Nr.58 Dezember2020 - Stiftung Studienbibliothek zur Geschichte der ...

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Nr.58 Dezember2020 - Stiftung Studienbibliothek zur Geschichte der ...
Nr. 58                                                                                                Dezember 2020

           STUDIENBIBLIOTHEK
           INFO                       Bulletin der Stiftung Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung  

            Editorial
            »The falling leaves drift by the          Doch am 15. Juli konnten wir die        Der Text von Michael Koltan
            window …« singt Bob Dylan wäh-          Generalversammlung des För-             über das ›Archiv soziale Bewegun-
            rend ich dieses Editorial schreibe.     dervereins im neu renovierten           gen e. V.‹ gibt einen Einblick, wie
               Plane ich jetzt wieder Veranstal-    sogar Theater durchführen und           sich die Archivarbeit in den letz-
            tungen wie für 2020, obwohl sie         im Anschluss daran eine Veran-          ten Jahren verändert hat und
            vielleicht auch diesmal nicht rea-      staltung zu Frans Masereel und          welche technischen Herausforde-
            lisiert werden können? Wer weiss        Stefan Zweig mit Julia Glunk aus        rungen damit einhergehen. Die
            es? Oder wieder mit Bob Dylan ge-       Freiburg. Auf der nächsten Seite        Studienbibliothek hat seit der 2.
            antwortet »The answer my friend         präsentiert Karl-Heinz Kles eine        Hälfte der 1980er Jahre in einem
            is blowin in the wind«.                 Übersicht der Ausstellungen, die        produktiven Austausch mit Ar-
               Schade, dass die Filmvorfüh-         ab sofort bis 2022, dem 50sten To-      chiven der deutschsprachigen
            rung von ›Heimat ist ein Raum aus       desjahr von Masereel gezeigt wer-       Arbeiterbewegung und der neuen
            Zeit‹ im April der Pandemie zum         den.                                    sozialen Bewegungen gestanden
            Opfer fiel.                               Und jetzt also 2021.                  und ist heute als Referenz für die
                                                      Im Januar wollen wir mit einer        Bestände, die in der ZB Zürich
                                                    Buchvorstellung starten. Es ist         untergebracht sind, eine Anlauf-
              Einladung zum                         nicht das erste Mal, dass der His-      stelle.
              Jahresend-Apéro                       toriker Peter Huber bei uns Re-           2020 mussten wir wieder Ab-
              am Mittwoch, 16. Dezember             ferent ist. 1995 hat er in der Pinkus   schied nehmen von zwei Förder-
              2020, ab 17 Uhr in der Stiftung       Buchhandlung in Anwesenheit             verein-Mitgliedern. Trudi Wein-
              Studienbibliothek zur Geschich-       von Amalie Pinkus sein Buch ›Sta-       handl und Waldemar Lippmann
              te der Arbeiterbewegung,              lins Schatten in die Schweiz‹ zur       haben ihre letzten Jahre im Al-
              Quellenstrasse 25, 8005 Zürich,       Diskussion gestellt. Einige Jahre       terszentrum Limmat verbracht,
              Parterre rechts.                      später dann seine Recherchen            wo die Studienbibliothek-Mitar-
              Um 18 Uhr ein Vortrag zu: Spa-        über die Schweizer Spanienfrei-         beiter/innen regelmässig zu Mit-
              nischer Bürgerkrieg, italieni-        willigen und nun das Buch zu den        tag essen. So kam es immer wie-
              sche Resistenza, ›Terrorismus‹        Schweizer Freiwilligen in der Ré-       der zu erfreulichen Begegnungen
              der deutschen RAF. Der schotti-       sistance.                               und Gesprächen mit diesen bei-
              sche Schriftsteller Stuart Hood         Auch das ›Berliner Adressbuch‹        den aufgeschlossenen und poli-
              hat in seinen Romanen histori-        von John Heartfield möchte ich          tisch interessierten Menschen.
              sche Knotenpunkte des politi-         empfehlen. Theo Pinkus hat da-                                       B.W-R
              schen Widerstands behandelt.          rin einen Eintrag. Zeitlebens hat
              Der Übersetzer Stefan Howald          er Heartfields Fotomontagen be-
              stellt anhand des soeben er-          wundert und war mit einer Wan-
              schienenen Romans ›Das Buch           derausstellung unermüdlich un-
              Judith‹ Leben und Werk von Stu-       terwegs, um an dessen politische
              art Hood vor. In der edition 8 lie-   Kunst zu erinnern.
              gen von Hood bereits ›Carlino‹          Im letzten Info hat Bernd-Rai-
              und ›Das verrohte Herz‹ vor.          ner Barth über die Vorgeschichte
              Da es nur eine begrenzte Sitz-
                                                    von Ruth Werners ›Sonjas Rap-
              zahl gibt, bitten wir um Anmel-
                                                    port‹ berichtet. Jetzt ist in England
              dung per Mail oder Telefon.
                                                    ein Buch, geschrieben von einem
              Wir freuen uns auf euer Kom-
                                                    Journalisten, erschienen mit dem
              men und bedanken uns herz-
                                                    Titel ›Agent Sonya‹. Wer sich für
              lich bei allen Spenderinnen und
                                                    die Spionage während des 2. Welt-
              Spendern für ihre Unterstüt-
                                                    kriegs interessiert und sich für
              zung der Studienbibliothek im
                                                    Agentengeschichten im populä-
              Jahr 2020 und wünschen allen
                                                    ren Stil begeistert, dem kann das
              ein gutes Jahr 2021.
                                                    Buch empfohlen werden.

Info_58_2020.indd 1                                                                                                               18.11.20 16:20
2                                                                                                         STUDIENBIBLIOTHEK INFO

                                                                                                                            Stuart Hood
                                                                                                                            Das Buch
                                                                                                                            Judith, Roman
                                                                                                                            Aus dem
                                                                                                                            Englischen
                                                                                                                            übersetzt und
                                                                                                                            mit einem
                                                                                                                            Nachwort von
                                                                                                                            Stefan Howald,
                                                                                                                            216 Seiten,
                                                                                                                            gebunden,
                                                                                                                            Fr. 23.–, ISBN
                                                                                                   978-3-85990-406-4, auch als e-Book
                                                                                                   Ein Diktator liegt im Sterben. Eine
                                                                                                   revolutionäre Gruppe plant einen
                                                                                                   Anschlag. Doch was ist der Preis poli-
                                                                                                   tischen Engagements? Und welche
              Berliner Adressbuch                                                                  Rollen sind darin Mann und Frau
                                                                                                   zugewiesen? Diese Fragen stellt der
              Bei der Vorbereitung der Heartfield-Ausstellung der Akademie der Küns-               schottische Autor Stuart Hood in
              te fanden Christine Fischer-Defoy und Michael Krejsa das Adressbuch                  einem ebenso atmosphärisch dichten
              des Künstlers, daraus ist jetzt ein Buch geworden.                                   wie tiefschürfenden Roman. Das Buch
                Das im Archiv der Akademie der Künste in Berlin überlieferte Adress-               Judith stellt die Frage nach Tod und
              buch des Fotomonteurs, Plakatkünstlers, Bühnenbildners und Buchge-                   Leben, nach Töten und Überleben.
              stalters John Heartfield benutzte dieser seit seiner Rückkehr aus dem                Was also bleibt einer modernen
              Londoner Exil in die DDR. Die Einträge stammen aus der Zeit zwischen                 Judith zu tun?
                                                                                                                       www.edition8.ch
              1950 und seinem Tod 1968. Sie reichen von Tierärzten und Hundepen-
              sionen über Fotolabore und Druckereien, Theater und Buchhandlun-
              gen, Mitglieder aus der Akademie der Künste, Freunde und Kollegen
              aus West-Berlin und dem Londoner Exil, bis zum ZK der SED und der                    Einladung zur
              DDR-Regierung. Zu vielen Einträgen finden sich im John-Heartfield-                   Buchvorstellung
              Archiv der Akademie der Künste noch unveröffentlichte Korresponden-                  am Mittwoch, 20. Januar 2020
              zen und Fotografien, die eine profunde Kommentierung ermöglichen.                    um 19 Uhr im bücherraum  f,
              Auszüge aus dem Adressbuch werden um biografische Anmerkungen,                       Jungstrasse 9, 8050 Zürich
              Anekdoten und Briefzitate von etwa 120 Adressatinnen und Adressaten
              bereichert – von Becher und Brecht über Havemann und Heym bis zu                     Peter Huber: In der Résistance.
              Piscator und Seghers. So entsteht ein detailreiches Bild der Lebens- und             Schweizer Freiwillige auf der
              Arbeitssituation Heartfields in der DDR.                                             Seite Frankreichs (1940–1945)
              Christine Fischer-Defoy / Michael Krejsa: John Heartfield. Das Berliner Adress-      Schweizer Freiwillige im Zwei-
              buch 1950–1968, 200 Seiten, 91 Abbildungen, ISBN 978-3-947215-75-1, c 18.–           ten Weltkrieg in den Reihen
                                                                                                   der Alliierten hatten bei der
                                                                                                   Rückkehr in die Schweiz einen
                                                                                                   schweren Stand. Obwohl sie
                                                                                                   auf der Seite der Sieger stan-
                                                                                                   den, empfing sie die Heimat
                                                                                                   mit Gleichgültigkeit und dem
                                                                                                   Vorwurf, das Land im Stich
                                                                                                   gelassen und zu Kriegszeiten
                                                                                                   geschwächt zu haben. Die Mi-
                                                                                                   litärjustiz verurteilte sie wegen
                                                                                                   fremden Kriegsdiensts zu Ge-
                                                                                                   fängnisstrafen. Auf dem Sie-
                                                                                                   gerpodest standen ausschliess-
                                                                                                   lich General Guisan, die Armee
                                                                                                   und die sorgsam konstruierte
                                                                                                   »wehrhafte Schweiz«. Eine Re-
                                                                                                   habilitierung und Würdigung
                                                                                                   dieser Freiwilligen haben Bun-
                                                                                                   desrat und Parlament ein letz-
              Theo Pinkus eröffnet 1977 in der Elefanten-Press-Galerie in Berlin die Heartfield-   tes Mal im Jahr 2008 abgelehnt.
              Ausstellung. Foto: Jürgen Henschel

Info_58_2020.indd 2                                                                                                                              18.11.20 16:20
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            Ausstellungen zu und mit Frans Masereel von 2021 bis 2022
            Karl Hubbuch                            – anlässlich des dann fünfzigjäh-     seren Part bei Henrik Elburn und
            Das Kunstmuseum Bayreuth                rigen Todestages Frans Masereels      Julia Hartnick vom K8. Peter Riede
            zeigt noch bis zum 21.2.2021 die        – eine Retrospektive zu dessen        gehört auch zum Kuratorenteam.
            Ausstellung ›Karl Hubbuch – Ein         Werk, die sich nicht nur auf dessen     Hamid Suleiman (Syrien) hat
            nicht zu überhörendes Werk!‹. Zu        grafische Arbeiten und seine Male-    zum Thema ›Masereels Leben‹ ei-
            den ausgestellten Künstlerinnen         rei beziehen, sondern die gesamte     nen Auftrag von einem französi-
            und Künstlern gehört auch Frans         Bandbreite seines künstlerischen      schen Verlag erhalten.
            Masereel. Er ist dort mit den Holz-     Schaffens aufzeigen soll.
                                                                                          Land of memory
            schnitten ›L’armée nouvelle‹ von
                                                    ›Frans Masereel und Hamid             In der Grossregion (Frankreich,
            1954 und ›La dernière bombe‹ von
                                                    Suleiman‹ plus Begleitprogramm        Luxemburg, Belgien, Deutsch-
            1959 vertreten.
                                                    ›Masereel und Suleiman‹ mit dem       land) wird es zwischen 2020 bis
            Big City Life                           Schwerpunkt auf Menschen-             2022 zusätzlich zur webite https:
            Die Ausstellung in Basel wird sich      rechtsfragen und der Antikriegs-      //1933–1945.land-of-memory.eu/
            dem Leben in der Stadt widmen.          thematik soll 2022 im Museum          de/ an verschiedenen Orten ei-
            Ausgangspunkt ist dabei das Buch        der Résistance in Esch sur Alzet-     gens konzipierte Ausstellungen
            ›Die Stadt‹ bzw. ›La ville‹ von Frans   te (Luxemburg) zu sehen sein.         geben. Der Plan beinhaltet, an je-
            Masereel. Dessen Kritik an der          Esch ist dann europäische Kul-        dem dieser Orte mindestens ein
            städtischen Gesellschaft, seiner        turhauptstadt zusammen mit der        Werk Masereels zu integrieren.
            Reflektion des Alltags und der          litauischen Stadt Kaunas.                        Karl-Heinz Kles (Frans
            Sicht auf die Schönheit der Stadt          Die Projektleitung liegt für un-      Masereel Stiftung Saarbrücken)
            möchte das Cartoon-Museum in
            Basel zeitgenössische Positionen
            (Art Spiegelman, Lorenzo Mat-
            totti, Gabriela Giandelli, Tardi,       Liebe Interessierte am bücherraum f
            Sempé, Thierry van Hasselt, Eric
                                                    Wir hoffen, Ihr befindet Euch wohlauf. Die gute Nachricht: Den bücher-
            Drooker u.v.m) gegenüberstellen.
                                                    raum f gibt es weiterhin; wir sind entschlossen, ihn weiterzuführen. Nach
              Ab Mitte Februar bis über die
                                                    der Zwangspause ab Anfang März haben wir am 2. September unsere
            ART Basel Mitte Juni beabsich-
                                                    Bibliotheken wieder geöffnet und seither auch erfolgreich drei Veran-
            tigt das Museum neben diesen
                                                    staltungen mit Hans Fässler, Ruedi Küng und Liselotte Lüscher durchge-
            Holzschnitten Masereels weitere
                                                    führt. Berichte, inklusive podcasts, findet Ihr auf www.buecherraumf.ch.
            seiner Werke zur Thematik des
                                                      Angesichts der verschärften pandemischen Lage werden wir aber un-
            Grossstadtlebens (dazu sollen
                                                    ser Programm kurzfristig zurückfahren oder vorübergehend ganz einstel-
            dann auch andere Holzschnit-
                                                    len müssen. Die Bibliotheken versuchen wir offenzuhalten und darüber
            te sowie Radierungen, Lithogra-
                                                    hinaus weitere attraktive Aktivitäten anzubieten.
            phien, Tuschzeichnungen und
                                                      Die schlechte Nachricht, Ihr habt es geahnt: Das alles kostet Geld. Der
            Aquarelle – die ab 1913 bis in die
                                                    Vermieter ist uns im Sommer zwar etwas entgegengekommen, dennoch
            sechziger Jahre des letzten Jahr-
                                                    sind die laufenden Kosten beträchtlich.
            hunderts entstanden sind – gehö-
                                                      Seit dem Start unseres Projekts 2018 sind wir von Privaten grosszügig
            ren) zu präsentieren.
                                                    finanziell und moralisch unterstützt worden. Dank dessen konnten wir
            Die Revolte der Maschinen               mittlerweile über 30 Veranstaltungen durchführen. Jetzt sind wir wieder
            Das Film und Grafik Novel Projekt       auf Unterstützung angewiesen. Am besten ist uns mit regelmässigen
            des K8 ›Die Revolte der Maschi-         Zuwendungen geholfen. Ein Mitgliedsbeitrag in unserem Trägerverein
            nen‹ (Rolland/Masereel mit Sym-         kostet 60 Franken, ein Fördermitglied zahlt 240 Franken. Jederzeit sind
            posion, Publikation und Ausstel-        natürlich Spenden willkommen.
            lung ist Covid 19 bedingt bereits         Über unsere, notgedrungen flexiblen, Pläne werden wir Euch auf dem
            zwei Mal verschoben worden, weil        Laufenden halten. Unsere beiden Bibliotheken mit mittlerweile rund
            vorgesehene       TeilnehmerInnen       21’000 Büchern und Broschüren können an drei Tagen in der Woche be-
            aus den USA, Belgien und Frank-         nützt werden. Regelmässig berichten wir auf der Website über neue und
            reich abgesagt haben. Der nächs-        alte Bücher aus unseren Beständen. Zudem werden wir versuchen, eine
            te Versuch soll jetzt im 1. Halbjahr    kleine Bibliothek mit podcasts aufzubauen. Neben der Website sind wir
            2021 erfolgen. Eine website ist in      auch auf Twitter unterwegs, wo wir über unsere Aktivitäten berichten (@
            Vorbereitung.                           buecherraum). Wir hoffen also, weiterhin auf Euer Wohlwollen zählen zu
                                                    dürfen. Hilfreich wäre es für uns auch, wenn Ihr zusätzliche Kreise auf
            Retrospektive zum Werk Masereels
                                                    unser Projekt aufmerksam machen könntet. Mit bestem Dank und in der
            im Kunstmuseum Reutlingen
                                                    Hoffnung, Euch nächstens wieder (oder erstmals) im bücherraum f be-
            Ab Oktober 2021 bis ins erste Vier-
                                                    grüssen zu dürfen.                           Monika Zemp, Stefan Howald
            tel des Jahres 2022 hinein, plant
            das Kunstmuseum in Reutlingen           bücherraum f, Jungstr. 9, 8050 Zürich, IBAN CH63 0900 0000 6107 6601 1

Info_58_2020.indd 3                                                                                                              18.11.20 16:20
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             Das Freiburger Archiv Soziale Bewegungen e.V.
              Eigentlich hätte es dieses Jahr        Baden-Württemberg machen es              Doch diese Vorstellung war naiv.
              etwas zu feiern gegeben: Vor 35        möglich.                              Schon recht früh stellten wir fest,
              Jahren, am 1. Mai 1985, öffnete           Ursprünglich war das Archiv        dass es nicht die Bewegungsakti-
              das Archiv Soziale Bewegungen          einmal gedacht als ein Archiv von     vist*innen waren, die das Archiv
              in Freiburg im Breisgau erstmals       den Bewegungen für die Bewe-          aufsuchten. Es waren Student*in-
              seine Türen für ein interessiertes     gungen, um einen Selbstreflexi-       nen, die Material für Seminarar-
              Publikum. Die Bestände waren           onsprozess der Bewegungen zu          beiten suchten. Und wir wuchsen
              damals sehr überschaubar, die          ermöglichen. Die ›Neuen Sozialen      mit unserer Klientel: Bald wur-
              Räumlichkeiten in der Remise ei-       Bewegungen‹, so der in den 70er       den die ersten Magisterarbeiten
              ner ehemaligen Kohlenhandlung          Jahren geprägte Name, hatten          mit Hilfe unseres Materials ge-
              zugig und die Finanzen ungesi-         die Art und Weise verändert, was      schrieben, dann Doktorarbeiten,
              chert. Doch auch wenn wir be-          man unter demokratischer Poli-        schliesslich Habilitationen. Inzwi-
              dingt durch die Pandemie dieses        tik verstand: Statt die Politik ei-   schen kommen Forscher*innen
              Jahr nicht feiern konnten: In den      ner Minderheit zu überlassen, die     aus der ganzen Welt, um diese
              dreieinhalb Jahrzehnten seither        sich über die Parteien an die po-     inzwischen nicht mehr so ganz
              hat sich einiges getan. Inzwischen     litischen Machtpositionen nach        neue Welt der politischen Inter-
              lagern buchstäblich Tausende von       oben geboxt hatte, sollten auch       vention jenseits der Parteipolitik
              Zeitschriften und Broschüren,          die einfachen Bürger*innen auf        wissenschaftlich zu erforschen.
              Zehntausende von Flugblättern          die gesellschaftlichen Entschei-         Anfänglich haben wir etwas re-
              (ehrlich gesagt können es auch         dungsprozesse Einfluss nehmen:        signiert zur Kenntnis genommen,
              Hunderttausende sein, so genau         Selbstorganisation von unten          dass wir, statt die Bewegungen
              wissen wir das selbst nicht), Filme,   statt Diktat von oben.                zu unterstützen, nur dem Wis-
              Photos, Tondokumente, Transpa-            Doch Bewegungspolitik hat ei-      senschaftsapparat Material zur
              rente, Sticker, Buttons … auf drei     nen entscheidenden Nachteil ge-       Verfügung stellen. Bis uns irgend-
              Stockwerken in einer ehemaligen        genüber Parteipolitik. Es fehlen      wann die Einsicht dämmerte,
              Eisengiesserei am Rande der Frei-      verbindliche Strukturen, Kontinu-     dass das kein Widerspruch war
              burger Innenstadt.                     itäten reissen ab, einmal erarbei-    und ist. Ganz im Gegenteil. Zum
                Die Finanzierung ist nach wie        tetes Wissen geht schnell wieder      einen sind die Wissenschaftler*in-
              vor nicht üppig, aber wir kön-         verloren. Dem sollte das Archiv       nen, die unser Archiv aufsuchen,
              nen uns jetzt zumindest eine           entgegenwirken, indem es den Er-      meist nicht zu trennen von den
              hauptamtliche      Stelle    leisten   fahrungen, die in den Bewegun-        Aktivist*innen. Oft sind sie bei-
              (wenn auch nicht in Vollzeit) und      gen gemacht wurden, Beständig-        des: Aktivistisch unterwegs in
              einen Minijob. Spenden eines           keit und Kontinuität verlieh und      den Bewegungen und gleichzeitig
              Fördervereins und Zuschüsse der        damit die politische Schlagkraft      eingebunden in den Universitäts-
              Stadt Freiburg und des Landes          stärkte.                              betrieb. Und sie studieren natür-
                                                                                           lich das, was sie auch ausserhalb
                                                                                           der Universität umtreibt. Und mit
                                                                                           ihrer Forschung machen sie das,
                                                                                           was an Neuem innerhalb der Be-
                                                                                           wegungen entstand und entsteht,
                                                                                           zu einem Teil des gesellschaftlich
                                                                                           gesicherten Wissens.
                                                                                              Dadurch wandelt sich auch die
                                                                                           politische Dynamik, ironischer-
                                                                                           weise gar nicht so sehr auf der Sei-
                                                                                           te der Bewegungen, die nach wie
                                                                                           vor die selben Fehler machen wie
                                                                                           vor Jahrzehnten, als vielmehr auf
                                                                                           der Seite der institutionalisierten
                                                                                           Politik. Hier hat sich in den letzten
                                                                                           50 Jahren enorm viel verändert.
                                                                                           Der alte paternalistische Gestus
                                                                                           hat an Glaubwürdigkeit verloren,
                                                                                           erinnert sei nur an das allgemeine
                                                                                           Gelächter, das Christian Lindner
                                                                                           entgegenschlug, als er den Akti-
                                                                                           vist*innen von Fridays for Future

Info_58_2020.indd 4                                                                                                                     18.11.20 16:20
STUDIENBIBLIOTHEK INFO                                                                                           5

                                                                     gebrannt: Das      schon gar keine Artikel, in denen
                                                                     digitale   Zeit-   nur das Wort Havanna vorkommt.
                                                                     alter hatte be-    Deswegen ist ein gut verschlag-
                                                                     gonnen.            worteter Bestand eigentlich eine
                                                                       Unser Archiv     Notwendigkeit. Wenn alle Artikel,
                                                                     war      damals    die sich mit Kuba befassen, auch
                                                                     an vorderster      mit der zugehörigen Identifika-
                                                                     Front. Der ers-    tionsnummer 4033340-1 der Ge-
                                                                     te Scanner, den    meinsamen Normdatei verschlag-
                                                                     wir uns in der     wortet sind, können sie gefunden
                                                                     zweiten Hälfte     werden, unabhängig davon, ob
                                                                     der 90er Jahre     das Wort auftaucht oder nicht.
                                                                     angeschafft ha-      Doch leider haben die wenigsten
                                                                     ben,     kostete   Archive die Resourcen, um eine
                                                                     uns die enor-      gründliche Verschlagwortung ih-
                                                                     me Summe von       rer Bestände durchführen zu kön-
            empfahl, Klimapolitik »den Pro-      5000 DM. Aber uns war schon da-        nen. Unser Archiv ist dabei keine
            fis« zu überlassen.                  mals bewusst, dass die Zukunft         Ausnahme. Verschlagwortung ist
               Es gibt sicherlich eine ganze     des Archivwesens digital sein          zeitaufwendig und damit sehr
            Reihe von Gründen, warum er-         würde. Wir entwickelten ein ei-        teuer, weshalb wir keine Chance
            hebliche Teile der institutionali-   genes Datenbanksystem namens           haben, die vielen Digitalisate von
            sierten Politik einen demokrati-     Alexandria, um die digitalisierten     Hand zu verschlagworten.
            schen Lernprozess durchgemacht       Materialien effizient verwalten          Aus dieser Not wurde eine Idee
            haben. Aber die Tatsache, dass       zu können. Inzwischen sind über        geboren, die sich ›Der Digitale Ar-
            die Bewegungen inzwischen von        27’000 Dokumentdateien in die-         chivar‹ nennt (https://staccared.
            Historiker*innen, Soziolog*innen     ser Datenbank erfasst. Daneben         com/). Die Idee selbst ist ausge-
            und Politolog*innen zum Unter-       haben wir rund 500 Zeitschriften       sprochen simpel: Die Dokumen-
            suchungsgegenstand        gemacht    digitalisiert, wirklich Zeitschrif-    te werden einer Software über-
            werden und die gesellschaftliche     ten, nicht Zeitschriftennummern.       geben, die über eine künstliche
            Dynamik besser begriffen wird,       Das sind mehr als 14’000 Pdf-Da-       Intelligenz verfügt. Und die erle-
            dürfte zu diesem Transformati-       teien mit zusammen mehr als            digt dann die Verschlagwortung
            onsprozess hin zu mehr Transpa-      600’000 Seiten. Diese sind über        für uns. So simpel diese Idee ist,
            renz und echter Beteiligung mit      einen Gesamtindex erschlossen,         so komplex ist sie in der Um-
            beigetragen haben. Das ist sicher    der eine Volltextsuche über den        setzung. Wir haben deshalb ein
            nicht die Revolution, von der wir    gesamten digitalisierten Zeit-         Team von erfahrenen Informatik-
            vielleicht einmal geträumt ha-       schriftenbestand erlaubt – ein für     spezialisten    zusammengestellt,
            ben, aber wir haben auch mehr        unsere Nutzer*innen wertvolles         die diesen ›Digitalen Archivar‹ in
            erreicht, als einfach nur Nach-      Recherchewerkzeug.                     Zusammenarbeit mit uns entwi-
            wuchswissenschaftler*innen Ar-         Auch wenn die Volltextsuche          ckeln wollen. Ein Prototyp wurde
            beit zu verschaffen.                 aus den Beständen sehr prak-           bereits gebaut, der zeigt, dass das
               So wie sich die Zielsetzung des   tisch erscheinen mag, so hat sie       Ganze im Prinzip funktioniert;
            Archivs verändert hat, so auch       doch einen grossen Nachteil: Sie       aber natürlich sind die Ergebnisse
            seine Arbeitsmethoden. Deutlich      findet nur Stellen, wo das Such-       selbst noch nicht so, dass die Soft-
            wird dies an der ›Chronologie der    wort exakt so auftaucht, wie es in                         Fortsetzung Seite 6
            Sozialen Bewegungen‹, die wir seit   die Suchmas-
            1986 herausgeben. Vierteljährlich    ke eingegeben
            fassen wir alles zusammen, was       wird. Nehmen
            es Neues an Flugblättern, Bro-       wir ein Bei-
            schüren, Zeitschriften im Frei-      spiel:     Wenn
            burger Raum gibt. In den ersten      eine Nutzer*in
            Jahren wurden diese kopiert und      Artikel zur Cu-
            gebunden, um diese Zusammen-         ba-Solidari-
            stellung dann an verschiedene        tät sucht und
            wissenschaftliche Institutionen      als Suchwort
            auszuliefern. Der letzte derar-      ›Cuba‹ verwen-
            tig zusammengestellte Band er-       det, dann fin-
            schien 1998. Von da an wechselte     det sie keine
            das Medium: Statt kopiert und        Texte, in de-
            gebunden erschienen die Druck-       nen Kuba an-
            erzeugnisse der Bewegungen nun-      ders geschrie-
            mehr gescannt und auf CD-ROM         ben wird. Und

Info_58_2020.indd 5                                                                                                               18.11.20 16:20
6                                                                                                 STUDIENBIBLIOTHEK INFO

                                                                         sondern di-          Darin liegt eine gewisse Para-
                                                                         rekt ins Netz      doxie: Eigentlich gibt es – social
                                                                         verlagert.         media Plattformen und messen-
                                                                         Was früher         ger apps sei Dank – einen deutlich
                                                                         als Flugblatt      höheren Grad der Dokumentation
                                                                         erschien, ist      als früher, wo viel mehr Kommu-
                                                                         heute       ein    nikation ausschliesslich mündlich
                                                                         Fa c e b o o k -   erfolgte. Andererseits ist es sehr
                                                                         Post,      der     schwierig, diese Daten zu archi-
                                                                         auch den Ak-       vieren. Hier stehen wir vor gros-
                                                                         tivist*innen       sen Herausforderungen. Wenn wir
                                                                         selbst nicht       diese nicht bewältigen, wird die
                                                                         als Datei vor-     aktuelle Bewegungsgeschichte in
                                                                         liegt.    Und      ein paar Jahrzehnten nicht mehr
                                                                         noch kom-          nachvollziehbar sein.
                                                                         plizierter           So gehen uns auch im 35. Jahr
                                                                         wird        es,    unseres Bestehens die Aufgaben
              Fortsetzung von Seite 5                 wenn die Mobilisierung über ir-       nicht aus.
              ware produktiv eingesetzt wer-          gendwelche chat-Gruppen er-                 Michael Koltan, Freiburg i.Br.
              den kann. Wir befinden uns jetzt        folgt.
              in der Phase, wo wir uns um die
              Finanzierung kümmern, um die
              Software zur Produktreife weiter-        Gertrud Weinhandl-Kägi, 21. Juli 1929 – 27. Mai 2020
              entwickeln zu können.
                Die aktuelle Pandemie hat uns         Viele Jahre brachte Trudi uns als     pulse gab. Dies führte sie zur SP,
              in der Herangehensweise be-             Beilage zum Programm zu ihren         die sie später wieder verliess, weil
              stärkt, konsequent auf Digitali-        Führungen im Friedhof Sihlfeld        sie ihr zu wenig kämpferisch war.
              sierung zu setzen. In Zeiten, in        einen selbstgebackenen Kuchen         Sie wollte gesellschaftlich etwas
              denen jeder vernünftige Mensch          mit.                                  bewegen, setzte sich für das Frau-
              versuchen sollte, auf längere Rei-        Politisch engagiert und dabei       enstimmrecht ein und engagier-
              sen zu verzichten, ist auch bei uns     immer praktisch tätig, das war        te sich bei den ›Frauen für den
              die Zahl der Besucher*innen stark       Trudi. Sie strickte für den Bazar     Frieden‹, bei der ›Frauenliga für
              eingebrochen. Was aber ebenso           der PdA, fotografierte bei den        Frieden und Freiheit‹ und begann
              stark zugenommen hat, sind die          Veranstaltungen, verteilte Flug-      über das Leben von bekannten
              Anfragen über das Internet. Und         blätter, sammelte Unterschriften,     Frauen zu recherchieren. So ent-
              wir bemühen uns redlich, allen          schrieb Artikel und Frauenpor-        stand ihre viel beachtete Biogra-
              Forschenden so gut es geht die für      traits.                               fie über Clara Ragaz. Trudi las mit
              sie relevanten Quellen auf digita-        Eigentlich wollte sie Lehre-        grossem Interesse die Ragaz-Lite-
              lem Wege zukommen zu lassen.            rin werden, aber die bescheide-       ratur und wurde Mitglied bei der
              Natürlich ist das kein Ersatz für ei-   nen Verhältnisse, aus denen sie       ›Religiös-Sozialistischen Vereini-
              nen echten Archivbesuch; aber als       stammte, erlaubten es nicht.          gung‹.
              Notbehelf ist es besser als nichts.       Mit elf Jahren schlossen sich ihr     Trudi war so vielfältig aktiv, dass
                Nicht nur die Digitalisierung         Bruder und sie der sozialistischen    ich nicht abschliessend alles auf-
              analogen historischen Materials         Jugendgruppe Rote Falken an, die      zählen kann. In Erinnerung ist mir
              ist eine Herausforderung. Tat-          ihnen die ersten politischen Im-      ihre Mitarbeit im ›Historischen
              sächlich ist das sogar der einfa-                                             Verein Aussersihl‹ und später bei
              chere Teil. Ein viel grösseres Pro-                                           der PdA-Altersorganisation ›Avi-
              blem wirft das Material auf, das                                              vo‹, für deren Informationsheft sie
              gar nicht mehr physisch greifbare                                             zahlreiche Frauenportraits, auch
              Form annimmt. Andere Archi-                                                   eines über Amalie Pinkus, verfass-
              ve, die klassischen Akten, wie sie                                            te.
              von Behörden produziert werden,                                                 Lange Zeit machte sie kenntnis-
              sammeln, sind davon gar nicht                                                 reiche Führungen auf dem Fried-
              so sehr betroffen: Statt Schrift-                                             hof Sihlfeld, wo sie auf Grabstät-
              stücken sind eben Office-Datei-                                               ten von bekannten Sozialisten wie
              en zu archivieren. Das wirft zwar                                             August Bebel oder auf die von Jo-
              auch einige Probleme auf, aber                                                hanna Spyri und Gottfried Keller
              die sind harmlos im Vergleich zu                                              hinwies.
              unserem Sammlungsgebiet, den                                                    Am 5. Juni wurde Trudi dort im
              sozialen Bewegungen. Denn dort                                                Urnen-Reihengrab Nr. 5456 beer-
              ist ganz viel nicht nur ins Digitale,                                         digt.                         B.W-R

Info_58_2020.indd 6                                                                                                                      18.11.20 16:20
STUDIENBIBLIOTHEK INFO                                                                                             7

                                     Waldemar Lippmann, 27. Dezember 1927 – 29. März 2020
            Wir trauern um unseren Freund              Doch sein Sohn Hans, der spä-      dende Jugendfest. Das hätte ihm
            und Genossen Waldemar Lipp-             tere Vater von Waldemar, woll-        Spass gemacht, erzählte Walde-
            mann. Unsere Gedanken sind bei          te etwas Eigenes machen. Statt        mar bei einem Treffen, denn an
            seiner Tochter Inge und seiner          Kaufmann zu werden, wählte er         der Langstrasse hätten praktisch
            Partnerin Irene.                        für sich den handwerklichen Ma-       alle Geschäfte Preise gespendet –
              Waldemar Lippmann war ein             lerberuf – und als seine Frau keine   die jüdischen Textilien, die italie-
            Freigeist, der sich nicht in dogma-     Jüdin. Maria Tschan, aufgewach-       nischen Lebensmittel.
            tische Schemata pressen liess. Er       sen in einer evangelischen Familie       Waldemar fiel es leicht, Kontak-
            erwähnte oft, dass das Lied ›Die        in Sigriswil im Berner Oberland,      te zu knüpfen und zu halten. An
            Gedanken sind frei‹ sein liebstes       liebte das Bücherlesen, und ihr       der Abdankung für seinen Vater
            sei. Mit dem Liedtext hat er sich       Herz schlug nicht nur anatomisch      Hans sprach Theo Pinkus. Durch
            identifiziert. Er liess sich von nie-   links.                                ihn und natürlich durch seine El-
            mandem vorschreiben, was er zu             So war es naheliegend, dass sie    tern, kannte Waldemar alle Kom-
            denken oder zu tun hatte und leb-       als Bibliothekarin für die Unions-    munisten und später alle Mitglie-
            te sein Leben, wie er es für richtig    bibliothek im Volkshaus arbeitete.    der der PdA persönlich. Ihnen
            hielt.                                  Waldemars Mutter schrieb aber         stand er nahe. Er selber war je-
              Dass sich Waldemars Gedanken          auch eigene Beiträge für Zeitun-      doch nie Parteimitglied. Trotzdem
            wahrscheinlich oft auch um Poli-        gen wie ›Vorwärts‹ oder ›Die rote     fragte die PdA ihn an, ob er sich
            tik und um soziale Fragen drehten,      Fahne‹. Sie verstand sich eher als    als Kandidat für ein parlamenta-
            war nicht verwunderlich. Hat er         Anarchistin, während der Vater        risches Amt auf ihre Liste setzen
            doch das politische Bewusstsein         ein bekennender Kommunist war.        wolle. Waldemar wollte nicht. Erst
            quasi mit der Muttermilch auf-          Als Handwerker engagierte er sich     viel später übte er als Schulpfleger
            gesogen. Denn seine Eltern Hans         bei der Maler- und Gipser-Ge-         im Kreis 3 ein politisches Amt aus.
            und Maria waren nicht gerade            werkschaft und nahm an Streiks        Als Mitglied der SP, der er beige-
            ein angepasstes, gutbürgerliches        teil. Er war Geschäftsleiter der      treten ist, obwohl er selber sich
            Paar. Ohne Trauschein lebte es in       ›Roten Hilfe‹, einer der KP nahe-     immer als Sozialist und nicht als
            Zürich an der Schoffelgasse in wil-     stehenden Organisation, die sich      Sozialdemokrat bezeichnet hat.
            der Ehe zusammen – trotz des da-        hauptsächlich um Geflüchtete          In der SP ist er geblieben, trat aber
            mals herrschenden Konkubinat-           aus Nazi-Deutschland kümmerte         zusätzlich der ›Alternativen Liste‹
            verbots.                                und um Heimkehrende aus dem           bei.
              Irgendwann wurde der juristi-         Spanischen Bürgerkrieg.                  Beruflich und privat war Walde-
            sche und soziale Druck jedoch so           Irgendwie logisch, dass Walde-     mar eher bereit, sich festzulegen.
            gross, dass Waldemars zukünftige        mar mit solch engagierten Eltern      Er wurde diplomierter Zolldekla-
            Eltern 1921 doch noch heirateten.       selber schon früh politisiert wor-    rant und übte diesen Beruf zehn
              Sechs Jahre später, 1927, kam         den ist. Bereits in jungen Jahren     Jahre aus, bevor er in die Textil-
            der kleine Waldemar nicht an der        machte Waldemar aktiv bei den         branche wechselte, wo er das Im-
            Schoffel- sondern an der Kuttel-        ›Jungen Pionieren‹ und später bei     port/Export-Geschäft betrieb, um
            gasse auf die Welt. Seine Wohnad-       der ›Freien Jugend‹ mit – beides      danach aber wieder zur Zollde-
            resse sollte nicht zum letzten Mal      Gruppierungen, die der Kommu-         klaration zurückzukehren. Eine
            ändern. Lippmanns mussten oft-          nistischen Partei nahestanden.        grosse berufliche Veränderung
            mals umziehen. Ausser im Kreis             Eine von Waldemars Aufgaben        kam erst 1967. Waldemar nahm
            12, wohnte Waldemar Zeit seines         war das Sammeln von Tombola-          im Betreibungs- und Konkursamt
            Lebens in jedem Zürcher Stadt-          Preisen für das jährlich stattfin-    Kreis 9 die Stelle als Rechnungs-
            kreis. In unguter Erinnerung ist                                              führer an. Das blieb er, später im
            ihm als Wohnadresse die Limmat-                                               Kreis 5, bis zu seiner Pensionie-
            strasse geblieben. Damals, als Ju-                                            rung 1991. Diese Aufgabe übte er
            gendlicher, so erzählte Waldemar,                                             mit Engagement aus. Die Schick-
            sei im Quartier der Antisemitis-                                              sale der Menschen, die in eine
            mus weit verbreitet und deutlich                                              finanzielle Bredouille gerieten,
            hör- und spürbar gewesen. Dar-                                                liessen ihn nicht kalt. Sich in ihre
            unter habe er sehr gelitten.                                                  Situation hineinzuversetzen und
              Denn Waldemar stammte vä-                                                   ihnen so weit als möglich zu hel-
            terlicherseits aus einer jüdischen                                            fen, das war Waldemar wichtig.
            Familie.                                                                      Ganz nach seinem Motto »Der
              Sein Grossvater war ein kleiner                                             Mensch, der auf ein schlechtes
            Kaufmann, der 1899 von Berlin                                                 Gleis geraten ist, ist noch immer
            nach Zürich auswanderte. Hier                                                 zuallererst ein Mensch.«
            eröffnete er ein Geschäft für Re-                                                Privat war Waldemar Ehemann
            klametafeln.                                                                                      Fortsetzung Seite 8

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                        AG SPAK Bücher                                                                                                                    vier Wochen Ferien und kümmer-
                                                                                                                                                          te sich um seine Töchter und um
                                                                                                                                                          den ganzen Haushalt. Das war gar
                                                                                                                                                          keine Selbstverständlichkeit zu je-
                                                                                                                                                          ner Zeit!
                                                                                         Gisela Notz (Hg.)
                                                                                                                                                             Als Pensionierter hat er seine
                          Neu                                                            Kalender 2021                                                    Kontakte zur Linken stets ge-
                                                                                         Wegbereiterinnen XIX                                             pflegt. So kam er zu uns, zur
                                                                                         ISBN 978-3-945959-49-7 I 2020                                    Avivo. Zwei Jahre nach seinem
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                                                                                         Der Wandkalender 2021 im DIN A3-Format mit 12 Wegbe-
                                                                                         reiterinnen der emanzipatorischen Frauenbewegung infor-          sident. Die Avivo als kämpferi-
                                                                                         miert über Frauen, die in ihrer Zeit viel bewegt haben.          sche Interessenvertreterin alter
                                                                                         Er erscheint 2021 zum neunzehnten Mal.
                                                                                                                                                          Menschen, entsprach ganz dem
                                                                                         Vorgestellt werden diese Frauen:
                                                                                         Juliette Caron (1882–1940) Französische Bauarbeiterin in der
                                                                                                                                                          Geist von Waldemar. So führte er
                                                                                         Belle Époque I Gertrud Düby-Blom (1901–1993) Radikale            die Avivo-Abordnung am 1. Mai-
                                                                                         Umweltschützerin I Minna Faßhauer (1875–1949) Ministerin,
                                                                                         Spartakistin, Antifaschistin I Minna Flake (1886–1958) Ärztin    Umzug an, er organisierte Anläs-
                                                                                         im Dienste des Sozialismus I Netty Honeyball (1871– nach         se und sogar Ferienreisen ins Aus-
                                                                                         1901) Gründerin des ersten britischen Frauenfußballteams I
                                                                                         Florence Kelley (1859–1932) Vorkämpferin für Arbeitsrechte       land und er sorgte dafür, dass die
                                                                                         von Frauen I Františka Plamínková (1875–1942) Tschechos-
                                                                                         lowakische Feministin I Amparo Poch y Gascón (1902–1968)
                                                                                                                                                          Avivo-Mitglieder Zugang zu einer
                                                                                         Spanische Schriftstellerin, Anarchistin I Emmeline Stegmann      kompetenten Sozialberatung hat-
                                                                                         (1865–1946) Erste (Genossenschafts-)Bankdirektorin I Alfon-
                                                                                         sina Morini Strada (1891–1959) Italienische Radsportlerin I      ten. Er hat mit Schwung und En-
                                                                                         Bertha Thalheimer (1883–1959) Von der Spartakusaktivistin
                                                                                         zur Opposition gegen Stalin I Clara Belle Williams (1885–1994)
                                                                                                                                                          gagement mitgeholfen, Sozialab-
                                                                                         Erste Schwarze Absolventin der New Mexico State University       bau zu verhindern – nur den un-
                                                                                                                       Wegbereiterinnen XVIII:
                                                                                                                                                          ermüdlich angestrebten Ausbau
                                                                                                            Kalender 2021 + Postkartenset 2021            der Sozialversicherungen, kann er
                        POSTKARTENSETS Gisela Notz (Hg.)                                               zusammen 20 Euro – ISBN 978-945959-50-3
                                                                                                                                                          jetzt nicht mehr erleben. 2008 hat
                             Wegbereiterinnen XIX
                             ISBN 978-3-945959-51-0 I 2020 I 9 €                                                                                          Waldemar den Vorsitz abgegeben
                        AG SPAK Bücher                       Burlafinger Str. 11   Tel.: (07308) 91 92 61        spak-buecher@leibi.de                    und wurde zum Avivo-Ehrenprä-
                                                             89233 Neu-Ulm         Fax: (07308) 91 90 95         www.agspak-buecher.de
                                                                                                                                                          sidenten ernannt.
                                                                                                                                                             Seine letzten Jahre verbrachte
                                                                                                                                                          Waldemar im Alterszentrum Lim-
                    Fortsetzung von Seite 7                               dem Fest lud er sie zu einer Schiff-                                            mat. Dahin ist er 2008 gezogen,
                    und Vater. 1954 lernte er an ei-                      fahrt auf dem Zürichsee ein. Ganz                                               nachdem seine Frau Mary 2003 an
                    nem Musikfest auf dem Linden-                         Mann plusterte er sich vor ihr zum                                              Krebs gestorben war. Ihm begeg-
                    hof Maria kennen. Ob ihm damals                       Reiseführer auf, der alles rund um                                              nete auch noch einmal das Glück.
                    aufgefallen ist, dass sie denselben                   den See kannte. Dumm nur, dass                                                  Bei einem Tanzanlass lernte er
                    Namen und dieselbe Religion wie                       er die Au auf der rechten Seeseite                                              Irene Wolfahrth kennen – und
                    seine Mutter hatte? Wie auch im-                      zu sehen glaubte. Maria, die sich                                               lieben. So bleibt uns Waldemar
                    mer, Maria gefiel ihm und nach                        zeitlebens Mary nannte, heirate-                                                als glücklicher Mann und als po-
                                                                                              te ihn trotzdem                                             litisch engagierter Genosse in Er-
                                                                                              zwei Jahre spä-                                             innerung. Und als Mensch, dem
                        Enteignen fürs Gemeinwohl
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                        Die Beiträge befassen sich mit Konflikten um Verteilung               mit dieser An-                                              und dessen Persönlichkeit weit
                        und Herstellung von Eigentum. Zunehmend prägen sie                    ekdote immer                                                über das Mittelmass hinausstrahl-
                        gesellschaftliche Debatten, die von globalisierungs­
                                                                                              wieder auf.                                                 te.                  Marco Medici
                        kritischen Bewegungen nach Jahren des Burgfriedens
                        angestossen wurden – und thematisieren, dass die                        Mary       und
                        besitzende Klasse die Welt verschluckt: Boden und                     Waldemar be-
                        Ozeane, Arbeit, Kultur und Bildung. Wie in der kapitalis­             kamen        zwei
                                                      tischen Konkurrenz Besitz               Töchter. 1958                                                 Impressum
                                                      ideologisch gerechtfertigt                                                                            Herausgeberin: Stiftung Studienbi-
                                                      und juristisch abgesichert              kam Inge, 1961
                                                                                                                                                            bliothek zur Geschichte der
                                                      wird – und wo Initiativen               Maja auf die                                                  Arbeiterbewegung Zürich; Bulletin
                                                      zur breiten Verteilung und              Welt. Wie ernst                                               der Mitglieder des Fördervereins.
                                                      subversive Projekte an­                 Waldemar seine                                                Erscheint mindestens 1 x jährlich
                                                      setzen können.                                                                                        Adresse: Quellenstrasse 25, Postfach,
                                                                                              Rolle als Vater
                                                                                                                                                            8031 Zürich, Telefon 044 271 80 22,
                                                     224 Seiten, Fr. 25.–                     nahm, zeigte er,
                                                                                                                                                            Email: info@studienbibliothek.ch
                                                      978-3-85869-895-7                       als Mary für ei-                                              Internet: www.studienbibliothek.ch
                                                      (Jahresabonnement für 2 Hefte Fr. 40.–)
                                                      zu beziehen im Buchhandel
                                                                                              nen Monat nach                                                Redaktion: Brigitte Walz-Richter,
                                                      oder unter vertrieb@widerspruch.ch      Neuseeland                                                    Korrektur: Geri Balsiger,
                                                                                                                                                            Layout: Heinz Scheidegger,
                                                     www.widerspruch.ch reiste                eine
                                                                                                      und dort
                                                                                                        Sprach-                                             Druck: Druckerei Peter, Zürich

Info_58_2020.indd 8                                                                                                                                                                                      18.11.20 16:21
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