Vortrag Erzählen vom unerzählbaren Inferno. Der Krieg in der Weltliteratur von heute
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1 Sigrid Löffler, Berlin Vortrag Erzählen vom unerzählbaren Inferno. Der Krieg in der Weltliteratur von heute gehalten am Samstag, den 25. Oktober, 2014, in Spitz an der Donau In der Weltwahrnehmung unterscheidet sich die deutschsprachige Gegenwartsliteratur erheblich von der fremdsprachigen, namentlich der nicht- europäischen Literatur. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur hat generell eine Neigung zum Rückzug ins Private, zur Flucht in die Idylle; sie zieht sich gerne auf die private Glückssuche zurück, und sie thematisiert am liebsten das Familiengehege. Sie scheut gemeinhin die Politik. Deutschsprachige Autoren, die etwa die Kriege, Bürgerkriege und terroristischen Krisen der heutigen Welt literarisch angemessen thematisieren, lassen sich an einer Hand herzählen. Sherko Fatahs und Abbas Khiders Irak-Romane ließen sich da nennen oder Thomas Lehrs Irak-Roman «Fata Morgana». Sonst nicht allzu viele. Nicht, dass die Darstellung zeitgenössischer Kriege ein literarisches Tabu wäre – das ist es nicht. Das Thema scheint deutschsprachigen Autoren einfach nur herzlich fern zu liegen. Sie überlassen es gerne den Zeitungen und den Fernseh-Nachrichten. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur lässt generell einen starken Hang erkennen, sich um die Kernfragen der Gegenwart zu drücken und den Gegenwartsproblemen aus dem Weg zu gehen. Sie beschreibt lieber die Wonnen der Ereignislosigkeit. Sie scheint von der unausgesprochenen Prämisse auszugehen, dass Gegenwartsdiagnostik schlechte Laune macht, und meidet sie daher weitgehend – zugunsten privater Selbstbespiegelungen in politikfreien, windstillen Zonen. In der fremdsprachigen, erst recht in der außer-europäischen Literatur liegen die Dinge völlig anders. Dort werden die brisantesten politischen, gesellschaftlichen und sozialen Themen der Gegenwart aufgegriffen und deren Auswirkungen auf das Individuum untersucht. Dort demonstrieren Schriftsteller ein empfindliches Frühwarnsystem für bedrängende Themen der Zeit und alarmierende globale Fehlentwicklungen. Sie entfalten große Erfahrungsräume und weitreichende historische und politische Szenarien. Thematisiert werden die brennenden Themen unserer Zeit, vornehmlich die Kriege und Krisen in der Welt, in ihrer aktuellen Brisanz und in ihren Auswirkungen auf die einzelnen Menschen. Ein beträchtliches Segment der aktuellen, meist nicht-europäischen Weltliteratur ist Kriegsliteratur in den unterschiedlichsten Darbietungsformen. Einerseits begegnet uns Kriegsliteratur als authentische Veteranen-Literatur. Ihre Autoren suchen die Schrecken, die sie selbst als Soldaten auf den Schlachtfeldern
2 erlebt haben, in Erzählungen zu bannen. Sie erzählen Geschichten über ihre Front- Erfahrungen, sei es in Tschetschenien oder Georgien, Afghanistan oder Irak, sei es in den diversen Kriegen, die Israel gegen seine Nachbarn geführt hat. In diesen Kriegserlebnissen kristallisieren sich menschliche Grunderfahrungen wie Angst, Leid und Tod. Der Krieg wird aber auch zum Prüfstein für menschliches Verhalten – Mut, Feigheit, Loyalität, Verrat. Diese Kriegsliteratur ist, genau besehen, zumeist Anklage- Literatur, mit fließenden Grenzen zur Anti-Kriegsliteratur, etwa in den Büchern des Russen Arkadi Babtschenko oder der israelischen Autoren Yoram Kaniuk und Ron Leshem. Die Anklage gilt den propagierten, vorgeblich noblen, patriotischen oder sonstigen Kriegsgründen, verglichen mit der schmutzigen Realität des Krieges. Andererseits konzentriert sich Kriegsliteratur darauf, welche psychologischen Folgen und Nachwirkungen das heutige Kriegsgeschehen auf den Einzelnen und auf menschliche Gemeinschaften hat, auf deren Kulturen und Wertvorstellungen. Diese Literatur thematisiert die transformierende Gewalt von Krieg. Sie verhandelt die Art und Weise, wie Krieg Gesellschaften zerstört und deren sozialen Zusammenhalt fragmentiert und chaotisiert, wie er geografische Grenzen verändert und die Bedeutung von traditionellen Werten wie Mut, Loyalität oder Opferbereitschaft infrage stellt. In diesen Erzählungen geht es nicht hauptsächlich um Schlachtenbeschreibungen als solche, nicht um das professionelle Töten als Kriegshandwerk; es geht vielmehr darum, wie sich die zersetzende Kraft des Krieges indirekt und individuell bei den Betroffenen widerspiegelt. Solche Kriegsreflexionsliteratur ist äußerst reichhaltig, vielgestaltig und moralisch komplex. Ihre Autoren müssen dabei nicht aus eigener Kriegserfahrung schöpfen. Sie tun es sogar in den seltensten Fällen. Zumeist reflektieren sie über Kriege, die sie nicht aus erster Hand erlebt haben, etwa, weil sie dafür zu jung sind, wie etwa Nadifa Mohammed, Dinaw Mengestu oder Chimamanda Ngozi Adichie, die über den jeweiligen Beginn der Bürgerkriege in Somalia, Uganda und Biafra schreiben, die sie schon aufgrund ihres Geburtsjahrgangs nicht selbst erlebt haben können. Meist beruhen diese Romane auf familiären Kriegserinnerungen und Kriegserzählungen der Eltern oder Großeltern. Kriegsliteratur ist per se paradox. Sie transformiert den Krieg, also ein Phänomen der Zerstörung, in ästhetische Form, also in einen schöpferischen Akt. Paradox ist sie auch, weil sie nicht selten aus dem Impuls des Autors herrührt, den Krieg zu verstehen, sich also den Krieg verständlicher zu machen, als er tatsächlich ist. Das Kriegs-Inferno sei unerzählbar, liest man bei dem irakischen Autor Najem Wali. Paradoxerweise wird dies in Walis Roman «Bagdad Marlboro» behauptet, der selbst ein Kriegsroman ist und von der irakischen Kriegshölle erzählt, mit teils realistischen, teils surrealen narrativen Mitteln. Die Kriegsliteratur ist, indem sie das Unerzählbare erzählbar machen will, seit jeher von vielfältigen literarischen Risiken bedroht. Jede Kriegsdarstellung ist – um im Bilde zu bleiben – ein Minenfeld an Klischees. Gerade weil es
3 Kriegserzählungen gibt, seit die Menschen Kriege führen, und weil wir von Kriegen erzählt bekommen, seit es Literatur gibt, kennen wir jede denkbare Form von Kriegsliteratur bis zum Überdruss. Da kann Stil leicht zum Klischee gerinnen: Erst der Krieg macht einen zum Mann. Keiner kommt als der aus dem Krieg zurück, als der er hineingegangen ist. Das erste Kriegsopfer ist immer die Wahrheit. Jeder Krieg ist schlimmer als erwartet. Lauter Klischees. In der Kriegsliteratur florieren sie nach wie vor. Spätestens seit den Schrecken des Ersten Weltkriegs mit seiner durchorganisierten und technisch perfektionierten massenhaften Menschenvernichtung ist kriegsverherrlichende Literatur nicht mehr «State of the Art». Jede romantisierende, ästhetisierende oder heroisierende Darstellung ist seither unmöglich geworden. Krieg ist nicht länger als ultimativer Kick darstellbar. Vielmehr herrscht in der Kriegsliteratur seither ein Stil desillusionierter, ausgekühlter Nüchternheit à la Hemingway, der sich, etwa bei Ernst Jünger, zu einem wahren «Furor der Ungerührtheit» intensiviert, in einer Formulierung des Kritikers Lothar Müller. Zum Zynismus ist es da oft nur ein Schritt. In der Kälte des Tonfalls soll die eigene Unerschütterlichkeit festgeschrieben werden. Weil im Krieg das Entsetzliche nicht selten ans Absurde grenzt, reagiert die Literatur oft auch mit schwarzem Humor, mit Satire oder surrealistischen Verfremdungen. Die surrealistischen Bilder dienen dem Selbstschutz – der Distanzierung unter dem mörderischen Druck des Kriegsgeschehens. Die Verzweiflung wird hinter Sarkasmus versteckt, mitunter hinter einem bizarren Untergangs-Ingrimm. Meistens aber geht es den Autoren um sachliche Präzision, um eine möglichst genaue und objektive Darstellung der Kriegsfakten, um der Dokumentation willen, damit die Tatsachen nicht von Propaganda verzerrt werden können. Wobei solcher Realismus sein eigenes Dilemma birgt: Je realistischer die Darstellung der Gräuel des Krieges, desto größer die Gefahr des sadistischen Vergnügens. Der realistische Erzähler läuft immer Gefahr, ungewollt die Gewalt zu verherrlichen, das Leiden zu verdunkeln und mit seiner Darstellung das Kriegsgeschehen auszubeuten, es für den Leser voyeuristisch oder sadistisch herzurichten. Der Leser, in sicherer Entfernung von der Kampfzone, kann dann stellvertretend die Erregungen naher Gefahr genießen, ohne das geringste persönliche Risiko. Diese vorläufigen Anmerkungen zum Genre der Kriegsliteratur möchte ich im Folgenden an einigen ausgewählten Kriegsromanen verdeutlichen. Ich habe Beispiele sowohl zur Veteranen-Literatur wie auch zur Kriegsreflexionsliteratur ausgesucht. Beginnen wir mit dem russischen Journalisten und Autor Arkadi Babtschenko, geboren 1977 in Moskau. Als Achtzehnjähriger wurde er zum Wehrdienst eingezogen, meldete sich freiwillig zum Dienst im Kaukasus, weil es dort warm ist, und fand sich plötzlich im Ersten Tschetschenienkrieg wieder, ohne zu ahnen, worauf er sich eingelassen hatte. Zum Zweiten Tschetschenienkrieg meldete
4 er sich dann wissentlich freiwillig, als Söldner für 900 Dollar im Monat. Das war sein Versuch, die Macht über sein Leben zurückzugewinnen. Babtschenko hat zwei autobiografische Bücher über seine Erfahrungen in den beiden Tschetschenienkriegen veröffentlicht, die das post-sowjetische Russland angezettelt hat: «Die Farbe des Krieges» (2007) und «Ein guter Ort zum Sterben» (2009). Dazu eine Sammlung von Kriegsreportagen aus den letzten zehn Jahren: «Ein Tag wie ein Leben. Vom Krieg» (2014). Babtschenko schreibt von seiner verfluchten Liebe zum Krieg. Er kennt kein anderes Thema. «Krieg», sagt er, «ist die stärkste Droge überhaupt.» In seinen ersten beiden Büchern beschrieb er mit gnadenloser Detailbesessenheit, mit welcher Grausamkeit russische Rekruten im Ausbildungslager von ihren Vorgesetzten gequält und geschunden wurden. Die Hungerqualen und die Prügelorgien waren so furchtbar, dass die Rekruten den Fronteinsatz in Tschetschenien geradezu herbeisehnten. Für die mehr als eine Million russischer Soldaten, die in Tschetschenien gekämpft hatten, gab es nach dem Krieg keine staatlichen Hilfsprogramme; viele leiden bis heute unter posttraumatischem Stress, auch Babtschenko selbst. «Schreiben ist meine psychische Rehabilitation», sagt er. Als im Sommer 2008 der Krieg zwischen Georgien und Russland um die abtrünnige Provinz Südossetien ausbrach, meldete sich Babtschenko als Journalist sofort wieder in den Kaukasus. Um als Berichterstatter möglichst nahe dabei sein zu können, ließ er sich als Freiwilliger registrieren, um so rasch wie möglich in die bereits von georgischen Truppen zerbombte Hauptstadt von Südossetien zu gelangen. Am atemlos-nervösen Präsens seiner Reportage und am Stakkato seiner hämmernden Hauptsätze merkt man, dass das Kriegsfieber Babtschenko wieder gepackt hat. Seine Prosa verfällt sofort in den kaltschnäuzigen Ton des zynisch abgebrühten Kriegsveteranen, den nichts mehr erschüttern kann. Sofort hat er wieder den Leichengeruch in der Nase, sieht vom Granatfeuer zerfetzte Tote am Straßenrand liegen und zögert nur kurz, ob er den verschmorten Leichnam eines georgischen Panzerfahrers fotografieren soll: «Habe ich das Recht? Am Ende entschließe ich mich doch zu den Aufnahmen. Schließlich bin ich genau deshalb gekommen. Moralisieren kann man in Moskau.» Die Kriegs-Freiwilligen sind ein buntscheckiger und zweifelhafter Haufen von Söldnern, Haudegen, Miet-Kämpfern von überallher, getrieben von dubiosen Motiven und angezogen vom Lärm eines Krieges, der gar nicht der ihre ist – Veteranen aus Afghanistan, Kämpfer aus Dagestan, Kalmücken und sogar Tschetschenen sind darunter. Da ergeben sich Konstellationen, in denen die Freund- Feind-Koordinaten nicht mehr greifen. Auffallend ist, wie sehr sich der Autor in seinem Bericht um Fairness gegenüber allen Kriegsparteien bemüht. Anders als in seinen beiden
5 Tschetschenien-Büchern, die auch unbestätigte Gerüchte über Gräueltaten so wiedergaben, als handle es sich um Tatsachen, hinterfragt Babtschenko hier alle Zahlen von Gefallenen und alle Behauptungen über Genozid und Massaker an Zivilisten. Er misstraut der Kriegspropaganda aller Seiten und stellt fest: «Von Massenhinrichtungen oder ethnischen Säuberungen kann hier nicht die Rede sein. Ich versuche, objektiv zu bleiben.» Gleichwohl ist die anklagende, polemische Grundhaltung unüberhörbar. Babtschenko klagt Russland an, dieses «großmannssüchtige Imperium mit seiner viehischen Einstellung zu den eigenen Menschen»; er beschuldigt jeden russischen Präsidenten, egal ob er Jelzin, Medwedjew oder Putin heißt, die Jugend des Landes in sinnlosen und völlig überflüssigen Kriegen zu verheizen. Die anderthalb Millionen Veteranen, die immer jünger würden, seien von der Regierung verraten und im Stich gelassen worden. Ihre Wiedereingliederung in die Zivilgesellschaft klappt nicht, die Kriegsversehrten bekommen keine ausreichende Rente und werden dem Elend überlassen. Sie sitzen als verstümmelte junge Bettler in den Moskauer Straßen: «Man trifft sie in den Unterführungen. In der Nähe meiner Metro sitzen jeden Morgen drei von ihnen. Auf diese drei kommen fünf Medaillen, sechs Krücken, zwei Prothesen und ein einziges Bein. Den Hass teilen sie sich auch. Hass auf die ganze Welt.» Man kann Babtschenkos verstörende Sammlung von Kriegstexten und Veteranen-Porträts als den Versuch lesen, dieses fortschwärende Unrecht zur Sprache zu bringen und die Kriegstraumata seiner eigenen Generation zu bearbeiten. Er nennt die beiden Tschetschenienkriege «undurchdacht, unbegreiflich, völlig überflüssig». Weil es für sie keinerlei Rechtfertigung gibt, werden die Veteranen offiziell totgeschwiegen. Ihnen wird jede Anerkennung für ihre Leiden und Opfer versagt. Auch mit der Erinnerung an ihre Taten (und Untaten) im Kaukasus werden sie allein gelassen. «Die Folge davon ist eine Generation von wütenden jungen Männern, durchdrungen vom Hass auf alles und jeden.» Auch Israel ist ein Staat mit vielen jungen Kriegsveteranen. Überspitzt gesagt, besteht die ganze männliche Jugend Israels aus Soldaten oder Veteranen. Und das bereits seit der Staatsgründung vor über sechzig Jahren. Und wie die Kriegsliteratur aus Israel zeigt, sind manche dieser Veteranen nicht weniger verbittert als der Russe Babtschenko. Der israelische Autor Yoram Kaniuk gehört zur Generation der Augenzeugen der Staatsgründung Israels im Jahr 1948. Kurz vor seinem Tod 2013, im hohen Alter von 83 Jahren, stellte sich Kaniuk die Frage, was genau – und was nicht – im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 geschah, in dem er als Siebzehnjähriger mitkämpfte und schwer verwundet wurde. Kaniuk nennt sein Erinnerungsbuch «1948» einen Roman. Mit gutem Grund. Nach all den Jahrzehnten kann er seiner Erinnerung nicht trauen, denn das Gedächtnis ist trügerisch: «Ich bin nicht sicher, woran ich mich tatsächlich erinnere.»
6 Er fragt sich: «Wer war ich damals überhaupt, was habe ich genau gemacht?» Und er kommt zu dem Schluss, dass Erinnerungen wie Romane funktionieren – als nachträgliche Konstruktionen von Geschehnissen: «Erinnerung ist das, was ich als Erinnerung aufzeichne.» Die eigene Erinnerung ist ja schließlich nichts anderes als der Roman des eigenen Lebens. Auf dieser Prämisse mit all ihren Vorbehalten ruht Yoram Kaniuks persönlichstes, aufrichtigstes und schonungslosestes Grabungsprojekt im eigenen Gedächtnis, wodurch er sich, gefiltert durch Jahrzehnte des Vergessens und Neu- Erinnerns, die Gefühle und Taten des Jünglings wieder zu vergegenwärtigen sucht, der er damals war – mit allen Erinnerungslücken, Fehl-Erinnerungen und blinden Flecken. «Wir waren wie Kinder, geradezu unverschämt jung, hatten uns freiwillig gemeldet. Einfaltspinsel waren wir, Partisanen.» Mit siebzehn verließ Kaniuk die zwölfte Klasse des Gymnasiums in Tel Aviv, kurz vor dem UN-Teilungsbeschluss, der Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat spaltete, und rückte als Freiwilliger bei der Sturmtruppe Palmach ein, einer paramilitärischen jüdischen Untergrund-Organisation, aus der später die Armee Israels hervorgehen sollte. Kaniuk und andere Teenager seinesgleichen hatten sich aufgemacht, um Helden zu werden und den Feind zu schlagen. Es war ein «Kinderkreuzzug». Doch schlecht ausgebildet und schlecht bewaffnet wie sie sind, laufen die Jungen in den Tod oder in schwere Verwundungen und Verstümmelungen, in sinnlose Blutbäder und Gemetzel, wobei ihnen die Gründung des Staates Israel beinahe entgeht. So sehr sind sie verstrickt in ihre Gefechte mit arabischen Kampftruppen im Krieg um das belagerte Jerusalem, dass sie von der Staatsgründung selbst fast nichts mitbekommen. Es war es ein schmutziger und extrem grausamer Krieg, den Juden und Araber gegeneinander führten, mit Massakern und großen Blutverlusten auf beiden Seiten, mit getöteten Zivilisten, Kindern und sogar Nonnen – wobei die einheimische arabische Bevölkerung floh oder aus ihren Dörfern vertrieben wurde und vor allem die jungen und unerfahrenen jüdischen Kampfsoldaten in großer Zahl getötet wurden, von ihren Anführern gelegentlich mitten im Gefecht im Stich gelassen. Kaniuk erinnert sich an einige Schlüssel-Erlebnisse in den Kämpfen, in denen die Existenz des eben gegründeten Staates Israel auf der Kippe stand. So hält er die Eroberung des Dorfes Kastel für den entscheidenden Moment im Unabhängigkeitskrieg: «Es war das erste Mal, dass wir ein erobertes Dorf hielten. Die Straße nach Jerusalem war jetzt freier. Die Araber hätten Kastel zurückerobern können. Sie wollten aber zuerst ihren gefallenen Anführer [den palästinensischen Kommandeur Abdel-Qadr al-Husseini] bestatten und verpassten deshalb den Sieg, der ihnen den Weg zu unserer Niederlage in diesem verfluchten Krieg hätte ebnen können.»
7 Das Stichwort ist «dieser verfluchte Krieg». Je präziser die Erinnerungen werden, die in Yoram Kaniuk beim Schreiben aufsteigen, desto quälender und bitterer wird sein Bericht. Er erinnert sich nicht nur an Hunger und Durst und Schlafmangel, an dumme und sinnlose Gefechte sowie an die eigene Abstumpfung, während links und recht Kameraden fallen oder verstümmelt werden; er erinnert sich auch an sein eigenes moralisches Versagen und seine Schuld: In einer Extremsituation hat er ein Araberkind, einen achtjährigen Jungen, erschossen. In seiner Privatmythologie wurde der getötete Junge für ihn zur Ikone, und es ist ihm bis heute kein Trost, wenn ihn Kameraden zu beschwichtigen suchen: Wichtig sei doch nur, «dass es den Staat gibt und dass wir ihn mit Blut errichtet haben». Im letzten Kapitel hadert Kaniuk voll Schmerz und Zorn mit der offiziellen Geschichtsschreibung Israels: die Heldentaten von Palmach-Anführern wie Jitzchak Rabin und Moshe Dajan würden gefeiert, aber die Opfer der einfachen Kampfsoldaten würden verschwiegen. Während die damaligen Befehlshaber und ihre Cliquen den so genannten «aufgegebenen Besitz» der vertriebenen Araber unter sich aufteilten und reich wurden, so Kaniuks Vorwurf, «sind wir, das Fußvolk, die Mehrheit der einfachen Kampfsoldaten, die die Arbeit getan hatten und am Leben geblieben waren, außen vor geblieben». Ihr Andenken sei ausgelöscht und werde totgeschwiegen. So setzt Yoram Kaniuk in seinem Roman «1948» seinen totgeschwiegenen Kameraden ein Denkmal: «Sie waren kein netter Haufen. Sie waren ein geniales und brutales, kluges und mutiges und wütendes Werkzeug, das – ohne es zu wissen – auszog, um einen Staat für das jüdische Volk zu errichten.» Was bleibt, ist das Bewusstsein eines historischen Unrechts hinter allem Heldenmut, einer historischen Schuld, die in die Staatsgründung Israels eingeschrieben ist. Das macht Kaniuks Buch in seiner Ehrlichkeit zu einer schockierenden Lektüre, die umso wichtiger wird, je mehr sich das heutige Israel gegenüber seinen arabischen Nachbarn verhärtet und je weiter jede Hoffnung auf einen friedlichen Ausgleich in die Ferne rückt. Zwei Generationen später erzählt der israelische Journalist und Autor Ron Leshem von vergleichbaren Kriegserfahrungen wie Kaniuk. Auch er prangert den verfluchten Krieg an. Sein Debütroman aus dem Jahr 2008, «Wenn es ein Paradies gibt», ist zwar kein prinzipieller Anti-Kriegs-Roman, doch er ist eine Anklageschrift gegen die militärische Führung in Israel. Er stellt die israelische Verteidigungspolitik kritisch in Frage, die sinnlos und ohne klares Ziel das Leben von Soldaten opfert und vergeudet. «Vergeudung» ist ein Schlüsselwort dieses Romans. Beispielhaft festgemacht wird diese Kritik an einem Ort und einem Ereignis der langen israelischen Kriegsgeschichte mit seinen arabischen Nachbarn, nämlich an der Bergfestung Beaufort, einer ehemaligen Kreuzfahrerburg im Südlibanon. Sie wurde 1982 von einer israelischen Elite-Einheit erobert und zu einem Stützpunkt ausgebaut und 18 Jahre lang als vorgelagerter Außenposten gehalten, unter größten menschlichen und materiellen Opfern. Die längste Zeit galt
8 Beaufort als zentral wichtige Verteidigungsanlage im Norden, um die Hisbollah von der israelischen Grenze fernzuhalten. Aber im Jahr 2000 wurde Beaufort nach 18 Jahren abrupt geräumt. Im Zuge des israelischen Rückzugs aus dem Libanon wurde der Stützpunkt aufgegeben und gesprengt, mit der Begründung, er sei strategisch bedeutungslos. Und eben diese strategische Kopflosigkeit kritisiert der Roman. Erzählt wird von der letzten israelischen Kampf-Einheit, die in Beaufort stationiert war und die Festung im letzten Jahr erst zu verteidigen und dann plötzlich zu räumen hatte. Zu verteidigen, weil die Festung wichtig war, zu räumen, weil sie unwichtig war. Kritisiert wird, dass die Regierung den Abzugsbeschluss heimlich längst gefasst hatte, aber die blutjungen Soldaten trotzdem noch ein Jahr lang sinnlos dort kämpfen und sterben ließ. Die kahle Bergspitze, so Ron Leshem, war die vielen Opfer nicht wert. Sein Kriegsroman handelt von vergeudetem Idealismus, vom verlogenen Pathos der militärischen Führung und überhaupt von der Absurdität des modernen Krieges. Bei Babtschenko, Kaniuk und Leshem kann man erfahren, dass auch Soldaten Kriegsopfer sind. Umso mehr sind es die Zivilisten, besonders, wenn sie in den Bürgerkriegen zwischen die Fronten geraten, ja, wenn es gar keine klaren Fronten mehr gibt, weil der Krieg inmitten der Wohnquartiere der Zivilbevölkerung ausgetragen wird und aus Wohnvierteln Schlachtfelder macht. Von solchen zivilen Kriegsopfern und deren Verhalten in den Bürgerkriegen erzählen die meisten Kriegsreflexionsromane. Ein paar der bemerkenswertesten davon möchte ich im Folgenden kurz vorstellen. Man würde es nicht glauben, wenn man Anthony Marras Debütroman «Die niedrigen Himmel» gelesen hat: Was der junge amerikanische Autor, Jahrgang 1984, über Tschetschenien weiß, hat er sich zumeist nur aus Büchern angelesen. Viele Einzelheiten in seinem Roman über die Leiden der Zivilbevölkerung in den beiden Tschetschenien-Kriegen verdankt Marra etwa Anna Politkowskaja. Im Report der ermordeten Moskauer Journalistin fand er den fast surrealen Alltag gewöhnlicher Tschetschenen beschrieben, die ihre Wohnorte plötzlich in ein Schlachtfeld verwandelt sahen und inmitten der Kampfzone einfach nur am Leben zu bleiben versuchten. Das Romanwerk allerdings, das Anthony Marra auf der Basis von Politkowskajas Informationen sowie einer kurzen Informationsreise in den Kaukasus errichtet hat, ist bewundernswert in seiner Komplexität, seiner literarischen Dichte und Detailfülle. «Die niedrigen Himmel» verbindet Recherche mit Erfindungsreichtum und psychologischer Einfühlung und kommt – ungewöhnlich für einen Roman- Erstling – ohne die geringsten autobiografischen Spuren aus. Schauplätze sind, neben der zerstörten Hauptstadt Grosny, ein fiktives Dorf und das Krankenhaus der fiktiven Stadt Woltschansk in dem Jahrzehnt zwischen 1994 und 2004.
9 Marra erzählt eine kraftvolle, anschauliche und tief bewegende Geschichte um ein achtjähriges tschetschenisches Mädchen und die drei Erwachsenen, die sich mitten im Chaos der Kämpfe zwischen tschetschenischen Aufständischen und russischen Truppen um sie kümmern. Nachdem ihr Vater von den russischen Besatzern erst gefoltert und dann entführt wird, sind es die Ärzte Achmed und Sonja, die das nun elternlose Kind, das gleichfalls von Verschleppung bedroht ist, in ihrem Krankenhaus verstecken und ihm so das Leben retten. Diese beiden Ärzte könnten unterschiedlicher nicht sein. Achmed ist bestenfalls ein Hilfsarzt, hat aber große soziale Fähigkeiten; Sonja ist eine aufopferungsvolle Chirurgin, aber eine barsche Frau, die hinter ihrer Härte einen tiefen privaten Schmerz um ihre abtrünnige jüngere Schwester verbirgt. Gemeinsam mit einer einzigen Krankenschwester halten Achmed und Sonja ihr halb zerstörtes Spital am Laufen. Bis zur Erschöpfung und ohne Ansehen der Person versorgen sie zu dritt Kämpfer beider Seiten, Russen genauso wie Rebellen, aber auch zivile Kriegsopfer – und das heißt meistens, den Opfern von Landminen die zerfetzten Beine zu amputieren. Das Spital ist das reine Irrenhaus, ein völlig absurder Ort, und doch ist es zugleich eine Zufluchtsstätte, ein Hort der Menschlichkeit. In vielen miteinander verlinkten Einzelgeschichten erzählt Marra von den unterschiedlichen Überlebensstrategien seiner Figuren – Dorf-Nachbarn, Väter, Mütter, Kindheitsfreunde, Ehegatten. Sie halten es mit keiner der beiden Kriegsparteien, sie sind weder politisch noch religiös sonderlich interessiert, sie wollen einfach nur durchkommen in einer Stadt, in der man sich bei jedem Schritt «die Scherben einer ganzen Fensterscheibe in die Schuhsohlen» eintritt und verborgene Blindgänger daran erkennt, dass jemand Kloschüsseln zur Markierung und zum Schutz vor Explosionen darübergestülpt hat, denn «die Schüsseln, die einzige anständige Hinterlassenschaft der Sowjetunion, brachen nie». Die einen kämpfen nur für sich, werden Waffenschmuggler, Schwarzmarkt-Schieber, Verschrotter oder Menschenhändler. «Altmetall und Verschleppungen, die Hauptindustriezweige unseres Landes», wie eine Romanfigur feststellt. Einer ist so lange brutal gefoltert worden, bis er sich als Spitzel hergibt und für Geld das halbe Dorf bei den russischen Truppen denunziert. Die anderen versuchen, inmitten von Angst, Zerstörung, Verrat und Bestialität noch ein wenig Mitmenschlichkeit zu praktizieren: den Zerfall der Dorfgemeinschaft aufzuhalten, Nachbarn zu helfen, Flüchtlinge zu beherbergen, die Toten zu ehren, das Gedächtnis davon zu bewahren, was das tschetschenische Volk ist und einmal war. Dieser Chronist und Dorf-Historiker ist Chassan, eine der vielen eindrücklichen Figuren-Erfindungen Anthony Marras. Chassan hat schon unter Stalin die Zwangsumsiedlung des tschetschenischen Volkes nach Kasachstan und Zentralasien miterlebt. Als Chruschtschow 1957 den Tschetschenen die Rückkehr in die Heimat gestattete, exhumierte Chassan die Gebeine seiner Eltern und brachte sie nach Hause zurück, in ihrem eigenen braunen Koffer. Seither arbeitet er an einer Geschichte seiner Eltern und seines Volkes, «dieses kleinen Teils der Menschheit,
10 den zu vergessen die Welt fest entschlossen schien». Vier Jahrzehnte lang hat Chassan an seinem Abriss der tschetschenischen Geschichte geschrieben, Tausende von Seiten, die er immer wieder verändern, kürzen oder umschreiben musste, je nach den Wünschen der sowjetischen Zensur. Jetzt, wo er den Glauben an eine Zukunft Tschetscheniens verloren hat, verbrennt Chassan sein Manuskript. Doch die Welt der Tschetschenen fällt damit nicht der Vergessenheit anheim – jedenfalls nicht, solange Anthony Marras großes Kriegs-Epos gelesen wird. Wenden wir uns von Tschetschenien nach Afrika. Afrikas Bürgerkriege, seine zerfallenden Staaten und seine gewalttätigen, korrupten Machthaber, sind ein zentrales Thema der afrikanischen Literatur der Gegenwart. Es ist bemerkenswert, dass sich gerade die jüngeren Autoren, die die Bürgerkriege in Biafra, Somalia oder Uganda gar nicht aus eigenem Erleben kennen, an diesen traumatischen Erfahrungen ihrer Herkunftsländer am heftigsten abarbeiten – Autoren wie die Nigerianerin Chimamanda Adichie, die Somalierin Nadifa Mohammed oder der Äthiopier Dinaw Mengestu. Der Bürgerkrieg in Biafra war der erste Sündenfall in der postkolonialen Geschichte des afrikanischen Kontinents. Dieser Sezessionsversuch der Volksgruppe der Igbo, sich 1967 vom Gesamtstaat Nigeria abzuspalten und ihre eigene kurzlebige Republik Biafra zu gründen, ging mit Massakern und massenhaften Tötungen auf beiden Seiten einher und endete in einem dreijährigen Bürgerkrieg und einer Hungerkatastrophe ungeahnten Ausmaßes. Der Krieg, in dem während der Hungerblockade täglich bis zu sechstausend Menschen verhungerten, forderte mehr als eine Million Todesopfer unter den Igbo. Die gescheiterte Sezession von Biafra ist ein lange verdrängtes Trauma in Nigeria. Es sind Autoren, die in ihren Büchern die Jahrzehnte lang verschwiegene Geschichte dieses entsetzlichen Bürgerkriegs neuerdings wieder thematisieren, Autoren wie Chinua Achebe oder Chimamanda Adichie, die beide der Igbo- Volksgruppe angehören und doch aus ganz unterschiedlicher Perspektive auf Biafra zurückschauen. Chinua Achebe ist der große alte Mann der afrikanischen Literatur, die er mit seinem postkolonialen Klassiker «Alles zerfällt» 1958 de facto begründete. Achebe engagierte sich seinerzeit aktiv, zeitweise sogar als Sonderbotschafter, für die Unabhängigkeit Biafras. Er ließ vierzig Jahre schweigend verstreichen, ehe er kurz vor seinem Tod im Jahr 2013 seine Erinnerungen an den gescheiterten Sezessionsversuch der Igbo veröffentlichte: «There was a Country. A Personal History of Biafra». Anders als sein Landsmann, der Nobelpreisträger Wole Soyinka, der die Sezession der Igbo rückblickend für «einfach politisch und militärisch unklug» hält, beschreibt Chinua Achebe in seinen Memoiren den Biafra-Krieg trotz des Elends, in das er die Igbo stürzte, als eine aufregende Zeit der stolzen Selbstbehauptung seiner Volksgruppe. Seither habe Nigeria seine von vornherein inhaltsleere und nie wirklich gelebte Unabhängigkeit völlig verspielt – durch Korruption und politische Unfähigkeit seiner Machthaber.
11 Chimamanda Adichie ist zwei Generationen jünger als Achebe, sie ist 1977 geboren und sie ist mit der Verehrung für diesen Autor aufgewachsen. Sie nennt Achebe ihr Vorbild, die Lektüre von «Alles zerfällt» sei eine lebensprägende Offenbarung für sie gewesen. Sie hat selbst zwei Großväter im Biafra-Krieg verloren. In ihren Romanen und Erzählungen ist der dunkle Schatten von Biafra stets präsent. In ihrem Roman «Die Hälfte der Sonne» (2008) erzählt sie die Verelendung der Igbo am Beispiel zweier Zwillingsschwestern, die der Igbo-Elite angehören und in den enthumanisierenden Biafra-Krieg hineingezogen werden. Adichie geht also ganz anders mit dem Thema um als Chinua Achebe. Natürlich hat sie die Biafra-Memoiren Achebes gelesen. In der «London Review of Books» fällte sie ihr abschließendes Urteil über das Buch, den Autor und seine ganze Generation. Es klingt – besonders angesichts Adichies lebenslanger Bewunderung für Achebe – ernüchtert: «Chinua Achebe gehört zur Generation der verwirrten Nigerianer, jener Leute, die das Glück hatten, Bildung erwerben zu können, die man lehrte, an Nigeria zu glauben, und die dann, hilflos und bestürzt, zusahen, wie ihr Land zerbröckelte. Er war ein Biafra-Patriot, wie die meisten seiner Igbo-Kollegen, weil sie sich nicht mehr Nigeria zugehörig fühlten. Er scheint immer noch ungläubig erstaunt zu sein über die schrecklichen Dinge, die auf die Sezession folgten.» Die Somalierin Nadifa Mohamed ist vier Jahre jünger als Chimamanda Adichie. Sie floh 1986, im Alter von fünf Jahren, mit ihren Eltern vor dem drohenden Bürgerkrieg aus ihrer Geburtsstadt Hargeisa ins Exil nach England. Ihr Bürgerkriegs- Roman «Der Garten der verlorenen Seelen» erzählt von einer Zeit, die Nadifa Mohamed nicht selbst miterlebt hat und daher nicht aus eigener Anschauung kennt. Sie war darauf angewiesen, sich ihr Geburtsland Somalia aus den Erzählungen ihrer Eltern und Verwandten zu erschließen. Doch diese Recherchen ließen ihr immer genügend Spielraum für narrative Phantasie und Fabulierfreude. Der Roman spielt 1987/88, am Vorabend des Bürgerkriegs, als Hargeisa in die Hand aufständischer separatistischer Clans geriet, worauf der Diktator Barre die Stadt bombardieren ließ und die Bevölkerung in heller Panik über die Grenze ins nahe gelegene Äthiopien flüchtete. Der Roman zeigt den beginnenden Bürgerkrieg aus weiblicher Sicht. Erzählt wird die Überlebensgeschichte dreier starker und differenziert gezeichneter Heldinnen, die drei Frauengenerationen repräsentieren. Da ist das verwaiste Straßenkind, das sich nicht zur Kinderprostitution abrichten lässt, sondern davonläuft. Da ist die junge somalische Soldatin, die zu den Aufständischen überläuft. Und da ist die alte Witwe, die am Ende eine Art Patchwork-Familie mit den beiden Jüngeren bildet, als Wunsch-Großmutter mit Pseudo-Tochter und Pseudo- Enkelin. Alle drei Heldinnen werden in die blutigen Fehden zwischen dem Regime und Aufständischen aus den verfeindeten Clans hineingezogen, sie erleben am
12 eigenen Leib, wie diese Binnenkämpfe von Rebellen, Clan-Milizen und Regierungstruppen das Leben im Land vergiften und die Gesellschaft zunehmend brutalisieren. Die Männer spielen im Roman meist eine üble oder gar keine Rolle. Es gibt außer Bettlern und Pennern kaum mehr Zivilisten in Hargeisa. Die Männer sind entweder beim Militär oder bei der Polizei oder bei den Aufständischen jenseits der äthiopischen Grenze. Oder sie werden als tote Folteropfer von den Soldaten nachts auf den Marktplatz geworfen. Und Ärzte werden kurzerhand hingerichtet, wenn sie gegen die üblen Zustände in den Krankenhäusern protestieren. Am Ende lässt der Diktator die Stadt Hargeisa sogar bombardieren. Für die Protagonistinnen gibt es zuletzt nur noch die Entscheidung zwischen Tod oder Flucht. Um nicht durch die Bomben der eigenen Regierung zu sterben, entschließen sie sich zur Flucht ins Nachbarland Äthiopien. Lieber lebendig in einem Flüchtlingslager als tot in der Heimat. Das Resümee zieht die alte Witwe. Sie «versteht das ganze Land nicht mehr – Polizistinnen sind zu Folterknechten geworden, Tierärzte zu Ärzten, Lehrer zu Spionen, Kinder zu bewaffneten Rebellen». Anders als die Bürgerkriege in Biafra und Somalia hat der Bürgerkrieg in Uganda bisher noch kaum literarische Chronisten gefunden – mit einer interessanten Ausnahme. In seinem soeben erschienenen dritten Roman «Unsere Namen» erzählt Dinaw Mengestu von dem schmalen Zeitfenster in den frühen 1970er Jahren, als in Uganda im Überschwang der neu errungenen Unabhängigkeit die pan-afrikanischen Reformträume blühten, ehe sie im Bürgerkrieg und in den Gräueltaten des Putsch- Diktators Idi Amin zuschanden gingen. Das beginnt ganz spielerisch mit aufrührerischen studentischen Campus- Aktionen auf dem Gelände der Universität von Kampala. Doch diese aktionistischen rebellischen Performances münden bald in den blutigsten Ernst, als die beiden Romanhelden, zwei Möchtegern-Studenten, in den Bannkreis der aufständischen Milizen driften, die sich gegen Idi Amins Schreckensherrschaft formieren. Bald zeigt sich, dass die Rebellen-Milizen dem Regime an Gewalttätigkeit nicht nachstehen. Der eine Student ist bereits zu tief in die Gräueltaten verwickelt, für eine Flucht ist es zu spät. Er schenkt dem Freund seinen Pass und sein Studentenvisum, damit dieser unter falschem Namen in die USA flüchten kann. Das Ungewöhnlichste an diesem Uganda-Roman ist der Autor. Dinaw Mengestu stammt gar nicht aus Uganda. Er ist ein amerikanischer Autor mit äthiopischen Wurzeln, der als Zweijähriger mit seinen Eltern aus Addis Abeba in die USA emigrierte. Es zeigt sich, dass die eigene Erfahrung mit hybriden, fließenden Identitäten eine gute Voraussetzung ist für eine solche abgründige Geschichte über fragwürdige nationale Identitäten, die in Bürgerkriegen zugleich ihre Bestätigung und ihre Zerstörung finden. Ich komme zum Schluss. Ein Streifzug durch die außer-europäische Kriegsliteratur der Gegenwart, und sei er noch so kursorisch und lückenhaft, kann nicht ohne eine Erwähnung des Irak bleiben. Der Irak bietet reichen Stoff für
13 exemplarische Kriegsgeschichten, von seiner fahrlässigen Gründung mit allen fragwürdigen Grenzziehungen bis hin zur unheilvollen Invasion der Amerikaner und deren nicht minder unheilvollem überhasteten Abzug, der ein zerrüttetes Land der Zerreißung durch seine Bürgerkriegsparteien überließ. Die irakische Literatur über die fatale Geschichte und Gegenwart dieses «Failed State» ist eindrucksvoll und fast unüberschaubar reich. Stellvertretend möchte ich nur auf ein Buch aufmerksam machen, auf den neuen Roman «Bagdad Marlboro» von Najem Wali. Najem Wali wurde 1956 in Basra geboren. 1980, bei Ausbruch des Iranisch-Irakischen Kriegs, fälschte seinen Wehrpass und desertierte nach Deutschland. Wali lebt heute in Berlin, als Journalist und Romanautor. Seine publizistischen Beiträge für deutschsprachige Zeitungen schreibt er auf Deutsch, seine Romane und Erzählungen auf Arabisch. Walis Hauptthema ist der Irak in seiner unglücklichen Geschichte und seiner zerrütteten Gegenwart. Er führt uns vor Augen, wie die fast permanenten Kriege und die Einmischungen von außen die einst kosmopolitische urbane Kultur des Irak zerschlagen und die Menschen des Landes materiell und moralisch traumatisiert haben. Er zeigt, wie die einstige multikulturelle Vielfalt des Irak – eines Landes, in dem die unterschiedlichsten Ethnien und Religionen (Muslime, Juden, Kurden, Sabäer, Chaldäer, Yesiden, Christen, etc.) friedlich zusammenlebten – zuerst durch panarabisch-sunnitische Kräfte, durch Vertreibung der Juden, der Kurden, der Armenier, etc., und seither durch amerikanische und iranische Interventionen sowie einen radikalisierten politischen Islamismus zerstört wurde. Im Roman «Bagdad Marlboro» sind die nationalen Traumata der kriegsgeschädigten Iraker Najem Walis Thema: Es ist die unbefriedete Vergangenheit, die verdrängte Erinnerung an schreckliche Gewalterfahrungen, die immer wieder hervorbricht und sich nicht vergessen lässt. Im Wesentlichen spielt der Roman 2004, im zweiten Jahr nach der Besetzung des Landes durch US-Marines. Zwei Schreckensereignisse aus dem Kuwait-Krieg sind die Dreh- und Angelpunkte des Romans. Die eine Untat wurde von Irakern begangen, die andere von Amerikanern. Irakische Soldaten haben amerikanische Kriegsgefangene, die sie bewachen sollten, massakriert; Amerikaner haben ein irakisches Bataillon, das sich in der Wüste in Schützengräben verschanzt hatte und sich ergeben wollte, als es nahe am Verdursten war, mit Bulldozern bei lebendigem Leib zugeschüttet. Diese Untaten haben die beiden Protagonisten des Romans zutiefst erschüttert, denn beide haben vorher nie getötet und sind ihrem Wesen nach friedfertig, freundlich und jeder Gewalt abhold – Salmân Mâdi, der irakische Dichter, und Daniel Brooks, der schwarze US-Leutnant. Wegen ihrer jeweiligen Teilnahme an diesen Gräueln sind beide über sich selbst entsetzt.
14 In seiner doppelten Perspektive – aus irakischer und aus amerikanischer Sicht – strebt Najem Walis Kriegsroman nach einem gerechten Blick auf die Vorgänge im Irak. Das macht den Roman einzigartig und seinen Autor zu einem bedeutenden Vermittler zwischen der westlichen und der arabischen Welt. Der moderne High-Tech-Krieg, der seine mörderische Gewalt auf ein Bildschirm-Geschehen reduziert und so in scheinbarer Abstraktheit technisch verschwinden lässt, ist gleichwohl literaturfähig. Autoren wie Najem Wali zeigen, dass sich auch solche Kriege erzählen lassen – wenn man dem Menschen hinter der Kriegsmaschine seine Aufmerksamkeit und imaginative Kraft zuwendet. Erwähnte Bücher: Über die Tschetschenien-Kriege: Arkadi Babtschenko: «Die Farbe des Krieges» (rororo 2007); «Ein guter Ort zum Sterben» (rororo 2009); «Ein Tag wie ein Leben. Vom Krieg» (Rowohlt Berlin 2014) Anthony Marra: «Die niedrigen Himmel» (Suhrkamp 2014) Über die Kriege Israels: Yoram Kaniuk: «1948» (Aufbau 2013) Ron Leshem: «Wenn es ein Paradies gibt» (Rowohlt Berlin 2008) Über den Biafra-Krieg: Chinua Achebe: «There Was a Country. A Personal History of Biafra» (Penguin 2012) Chimamanda Ngozi Adichie: «Die Hälfte der Sonne» (btb 2008) Über die Bürgerkrieg in Somalia: Nadifa Mohamed: «Der Garten der verlorenen Seelen» (C. H. Beck 2014) Über den Bürgerkrieg in Uganda: Dinaw Mengestu: «Unsere Namen» (Kein & Aber 2014) Über den Krieg im Irak: Najem Wali: «Bagdad Marlboro» (Hanser 2014)
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