Niedriglohnfalle Minijob - Nomos eLibrary
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aufsätze wsi mit teilungen 1/ 2012 Niedriglohnfalle Minijob Minijobs prägen die Arbeitszeit- und Beschäftigungsmuster auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Mittlerweile ist hierzulande jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis ein Minijob. Der im europäischen Vergleich hohe Anteil dieser steuer- und abgaben- rechtlich speziell regulierten Beschäftigungsform ist mit Folgekosten verbunden. Sie entstehen auf individueller Ebene, weil Minijobs per se keine ausreichend materielle und soziale Sicherung begründen. In Verbindung mit einer verbreiteten gesetzeswidrigen Anwendung im Betrieb wird der Minijob in der Regel zur Niedrig lohnfalle, weshalb die Ausbreitung und Verfestigung des Niedriglohnsektors auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht zuletzt auf den hohen Anteil von Minijobs zurück zuführen ist. DOROTHEA VOSS, CL AUDIA WEINKOPF geltenden Rechts – also für die Gleichbehandlung von ge- 1. Einleitung ringfügig Beschäftigten – gibt. Auch aus diesem Grund wird abschließend die These vertreten, dass die negativen Folge- Minijobs haben eine Sonderstellung im deutschen Beschäf- wirkungen für die meist weiblichen Beschäftigten in gering- tigungssystem: Bis zur Einkommensgrenze von 400 € ent- fügigen Beschäftigungsverhältnissen sowie die Absenkung richten Beschäftigte keine Steuern und Abgaben an die von sozialen Standards auf dem gesamten Arbeitsmarkt am sozialen Sicherungssysteme. Im Gegenzug erwerben sie im ehesten durch eine Beseitigung der steuer- und abgaben- Minijob keine bzw. kaum eine eigenständige soziale Absi- rechtlichen Sonderstellung von Minijobs verhindert werden cherung. Jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis (20,8 %) auf können. dem deutschen Arbeitsmarkt ist mittlerweile ein Minijob. Bei starkem Wachstum dieser Beschäftigungsform seit der Reform im Jahr 2003 verteilen sich die insgesamt knapp 7,4 Mio. Minijobs auf 4,93 Mio. ausschließlich und 2,45 Mio. im Nebenjob ausgeübte geringfügige Beschäftigungsver- 2. D er besondere Status der hältnisse (Angaben für Dezember 2010: Bundesagentur für geringfügigen Beschäftigung Arbeit 2011). In diesem Beitrag steht die Funktion von Minijobs in Das geringfügige Beschäftigungsverhältnis wurde mit dem der Beschäftigungspolitik von Unternehmen im Vorder- Sozialgesetzbuch IV im Jahre 1971 eingeführt und sah grund. Auf Basis empirischer Ergebnisse wird gezeigt, dass schon damals die bis heute gültige und damit konstitutive Minijobs in vielen Unternehmen die Funktion einer „Exit- Steuer- und Abgabenfreiheit bis zu einer bestimmten Ein- Option“ haben, weil gesetzlich und kollektivvertraglich fi- kommensgrenze vor. Obwohl es bereits in den 1980er und xierte Standards für die Arbeitswelt unterlaufen werden. 90er Jahren eine Reihe von Gesetzentwürfen seitens der Dass der Minijob in der Regel zur Niedriglohnfalle gewor- SPD gab, die in einer kritischen Perspektive eine Reform den ist, zeigt sich darin, dass im Jahr 2009 fast 90 % der der geringfügigen Beschäftigung anmahnten – etwa geringfügig Beschäftigten Stundenlöhne unterhalb der Niedriglohnschwelle bezogen. Eine Analyse der Interessen- konstellationen auf betrieblicher Ebene veranschaulicht, Freigrenzen in der Sozialversicherung gab es allerdings dass es wenig Verbündete für eine wirksame Durchsetzung bereits in der Weimarer Republik (Knospe 2007, S. 9). © WSI Mitteilungen 2012 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2012-1-5 Diese Datei und ihr Inhalt sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Verwertung (gewerbliche Vervielfältigung, Aufnahme 5 in elektronische Datenbanken, Veröffentlichung Generiert onlineam durch IP '46.4.80.155', oder offline) sind 13.11.2021, nicht gestattet. 06:57:05. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
aufsätze in dem Antrag zur „Verbesserung der Arbeits- und Lebens- müssen sich geringfügig Beschäftigte einen Minijob auch bedingungen von Frauen durch Abschaffung der gering- „leisten“ können, weil ein maximales Einkommen von fügigen Beschäftigung“ (Deutscher Bundestag 1989) oder 400 € im Minijob weder Existenz sichernd ist noch eigen- im Gesetzentwurf „zur Beseitigung des Missbrauchs der ständige Ansprüche in der gesetzlichen Kranken- und Pfle- Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung“ (Deut- geversicherung, der Arbeitslosenversicherung und nur ge- scher Bundestag 1994) – wurde die geringfügige Beschäf- ringe Ansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung tigung erst in der ersten Legislaturperiode der rot-grünen aufgebaut werden. Oftmals beziehen ausschließlich gering- Bundesregierung im Jahre 1999 reformiert. Mit der Re- fügig Beschäftigte die soziale Sicherung über abgeleitete form wurde angestrebt, die geringfügige Beschäftigung Ansprüche in der Ehe oder vom Sozialstaat, wenn aufsto- statistisch besser zu erfassen und in die Finanzierung der ckende Leistungen beantragt werden (vgl. Bäcker/Neuffer sozialen Sicherungssysteme teilweise mit einzubeziehen, sowie Dingeldey et al. in diesem Heft). Jedoch sind Minijobs ohne dass dadurch Belastungen für die ausschließlich ge- auch in sogenannten prekär-diskontinuierlichen Erwerbs- ringfügig Beschäftigten entstehen sollten. Eine weitere verläufen verbreitet, also bei denen, die sich eine Erwerbs- Zielsetzung bestand darin, „die Ausweitung dieser Be- tätigkeit im Minijob materiell und sozial eigentlich nicht schäftigung mittelfristig einzudämmen“ (Deutscher Bun- leisten können, aber keine Alternative auf dem Arbeits- destag 1999, S. 10). markt vorfinden (vgl. Klenner/Schmidt in diesem Heft). Mit der neuerlichen Reform im Jahre 2003 wurde eine Vergleichbare monetäre Anreize wie für die Beschäf- politische Kehrtwende vollzogen. Nun stand nicht mehr die tigten mit Minijobs sieht die gesetzliche Regulierung für Eindämmung der geringfügigen Beschäftigung auf der po- Arbeitgeber nicht vor. Ihre Abgabenquote für Minijobs litischen Agenda, sondern in den nun als „Minijobs“ be- liegt seit Mitte 2006 bei etwa 30 % des Monatsentgeltes zeichneten geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen wur- und damit deutlich höher als für sozialversicherungs- de die Chance gesehen, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren pflichtige Beschäftigung (etwa 21 %). Auch mit Blick auf und Anreize für die Aufnahme einer Beschäftigung auch arbeitsrechtliche und kollektivvertragliche Regelungen im unteren Einkommensbereich zu schaffen (Deutscher bietet die geringfügige Beschäftigung – de jure – den Ar- Bundestag 2003). Vor diesem Hintergrund wurden mehre- beitgebern keine Vorteile, denn die in diesem Erwerbs- re Änderungen beschlossen, die auf eine Ausweitung der status Beschäftigten sind entsprechend dem Benachteili- Minijobs zielten: So wurde die Geringfügigkeitsgrenze von gungsverbot von Teilzeitbeschäftigten der sozialversiche- 325 € auf 400 € angehoben, die bis dahin geltende Arbeits- rungspflichtigen Beschäftigung gleichgestellt und haben zeitbegrenzung auf maximal 15 Wochenstunden wurde somit einen Anspruch darauf, bei der Entlohnung gegen- ersatzlos gestrichen und die erst 1999 eingeführte Steuer- über sozialversicherungspflichtig Teilzeit- bzw. Vollzeit- und Abgabenpflicht für geringfügige Nebenjobs wieder ab- beschäftigten nicht diskriminiert zu werden. Hinsicht- geschafft. lich der Personal- bzw. Lohnnebenkosten ist daher zu konstatieren, dass die Regulierung der geringfügigen Be- 2.1 Anreize für Beschäftigte und Unternehmen schäftigung eher negative Anreize für Arbeitgeber setzt, weshalb der starke Anstieg der geringfügigen Beschäfti- Für Beschäftigte besteht durch die Befreiung von Steuern gung von rund 5,5 Mio. auf 7,4 Mio. im Zeitraum 2003- und Sozialversicherungsabgaben ein monetärer Anreiz zur 2010 aus Arbeitgebersicht auf den ersten Blick nicht er- Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung. Allerdings klärbar scheint. Seit der ersatzlosen Streichung der Arbeitszeitbegrenzung Seit Juli 2006 entrichten Arbeitgeber in der geringfügigen von 15 Wochenstunden im Minijob ist nun theoretisch Beschäftigung 15 % Abgaben an die gesetzliche Rentenver- möglich, dass ein Minijob bei sehr geringem Stundenlohn sicherung (GRV), 13 % an die gesetzliche Krankenversiche- auch als Vollzeittätigkeit ausgeübt wird. Auswertungen mit rung (GKV) und 2 % pauschale Lohnsteuer. In der sozialver- dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) zeigen, dass die sicherungspflichtigen Beschäftigung sind die entsprechen- vertragliche Arbeitszeit im Minijob im Jahr 2008 im Durch- den Abgaben 9,95 % an die GRV, 7,3 % an die GKV, 1,5 % schnitt bei 12,8 Wochenstunden lag, weshalb der Minijob an die Arbeitslosenversicherung, 0,975 % an die Pflegever- in der Regel als kurze Teilzeitbeschäftigung ausgeübt wird sicherung und 1,6 % an die Unfallversicherung. (Weinkopf 2011, S. 19). Der auf europäischer Ebene vereinbarte Grundsatz „pro Geringfügig Beschäftigte erwerben durch die Sozialversiche- rata temporis“ ist in der Richtlinie 97/81/EG des Europäi- rungsabgaben der Arbeitgeber geringe Ansprüche in der ge- schen Rates festgeschrieben. Diese Richtlinie ist durch das setzlichen Rentenversicherung (GRV). Es besteht zudem die Teilzeit- und Befristungsgesetz, insbesondere das Verbot Möglichkeit, die Rentenbeiträge im Minijob freiwillig auf den der Diskriminierung (TzBfG §4) in geltendes deutsches allgemeinen Rentenversicherungsbeitrag von 19,9 % aufzu- Recht umgesetzt worden. stocken, um höhere Rentenansprüche zu erwerben. Von dieser Möglichkeit machen jedoch nur rund 5 % der Minijob- Beschäftigten Gebrauch (Minijobzentrale 2011, S. 12). 6 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2012-1-5 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 13.11.2021, 06:57:05. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
wsi mit teilungen 1/ 2012 2.2 Verzerrungen auf dem Arbeitsmarkt rung durchaus als „Spielregel“ für Akteure in dem relevan- durch die Regulierung der geringfügigen ten gesellschaftlichen Feld angesehen werden (vgl. North Beschäftigung 1990) – in der Anwendung der Minijob-Regulierung her- ausgebildet, die von den gesetzlichen Vorgaben deutlich Der steuer- und abgabenrechtliche Sonderstatus von Mini- abweichen. jobs führt in mehrfacher Hinsicht zu Verzerrungen auf dem Solchen Diskrepanzen zwischen der Regulierungs- und Arbeitsmarkt: Erstens wird durch die Anreize für Beschäf- Anwendungsebene wird in Studien jüngeren Datums ver- tigte, eine geringfügige Beschäftigung anzunehmen, die ge- mehrt Aufmerksamkeit gewidmet. Artus (2010, S. 323) schlechtsspezifische Verteilung des gesamtwirtschaftlichen schlussfolgert auf Basis ihrer Untersuchungen zu industri- Arbeitszeitvolumens beeinflusst. Der in Deutschland im eu- ellen Beziehungen in sogenannten peripheren Wirtschafts- ropäischen Vergleich hohe Anteil von Frauen in kurzen segmenten, dass „Institutionenregeln und konkrete Akteurs Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen wird durch die Minijob- praktiken […] als nur bedingt verkoppelte Phänomene Regulierung geradezu künstlich aufrechterhalten und gedacht werden (müssten)“. In Untersuchungen über For- zementiert (vgl. Voss-Dahm 2011). Nicht nur vor dem men des institutionellen Wandels wurde herausgearbeitet, Hintergrund demografischer Entwicklungen ist kritisch zu dass regelwidriges Verhalten von Akteuren oftmals die Ur- hinterfragen, ob eine Regelung zeitgemäß ist, die dazu mo- sache für Veränderungen und Verschiebungen im Beschäf- tiviert, das Arbeitsvermögen mehrheitlich qualifizierter tigungssystem ist (Streeck/Thelen 2005). Die Diskrepanz Frauen quasi „stillzulegen“ – mit allen negativen Folgen für kann sich auch durch sogenannte Exit-Optionen vergrößern. deren materielle und soziale Absicherung. Auch die Arbeits- Exit-Optionen sind de jure oder de facto existierende Aus- zeitlücke zwischen Männern und Frauen, die in Deutsch- nahmetatbestände bzw. Regelungslücken in einem ansons- land im Jahr 2009 gemessen in Vollzeitäquivalenten 21,5 % ten weitgehend regulierten Beschäftigungssystem (Bosch et betrug, wird durch die Minijob-Regulierung konserviert al. 2010, S. 114ff.). In einem international vergleichenden (Sachverständigenkommission 2011, S. 92). Folgerichtig Projekt zu niedrig entlohnten Tätigkeiten wurden Exit-Op- kommt die Sachverständigenkommission zur Erstellung des tionen insbesondere in den Ländern identifiziert, für die ein Ersten Gleichstellungsberichts der Bundesregierung (ebd. S. dichtes Netz aus gesetzlichen Regelungen und korporatisti- 135) zu dem Urteil, dass die „gegenwärtige Minijobstrategie scher Interessenregulierung typisch ist (Gautié/Schmitt […] aus der Perspektive der Geschlechtergleichstellung […] 2010). In Deutschland sind derartige Exit-Optionen durch als desaströs“ zu bezeichnen ist. Zweitens kommt es zu Ver- Minijobs dieser Analyse zufolge gegeben. Exit-Optionen zerrungen auf dem Arbeitsmarkt, weil es bei hohen Anteilen können von untergeordneter Bedeutung für das Gesamtsys- von Minijobs insbesondere in einigen Dienstleistungsbran- tem bleiben. Sofern sie aber auf eine starke Bedarfs- oder chen gerade für diejenigen relativ schwerer wird, eine Be- Interessenlage treffen – sei es, weil Unternehmen eine schäftigung zu finden, die aufgrund des Haushaltskontexts Möglichkeit sehen, Wettbewerbsdruck zu reduzieren, auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ange- oder auch, weil Beschäftigte Abgaben sparen können –, wiesen sind bzw. es ablehnen, ohne eigenständige soziale können sie zu Auslösern kleinerer oder größerer Damm- Sicherung bzw. nur für ein geringes Monatseinkommen er- brüche werden, die den eigentlich vorgesehenen institutio- werbstätig zu sein. Und drittens werden steuer- und abga- nellen Rahmen brüchig machen und in deren Folge sich die benpflichtige Überstunden gegenüber den im Minijob als Angebots- und Nachfrageverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt Nebentätigkeit steuer- und abgabenfrei geleisteten Arbeits- nach anderen Regeln als den politisch intendierten abspielen stunden diskriminiert. Es ist also ökonomisch rational, Ar- (vgl. Sengenberger 1987, S. 268). beitsstunden im Nebenjob statt Überstunden im Hauptjob zu leisten, was arbeitsmarkt- und sozialpolitisch schwerlich 3.1 Niedrige Entlohnung im Minijob zu begründen ist (Bäcker 2007, S. 121). Entsprechend des Benachteiligungsverbots von Teilzeitbe- schäftigten haben geringfügig Beschäftigte Anspruch auf die gleichen Bruttostundenlöhne wie in einer vergleichba- ren sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Es gibt 3. Der Minijob als Exit-Option jedoch zahlreiche Hinweise darauf, dass hiervon in der Pra- in der betrieblichen Praxis xis abgewichen wird: Nach Auswertungen des Statistischen Bundesamtes verdienten geringfügig beschäftigte Empirische Untersuchungen zeigen eine Diskrepanz zwi- schen der Regulierungsebene und ihrer Anwendung in der betrieblichen Praxis: Trotz des gesetzlich fixierten Verbots, (geringfügig) Teilzeitbeschäftigte mit Blick auf Entlohnung Im Vergleich von 19 europäischen Ländern war im Jahr 2008 nur in den Niederlanden der Anteil der Frauen, die und gesetzlich verbriefte soziale Rechte zu diskriminieren, weniger als 20 Wochenstunden erwerbstätig waren, mit haben sich in der Unternehmenspraxis „Spielregeln“ – und 31,2 % höher als in Deutschland mit 20,8 % aller Frauen in in einem institutionalistischen Verständnis kann Regulie- diesem Arbeitszeitintervall (Lehndorff et al. 2010, S. 21 ff.). https://doi.org/10.5771/0342-300X-2012-1-5 7 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 13.11.2021, 06:57:05. 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aufsätze ABB. 1 schäftigten. Betrachtet man allerdings nur die Beschäftigten in Minijobs, dann ist festzustellen, dass mehr als drei Vier- Abhängig Beschäftigte nach Stundenlohnstufen* tel (76,4 %) weniger als 8,50 € pro Stunde verdienen. � unter 5 € � 5,00 € bis 5,99 € � 6,00 bis 6,99 € � 7,00 bis 7,99 € � 8,00 bis 8,49 € Derart deutliche Befunde von Lohndifferenzen zwi- schen geringfügig und sozialversicherungspflichtig Be- schäftigten verlangen insbesondere deshalb eine Erklärung, Niedriglohn-Schwelle: Ost 7,03 € West 9,76 € weil sie weder auf die Regulierung der geringfügigen Be- schäftigung selbst noch auf die Qualifikationsprofile der 6,00 Mio. 5,78 Mio. Beschäftigten in Minijobs zurückzuführen sind. 5,00 Mio. 4,91 Mio. Es ist vielmehr die Anwendungspraxis, die den Minijob zur Niedriglohnfalle macht. Dies kann anhand eines Bei- 4,00 Mio. 3,57 Mio. spiels verdeutlicht werden (Abbildung 2): Eine sozialversi- cherungspflichtig Beschäftigte erhält für eine bestimmte 3,00 Mio. Tätigkeit einen Bruttostundenlohn von 13,50 €. Ist sie ver- 2,23 Mio. heiratet, kinderlos und wird mit Lohnsteuerklasse V ver- 2,00 Mio. 1,23 Mio. anlagt, erhält sie einen Nettostundenlohn von rund 7 € 1,00 Mio. (gerechnet mit www.nettolohn.de). Eine geringfügig Be- schäftigte würde für die gleiche Tätigkeit bei gesetzeskon- 0 former Umsetzung der Minijob-Regelung ebenso 13,50 € unter 5 € unter 6 € unter 7 € unter 8 € unter 8,50 € pro Stunde erhalten, die dann steuer- und abgabenfrei blie- be (brutto = netto). In der betrieblichen Praxis wird der davon in Minijobs Stundenlohn der geringfügig Beschäftigten aber häufig mit beschäftigt: 58,1 % 44,3 % 37,5 % 34,0 % 29,8 % einem Lohnabschlag belegt. Sie erhält beispielsweise nur 7 € und damit den Stundenlohn, den sie netto erhalten wür- de, wenn sie die Tätigkeit als sozialversicherungspflichtig * Hauptbeschäftigung, ohne Schüler, Studierende, Rentner und Nebenjobs. Beschäftigte ausgeübt hätte. Der Arbeitgeber zahlt eine pau- schale Abgabe von 30 % auf den Stundenlohn von 7 € und Quelle: SOEP 2009; Berechnungen des Instituts Arbeit und Qualifikation (Thorsten Kalina). spart damit Personalkosten gegenüber den Lohnkosten für eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Aus empirischen Analysen wissen wir, dass solche Prak- tiken in der Arbeitswelt keinesfalls Ausnahmen sind. So „Kernerwerbstätige“ im erwerbsfähigen Alter, die sich nicht sehen beispielsweise in einem großen tarifgebundenen Un- in Ausbildung, Bildung oder im Nebenjob befanden, im ternehmen des Lebensmitteleinzelhandels mündliche Ab- Jahr 2006 im Durchschnitt 8,98 € brutto pro Stunde und sprachen zwischen Geschäftsführung und Betriebsrat nach damit noch nicht einmal halb so viel wie Beschäftigte im Tätigkeit gestaffelte Lohnhöhen innerhalb der geringfügi- Normalarbeitsverhältnis (18,04 €) (Wingerter 2009, S. gen Beschäftigung vor. Neben dem Tarifgitter für die sozi- 1087). Wolf (2010) findet bei der Analyse von Stundenlöh- alversicherungspflichtig Beschäftigten existiert also ein nen nach Arbeitszeit und Geschlecht die niedrigsten Stun- zweites, informelles Tarifgitter für geringfügig Beschäftigte, denlöhne im Arbeitszeitintervall zwischen einer und 14 deren Anteil an der Belegschaft in den untersuchten Filialen Wochenstunden, in dem vor allem geringfügig Beschäftig- 35 % beträgt. Zum Untersuchungszeitpunkt im Jahre 2006 te arbeiten dürften. Auch Analysen des Instituts Arbeit und erhielten Schülerinnen und Schüler einen Stundenlohn von Qualifikation (IAQ) auf Basis des SOEP zeigen, dass in Mi- 5,15 €, was gegenüber der damals geltenden tariflichen Ent- nijobs die Zahlung von Niedriglöhnen eher die Regel als geltgruppe einen Lohnabschlag von 26 % bedeutete. Er- die Ausnahme ist: 87,6 % der geringfügig Beschäftigten ar- wachsene geringfügig Beschäftigte, die in der Warenverräu- beiteten im Jahr 2009 zu Stundenlöhnen unterhalb der mung tätig waren, erhielten einen Stundenlohn von 6,80 € Niedriglohnschwelle. Der Minijob wird daher für die große (29 % Lohnabschlag) und geringfügig Beschäftigte im Kas- Mehrheit der geringfügig Beschäftigte zur Niedriglohnfal- sen- und Bedienbereich einen Stundenlohn von 8,00 €, was le. Dies zeigt sich besonders drastisch in Abbildung 1: Von einem Abschlag von 33 % gegenüber der entsprechenden den gut 1,2 Mio. „Hauptbeschäftigten“ (ohne Schüler, Stu- tariflichen Gehaltsgruppe entsprach (vgl. Voss-Dahm 2009, dierende, Rentnerinnen/Rentner und Nebenjobs), die im Jahr 2009 weniger als 5 € brutto pro Stunde verdienten, wa- ren 58,1 % geringfügig beschäftigt. Der Anteil von Minijob- berinnen und Minijobbern an allen Beschäftigten, die im Geringfügig beschäftigte Frauen verdienten durchschnitt- lich 9,07 €; Männer 8,78 €. In Westdeutschland lag der Jahre 2009 weniger als 8,50 € Bruttostundenlohn erhielten, durchschnittliche Stundenlohn mit 9,20 € deutlich höher lag demgegenüber „nur“ bei 29,8 %. Je niedriger also der als in Ostdeutschland und Berlin (7,16 €) (Wingerter 2009, Stundenlohn, desto höher ist der Anteil der geringfügig Be- S. 1088). 8 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2012-1-5 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 13.11.2021, 06:57:05. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
wsi mit teilungen 1/ 2012 S. 233ff.). Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch eine Studie ABB. 2 im sächsischen Einzelhandel, nach der geringfügig Beschäf- tigte zum Teil nur die Hälfte des Tariflohns erhielten (vgl. Niedriglohnfalle Minijob Benkhoff/Hermet 2008). Ebenso wird von systematischen Beispielrechnung Entlohnungsunterschieden von geringfügig und sozialver- sicherungspflichtigen Beschäftigten beim Textildiscounter Minijob laut Gesetz Sozialversicherungspflichtige Minijob in der Praxis KIK und dem Lebensmitteldiscounter Netto berichtet (vgl. Beschäftigung Hinz in diesem Heft). 13,50 € brutto = netto 13,50 € brutto = 7,00 € netto, 7,00 € brutto = netto Auch in der Gesundheits- und Sozialbranche werden Lohnsteuerklasse V geringfügig Beschäftigte offensichtlich nicht regelungskon- form entlohnt. Bisher sieht der Reformtarifvertrag des Sozialver- brutto = netto sicherungs- Deutschen Roten Kreuzes in einer gesonderten Anlage spe- beiträge Gesetzes- widriger zielle Lohnhöhen für geringfügig Beschäftigte vor. Diese Lohn- abschlag liegen zwischen 6,75 € für Tätigkeiten, die nur geringe Fach- Lohnsteuer- klasse V kenntnis erfordern, und 8,50 € für Tätigkeiten, die mit ab- geschlossener Ausbildung ausgeübt werden. Die Gewerk- schaft ver.di hat diese Anlage zum 31. Oktober 2011 Nettolohn Nettolohn gekündigt und erwartet, dass diese gesetzeswidrige Rege- lung ohne Nachwirkung ersatzlos gestrichen wird. Die Kla- ge einer Pflegehilfskraft verweist darauf, dass auch bei der Caritas als einem weiteren großen Arbeitgeber der Branche sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigte systematisch unterschiedlich entlohnt werden. Die betref- fende Pflegehilfskraft wurde mit dem gesetzlichen Mindest- Quelle: Darstellung der Autorinnen. lohn der Pflegebranche in Höhe von 8,50 € entlohnt, was einen Lohnabschlag von 25 % gegenüber der tariflichen Entlohnung von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in gleicher Tätigkeit bedeutet. gewertet werden, dass die Lohnfortzahlung im Krankheits- Die Beispiele zeigen die Diskrepanz zwischen Regelungs- fall im Minijob weniger in Anspruch genommen wird. Un- und Anwendungsebene in der geringfügigen Beschäftigung. tersuchungen im Einzelhandel zeigen Abstufungen: Die Für die Beschäftigten erweist sich die Annahme, in Mini- nach dem Manteltarifvertrag tarifvertraglich vereinbarte jobs werde „brutto gleich netto“ und damit mehr als in einer Lohnfortzahlung von zehn Wochen gilt in einem der größ- sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung verdient, da- ten filialisierten Unternehmen des Lebensmitteleinzelhan- mit faktisch oft als Illusion. Durch Lohnabschläge kommt dels nicht für Beschäftigte im Minijob, denen im Krank- der „Vorteil“ durch die Steuer- und Abgabenbefreiung nicht heitsfall nur die gesetzliche Lohnfortzahlung von sechs wie politisch intendiert den Beschäftigten im Minijob, son- Wochen gewährt wird (Voss-Dahm 2009, S. 237). dern den Unternehmen zugute, die die höhere Abgaben- Vor dem Hintergrund einer in Unternehmen und häufig quote von 30 % für Minijobs (gegenüber etwa 21 % in der auch bei Beschäftigten verbreiteten Meinung, der Minijob sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung) durch erheb- sei eben nur „Mini“ und damit eine abgespeckte Form des lich niedrigere Stundenlöhne kompensieren. Durch diese normalen Beschäftigungsverhältnisses, verwundern Hin- betriebliche Praxis wird der Minijob zu einer Exit-Option weise auf ein Unterlaufen weiterer arbeits- und kollektivver- für Unternehmen, die ihnen faktisch eine Reduktion der traglicher Standards nicht: In einer Studie im Reinigungs- Personalkosten ermöglicht. gewerbe sind Gather et al. (2005, S. 142ff.) auf eine Reihe von Abweichungen gestoßen, die Zuschläge und Jahresson- 3.2 Unterlaufen arbeitsrechtlicher und derzahlungen betrafen. Auch von der Verpflichtung, Ar- kollektivvertraglicher Standards beitsstunden nachzuarbeiten, die aufgrund gesetzlicher Fei- ertage nicht geleistet wurden, wurde berichtet. Darüber Das im Teilzeit- und Befristungsgesetz enthaltene Diskri- hinaus wurden Überstunden nicht (voll) vergütet oder Lei- minierungsverbot der Teilzeitbeschäftigung wird nicht nur tungsaufgaben bei der Eingruppierung nicht berücksichtigt. mit Blick auf das Entgelt, sondern auch bezogen auf andere Die Studie im sächsischen Einzelhandel hat gezeigt, dass gesetzlich verbriefte soziale Ansprüche verletzt. Bezogen geringfügig Beschäftigte üblicherweise kein Urlaubsgeld er- auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall führt Winkel halten, kaum in Weiterbildung einbezogen sind und (2005) aus, dass die zur Verfügung stehenden Gelder bei der Minijobzentrale zu einem wesentlich geringeren pro- zentualen Anteil abgerufen werden als für sozialversiche- Vgl. Urteil (AZ:18 Sa 2049/10) des Landesarbeitsgerichts rungspflichtig Beschäftigte. Das kann als ein Indiz dafür Hamm am 29.07.2011. https://doi.org/10.5771/0342-300X-2012-1-5 9 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 13.11.2021, 06:57:05. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
aufsätze im Wesentlichen auf Abruf arbeiten bzw. nach kurzen Ar- vom Markt jedoch kaum belohnt werden und erscheint als beitseinsätzen vorzeitig auch wieder nach Hause geschickt riskante Strategie. werden (Benkhoff/Hermet 2008). Dass gesetzlich verbriefte Die geringfügig Beschäftigten selbst wiederum sind keine soziale Ansprüche im Minijob nicht gewährt werden, deutet homogene Erwerbsgruppe und je nach Haushaltskontext auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt- und Dauer des geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses wirtschaftlichen Entwicklung (2009, Ziffer 553) an. Als mög- in der Erwerbsbiografie von den Konsequenzen unter- liche Gründe nennt er unter anderem die „Unkenntnis der schiedlich betroffen (vgl. Bäcker/Neuffer in diesem Heft). Arbeitnehmer über ihre Rechte oder dass diese wegen der Selbst wenn geringfügig Beschäftigte über ihre Rechte und geringeren Bedeutung des Beschäftigungsverhältnisses und die ihnen zustehenden Leistungen im Minijob informiert der Tätigkeiten nicht auf ihren vollen Rechten insistieren“. sind, spricht einiges dafür, dass sie aufgrund ihres margina- lisierten Status innerhalb der Belegschaften keine starke 3.3 Gibt es Akteure für eine Durchsetzung Machtposition für die Durchsetzung der ihnen zustehenden des Gleichbehandlungsgebots im Betrieb? Leistungen haben. Für geringfügig Beschäftigte im Nebenjob sowie ausschließlich geringfügig Beschäftigte, die die sozi- Vor dem Hintergrund dieser Befunde stellt sich die Frage, ale und materielle Sicherung über den Haushaltskontext weshalb derartige Verstöße gegen geltendes Recht im Betrieb beziehen, hat der Minijob den Status eines – wenn auch offensichtlich mehr oder weniger stillschweigend toleriert häufig notwendigen – Zuverdienstes. Selbst wenn sie die werden. Ebenso ist zu fragen, welche Arbeitsmarktakteure Praxis als „ungerecht“ empfinden, ist allerdings zu bezwei- an einem Aufbrechen dieser Situation ein Interesse haben feln, dass sie sich als Beschäftige mit (in der Regel) geringer könnten. Denn immerhin wäre zu vermuten, dass die durch Wochenarbeitszeit und daher kurzer Anwesenheit im Be- die Exit-Option Minijob in Gang gesetzten Abwärtsspiralen trieb aktiv für eine gesetzeskonforme Umsetzung der Vor- mehr Verlierer als Gewinner hervorbringen, was dafür sprä- schriften im Bereich der geringfügig Beschäftigten einsetzen. che, dass sich Widerstand formieren würde. Die folgenden Für geringfügig Beschäftigte, die auf eine „ertragreichere“ Ausführungen zeigen jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Beschäftigung als den Minijob angewiesen sind, aber keine Für Unternehmen ist die Exit-Option Minijob ein Alternativen zum Minijob vorfinden, verschlechtern sich Schlupfloch zur Senkung von Personalkosten. In drei pri- die Beschäftigungsbedingungen durch das Vorenthalten kol- vaten Dienstleistungsbranchen, nämlich dem Einzelhandel, lektiv- und arbeitsrechtlicher Leistungen im Minijob spür- dem Gastgewerbe und dem Reinigungsgewerbe, mit beson- bar. Es liegen keine Erkenntnisse über die Mobilisierungs- ders hohen Anteilen der geringfügigen Beschäftigung dürf- bereitschaft dieser Gruppe innerhalb der geringfügigen te diese Praxis besonders verbreitet sein (vgl. Hinz; Rothe Beschäftigung vor. Hinweise darauf, dass sie statt der Voice- et al. sowie Riedel in diesem Heft). Rund 5,7 Mio. Beschäf- Option eher die Exit-Option aus dem Minijob wählen wür- tigungsverhältnisse werden für diese drei Branchen ausge- den, geben jedoch die Analysen von Klenner/Schmidt (in wiesen; der Anteil der geringfügigen Beschäftigung liegt diesem Heft): Frauen mit diskontinuierlich-prekären Er- zusammengenommen bei 40 %. Die Branchen zeichnen werbsverläufen präferieren klar eine Ausweitung ihrer Ar- sich dadurch aus, dass der Frauen- und Teilzeitanteil tradi- beitszeit, arbeiten deshalb unfreiwillig im Minijob und tionell hoch ist, die Erstellung der Dienstleistungen arbeits- wechseln nach Möglichkeit in eine sozialversicherungs- intensiv ist und Schwankungen des Arbeitsanfalls sowie pflichtige Beschäftigung (vgl. auch Wanger 2011). Arbeitseinsätze am Morgen, am Abend und am Wochen- Auch sozialversicherungspflichtig Beschäftigte dürften ende arbeitsorganisatorisch zu bewältigen sind. Hinzu nur in begrenztem Maße als Verbündete für eine Verände- kommt, dass die Konkurrenz der Unternehmen durch Kos- rung der gegenwärtig praktizierten Exit-Option Minijob tenwettbewerb geprägt wird, mittels Kostensenkungen infrage kommen. Würden die Regelungen zur geringfügi- Marktanteile also gehalten bzw. erhöht werden können. Ge- gen Beschäftigung im Betrieb gesetzeskonform umgesetzt, hört die Exit-Option Minijob in einem solchen Umfeld einmal zum Set an „Spielregeln“ in der Branche, ist der Mi- nijob hier nicht nur eine Beschäftigungsform, die der Er- höhung der betrieblichen Einsatzflexibilität und dem Ab- Für Dezember 2010 werden in der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit für den Einzelhandel rund fangen von Spitzen des Arbeitsanfalls dient, sondern auch 3,2 Mio. Beschäftigungsverhältnisse mit einem Minijob- eine Senkung der Personalkosten ermöglicht. Unterneh- Anteil von 32 % und für das Gastgewerbe 1,6 Mio. Beschäf- men, die sich im Wettbewerb über niedrige Kosten positi- tigungsverhältnisse bei einem Minijob-Anteil von onieren, werden daher kein Interesse an einer Veränderung 49 % ausgewiesen (Bundesagentur für Arbeit 2011). Riedel (in diesem Heft) beziffert die Anzahl der Beschäftigten in der gegenwärtigen Beschäftigungspraxis haben. Andere der Gebäudereinigung auf knapp 874.000 und den Anteil Unternehmen äußern durchaus Kritik an dem Sog auf die der geringfügigen Beschäftigung auf 53 %. „low road“, weil Standards in der Beschäftigung und in der So ist es etwa in der Gebäudereinigung angesichts des Dienstleistungsqualität unter Druck geraten. Sich als ein- hohen Anteils von Minijobs außerhalb von Anleitungsfunk- zelnes Unternehmen für eine regelkonforme Entlohnung tionen ausgesprochen schwierig, überhaupt ein sozialver- in der geringfügigen Beschäftigung zu entscheiden, dürfte sicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis zu erhalten. 10 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2012-1-5 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 13.11.2021, 06:57:05. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
wsi mit teilungen 1/ 2012 bekämen die Beschäftigten mit besonders kurzer Arbeits- haltung noch spürbare Sanktionen bei Verstößen gegen das zeit netto mehr „heraus“ als sie selbst, die mehr Zeit im Diskriminierungsverbot von Beschäftigungsverhältnissen Betrieb verbringen und oft (aber nicht immer!) mehr Ver- aufgrund unterschiedlicher Arbeitszeitdauer existieren. antwortung für die betrieblichen Abläufe übernehmen. Beschäftigte werden mit dem Trugschluss, sie machten mit Ebenso schafft die Exit-Option Minijob bei hohem Kosten- einem Minijob ein gutes Geschäft, dazu verleitet, nur eine druck im Betrieb im ersten Moment Entlastung für sie kurze Teilzeitbeschäftigung ohne eigenständige soziale Si- selbst: Personalkosten werden bei den geringfügig Beschäf- cherung auszuüben. Bei genauerer Betrachtung können tigten gespart und schützen damit zumindest eine Zeitlang sich allerdings nur Erwerbspersonen diese Beschäftigungs- vor Eingriffen im „eigenen Lager“. Wenn Minijobs aus Kos- form „leisten“, bei denen der Haushaltskontext oder der tengründen ausgeweitet und damit teurere Arbeitsstunden Sozialstaat früher oder später als Lückenbüßer „in die Bre- durch billigere ersetzt werden, kann dies jedoch dauerhaft sche springen“. Minijobs werden zu zwei Dritteln von Frau- wieder negativ auf die sozialversicherungspflichtige Be- en ausgeübt. Daher nähren geringfügige Beschäftigungs- schäftigung zurückschlagen. verhältnisse maßgeblich die für Deutschland typische Und wie ist die Haltung der Betriebsräte? Zunächst ein- geschlechtsspezifische Arbeitszeitlücke, die sich auch in mal ist für die drei genannten Branchen festzuhalten, dass Entgeltunterschieden zwischen Frauen und Männern nie- die arbeitsplatznahe Absicherung der Beschäftigungsbedin- derschlägt. Der gesetzlich fixierte Sonderstatus Minijob ist gungen eher die Ausnahme ist: Im Jahr 2009 gab es nur in daher faktisch ein institutionelles Hindernis auf dem Weg etwa jedem zehnten Handelsbetrieb einen Betriebsrat und zur Gleichverteilung von Erwerbschancen von Frauen und im Gastgewerbe bzw. in sonstigen Dienstleistungen lag der Männern und blockiert – offensichtlich mit politischem Anteil mit rund 3 % noch deutlich niedriger (Ellguth/Ko- Einverständnis – den notwendigen Ausbau der eigenstän- haut 2010, S. 208). Der Normalfall ist also, dass keine be- digen Sicherung, vor allem der Alterssicherung von Frauen. triebliche Interessenvertretung auf die regelkonforme Um- Jedwede Form von „Lockmittel“ in die kurze Teilzeit steht setzung der Vorschriften für die geringfügige Beschäftigung dem Ziel einer gerechteren Verteilung von Erwerbschancen achten kann. Und selbst wenn betriebliche Interessenver- auf dem Arbeitsmarkt daher diametral entgegen und er- tretungen existieren, weisen Untersuchungen im Einzelhan- weist sich gesellschaftspolitisch als Sackgasse. del auf unterschiedliche Positionen hin (vgl. Voss-Dahm Die verbreitete Anwendungspraxis von Minijobs hat 2009; Hinz in diesem Heft): Manche Betriebsräte sehen kei- weitere Auswirkungen auf individueller Ebene und das ge- nen Spielraum, sich gegen den Kostendruck im Unterneh- samte Beschäftigungssystem: Wird die geringfügige Be- men zu stemmen, und akzeptieren die Ungleichbehandlung schäftigung (rechtswidrig) als Exit-Option von tariflichen von geringfügig Beschäftigten als kleineres Übel gegenüber und gesetzlichen Bestimmungen genutzt, werden die be- Eingriffen im Bereich der sozialversicherungspflichtig Be- treffenden Beschäftigten benachteiligt und in der Regel mit schäftigten. Andere sehen die Gefahr der Verdrängung von Niedriglöhnen abgespeist. Gesetzeswidrige Lohnabschläge sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch Mini- sowie das Vorenthalten von weiteren gesetzlichen und kol- jobs und argumentieren strategisch wie diese Betriebsrätin: lektivvertraglichen Ansprüchen haben nicht nur ein Zwei- „Wenn wir nicht darauf achten, dass auch Minijobber tarif- Klassensystem auf dem Arbeitsmarkt geschaffen und zu lich entlohnt werden, dann fressen die uns nach und nach Spaltungen von Belegschaften geführt. Angesichts der auf “ (Voss-Dahm 2009, S. 235). quantitativen Bedeutung der geringfügigen Beschäftigung Zusammengefasst ist zu konstatieren, dass von einer verschieben sich durch solche Praktiken auch soziale Stan- breiten Unterstützerfront für eine gesetzeskonforme Anwen- dards im Sinne selbstverständlich geltender und geteilter dung der Vorschriften zur geringfügigen Beschäftigung im Normen im gesamten Beschäftigungssystem nach unten. Betrieb (noch) keine Rede sein kann. Dies spricht dafür, dass Unter Berücksichtigung aller genannter Fehlentwicklungen entsprechende Reformvorschläge Überlegungen zur Mobi- kann die Schlussfolgerung daher nur lauten: Abschaffung lisierung und Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrund- des Sonderstatus Minijob. satzes mit einbeziehen müssten (vgl. Weinkopf 2011). 4. Fazit: Niedriglohnfalle Minijob Acht Jahre nach der Reform der geringfügigen Beschäfti- gung fällt die Bilanz ihrer Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt ernüchternd aus: Bei deutlicher Zunahme von Minijobs ist diese Beschäftigungsform mit Sonderstatus zum Einfallstor für betriebliche Verstöße gegen elementare Arbeitnehmer- Die Angaben beziehen sich auf privatwirtschaftliche Betriebe rechte geworden, weil weder wirksame Kontrollen zur Ein- mit mindestens fünf Beschäftigten. https://doi.org/10.5771/0342-300X-2012-1-5 11 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 13.11.2021, 06:57:05. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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