"Nirgendwo gibt es Sicherheit für uns" - Flüchtlingsrat ...
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Syrien „Nirgendwo gibt es Sicherheit für uns“ Kirsten Richter Amnesty International zu Angriffen auf Krankenhäuser und Schulen Amnesty International belegt im aktuellen Bericht ‚Nowhere is safe for us‘ Angriffe auf zivile Ziele und Massenvertreibungen aus Nordostsyrien durch die syrische sowie die russische Armee. Damit einher geht eine humanitäre Krise vor der geschlossenen türkischen Grenze, wo Flüchtlinge in überfüllten Lagern ausharren. Kirsten Richter fasst den umfangreichen Report zusammen. 12 09/2020 * Der Schlepper Nr. 98 * www.frsh.de
Syrien Für den vorliegenden Bericht wurden für Zusätzlich hat das Team von Amnesty Die Autor*innen des Berichts beschrei- den Zeitraum zwischen Januar und April International Satellitenaufnahmen, frei ben militärische Angriffe auf zehn medizi- 2020 insgesamt 74 Menschen interviewt, zugängliches Bild- und Videomaterial aus nische Einrichtungen in Idlib und Aleppo die selbst Betroffene oder Zeugen von Social-Media-Kanälen sowie abgefangene zwischen Dezember 2019 und Februar Bombenangriffen waren bzw. von den Funkaufnahmen zwischen der russischen 2020. Auch wenn sechs dieser Angriffe Bedingungen, unter denen die geflüchte- und syrischen Luftwaffe mit ihren jewei- auf dem von bewaffneten Oppositionel- ten Menschen an der syrischen Grenze zur ligen Befehlshabenden am Boden aus- len besetzten Gebiet erfolgten, gaben die Türkei leben müssen, sind. gewertet. Darüber hinaus glich das For- hierzu Interviewten an, dass zum jeweili- Online-Ausstellung „Von Herzen, aus Idlib“: www.frsh.de/fotoausstellung_idlib schungsteam die eigenen Befunde mit gen Zeitpunkt der Angriffe vor Ort keine diversen Berichten verschiedenster welt- aktiven Frontlinien verliefen. Vier dieser Erschwerte Bedingungen weit agierender Hilfsorganisationen sechs Angriffe auf medizinische Einrich- der Recherche sowie syrischer humanitärer Hilfsorgani- tungen erfolgten während des regulären sationen ab. Betriebs; die anderen beiden Einrichtun- Unter den Befragten finden sich Lehr- gen konnten kurz vor den Angriffen eva- kräfte, Ärzt*innen, humanitäre kuiert werden. Helfer*innen aus lokalen und interna- Syrische und russische tionalen Nichtregierungsorganisatio- Kriegsverbrechen So berichtet ein Arzt des Al-Ferdous nen. Da für das Forschungsteam von Krankenhaus in Daret Izza, dass nach dem Amnesty International zum Zweck Entstanden ist ein umfassender Bericht Angriff „alle in Panik waren, aber glück- ihrer Untersuchungen ein Einreisever- über die von der syrischen sowie der licherweise waren nicht viele Patien- bot nach Syrien bestand, wich das Team russischen Regierung begangenen Kriegs- ten im Krankenhaus, weil die Menschen auf Telefoninterviews, Interviews via verbrechen gegenüber der zivilen Bevöl- Angst haben in Krankenhäuser zu gehen. E-Mail oder Messangerdienste aus und kerung in Nord-West Syrien, durch Sie wissen, dass diese Angriffsziele sind.“ für wen es möglich war, trafen sie ihre einerseits den Abwurf von verbotenen Durch die Auswertung von Funksprüchen Interviewpartner*innen direkt in Beirut Fassbomben und andererseits die Bom- im Anschluss an die Zerstörung des Kran- (Libanon) oder New York. bardierung von Krankenhäusern und kenhaus Nabad al-Hayat in Haas wird Schulen. deutlich, dass es sich hier um gezielte www.frsh.de * Der Schlepper Nr. 98 * 09/2020 · 13
Syrien Angriffe auf die Koordinaten des Kranken- Krankenhaus. Zum Zeitpunkt des Angriffs in Schulen und Moscheen eingerichtet hauses handelte – genau an dieser Posi- wurde die Schule als Schutzraum für wurden, unter. Ein weiteres Drittel fand tion sollten die Bomben platziert werden. innerhalb Syriens Vertriebene aus Maaret Mietunterkünfte oder kam bei Gastfa- al-Noman und Kafranbel genutzt. milien unter. Die restlichen 20 Prozent leben in unfertigen Gebäuden. Berichtet International geächtete Streu- Der Angriff auf die Al-Baraem Schule wird von der tagelangen Suche nach letzt- bomben in Idlib erfolgte am selben Tag, mor- lich zu kleinen und viel zu überteuerten gens um 9:00 Uhr – während des vollen Zelten (zehn 3m x 3m Zelte zu je 210 $ Im Zeitraum von Januar bis Februar 2020 Schulbetriebs. Eine Lehrerin der Schule für zehn Haushalte) sowie den schweren berichtet das Hurras Netzwerk (das syri- in Idlib berichtet: „Ich bin mir sicher, Lebensbedingungen, wenn man in einer sche Kinderschutz-Netzwerk) von 28 dass es Streumunition war, denn ich Jahreszeit in Zelten leben muss, in der militärischen Angriffen auf Schulen. Allein hörte etliche Explosionen. […] So als nachts das im Zelt gelagerte Trinkwas- am 25. Februar 2020 wurden zehn Schu- würden vom Himmel Schrapnelle anstatt ser gefriert. „Zum Schlafen lege ich mein len angegriffen. Der Bericht von Amnesty Wasser regnen.“ Amnesty Internatio- Baby zwischen meine Beine um es warm International belegt sieben Angriffe auf nal belegt den Einsatz von 9N210- oder zu halten. […] Es gab mehrere glaubwür- sechs Schulen im selben Zeitraum und 9N235-Streumunition – der Einsatz dige Berichte über erfrorene Kinder und betrachtet zwei Angriffe vom 25. Feb- beider ist nach dem Völkerrecht verbo- tot aufgefundene Familien aufgrund einer ruar ausführlicher. Gegen 16:00 Uhr an ten. Kohlenmonoxid-Vergiftung während der diesem Tag erfolgten zwei Luftangriffe letzten Welle der Vertreibung.“ auf die Region um die Mounib Kamishe Schule in Maaret Misreen herum – durch Millionenfache überstürzte Neben den schweren Lebensbedingun- einen wurde die Schule direkt getroffen, Fluchten gen als Vertriebene, berichten die Inter- der zweite Angriff traf ein benachbartes viewten von der Angst, als Rückkehrende Neben den Angriffen auf diese zivilen in ihrer von bewaffneten Oppositionellen Ziele, die in Kriegszeiten nach internati- kontrollierten Heimat von der syrischen onalem humanitärem Völkerrecht einem Regierung inhaftiert und gefoltert zu Syrien-Lagebericht besonderen Schutz unterstehen soll- werden. Steigende Preise für Essen und ten, stellt das Forschungsteam im Bericht des Auswärtigen Amts von Amnesty International heraus, worin Öl führen zu einem Anstieg von Kinder- arbeit für niedere und gefährliche Tätig- Am 20. November 2019 ist der laut dem UN-Generalsekretär „Syri- keiten sowie von Verheiratung minderjäh- letzte Lagebericht des Auswär- ens von Menschen gemachter humanitä- riger Mädchen für Geld oder materielle tigen Amtes zu Syrien herausge- rer Albtraum“ genau besteht. Allein vom Unterstützung. Auch die COVID-19 Pan- kommen. Der Bericht schildert 1. Dezember 2019 bis zum 29. Februar demie wurde zu einer zusätzlichen Belas- die weitgehende Verwüstung in 2020 flohen, nach Angaben der UN, annä- tung für die Menschen, die keine weite- allen Teilen des Landes, die fort- hernd 1 Millionen Menschen vor Bom- ren Bürden mehr ertragen können. „Vor bestehende Verfolgung und Ter- benangriffen aus ihrer Heimat. Mehr als einem Monat kam es zu einem Beschuss rorgewalt, die von Regierungsstel- 80 Prozent dieser Menschen sind Frauen in der Nähe des Camps, etwa 100 Meter len ebenso wie von russischen und und Kinder; die Gruppe der Männer unter entfernt. Meine Frau und Kinder, jeder türkischen Armeeeinheiten und diesen Geflüchteten besteht zum Großteil im Lager, war voller Angst. Wir sind so islamistischen Aufständischen aus- aus Älteren, Menschen mit unterschiedli- müde von Bombenangriffen. Wir haben geht. Selbst aus dem ausländischen chen Arten von Behinderungen und ande- den Punkt eines totalen Zusammenbruchs Asyl Rückkehrende, denen vom ren Risikogruppen, so dass sie für eine erreicht. Wann wird das alles enden?“ Regime eine Amnestie und Straf- aktive Beteiligung an den Kämpfen nicht in freiheit zugesichert worden ist, Frage gekommen waren. Viele dieser fast sind vom Regime in Haft genom- 1 Millionen Geflüchteten mussten in den Kriegswaffe eingeschränkte men worden und verschwun- vergangenen Jahren bereits mehrmals aus humanitäre Hilfe den. Verschiedene Gesetze sind ihrer jeweiligen Heimat fliehen. Grundlage von zig-Tausend-fachen Mit der einjährigen Verlängerung der Nach ihrer oftmals überstürzten Flucht Crossborder-Resolution des Sicherheits- Immobilien-Enteignungen exilier- aus ihren Heimatorten – nur mit dem rates zu grenzüberschreitenden Hilfs- ter Syrer*innen. Wer das nicht hin- Nötigsten bepackt; nur so viel, wie sie lieferungen im Juli 2020 wurde eine aus nehmen will, läuft ebenfalls Gefahr, tragen konnten – stranden sie in diversen dem Bericht von Amnesty International inhaftiert zu werden. Im Magazin unsicheren Verhältnissen und müssen sich abgeleitete Forderung zur Verbesserung Der Schlepper Nr. 96 haben wir neuen Herausforderungen und Gefahren der Lage der zivilen Bevölkerung Syri- den AA-Lagebericht besprochen: stellen. ens erfüllt – wenn auch nur ein Grenz- https://www.frsh.de/fileadmin/ schlepper/schl_96/S96-38.pdf übergang freigegeben wurde, anstatt der zusätzlich geforderten Wiedereröffnung Den gesamten Syrien-Lagebericht des Aus- Überteuerte Zelte, erfrorene des Zugangs über Al-Yarubiyah. Nichts- wärtigen Amtes und noch diverse Lagebe- Kinder und Überlebensnot destotrotz ist dieser Zugang für humani- richte zu anderen Herkunftsländern finden sich bei FragdenStaat.de: https:// Die UN berichtet, dass sich im März 2020 täre Hilfe aus dem Ausland essenziell für fragdenstaat.de/dokumente/sammlung/18- ca. ein Drittel in Camps und unbewach- die Absicherung der Versorgung der zivi- lagebe-richte-des-auswaertigen-amts/ len Bevölkerung Syriens. Bei einer Ver- ten Zeltstätten ansiedeln. Etwa 10 Pro- zent kamen in Sammelunterkünften, die sorgung allein aus dem [vom syrischen 14 09/2020 * Der Schlepper Nr. 98 * www.frsh.de
Syrien Regime kontrollierten] Inland stünde zu befürchten, dass die benötigten Hilfe- Texte syrischer Frauen (Nr. 2) leistungen nicht alle Bedürftigen erreicht hätten. Um diese nach wie vor drohende Gefahr abzuwenden, wird Amnesty Inter- „Syrien ist ein wunderschönes Land“ national weiter für die Wiedereröffnung von Al-Yarubiyah kämpfen. Meine Familie stammt ursprünglich aus Syrien. Ich wuchs jedoch in Jordanien, in Darüber hinaus wurden als Schlussfolge- Amman auf. rungen aus den Befunden des Berichts Syrien ist ein wunderschönes Land. Das Wetter ist im Sommer heiß und im vom Forschungsteam Forderungen an Winter kalt. Die Stadt, in der meine Familie lebte und zum Teil noch heute verschieden Interessengruppen im seit lebt, heißt Aleppo. Aleppo ist meine Lieblingsstadt in Syrien. Dort gibt es eine zehn Jahren anhaltenden Konflikt in sehr schöne Festung, die berühmte Zitadelle. Im Thronsaal der Zitadelle befin- Nord-West Syrien formuliert. Inwieweit det sich eine große Gemäldeausstellung. Weltbekannt ist auch der große, über- die syrische Regierung, die bewaffneten dachte Basar, der Suq, in dem man schöne Stoffe und viele Gewürze kaufen oppositionellen Gruppen – allen voran kann. Zur Altstadt gehört ebenfalls die alte Umayyadenmoschee. Leider wurde Hay’at Tahrir al-Sham als größte organi- vieles durch den Krieg zerstört. sierte Gruppe [islamistischer] bewaffneter Oppositioneller, die russische Regierung, In Aleppo gab es auch viele Restaurants, in denen man sehr gut essen konnte. die türkische Regierung, der UN Sicher- Welche Restaurants es heute noch gibt, kann ich leider nicht sagen. heitsrat sowie weitere Geberstaaten, ein- schließlich der USA, dem Vereinigten Ich selbst wurde in Amman in Jordanien geboren und lebte dort in meiner Königreich und der Europäischen Union, Kinder- und Jugendzeit. In Amman besuchte ich eine staatliche Schule. Mädchen diesen Forderungen nachkommen, bleibt und Jungen gingen in getrennte Schulen. Nach insgesamt 12 Jahren beendete mit einem genauen Blick auf alle diese ich die Schule mit dem Baccalaureat, das dem deutschen Abitur entspricht. Die Konfliktparteien zu beobachten. Schule verlief gut, ich hatte keine Probleme. Nach dem Baccalaureat studierte ich an der Al-Hashimia-Universität in Zarqa/Jordanien Biologie. Von 2010 bis Dabei ist zu hoffen, dass die Reaktionen 2014 arbeitete ich an der Alahlya-Schule, einer Grundschule in den arabischen für die zivile Bevölkerung Syrien positiv Emiraten und von 2014 bis 2016 an der Alnoor-Schule, ebenfalls einer Grund- ausfallen und die aufgestellten Forderun- schule in den Emiraten. gen nicht wie der Vorabbericht zum vor- liegenden Bericht ‚Nowhere is safe for In den Emiraten gibt es staatliche Schulen, in denen Mädchen und Jungen us‘, gesendet jeweils an die syrische und getrennt lernen, was mir persönlich gut gefällt, und private, in denen Mädchen russische Regierung, an Hay’at Tahrir al- und Jungen gemeinsam lernen. Die Grundschule besuchen die Kinder sechs Sham sowie die UN in New York, unkom- Jahre lang. Dann schließt sich das Gymnasium an. In diesen vier Jahren lernen mentiert bleiben. die Schüler und Schülerinnen entweder in den naturwissenschaftlichen oder den geisteswissenschaftlichen Fächern weiter. Die Eltern entscheiden, welchen Zweig ihr Kind besucht. Sollte eine Schülerin oder ein Schüler schlechte Noten „Warum tötet Gott uns nicht?“ haben, dann muss sie/er die Klassenstufe so lange wiederholen, bis gute Noten erreicht sind. Eine Ehefrau und Mutter von drei Kin- dern, die in einem der Zeltlager leben Nach den zehn Jahren Schulpflicht besteht die Möglichkeit, noch zwei Jahre und innerhalb von acht Monaten bereits weiter zu lernen, um dann zur Universität gehen zu können. zweimal aus ihrem Zuhause fliehen muss- ten, berichtet: „Meine Kinder [zwei, drei Im Mai 2017 kam ich mit meiner Familie nach Deutschland und bekam auch ver- und sechs Jahre alt] sind vom Klang der gleichsweise schnell einen Platz in einem Integrationskurs an der WAK. Da ich Angriffe traumatisiert […] Meine Toch- aber noch keinen Kindergartenplatz für meinen Sohn hatte, konnte ich diesen ter, die in die erste Klasse geht, ist perma- Kurs nicht besuchen. Deshalb gehe ich seit Oktober 2017 zweimal zwei Stun- nent ängstlich […] Sie fragte mich [nach- den wöchentlich in einen Mutter-Kind-Kurs der Diakonie. dem wir vertrieben wurden]: ‚Warum tötet Gott uns nicht? … Nirgendwo gibt Ich wünsche mir, dass ich einen Kindergartenplatz bekomme, um dann einen es Sicherheit für uns.‘ “ Integrationskurs besuchen zu können. Später möchte ich sehr gern als Biologin in einem Labor oder auch in einem Gewächshaus arbeiten. Die Autorin Asmaa Damlakhi stammt aus Syrien, ist 35 Jahre alt. Sie lebt in Schleswig-Holstein, ist Kirsten Richter arbeitet beim Flüchtlingsrat Schles- verheiratet und hat vier Kinder. Sie ist von Beruf Lehrerin. wig-Holstein als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit im IQ Netzwerk Schleswig-Holstein und lebt in Kiel. Die Geschichten entstanden im Rahmen einer Schreibwerkstatt für geflohene Frauen für die Bro- schüre „Ich wollte nicht zuhause bleiben“, einem Projekt der Husumer Gleichstellungsbeauftragten Der vollständige englischsprachige Bericht ‚Nowhere Britta Rudolph, das von Marianne Carstensen geleitet und vom Funktionsraum 5 im Kreis Nordfries- is safe for us‘: unlawful attacks an mass displacement land (Städte Husum und Friedrichstadt und Ämter Nordsee-Treene und Viöl) gefördert wurde. in north-west Syria ist online: https://www.amnesty. org/en/documents/MDE24/2089/2020/en/ www.frsh.de * Der Schlepper Nr. 98 * 09/2020 · 15
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