
                                                                     Ausbildung von Angststörungen als Folge einer nicht be-
Vorbereitung auf die Konfrontation                                   wältigten Entwicklungsaufgabe verstanden werden kann.
Zum Abbau der Vermeidung von Trennungssituationen                    So ist etwa denkbar, dass die nicht bewältigte Entwick-
werden mit dem Kind Konfrontationsübungen in vivo ge-                lungsaufgabe „Aufbau von Autonomie“ (ab dem Alter
plant.                                                               von etwa 3 Jahren), die Entwicklung einer Störung mit
                                                                     Trennungsangst begünstigt. Es wird verdeutlicht, dass
            Cave                                                     die erfolgreiche Bewältigung von Trennungen von Be-
Bedingung für die Durchführung der Konfrontation                     zugspersonen als wichtiger Meilenstein in der Entwick-
ist eine sorgfältige Vorbereitung des Kindes.                        lung eines Kindes zu betrachten ist.

Die Konfrontation in vivo sollte nur durchgeführt werden,
wenn Eltern und möglichst auch das Kind explizit zustim-                T I P P F Ü R DI E P R A XI S
men. Anhand von Angstverlaufskurven wird das Rational                   Viele Eltern sind erleichtert, wenn der Therapeut
der Konfrontationsbehandlung vorgestellt.                               herausstellt, dass Trennungen schmerzvoll und
                                                                        schwierig sein können, das Kind aber gleichzeitig
Dabei ist es sinnvoll, auf individuelle Habituationserfah-              an der erfolgreichen Bewältigung solcher Aufgaben
rungen des Kindes zurückzugreifen. Jedes Kind hat die Er-               wächst und an Selbstbewusstsein gewinnt.
fahrung gemacht, dass neue Fertigkeiten erworben wer-
den können bzw. Aufregung und Angst verschwinden,
wenn man die Gelegenheit nutzt zu üben. Sei es das                   Dysfunktionale Gedanken der Eltern
Schwimmen, Fahrradfahren oder Schreiben lernen oder                  Die Bearbeitung dysfunktionaler Gedanken der Eltern in
auch sich in einer neuen Gruppe von Kindern mit der Zeit             Bezug auf das Kind nimmt im TAFF-Programm eine zentra-
wohler zu fühlen; das Gemeinsame dieser Situationen                  le Rolle ein. Unter dysfunktionalen Gedanken der Eltern
war das regelmäßige Üben. Mithilfe des geleiteten Ent-               werden alle die Annahmen und Befürchtungen der Eltern
deckens wird das Kind systematisch nach solchen Erfah-               verstanden, die die Eltern daran hindern, das Kind in der
rungen befragt und es wird herausgearbeitet, dass                    Auseinandersetzung mit seiner unangemessenen Angst
„Übung den Meister macht“. Es ist für Therapeuten oft                zu unterstützen und es in seiner Autonomieentwicklung
erstaunlich zu sehen, wie bereits 5 Jahre alte Kinder über           behindern. Beispiele für solche Gedanken sind: „Ich bin
solche Übungserfahrungen detailliert berichten und von               eine schlechte Mutter/ein schlechter Vater, wenn ich mein
sich aus formulieren, dass das Üben zum Erfolg geführt               Kind in dieser Situation allein lasse“, „Ich bin schuld, dass
hat.                                                                 mein Kind ängstlich ist“ oder „Ich darf mein Kind nicht so
                                                                     leiden lassen“; „Mein Kind wird durch zu starke Angst trau-
                                                                     matisiert und für immer Schaden nehmen“.

Sommer K et al. Nicht ohne Dich! …   PSYCH up2date 2019; 13: 39–54                                                                   47
CME-Fortbildung

               Im Gespräch mit den Eltern werden die dysfunktionalen
               Gedanken systematisch auf ihren Realitätsgehalt über-            FAL L B E I S P I E L
               prüft und korrigiert. Es werden alternative Gedanken er-        Therapie
               arbeitet (z. B. „Das Bewältigen der Angst wird mein Kind         Zu Beginn der Therapie ist die Familie erleichtert zu
               stärken und selbstbewusster machen“), die den Eltern             hören, dass 3 % der Kinder unter einer Trennungs-
               helfen sollen, im späteren Teil der Therapie das Kind bei        angst leiden. Gemeinsam erarbeiten Simon und sein
               der Durchführung der Konfrontationsübungen adäquat               Therapeut, warum Menschen Angst haben und wann
               zu unterstützen.                                                 Angst vielleicht zu viel ist. Mithilfe des 3-Komponen-
                                                                                ten-Modells von Angst finden sie heraus, dass Simon
               Vorbereitung auf die Konfrontation
                                                                                in Erwartung einer Trennungssituation vor allem kör-
               Anhand von Angstverlaufskurven und aufbauend auf                 perliche Symptome belasten. Außerdem habe er Ge-
               lerntheoretischen Ansätzen zur Entstehung und Auf-               danken wie „Meine Eltern könnten bei einem Auto-
               rechterhaltung von Ängsten wird auch in den Elternsit-           unfall sterben“. Auf der Verhaltensebene beobachten
               zungen das Rational für die Konfrontation eingeführt.            sie, dass sich seine Angst typischerweise in Weinen
               Die grafische Darstellung des Angstverlaufs hat sich da-         und Betteln, dass die Eltern doch zu Hause bleiben
               bei als sehr hilfreich erwiesen. Anhand der Angstverlaufs-       sollen, zeigt. Mithilfe einer Lernerfahrung, in der Si-
               kurven kann gezeigt werden, dass die Angst kontinuier-           mon seine Angst und Nervosität überwinden konnte
               lich abnimmt, je häufiger die angstauslösende Situation          (Schwimmen Lernen) und dem Vergleich mit einer

                                                                                                                                                          Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt.
               geübt wird. Des Weiteren kann herausgearbeitet werden,           Trennungssituation, wird mit Simon das Konfrontati-
               dass Vermeidungsverhalten die Angst nur kurzfristig re-          onsrational erarbeitet. Dysfunktionale Angstgedan-
               duziert, jedoch mittel- und langfristig diese aufrecht-          ken werden hilfreichen, Mut fördernden Gedanken
               erhält und verstärkt. So wird ein Kind, das es vermeidet,        gegenübergestellt, wie z. B. „Meine Eltern sind im-
               zur Geburtstagsfeier eines Freundes zu gehen, bei der            mer wieder gekommen, sie werden auch dieses Mal
               nächsten Einladung wieder Angst verspüren, da die Er-            wiederkommen“.
               fahrung ausbleibt, dass der Geburtstagsbesuch keine Be-
                                                                               Mit den Eltern werden ihre eigenen Gedanken in
               drohung darstellt.
                                                                               einer Trennungssituation exploriert. Vor allem Si-
                                                                               mons Mutter äußert Sorgen, ihren Sohn mit seiner
                                                                               Angst zu konfrontieren. Sie beschreibt Schuldgefühle
                  T I P P F Ü R DI E P R A XI S
                                                                               bei dem Gedanken, ihren Sohn mit seiner Angst al-
                  Den Eltern sollte vor der Konfrontation mitgeteilt
                                                                               leine zu lassen. Daher wird das Konfrontationsrational
                  werden, dass Flucht und Vermeidungsverhalten
                                                                               im Detail diskutiert und besprochen, dass die Unter-
                  verhindert werden, weil man dem Kind helfen
                                                                               stützung des Vermeidungsverhaltens zur Aufrecht-
                  möchte, die Angst auszuhalten und letztendlich
                                                                               erhaltung von Simons Ängsten beiträgt. Außerdem
                  zu bewältigen.
                                                                               wird erklärt, dass die Konfrontationsübungen Simon
                                                                               die Möglichkeit geben können, sich in einer Angst-
                                                                               situation kompetent zu erleben.
               Der Therapeut erarbeitet gemeinsam mit den Eltern
               Möglichkeiten für einen hilfreichen Umgang mit der Tren-
               nungsangst des Kindes. Ziel ist es, der Angstsymptomatik
               des Kindes verständnisvoll und sensibel zu begegnen.
               Konkret werden hilfreiche Strategien zur Unterstützung
               des Kindes diskutiert und im Rollenspiel umgesetzt. Den
               Eltern wird vermittelt, mutiges, angstbewältigendes Ver-      rend die Eltern einkaufen, oder das Übernachten bei
               halten zu verstärken, ängstliches Verhalten jedoch nicht      einem Freund. Ein Beispiel für eine mittelschwere Übung
               weiter zu beachten.                                           ist die Verabschiedung der Mutter aus der Praxis für einen
                                                                             klar definierten Zeitraum.
               Eltern-Kind-Sitzungen
               Angsthierarchie                                                          Merke
               In der ersten gemeinsamen Sitzung mit Kind und Eltern         Wichtig ist, das Aufsuchen der Angstsituation sowie
               sammeln sie mit Unterstützung des Therapeuten Angst-          das Ertragen der Angst zu honorieren.
               situationen für die Expositionsübungen und bringen die-
               se bezüglich der Angstintensität in eine hierarchische Ab-
               folge. Ziel ist es, für jede Hierarchiestufe eine konkrete
               Übung zu finden und einen verbindlichen Verstärkerplan
               aufzustellen. Dies ist für jedes Kind mit Trennungsangst
               individuell zu beurteilen. Als schwierigste Situation könn-
               te bspw. festgehalten werden, alleine zu bleiben, wäh-

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Vorgehen bei der Konfrontation                                       Coaching der Eltern

    ZIE L DER KO N FRO NT ATIO N                                        T I P P F Ü R DI E P R A XI S
    Das Ziel der Konfrontation ist, dass Kind und Eltern                Während der Therapie sollte mit den Eltern kontinu-
    die Erfahrungen machen können, dass angstaus-                       ierlich daran gearbeitet werden, die Kinder im Um-
    lösende Situationen ausgehalten werden können,                      gang mit ihrer Angst funktional zu unterstützen und
    ohne dass die befürchteten unangenehmen Folgen                      die Selbstständigkeit des Kindes zu fördern.
    eintreten.

                                                                     Beim Coaching sollen auch durch Eltern vermittelte
Besonders die ersten Übungen müssen sorgfältig geplant               Metabotschaften thematisiert werden (z. B. fehlendes
und durchgeführt werden, da sie entscheidend für den                 Zutrauen in das Kind durch Überbehütung) sowie eigene
weiteren Therapieverlauf sind. Eine schlecht geplante                dysfunktionale Gedanken der Eltern bezüglich einer Tren-
bzw. durchgeführte Konfrontationsübung kann unter                    nung. Besonders hilfreich zeigen sich hier Rollenspiele, in
Umständen ein motiviertes Kind und motivierte Eltern                 denen die Eltern den Umgang mit ihrem Kind in Angst-
zu einem Abbruch der Konfrontation bewegen. Die Be-                  situationen konkret einüben können. Hinsichtlich der Er-
gleitung der ersten Übungen durch den Therapeuten                    ziehungskompetenzen sollte der Therapeut das Konzept

                                                                                                                                                    Heruntergeladen von: Universität Bochum. Urheberrechtlich geschützt.
stellt daher sicher, dass das Kind schnell die zu übende             des autoritativen Erziehungsstils vorstellen. Dieses be-
Situation aufsucht (ohne lange Diskussionen mit dem                  zeichnet einen Erziehungsstil, der durch hohe Wertschät-
Kind vorab) und lange genug in der Situation verweilt, so-           zung des Kindes und klare Regeln und Grenzen geprägt
dass die Erfahrung gemacht werden kann, dass die Angst               ist. Die Eltern begegnen dem Kind mit emotionaler Wär-
abnimmt.                                                             me und Akzeptanz bei gleichzeitig eigener Autorität. An-
                                                                     hand von konkreten Beispielen wird dieser Stil in den Sit-
Ganz entscheidend ist, dass die Übungen systematisch                 zungen und im Alltag eingeübt.
und dicht genug aufeinander erfolgen – auch außerhalb
der Therapie. Eine überdauernde Reduktion der Angst ist
nur dann gewährleistet, wenn Habituationserfahrungen
häufig und in kurzen Abständen zueinander erfolgen.                     FAL L B E I S P I E L
Hierfür ist eine enge Unterstützung durch die Eltern not-               Konfrontation
wendig. Vor Beginn der Expositionsübungen stimmen                       Zu Beginn der Übung wird mit Simon und seiner Mutter noch ein-
das Kind und die Eltern durch den Abschluss eines „Thera-               mal genau der Ablauf besprochen. Simon und sein Therapeut haben
pievertrags“ daher explizit zu, die Konfrontation zu unter-             sich eine Situation mit mittlerer Schwierigkeit aus der Angsthierar-
stützen und mit den vereinbarten Übungen einverstan-                    chie ausgesucht. Simons Mutter wird die Praxis für 10 Minuten ver-
den zu sein.                                                            lassen, die Zeit wird mit einer Stoppuhr gestoppt. Während der
                                                                        Übung beobachten Simon und sein Therapeut genau die Stärke
Die Übungen beginnen mit leicht bis mittel stark angst-                 seiner Angstsymptome auf einer Skala von 0–100. Vor der Übung
auslösenden Situationen. Ziel der Konfrontationsübun-                   formuliert Simon seine Befürchtung („Meine Mama wird nicht wie-
gen ist ein deutlicher Angstanstieg und das Verbleiben in               derkommen.“). Während der Übung fragt der Therapeut immer
der Situation, bis die Habituation eintritt.                            wieder nach der Höhe der Angstsymptomatik und wie sich diese
                                                                        in Gedanken und Körperempfindungen äußert. Er erinnert Simon
Operante Techniken zur Motivationsförderung
                                                                        auch an die hilfreichen Gedanken („Ich schaff das.“). Die Angst
Entscheidend für die Therapie ist zudem die Motivation                  steigt zunächst stark an (Angst = 100 %). Simon gibt an, starkes
des Kindes. Um diese zu halten und zu fördern, sollten                  Herzklopfen zu haben und Angstgedanken, dass der Mutter etwas
Therapiefortschritte unbedingt positiv verstärkt werden.                passieren können. Mit Unterstützung seines Therapeuten schafft er
Die Auswahl und Dosierung der Belohnung muss dabei                      es aber, in der Situation zu bleiben und bemerkt zunehmend einen
gut überlegt sein und vor allem durch verbales Lob be-                  Abfall seiner Angst. Kurz vor Ende der Übung liegt seine Angst bei
gleitet werden. Der Verstärker sollte individuell für jedes             40. Bei der Nachbesprechung überprüft Simon seine vorher geäu-
Kind passend ausgewählt werden, zeitlich sofort und kon-                ßerte Befürchtung und stellt fest, dass diese nicht eingetreten ist.
sequent nach dem erwünschten Verhalten (z. B. Verblei-                  Das Aushalten der Situation wird im Anschluss neben ausgiebigem
ben in der Situation trotz Angst) erfolgen. Für unter-                  Lob durch die vorher besprochene Belohnung (gemeinsames Spiel
schiedlich große Fortschritte sollten dementsprechend                   mit Mutter und Therapeut) belohnt. Simon ist sichtlich stolz, die
verschieden große Belohnungen erfolgen.                                 Situation bewältigt zu haben.

Sommer K et al. Nicht ohne Dich! …   PSYCH up2date 2019; 13: 39–54                                                                             49
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