Nierenzellkarzinom als Folge einer als Berufskrankheit anerkannten Haarzell-Leukämie? - dguv.de
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IPA-Journal 03 | 2021 · Arbeitsmedizinischer Fall Nierenzellkarzinom als Folge einer als Berufskrankheit anerkannten H aarzell-Leukämie? Ein Blick über den Tellerrand des Merkblattes hinaus Simon Weidhaas, Christian Eisenhawer, Thomas Brüning Im IPA stellte sich ein KFZ-Mechaniker vor, der an einer Haarzell-Leukämie litt. Im Rahmen der Zusammenhangsbegutachtung sollte am IPA geklärt werden, ob hier eine BK-Nr. 1318 „ Erkrankungen des Blutes, des blutbildenden und des lymphatischen Systems durch Benzol“ vorlag. Zusätzlich sollte geklärt werden, ob seine gleichzeitige Erkrankung an einem Nieren- tumor ebenfalls in einem direkten Zusammenhang mit einer BK-Nr. 1318 zu werten ist. Die Haarzell-Leukämie (HZL) ist eine relativ seltene lym- Erkrankungsalter liegt für die HZL um das 50. Lebensjahr, phoproliferative Erkrankung und gehört zur Gruppe der Männer sind vier- bis fünf Mal häufiger betroffen als Frau- sogenannten indolenten (oder niedrigmalignen) B-Zell en. Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt aufgrund des lang- Non-Hodgkin-Lymphome. Diese Krebserkrankungen, bei samen Krankheitsverlaufs und weil HZL gut therapierbar denen die lymphatischen Blutzellen entartet sind, schrei- sind bei 70 bis 90 %. Verschiedene Studien beschreiben ten meist langsam teils über Jahre oder sogar Jahrzehn- außerdem ein gehäuftes Auftreten anderer Krebserkran- te voran. Dies unterscheidet sie von den aggressiveren kungen bei Betroffenen, sogenannte Zweitmalignome sogenannten hochmalignen Lymphomen. Das mittlere (Hisada et al. 2007; Cornet et al. 2014). 10
IPA-Journal 03 | 2021 · Arbeitsmedizinischer Fall Krankheitssymptome und Verlauf Die klassische Form der HZL, die in über 95 % der Fälle vorliegt, ist klinisch häufig durch Verdrängung der phy- siologischen Blutbildung (Zytopenien) und eine Vergrö- ßerung der Milz charakterisiert. Die Symptome ergeben sich meist aus Art und Ausprägung der verminderten Blutzellbildung. Hierbei können entweder die roten- (Ery- throzyten), bestimmte weiße Blutkörperchen (Leukozy- ten), die für die Blutgerinnung bedeutsamen Blutplätt- chen (Thrombozyten) oder eine Kombination aus zwei oder allen drei Zellreihen vermindert gebildet werden. Je nach individueller Konstellation stehen dann Symptome wie Müdigkeit, Infektanfälligkeit oder Blutungsereignisse aufgrund einer beeinträchtigten Blutgerinnung im Vor- dergrund. Des Weiteren können Oberbauchschmerzen Erkrankung häufig zunächst ein sogenanntes watch & im Rahmen einer massiv vergrößerten Milz bestehen. Al- wait Konzept verfolgt werden, wobei lediglich regelmäßi- lerdings kommt dies aufgrund einer oft frühen Diagnose ge klinische Kontrollen und Blutuntersuchungen durch- im Rahmen routinemäßig durchgeführter Blutbildunter- geführt werden (Maitre et al. 2019). suchungen heute nicht mehr häufig vor. Seltener können auch Autoimmunphänomene wie Gelenk- oder Gefäßent- zündungen vorkommen. Mitunter können vergrößerte Berufliche Exposition als Krankheitsursache Lymphknoten, Hautbeteiligungen, Lebervergrößerungen und eine klassische B-Symptomatik mit Fieber, Nacht- Die Ursachen der Krankheitsentstehung sind nicht ab- schweiß und ungewolltem Gewichtsverlust bestehen. schließend geklärt. Bestimmte genetische Faktoren schei- Symptome von Infektionen, wie sie im Rahmen von HZL nen eine Rolle zu spielen, eine familiäre Häufung ist aber gehäuft vorkommen, lassen sich hierbei nicht immer gut selten. Als Risikofaktoren werden Pestizide oder ionisie- abgrenzen (Possinger et al. 2017). rende Strahlung diskutiert. Die inhalative oder dermale Exposition gegenüber Benzol stellt einen weiteren Risiko- Zytologisch zeigen sich bei der mikroskopischen Unter- faktor für die Entstehung von HZL dar. Im Merkblatt zur suchung des Blutausstrichs kleine bis mittelgroße Zellen BK-Nr. 1318 werden die Krankheitsbilder aus der Wissen- mit überproportional viel Zytoplasma, welches haarför- schaftlichen Begründung zur BK-Nr. 1318, die im Rahmen mige Ausziehungen aufweist. Aus dieser charakteristi- der Berufskrankheit anerkennungsfähig sind in solche schen Zellmorphologie resultiert die Bezeichnung „Haar- mit- (Gruppe A) und ohne (Gruppe B) epidemiologische zell-Leukämie“. Diese Haarzellen finden sich meist nur zu Information zur Dosis-Wirkungsbeziehung eingeteilt. einem geringen Prozentsatz im peripheren Blut, so dass Die HZL ist der Gruppe B zugeordnet, da nicht zuletzt die Blutbilddiagnostik zur Diagnosestellung nicht aus- aufgrund der Seltenheit der Erkrankung keine Dosis-Ri- reicht. Neben der allgemeinen klinischen Untersuchung siko-Beziehung ableitbar ist. Da Benzol grundsätzlich ist daher die durchflusszytometrische und histologische geeignet ist, zur Entstehung einer HZL wesentlich beizu- Betrachtung des blutbildenden Knochenmarks unerläss- tragen, ist die Erkrankung im Sinne der Legaldefinition lich (Possinger et al. 2017). anerkennungsfähig. Therapie der Haarzell-Leukämie KFZ-Mechaniker mit Haarzell-Leukämie In Abhängigkeit vom molekularen Profil der Erkrankung Im IPA stellte sich ein Versicherter zur arbeitsmedizini- gibt es verschiedene Therapieoptionen aus Chemo- und schen Zusammenhangsbegutachtung vor, bei dem im Immuntherapie. Bei der klassischen HZL zeigen Purin- Alter von 65 Jahren eine HZL diagnostiziert wurde. Die Analoga wie Cladribin oder Pentostatin als Erstlinienthe- Erstdiagnose lag zum Zeitpunkt der Begutachtung bereits rapie die größte Wirksamkeit. Wie bei anderen niedrig einige Jahre zurück. Es sollte beurteilt werden, ob die HZL malignen Lymphomen auch, kann bei asymptomatischer durch eine berufliche Gefahrstoffexposition verursacht 11
IPA-Journal 03 | 2021 · Arbeitsmedizinischer Fall wurde und somit als BK-Nr. 1318 anerkannt werden kann. wurde operativ entfernt. Die feingewebliche Untersu- Der Versicherte war im Rahmen seiner früheren Tätig- chung erbrachte den Befund eines klarzelligen Nierenzell- keit als KFZ-Mechaniker seit den 1960er Jahren sowohl karzinoms, das zunächst im Gesunden entfernt werden inhalativ als auch dermal gegenüber Benzol exponiert. konnte. In den folgenden Jahren trat die Erkrankung er- Insbesondere bei der händischen (Auto-) Teilereinigung neut auf, so dass diesbezüglich verschiedene systemische mit Ottokraftstoff in großen Wannen ohne persönliche Therapieansätze in Form von zielgerichteten und immun- Schutzausrüstung bestand eine „extreme Belastung“ im modulierenden Krebsmedikamenten notwendig wurden. Sinne der Wissenschaftlichen Begründung zur BK-Nr. 1318. Der Präventionsdienst des zuständigen Unfallver- Interessanterweise trat der Nierentumor gleichzeitig zur sicherungsträgers ermittelte eine kumulative Exposition Erstdiagnose der HZL auf. Es ließen sich weder gravieren- in der Größenordnung von 20 ppm-Benzol-Jahren. Dies de berufliche, wie Expositionen gegenüber Trichlorethen übersteigt die Hintergrundbelastung der Allgemeinbevöl- oder Cadmium, noch außerberufliche Risikofaktoren wie kerung um ein Vielfaches. Tabakrauchen für die Entstehung einer Nierenkrebser- krankung eruieren. Da bei dem Versicherten keine gravierenden außerbe- ruflichen Risikofaktoren für die Entstehung einer HZL Wie eingangs beschrieben gibt es Hinweise, dass HZL ge- vorlagen und er seit seiner Jugend in hohem Ausmaß häuft mit weiteren Krebserkrankungen einhergehen. Die- gegenüber Gefahrstoffen exponiert war, empfahl das se können gleichzeitig mit, Monate oder Jahre nach der IPA, die Erkrankung als BK-Nr. 1318 anzuerkennen. Für HZL-Diagnose auftreten oder ihr vorausgehen. Es wird Erkrankungen der Gruppe B aus der Wissenschaftlichen auch ein Zusammenhang zu den häufig in der Erstlinien- Begründung der BK-Nr. 1318 wird die Möglichkeit einer therapie eingesetzten Purin-Analoga diskutiert (Cornet et Anerkennung ab einer kumulativen Expositionshöhe von al. 2014; Hisada et al. 2007). Daten weltweiter Krebsre- ca. 16 ppm-Benzol-Jahren beschrieben, die in dem vorlie- gister und verschiedener Studien zeigen die Tendenz zu genden Fall überschritten wird (Henry & Brüning 2012). einer Risikoerhöhung für Zweitmalignome bei HZL. Dabei werden observed-to-expected-ratios (OER) von 1,01 bis 2,6 Im Anschluss an die Diagnose wurde aufgrund einer an- berichtet. Ein besonders hohes Exzess-Risiko scheint für fangs ausgeprägten Vergrößerung der Milz und schweren Zweitmalignome des hämatologischen Formenkreises zu bakteriellen Infekten im Rahmen der HZL-assoziierten bestehen (Maitre et al. 2019). Immunschwäche sowie einer ausgeprägten Verminde- rung aller Blutzellreihen (Panzytopenie) eine Therapie Es stellte sich also die Frage, ob die Nierenkrebserkran- mit Cladribin durchgeführt. Während dieser kam es zu kung der HZL und damit der BK-Nr. 1318 zugerechnet weiteren Infektions-Komplikationen durch die zusätzli- werden kann. Dazu muss angemerkt werden, dass die che Immunsuppression im Rahmen der Chemotherapie. Studienlage zu Zweitneoplasien im Rahmen von HZL Nach der Therapie war eine Rückbildung der Milzvergrö- uneinheitlich ist. Nierentumore treten zwar generell ge- ßerung zu verzeichnen und die Blutbildparameter stabili- häuft als Zweittumoren nach einer Erkrankung an einem sierten sich nachhaltig. Zum Begutachtungszeitpunkt be- Non-Hodgkin-Lymphom auf, was vor allem auf die meist fand sich die Erkrankung weiterhin in stabiler Remission. intensiven Therapieschemata zurückgeführt wird (Zheng Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) während der et al. 2021). Es finden sich hingegen keine Daten, die Therapie mit Cladribin wurde daher insbesondere auf- eindeutig eine signifikante Überhäufigkeit speziell von grund der begleitenden Infekte infolge der Immunschwä- Nierenkrebserkrankungen in Zusammenhang mit HZL che mit 100 % bewertet. Nach einer Erholungsphase von zeigen. Vor allem aber lässt sich anhand des aktuellen sechs Monaten wurde die MdE bei nunmehr gut kontrol- wissenschaftlichen Kenntnisstandes nur eine Korrela- lierter, stabiler Krankheitssituation bei noch nachweis- tion, aber nicht unbedingt eine Kausalität zwischen HZL barer zellulärer Immunschwäche mit 30 % bewertet. und bestimmten Zweitmalignomen nachweisen. Als Er- klärung für das teilweise beschriebene erhöhte Risiko kommen unter anderem bestimmte mit der klassischen Nierentumor der BK-Nr. 1318 zuzurechnen? HZL assoziierte genetische Mutationen infrage, die auch für andere Krebserkrankungen prädisponierend sein kön- Auffällig war in diesem Fall, dass im Rahmen der Diag- nen (Maitre et al. 2019). Diese anlagebedingte Anfälligkeit nose der HZL und der einhergehenden Untersuchungen wäre aber nicht als Folge der Berufskrankheit zu werten. zufällig ein Nierentumor festgestellt wurde. Der Tumor Ferner wird die im Rahmen von Grunderkrankung und 12
IPA-Journal 03 | 2021 · Arbeitsmedizinischer Fall Die Haarzell-Leukämie ist eine lymphopro liferative Erkrankung, bei der lymphatische Blutzellen entartet sind. Therapie geschwächte Immun-Abwehr als Ursache dis- 2017 hatte das IPA Journal zu Hauttumoren als Zweit- kutiert (Hisada et al. 2007). Da die Nierentumor-Diagnose neoplasien im Rahmen einer ebenfalls als BK-Nr. 1318 in diesem Fall vor der Durchführung der Chemotherapie anerkannten chronisch lymphatischen Leukämie (CLL) erfolgte, war hier auch eine Mitverursachung durch die berichtet. Die Hauttumoren wurden in diesem Fall als BK- Chemotherapie, was dann auch der Berufskrankheit hät- Folge gewertet (Fartasch et al. 2017). Die Thematik ist aber te zugerechnet werden müssen, nicht anzunehmen. Ins- keineswegs nur in Bezug auf die BK-Nr. 1318 im gutachter- gesamt kam das IPA daher zu der Einschätzung, dass HZL lichen Kontext relevant. Auch für Krebserkrankungen im und Nierenkrebserkrankung nicht mit versicherungs- Allgemeinen wird ein erhöhtes Risiko für Zweittumoren rechtlich ausreichender Wahrscheinlichkeit in Kausalzu- bei Langzeitüberlebenden beschrieben (Curtis RE et al. sammenhang stehen. 2006). Insofern sollte beim Vorliegen von mehreren malig- nen Erkrankungen die Möglichkeit eines Zusammenhangs im Einzelfall bedacht und bewertet werden. Zweittumoren als Folge einer Berufskrankheit Auch wenn letztlich kein Zusammenhang belegt werden Die Autoren: konnte, zeigt der beschriebene Fall doch, dass das The- Prof. Dr. Thomas Brüning ma Zweitmalignome insbesondere bei hämatologischen Dr. Christian Eisenhawer (Berufs-) Krankheiten immer wieder eine Rolle spielt. Das Dr. Simon Weidhaas gilt sowohl für die Erkrankungen selbst als auch für die IPA multimodalen, mannigfaltigen Therapieschemata. Bereits Literatur Cornet E, Tomowiak C, Tanguy-Schmidt A, Lepretre S, Dupuis J, Possinger K, Regierer, A, Eucker J. Facharztwissen Hämatologie Feugier P. et al. Long-term follow-up and second malignancies in Onkologie. 2017: 4th ed.: Elsevier. 487 patients with hairy cell leukaemia. Brit J Haematol 2014; 166: Maitre E, Cornet E, Troussard X. (2019): Hairy cell leukemia: 2020 390–400. DOI: 10.1111/bjh.12908. update on diagnosis, risk stratification, and treatment. Am J Hematol Curtis RE, Freedman DM, Ron E, Ries LAG, Hacker DG, Edwards BK 2019; 94: 1413–1422. DOI: 10.1002/ajh.25653. et al. New malignancies among cancer survivors. SEER Cancer Reg Merkblatt zur Berufskrankheit Nummer 1318 „Erkrankungen des 2006; 1973-2000. Blutes, des blutbildenden und des lymphatischen Systems durch Fartasch M, Zschiesche W, Brüning T. Heller Hautkrebs und Benzol“. GMBl 2010; 5/6: 94 ff. berufliche Vorerkrankung. IPA Journal 2017; 03: 6-10. Wissenschaftliche Begründung zur Berufskrankheit Nummer 1318 Henry J, Brüning T. Begutachtung benzolbedingter Krebserkrankun „Erkrankungen des Blutes, des blutbildenden und des lymphati gen. IPA Journal 2012; 03: 9-12. schen Systems durch Benzol“. GMBl 2007; 49-51: 974 ff Hisada M, Chen, B, Jaffe, E, Travis L. Second cancer incidence and Zheng G, Sundquist K, Sundquist J Chen T, Försti A, Hemminki O, cause-specific mortality among 3104 patients with hairy cell leuk Hemminki, K. Second primary cancers after kidney cancers, and emia: a population-based study. J Nat Canc Inst 2007; 99: 215–222. kidney cancers as second primary cancers. Eur Urol Open Sci 2021; 24: 52–59. 13
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