Vortrag Erzählen vom unerzählbaren Inferno. Der Krieg in der Weltliteratur von heute

Die Seite wird erstellt Merle Steffen
 
WEITER LESEN
1

Sigrid Löffler, Berlin

                                      Vortrag

                   Erzählen vom unerzählbaren Inferno.
                  Der Krieg in der Weltliteratur von heute
      gehalten am Samstag, den 25. Oktober, 2014, in Spitz an der Donau

           In der Weltwahrnehmung unterscheidet sich die deutschsprachige
Gegenwartsliteratur erheblich von der fremdsprachigen, namentlich der nicht-
europäischen Literatur. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur hat generell eine
Neigung zum Rückzug ins Private, zur Flucht in die Idylle; sie zieht sich gerne auf die
private Glückssuche zurück, und sie thematisiert am liebsten das Familiengehege.
Sie scheut gemeinhin die Politik. Deutschsprachige Autoren, die etwa die Kriege,
Bürgerkriege und terroristischen Krisen der heutigen Welt literarisch angemessen
thematisieren, lassen sich an einer Hand herzählen. Sherko Fatahs und Abbas
Khiders Irak-Romane ließen sich da nennen oder Thomas Lehrs Irak-Roman «Fata
Morgana». Sonst nicht allzu viele. Nicht, dass die Darstellung zeitgenössischer
Kriege ein literarisches Tabu wäre – das ist es nicht. Das Thema scheint
deutschsprachigen Autoren einfach nur herzlich fern zu liegen. Sie überlassen es
gerne den Zeitungen und den Fernseh-Nachrichten.

           Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur lässt generell einen starken
Hang erkennen, sich um die Kernfragen der Gegenwart zu drücken und den
Gegenwartsproblemen aus dem Weg zu gehen. Sie beschreibt lieber die Wonnen
der Ereignislosigkeit. Sie scheint von der unausgesprochenen Prämisse
auszugehen, dass Gegenwartsdiagnostik schlechte Laune macht, und meidet sie
daher weitgehend – zugunsten privater Selbstbespiegelungen in politikfreien,
windstillen Zonen.

           In der fremdsprachigen, erst recht in der außer-europäischen Literatur
liegen die Dinge völlig anders. Dort werden die brisantesten politischen,
gesellschaftlichen und sozialen Themen der Gegenwart aufgegriffen und deren
Auswirkungen auf das Individuum untersucht. Dort demonstrieren Schriftsteller ein
empfindliches Frühwarnsystem für bedrängende Themen der Zeit und alarmierende
globale Fehlentwicklungen. Sie entfalten große Erfahrungsräume und weitreichende
historische und politische Szenarien. Thematisiert werden die brennenden Themen
unserer Zeit, vornehmlich die Kriege und Krisen in der Welt, in ihrer aktuellen Brisanz
und in ihren Auswirkungen auf die einzelnen Menschen.

           Ein beträchtliches Segment der aktuellen, meist nicht-europäischen
Weltliteratur ist Kriegsliteratur in den unterschiedlichsten Darbietungsformen.
Einerseits begegnet uns Kriegsliteratur als authentische Veteranen-Literatur. Ihre
Autoren suchen die Schrecken, die sie selbst als Soldaten auf den Schlachtfeldern
2

erlebt haben, in Erzählungen zu bannen. Sie erzählen Geschichten über ihre Front-
Erfahrungen, sei es in Tschetschenien oder Georgien, Afghanistan oder Irak, sei es
in den diversen Kriegen, die Israel gegen seine Nachbarn geführt hat. In diesen
Kriegserlebnissen kristallisieren sich menschliche Grunderfahrungen wie Angst, Leid
und Tod. Der Krieg wird aber auch zum Prüfstein für menschliches Verhalten – Mut,
Feigheit, Loyalität, Verrat. Diese Kriegsliteratur ist, genau besehen, zumeist Anklage-
Literatur, mit fließenden Grenzen zur Anti-Kriegsliteratur, etwa in den Büchern des
Russen Arkadi Babtschenko oder der israelischen Autoren Yoram Kaniuk und Ron
Leshem. Die Anklage gilt den propagierten, vorgeblich noblen, patriotischen oder
sonstigen Kriegsgründen, verglichen mit der schmutzigen Realität des Krieges.

           Andererseits konzentriert sich Kriegsliteratur darauf, welche
psychologischen Folgen und Nachwirkungen das heutige Kriegsgeschehen auf den
Einzelnen und auf menschliche Gemeinschaften hat, auf deren Kulturen und
Wertvorstellungen. Diese Literatur thematisiert die transformierende Gewalt von
Krieg. Sie verhandelt die Art und Weise, wie Krieg Gesellschaften zerstört und deren
sozialen Zusammenhalt fragmentiert und chaotisiert, wie er geografische Grenzen
verändert und die Bedeutung von traditionellen Werten wie Mut, Loyalität oder
Opferbereitschaft infrage stellt.

           In diesen Erzählungen geht es nicht hauptsächlich um
Schlachtenbeschreibungen als solche, nicht um das professionelle Töten als
Kriegshandwerk; es geht vielmehr darum, wie sich die zersetzende Kraft des Krieges
indirekt und individuell bei den Betroffenen widerspiegelt. Solche
Kriegsreflexionsliteratur ist äußerst reichhaltig, vielgestaltig und moralisch komplex.
Ihre Autoren müssen dabei nicht aus eigener Kriegserfahrung schöpfen. Sie tun es
sogar in den seltensten Fällen. Zumeist reflektieren sie über Kriege, die sie nicht aus
erster Hand erlebt haben, etwa, weil sie dafür zu jung sind, wie etwa Nadifa
Mohammed, Dinaw Mengestu oder Chimamanda Ngozi Adichie, die über den
jeweiligen Beginn der Bürgerkriege in Somalia, Uganda und Biafra schreiben, die sie
schon aufgrund ihres Geburtsjahrgangs nicht selbst erlebt haben können. Meist
beruhen diese Romane auf familiären Kriegserinnerungen und Kriegserzählungen
der Eltern oder Großeltern.

           Kriegsliteratur ist per se paradox. Sie transformiert den Krieg, also ein
Phänomen der Zerstörung, in ästhetische Form, also in einen schöpferischen Akt.
Paradox ist sie auch, weil sie nicht selten aus dem Impuls des Autors herrührt, den
Krieg zu verstehen, sich also den Krieg verständlicher zu machen, als er tatsächlich
ist. Das Kriegs-Inferno sei unerzählbar, liest man bei dem irakischen Autor Najem
Wali. Paradoxerweise wird dies in Walis Roman «Bagdad Marlboro» behauptet, der
selbst ein Kriegsroman ist und von der irakischen Kriegshölle erzählt, mit teils
realistischen, teils surrealen narrativen Mitteln.

            Die Kriegsliteratur ist, indem sie das Unerzählbare erzählbar machen will,
seit jeher von vielfältigen literarischen Risiken bedroht. Jede Kriegsdarstellung ist –
um im Bilde zu bleiben – ein Minenfeld an Klischees. Gerade weil es
3

Kriegserzählungen gibt, seit die Menschen Kriege führen, und weil wir von Kriegen
erzählt bekommen, seit es Literatur gibt, kennen wir jede denkbare Form von
Kriegsliteratur bis zum Überdruss. Da kann Stil leicht zum Klischee gerinnen: Erst
der Krieg macht einen zum Mann. Keiner kommt als der aus dem Krieg zurück, als
der er hineingegangen ist. Das erste Kriegsopfer ist immer die Wahrheit. Jeder Krieg
ist schlimmer als erwartet. Lauter Klischees. In der Kriegsliteratur florieren sie nach
wie vor.

           Spätestens seit den Schrecken des Ersten Weltkriegs mit seiner
durchorganisierten und technisch perfektionierten massenhaften
Menschenvernichtung ist kriegsverherrlichende Literatur nicht mehr «State of the
Art». Jede romantisierende, ästhetisierende oder heroisierende Darstellung ist
seither unmöglich geworden. Krieg ist nicht länger als ultimativer Kick darstellbar.
Vielmehr herrscht in der Kriegsliteratur seither ein Stil desillusionierter, ausgekühlter
Nüchternheit à la Hemingway, der sich, etwa bei Ernst Jünger, zu einem wahren
«Furor der Ungerührtheit» intensiviert, in einer Formulierung des Kritikers Lothar
Müller. Zum Zynismus ist es da oft nur ein Schritt. In der Kälte des Tonfalls soll die
eigene Unerschütterlichkeit festgeschrieben werden. Weil im Krieg das Entsetzliche
nicht selten ans Absurde grenzt, reagiert die Literatur oft auch mit schwarzem
Humor, mit Satire oder surrealistischen Verfremdungen. Die surrealistischen Bilder
dienen dem Selbstschutz – der Distanzierung unter dem mörderischen Druck des
Kriegsgeschehens. Die Verzweiflung wird hinter Sarkasmus versteckt, mitunter hinter
einem bizarren Untergangs-Ingrimm.

           Meistens aber geht es den Autoren um sachliche Präzision, um eine
möglichst genaue und objektive Darstellung der Kriegsfakten, um der Dokumentation
willen, damit die Tatsachen nicht von Propaganda verzerrt werden können. Wobei
solcher Realismus sein eigenes Dilemma birgt: Je realistischer die Darstellung der
Gräuel des Krieges, desto größer die Gefahr des sadistischen Vergnügens. Der
realistische Erzähler läuft immer Gefahr, ungewollt die Gewalt zu verherrlichen, das
Leiden zu verdunkeln und mit seiner Darstellung das Kriegsgeschehen auszubeuten,
es für den Leser voyeuristisch oder sadistisch herzurichten. Der Leser, in sicherer
Entfernung von der Kampfzone, kann dann stellvertretend die Erregungen naher
Gefahr genießen, ohne das geringste persönliche Risiko.

           Diese vorläufigen Anmerkungen zum Genre der Kriegsliteratur möchte ich
im Folgenden an einigen ausgewählten Kriegsromanen verdeutlichen. Ich habe
Beispiele sowohl zur Veteranen-Literatur wie auch zur Kriegsreflexionsliteratur
ausgesucht.

           Beginnen wir mit dem russischen Journalisten und Autor Arkadi
Babtschenko, geboren 1977 in Moskau. Als Achtzehnjähriger wurde er zum
Wehrdienst eingezogen, meldete sich freiwillig zum Dienst im Kaukasus, weil es dort
warm ist, und fand sich plötzlich im Ersten Tschetschenienkrieg wieder, ohne zu
ahnen, worauf er sich eingelassen hatte. Zum Zweiten Tschetschenienkrieg meldete
4

er sich dann wissentlich freiwillig, als Söldner für 900 Dollar im Monat. Das war sein
Versuch, die Macht über sein Leben zurückzugewinnen.

          Babtschenko hat zwei autobiografische Bücher über seine Erfahrungen in
den beiden Tschetschenienkriegen veröffentlicht, die das post-sowjetische Russland
angezettelt hat: «Die Farbe des Krieges» (2007) und «Ein guter Ort zum Sterben»
(2009). Dazu eine Sammlung von Kriegsreportagen aus den letzten zehn Jahren:
«Ein Tag wie ein Leben. Vom Krieg» (2014).

           Babtschenko schreibt von seiner verfluchten Liebe zum Krieg. Er kennt
kein anderes Thema. «Krieg», sagt er, «ist die stärkste Droge überhaupt.» In seinen
ersten beiden Büchern beschrieb er mit gnadenloser Detailbesessenheit, mit welcher
Grausamkeit russische Rekruten im Ausbildungslager von ihren Vorgesetzten
gequält und geschunden wurden. Die Hungerqualen und die Prügelorgien waren so
furchtbar, dass die Rekruten den Fronteinsatz in Tschetschenien geradezu
herbeisehnten. Für die mehr als eine Million russischer Soldaten, die in
Tschetschenien gekämpft hatten, gab es nach dem Krieg keine staatlichen
Hilfsprogramme; viele leiden bis heute unter posttraumatischem Stress, auch
Babtschenko selbst. «Schreiben ist meine psychische Rehabilitation», sagt er.

           Als im Sommer 2008 der Krieg zwischen Georgien und Russland um die
abtrünnige Provinz Südossetien ausbrach, meldete sich Babtschenko als Journalist
sofort wieder in den Kaukasus. Um als Berichterstatter möglichst nahe dabei sein zu
können, ließ er sich als Freiwilliger registrieren, um so rasch wie möglich in die
bereits von georgischen Truppen zerbombte Hauptstadt von Südossetien zu
gelangen.

          Am atemlos-nervösen Präsens seiner Reportage und am Stakkato seiner
hämmernden Hauptsätze merkt man, dass das Kriegsfieber Babtschenko wieder
gepackt hat. Seine Prosa verfällt sofort in den kaltschnäuzigen Ton des zynisch
abgebrühten Kriegsveteranen, den nichts mehr erschüttern kann. Sofort hat er
wieder den Leichengeruch in der Nase, sieht vom Granatfeuer zerfetzte Tote am
Straßenrand liegen und zögert nur kurz, ob er den verschmorten Leichnam eines
georgischen Panzerfahrers fotografieren soll: «Habe ich das Recht? Am Ende
entschließe ich mich doch zu den Aufnahmen. Schließlich bin ich genau deshalb
gekommen. Moralisieren kann man in Moskau.»

          Die Kriegs-Freiwilligen sind ein buntscheckiger und zweifelhafter Haufen
von Söldnern, Haudegen, Miet-Kämpfern von überallher, getrieben von dubiosen
Motiven und angezogen vom Lärm eines Krieges, der gar nicht der ihre ist –
Veteranen aus Afghanistan, Kämpfer aus Dagestan, Kalmücken und sogar
Tschetschenen sind darunter. Da ergeben sich Konstellationen, in denen die Freund-
Feind-Koordinaten nicht mehr greifen.

         Auffallend ist, wie sehr sich der Autor in seinem Bericht um Fairness
gegenüber allen Kriegsparteien bemüht. Anders als in seinen beiden
5

Tschetschenien-Büchern, die auch unbestätigte Gerüchte über Gräueltaten so
wiedergaben, als handle es sich um Tatsachen, hinterfragt Babtschenko hier alle
Zahlen von Gefallenen und alle Behauptungen über Genozid und Massaker an
Zivilisten. Er misstraut der Kriegspropaganda aller Seiten und stellt fest: «Von
Massenhinrichtungen oder ethnischen Säuberungen kann hier nicht die Rede sein.
Ich versuche, objektiv zu bleiben.»

            Gleichwohl ist die anklagende, polemische Grundhaltung unüberhörbar.
Babtschenko klagt Russland an, dieses «großmannssüchtige Imperium mit seiner
viehischen Einstellung zu den eigenen Menschen»; er beschuldigt jeden russischen
Präsidenten, egal ob er Jelzin, Medwedjew oder Putin heißt, die Jugend des Landes
in sinnlosen und völlig überflüssigen Kriegen zu verheizen. Die anderthalb Millionen
Veteranen, die immer jünger würden, seien von der Regierung verraten und im Stich
gelassen worden. Ihre Wiedereingliederung in die Zivilgesellschaft klappt nicht, die
Kriegsversehrten bekommen keine ausreichende Rente und werden dem Elend
überlassen. Sie sitzen als verstümmelte junge Bettler in den Moskauer Straßen:
«Man trifft sie in den Unterführungen. In der Nähe meiner Metro sitzen jeden Morgen
drei von ihnen. Auf diese drei kommen fünf Medaillen, sechs Krücken, zwei
Prothesen und ein einziges Bein. Den Hass teilen sie sich auch. Hass auf die ganze
Welt.»

            Man kann Babtschenkos verstörende Sammlung von Kriegstexten und
Veteranen-Porträts als den Versuch lesen, dieses fortschwärende Unrecht zur
Sprache zu bringen und die Kriegstraumata seiner eigenen Generation zu
bearbeiten. Er nennt die beiden Tschetschenienkriege «undurchdacht, unbegreiflich,
völlig überflüssig». Weil es für sie keinerlei Rechtfertigung gibt, werden die
Veteranen offiziell totgeschwiegen. Ihnen wird jede Anerkennung für ihre Leiden und
Opfer versagt. Auch mit der Erinnerung an ihre Taten (und Untaten) im Kaukasus
werden sie allein gelassen. «Die Folge davon ist eine Generation von wütenden
jungen Männern, durchdrungen vom Hass auf alles und jeden.»

            Auch Israel ist ein Staat mit vielen jungen Kriegsveteranen. Überspitzt
gesagt, besteht die ganze männliche Jugend Israels aus Soldaten oder Veteranen.
Und das bereits seit der Staatsgründung vor über sechzig Jahren. Und wie die
Kriegsliteratur aus Israel zeigt, sind manche dieser Veteranen nicht weniger verbittert
als der Russe Babtschenko.

            Der israelische Autor Yoram Kaniuk gehört zur Generation der
Augenzeugen der Staatsgründung Israels im Jahr 1948. Kurz vor seinem Tod 2013,
im hohen Alter von 83 Jahren, stellte sich Kaniuk die Frage, was genau – und was
nicht – im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 geschah, in dem er als
Siebzehnjähriger mitkämpfte und schwer verwundet wurde.

         Kaniuk nennt sein Erinnerungsbuch «1948» einen Roman. Mit gutem
Grund. Nach all den Jahrzehnten kann er seiner Erinnerung nicht trauen, denn das
Gedächtnis ist trügerisch: «Ich bin nicht sicher, woran ich mich tatsächlich erinnere.»
6

Er fragt sich: «Wer war ich damals überhaupt, was habe ich genau gemacht?» Und
er kommt zu dem Schluss, dass Erinnerungen wie Romane funktionieren – als
nachträgliche Konstruktionen von Geschehnissen: «Erinnerung ist das, was ich als
Erinnerung aufzeichne.» Die eigene Erinnerung ist ja schließlich nichts anderes als
der Roman des eigenen Lebens.

           Auf dieser Prämisse mit all ihren Vorbehalten ruht Yoram Kaniuks
persönlichstes, aufrichtigstes und schonungslosestes Grabungsprojekt im eigenen
Gedächtnis, wodurch er sich, gefiltert durch Jahrzehnte des Vergessens und Neu-
Erinnerns, die Gefühle und Taten des Jünglings wieder zu vergegenwärtigen sucht,
der er damals war – mit allen Erinnerungslücken, Fehl-Erinnerungen und blinden
Flecken.

            «Wir waren wie Kinder, geradezu unverschämt jung, hatten uns freiwillig
gemeldet. Einfaltspinsel waren wir, Partisanen.» Mit siebzehn verließ Kaniuk die
zwölfte Klasse des Gymnasiums in Tel Aviv, kurz vor dem UN-Teilungsbeschluss,
der Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat spaltete, und rückte als
Freiwilliger bei der Sturmtruppe Palmach ein, einer paramilitärischen jüdischen
Untergrund-Organisation, aus der später die Armee Israels hervorgehen sollte.

           Kaniuk und andere Teenager seinesgleichen hatten sich aufgemacht, um
Helden zu werden und den Feind zu schlagen. Es war ein «Kinderkreuzzug». Doch
schlecht ausgebildet und schlecht bewaffnet wie sie sind, laufen die Jungen in den
Tod oder in schwere Verwundungen und Verstümmelungen, in sinnlose Blutbäder
und Gemetzel, wobei ihnen die Gründung des Staates Israel beinahe entgeht. So
sehr sind sie verstrickt in ihre Gefechte mit arabischen Kampftruppen im Krieg um
das belagerte Jerusalem, dass sie von der Staatsgründung selbst fast nichts
mitbekommen.

           Es war es ein schmutziger und extrem grausamer Krieg, den Juden und
Araber gegeneinander führten, mit Massakern und großen Blutverlusten auf beiden
Seiten, mit getöteten Zivilisten, Kindern und sogar Nonnen – wobei die einheimische
arabische Bevölkerung floh oder aus ihren Dörfern vertrieben wurde und vor allem
die jungen und unerfahrenen jüdischen Kampfsoldaten in großer Zahl getötet
wurden, von ihren Anführern gelegentlich mitten im Gefecht im Stich gelassen.

           Kaniuk erinnert sich an einige Schlüssel-Erlebnisse in den Kämpfen, in
denen die Existenz des eben gegründeten Staates Israel auf der Kippe stand. So hält
er die Eroberung des Dorfes Kastel für den entscheidenden Moment im
Unabhängigkeitskrieg: «Es war das erste Mal, dass wir ein erobertes Dorf hielten.
Die Straße nach Jerusalem war jetzt freier. Die Araber hätten Kastel zurückerobern
können. Sie wollten aber zuerst ihren gefallenen Anführer [den palästinensischen
Kommandeur Abdel-Qadr al-Husseini] bestatten und verpassten deshalb den Sieg,
der ihnen den Weg zu unserer Niederlage in diesem verfluchten Krieg hätte ebnen
können.»
7

            Das Stichwort ist «dieser verfluchte Krieg». Je präziser die Erinnerungen
werden, die in Yoram Kaniuk beim Schreiben aufsteigen, desto quälender und
bitterer wird sein Bericht. Er erinnert sich nicht nur an Hunger und Durst und
Schlafmangel, an dumme und sinnlose Gefechte sowie an die eigene Abstumpfung,
während links und recht Kameraden fallen oder verstümmelt werden; er erinnert sich
auch an sein eigenes moralisches Versagen und seine Schuld: In einer
Extremsituation hat er ein Araberkind, einen achtjährigen Jungen, erschossen. In
seiner Privatmythologie wurde der getötete Junge für ihn zur Ikone, und es ist ihm bis
heute kein Trost, wenn ihn Kameraden zu beschwichtigen suchen: Wichtig sei doch
nur, «dass es den Staat gibt und dass wir ihn mit Blut errichtet haben».

           Im letzten Kapitel hadert Kaniuk voll Schmerz und Zorn mit der offiziellen
Geschichtsschreibung Israels: die Heldentaten von Palmach-Anführern wie Jitzchak
Rabin und Moshe Dajan würden gefeiert, aber die Opfer der einfachen
Kampfsoldaten würden verschwiegen. Während die damaligen Befehlshaber und
ihre Cliquen den so genannten «aufgegebenen Besitz» der vertriebenen Araber
unter sich aufteilten und reich wurden, so Kaniuks Vorwurf, «sind wir, das Fußvolk,
die Mehrheit der einfachen Kampfsoldaten, die die Arbeit getan hatten und am Leben
geblieben waren, außen vor geblieben». Ihr Andenken sei ausgelöscht und werde
totgeschwiegen.

           So setzt Yoram Kaniuk in seinem Roman «1948» seinen
totgeschwiegenen Kameraden ein Denkmal: «Sie waren kein netter Haufen. Sie
waren ein geniales und brutales, kluges und mutiges und wütendes Werkzeug, das –
ohne es zu wissen – auszog, um einen Staat für das jüdische Volk zu errichten.»
Was bleibt, ist das Bewusstsein eines historischen Unrechts hinter allem Heldenmut,
einer historischen Schuld, die in die Staatsgründung Israels eingeschrieben ist. Das
macht Kaniuks Buch in seiner Ehrlichkeit zu einer schockierenden Lektüre, die umso
wichtiger wird, je mehr sich das heutige Israel gegenüber seinen arabischen
Nachbarn verhärtet und je weiter jede Hoffnung auf einen friedlichen Ausgleich in die
Ferne rückt.

            Zwei Generationen später erzählt der israelische Journalist und Autor Ron
Leshem von vergleichbaren Kriegserfahrungen wie Kaniuk. Auch er prangert den
verfluchten Krieg an. Sein Debütroman aus dem Jahr 2008, «Wenn es ein Paradies
gibt», ist zwar kein prinzipieller Anti-Kriegs-Roman, doch er ist eine Anklageschrift
gegen die militärische Führung in Israel. Er stellt die israelische Verteidigungspolitik
kritisch in Frage, die sinnlos und ohne klares Ziel das Leben von Soldaten opfert und
vergeudet. «Vergeudung» ist ein Schlüsselwort dieses Romans.

           Beispielhaft festgemacht wird diese Kritik an einem Ort und einem
Ereignis der langen israelischen Kriegsgeschichte mit seinen arabischen Nachbarn,
nämlich an der Bergfestung Beaufort, einer ehemaligen Kreuzfahrerburg im
Südlibanon. Sie wurde 1982 von einer israelischen Elite-Einheit erobert und zu
einem Stützpunkt ausgebaut und 18 Jahre lang als vorgelagerter Außenposten
gehalten, unter größten menschlichen und materiellen Opfern. Die längste Zeit galt
8

Beaufort als zentral wichtige Verteidigungsanlage im Norden, um die Hisbollah von
der israelischen Grenze fernzuhalten. Aber im Jahr 2000 wurde Beaufort nach 18
Jahren abrupt geräumt. Im Zuge des israelischen Rückzugs aus dem Libanon wurde
der Stützpunkt aufgegeben und gesprengt, mit der Begründung, er sei strategisch
bedeutungslos.

             Und eben diese strategische Kopflosigkeit kritisiert der Roman. Erzählt
wird von der letzten israelischen Kampf-Einheit, die in Beaufort stationiert war und
die Festung im letzten Jahr erst zu verteidigen und dann plötzlich zu räumen hatte.
Zu verteidigen, weil die Festung wichtig war, zu räumen, weil sie unwichtig war.
Kritisiert wird, dass die Regierung den Abzugsbeschluss heimlich längst gefasst
hatte, aber die blutjungen Soldaten trotzdem noch ein Jahr lang sinnlos dort kämpfen
und sterben ließ. Die kahle Bergspitze, so Ron Leshem, war die vielen Opfer nicht
wert. Sein Kriegsroman handelt von vergeudetem Idealismus, vom verlogenen
Pathos der militärischen Führung und überhaupt von der Absurdität des modernen
Krieges.

           Bei Babtschenko, Kaniuk und Leshem kann man erfahren, dass auch
Soldaten Kriegsopfer sind. Umso mehr sind es die Zivilisten, besonders, wenn sie in
den Bürgerkriegen zwischen die Fronten geraten, ja, wenn es gar keine klaren
Fronten mehr gibt, weil der Krieg inmitten der Wohnquartiere der Zivilbevölkerung
ausgetragen wird und aus Wohnvierteln Schlachtfelder macht. Von solchen zivilen
Kriegsopfern und deren Verhalten in den Bürgerkriegen erzählen die meisten
Kriegsreflexionsromane. Ein paar der bemerkenswertesten davon möchte ich im
Folgenden kurz vorstellen.

           Man würde es nicht glauben, wenn man Anthony Marras Debütroman
«Die niedrigen Himmel» gelesen hat: Was der junge amerikanische Autor, Jahrgang
1984, über Tschetschenien weiß, hat er sich zumeist nur aus Büchern angelesen.
Viele Einzelheiten in seinem Roman über die Leiden der Zivilbevölkerung in den
beiden Tschetschenien-Kriegen verdankt Marra etwa Anna Politkowskaja. Im Report
der ermordeten Moskauer Journalistin fand er den fast surrealen Alltag gewöhnlicher
Tschetschenen beschrieben, die ihre Wohnorte plötzlich in ein Schlachtfeld
verwandelt sahen und inmitten der Kampfzone einfach nur am Leben zu bleiben
versuchten.

            Das Romanwerk allerdings, das Anthony Marra auf der Basis von
Politkowskajas Informationen sowie einer kurzen Informationsreise in den Kaukasus
errichtet hat, ist bewundernswert in seiner Komplexität, seiner literarischen Dichte
und Detailfülle. «Die niedrigen Himmel» verbindet Recherche mit Erfindungsreichtum
und psychologischer Einfühlung und kommt – ungewöhnlich für einen Roman-
Erstling – ohne die geringsten autobiografischen Spuren aus. Schauplätze sind,
neben der zerstörten Hauptstadt Grosny, ein fiktives Dorf und das Krankenhaus der
fiktiven Stadt Woltschansk in dem Jahrzehnt zwischen 1994 und 2004.
9

           Marra erzählt eine kraftvolle, anschauliche und tief bewegende Geschichte
um ein achtjähriges tschetschenisches Mädchen und die drei Erwachsenen, die sich
mitten im Chaos der Kämpfe zwischen tschetschenischen Aufständischen und
russischen Truppen um sie kümmern. Nachdem ihr Vater von den russischen
Besatzern erst gefoltert und dann entführt wird, sind es die Ärzte Achmed und Sonja,
die das nun elternlose Kind, das gleichfalls von Verschleppung bedroht ist, in ihrem
Krankenhaus verstecken und ihm so das Leben retten.

            Diese beiden Ärzte könnten unterschiedlicher nicht sein. Achmed ist
bestenfalls ein Hilfsarzt, hat aber große soziale Fähigkeiten; Sonja ist eine
aufopferungsvolle Chirurgin, aber eine barsche Frau, die hinter ihrer Härte einen
tiefen privaten Schmerz um ihre abtrünnige jüngere Schwester verbirgt. Gemeinsam
mit einer einzigen Krankenschwester halten Achmed und Sonja ihr halb zerstörtes
Spital am Laufen. Bis zur Erschöpfung und ohne Ansehen der Person versorgen sie
zu dritt Kämpfer beider Seiten, Russen genauso wie Rebellen, aber auch zivile
Kriegsopfer – und das heißt meistens, den Opfern von Landminen die zerfetzten
Beine zu amputieren. Das Spital ist das reine Irrenhaus, ein völlig absurder Ort, und
doch ist es zugleich eine Zufluchtsstätte, ein Hort der Menschlichkeit.

           In vielen miteinander verlinkten Einzelgeschichten erzählt Marra von den
unterschiedlichen Überlebensstrategien seiner Figuren – Dorf-Nachbarn, Väter,
Mütter, Kindheitsfreunde, Ehegatten. Sie halten es mit keiner der beiden
Kriegsparteien, sie sind weder politisch noch religiös sonderlich interessiert, sie
wollen einfach nur durchkommen in einer Stadt, in der man sich bei jedem Schritt
«die Scherben einer ganzen Fensterscheibe in die Schuhsohlen» eintritt und
verborgene Blindgänger daran erkennt, dass jemand Kloschüsseln zur Markierung
und zum Schutz vor Explosionen darübergestülpt hat, denn «die Schüsseln, die
einzige anständige Hinterlassenschaft der Sowjetunion, brachen nie».

             Die einen kämpfen nur für sich, werden Waffenschmuggler,
Schwarzmarkt-Schieber, Verschrotter oder Menschenhändler. «Altmetall und
Verschleppungen, die Hauptindustriezweige unseres Landes», wie eine Romanfigur
feststellt. Einer ist so lange brutal gefoltert worden, bis er sich als Spitzel hergibt und
für Geld das halbe Dorf bei den russischen Truppen denunziert. Die anderen
versuchen, inmitten von Angst, Zerstörung, Verrat und Bestialität noch ein wenig
Mitmenschlichkeit zu praktizieren: den Zerfall der Dorfgemeinschaft aufzuhalten,
Nachbarn zu helfen, Flüchtlinge zu beherbergen, die Toten zu ehren, das Gedächtnis
davon zu bewahren, was das tschetschenische Volk ist und einmal war.

           Dieser Chronist und Dorf-Historiker ist Chassan, eine der vielen
eindrücklichen Figuren-Erfindungen Anthony Marras. Chassan hat schon unter Stalin
die Zwangsumsiedlung des tschetschenischen Volkes nach Kasachstan und
Zentralasien miterlebt. Als Chruschtschow 1957 den Tschetschenen die Rückkehr in
die Heimat gestattete, exhumierte Chassan die Gebeine seiner Eltern und brachte
sie nach Hause zurück, in ihrem eigenen braunen Koffer. Seither arbeitet er an einer
Geschichte seiner Eltern und seines Volkes, «dieses kleinen Teils der Menschheit,
10

den zu vergessen die Welt fest entschlossen schien». Vier Jahrzehnte lang hat
Chassan an seinem Abriss der tschetschenischen Geschichte geschrieben,
Tausende von Seiten, die er immer wieder verändern, kürzen oder umschreiben
musste, je nach den Wünschen der sowjetischen Zensur. Jetzt, wo er den Glauben
an eine Zukunft Tschetscheniens verloren hat, verbrennt Chassan sein Manuskript.
Doch die Welt der Tschetschenen fällt damit nicht der Vergessenheit anheim –
jedenfalls nicht, solange Anthony Marras großes Kriegs-Epos gelesen wird.

           Wenden wir uns von Tschetschenien nach Afrika. Afrikas Bürgerkriege,
seine zerfallenden Staaten und seine gewalttätigen, korrupten Machthaber, sind ein
zentrales Thema der afrikanischen Literatur der Gegenwart. Es ist bemerkenswert,
dass sich gerade die jüngeren Autoren, die die Bürgerkriege in Biafra, Somalia oder
Uganda gar nicht aus eigenem Erleben kennen, an diesen traumatischen
Erfahrungen ihrer Herkunftsländer am heftigsten abarbeiten – Autoren wie die
Nigerianerin Chimamanda Adichie, die Somalierin Nadifa Mohammed oder der
Äthiopier Dinaw Mengestu.

          Der Bürgerkrieg in Biafra war der erste Sündenfall in der postkolonialen
Geschichte des afrikanischen Kontinents. Dieser Sezessionsversuch der
Volksgruppe der Igbo, sich 1967 vom Gesamtstaat Nigeria abzuspalten und ihre
eigene kurzlebige Republik Biafra zu gründen, ging mit Massakern und
massenhaften Tötungen auf beiden Seiten einher und endete in einem dreijährigen
Bürgerkrieg und einer Hungerkatastrophe ungeahnten Ausmaßes. Der Krieg, in dem
während der Hungerblockade täglich bis zu sechstausend Menschen verhungerten,
forderte mehr als eine Million Todesopfer unter den Igbo.

           Die gescheiterte Sezession von Biafra ist ein lange verdrängtes Trauma in
Nigeria. Es sind Autoren, die in ihren Büchern die Jahrzehnte lang verschwiegene
Geschichte dieses entsetzlichen Bürgerkriegs neuerdings wieder thematisieren,
Autoren wie Chinua Achebe oder Chimamanda Adichie, die beide der Igbo-
Volksgruppe angehören und doch aus ganz unterschiedlicher Perspektive auf Biafra
zurückschauen.

           Chinua Achebe ist der große alte Mann der afrikanischen Literatur, die er
mit seinem postkolonialen Klassiker «Alles zerfällt» 1958 de facto begründete.
Achebe engagierte sich seinerzeit aktiv, zeitweise sogar als Sonderbotschafter, für
die Unabhängigkeit Biafras. Er ließ vierzig Jahre schweigend verstreichen, ehe er
kurz vor seinem Tod im Jahr 2013 seine Erinnerungen an den gescheiterten
Sezessionsversuch der Igbo veröffentlichte: «There was a Country. A Personal
History of Biafra». Anders als sein Landsmann, der Nobelpreisträger Wole Soyinka,
der die Sezession der Igbo rückblickend für «einfach politisch und militärisch unklug»
hält, beschreibt Chinua Achebe in seinen Memoiren den Biafra-Krieg trotz des
Elends, in das er die Igbo stürzte, als eine aufregende Zeit der stolzen
Selbstbehauptung seiner Volksgruppe. Seither habe Nigeria seine von vornherein
inhaltsleere und nie wirklich gelebte Unabhängigkeit völlig verspielt – durch
Korruption und politische Unfähigkeit seiner Machthaber.
11

           Chimamanda Adichie ist zwei Generationen jünger als Achebe, sie ist
1977 geboren und sie ist mit der Verehrung für diesen Autor aufgewachsen. Sie
nennt Achebe ihr Vorbild, die Lektüre von «Alles zerfällt» sei eine lebensprägende
Offenbarung für sie gewesen. Sie hat selbst zwei Großväter im Biafra-Krieg verloren.
In ihren Romanen und Erzählungen ist der dunkle Schatten von Biafra stets präsent.
In ihrem Roman «Die Hälfte der Sonne» (2008) erzählt sie die Verelendung der Igbo
am Beispiel zweier Zwillingsschwestern, die der Igbo-Elite angehören und in den
enthumanisierenden Biafra-Krieg hineingezogen werden.

           Adichie geht also ganz anders mit dem Thema um als Chinua Achebe.
Natürlich hat sie die Biafra-Memoiren Achebes gelesen. In der «London Review of
Books» fällte sie ihr abschließendes Urteil über das Buch, den Autor und seine
ganze Generation. Es klingt – besonders angesichts Adichies lebenslanger
Bewunderung für Achebe – ernüchtert: «Chinua Achebe gehört zur Generation der
verwirrten Nigerianer, jener Leute, die das Glück hatten, Bildung erwerben zu
können, die man lehrte, an Nigeria zu glauben, und die dann, hilflos und bestürzt,
zusahen, wie ihr Land zerbröckelte. Er war ein Biafra-Patriot, wie die meisten seiner
Igbo-Kollegen, weil sie sich nicht mehr Nigeria zugehörig fühlten. Er scheint immer
noch ungläubig erstaunt zu sein über die schrecklichen Dinge, die auf die Sezession
folgten.»

           Die Somalierin Nadifa Mohamed ist vier Jahre jünger als Chimamanda
Adichie. Sie floh 1986, im Alter von fünf Jahren, mit ihren Eltern vor dem drohenden
Bürgerkrieg aus ihrer Geburtsstadt Hargeisa ins Exil nach England. Ihr Bürgerkriegs-
Roman «Der Garten der verlorenen Seelen» erzählt von einer Zeit, die Nadifa
Mohamed nicht selbst miterlebt hat und daher nicht aus eigener Anschauung kennt.
Sie war darauf angewiesen, sich ihr Geburtsland Somalia aus den Erzählungen ihrer
Eltern und Verwandten zu erschließen. Doch diese Recherchen ließen ihr immer
genügend Spielraum für narrative Phantasie und Fabulierfreude.

           Der Roman spielt 1987/88, am Vorabend des Bürgerkriegs, als Hargeisa
in die Hand aufständischer separatistischer Clans geriet, worauf der Diktator Barre
die Stadt bombardieren ließ und die Bevölkerung in heller Panik über die Grenze ins
nahe gelegene Äthiopien flüchtete.

           Der Roman zeigt den beginnenden Bürgerkrieg aus weiblicher Sicht.
Erzählt wird die Überlebensgeschichte dreier starker und differenziert gezeichneter
Heldinnen, die drei Frauengenerationen repräsentieren. Da ist das verwaiste
Straßenkind, das sich nicht zur Kinderprostitution abrichten lässt, sondern
davonläuft. Da ist die junge somalische Soldatin, die zu den Aufständischen
überläuft. Und da ist die alte Witwe, die am Ende eine Art Patchwork-Familie mit den
beiden Jüngeren bildet, als Wunsch-Großmutter mit Pseudo-Tochter und Pseudo-
Enkelin.

          Alle drei Heldinnen werden in die blutigen Fehden zwischen dem Regime
und Aufständischen aus den verfeindeten Clans hineingezogen, sie erleben am
12

eigenen Leib, wie diese Binnenkämpfe von Rebellen, Clan-Milizen und
Regierungstruppen das Leben im Land vergiften und die Gesellschaft zunehmend
brutalisieren. Die Männer spielen im Roman meist eine üble oder gar keine Rolle. Es
gibt außer Bettlern und Pennern kaum mehr Zivilisten in Hargeisa. Die Männer sind
entweder beim Militär oder bei der Polizei oder bei den Aufständischen jenseits der
äthiopischen Grenze. Oder sie werden als tote Folteropfer von den Soldaten nachts
auf den Marktplatz geworfen. Und Ärzte werden kurzerhand hingerichtet, wenn sie
gegen die üblen Zustände in den Krankenhäusern protestieren.

           Am Ende lässt der Diktator die Stadt Hargeisa sogar bombardieren. Für
die Protagonistinnen gibt es zuletzt nur noch die Entscheidung zwischen Tod oder
Flucht. Um nicht durch die Bomben der eigenen Regierung zu sterben, entschließen
sie sich zur Flucht ins Nachbarland Äthiopien. Lieber lebendig in einem
Flüchtlingslager als tot in der Heimat. Das Resümee zieht die alte Witwe. Sie
«versteht das ganze Land nicht mehr – Polizistinnen sind zu Folterknechten
geworden, Tierärzte zu Ärzten, Lehrer zu Spionen, Kinder zu bewaffneten Rebellen».
           Anders als die Bürgerkriege in Biafra und Somalia hat der Bürgerkrieg in
Uganda bisher noch kaum literarische Chronisten gefunden – mit einer interessanten
Ausnahme. In seinem soeben erschienenen dritten Roman «Unsere Namen» erzählt
Dinaw Mengestu von dem schmalen Zeitfenster in den frühen 1970er Jahren, als in
Uganda im Überschwang der neu errungenen Unabhängigkeit die pan-afrikanischen
Reformträume blühten, ehe sie im Bürgerkrieg und in den Gräueltaten des Putsch-
Diktators Idi Amin zuschanden gingen.

            Das beginnt ganz spielerisch mit aufrührerischen studentischen Campus-
Aktionen auf dem Gelände der Universität von Kampala. Doch diese aktionistischen
rebellischen Performances münden bald in den blutigsten Ernst, als die beiden
Romanhelden, zwei Möchtegern-Studenten, in den Bannkreis der aufständischen
Milizen driften, die sich gegen Idi Amins Schreckensherrschaft formieren. Bald zeigt
sich, dass die Rebellen-Milizen dem Regime an Gewalttätigkeit nicht nachstehen.
Der eine Student ist bereits zu tief in die Gräueltaten verwickelt, für eine Flucht ist es
zu spät. Er schenkt dem Freund seinen Pass und sein Studentenvisum, damit dieser
unter falschem Namen in die USA flüchten kann.

           Das Ungewöhnlichste an diesem Uganda-Roman ist der Autor. Dinaw
Mengestu stammt gar nicht aus Uganda. Er ist ein amerikanischer Autor mit
äthiopischen Wurzeln, der als Zweijähriger mit seinen Eltern aus Addis Abeba in die
USA emigrierte. Es zeigt sich, dass die eigene Erfahrung mit hybriden, fließenden
Identitäten eine gute Voraussetzung ist für eine solche abgründige Geschichte über
fragwürdige nationale Identitäten, die in Bürgerkriegen zugleich ihre Bestätigung und
ihre Zerstörung finden.

            Ich komme zum Schluss. Ein Streifzug durch die außer-europäische
Kriegsliteratur der Gegenwart, und sei er noch so kursorisch und lückenhaft, kann
nicht ohne eine Erwähnung des Irak bleiben. Der Irak bietet reichen Stoff für
13

exemplarische Kriegsgeschichten, von seiner fahrlässigen Gründung mit allen
fragwürdigen Grenzziehungen bis hin zur unheilvollen Invasion der Amerikaner und
deren nicht minder unheilvollem überhasteten Abzug, der ein zerrüttetes Land der
Zerreißung durch seine Bürgerkriegsparteien überließ.

          Die irakische Literatur über die fatale Geschichte und Gegenwart dieses
«Failed State» ist eindrucksvoll und fast unüberschaubar reich. Stellvertretend
möchte ich nur auf ein Buch aufmerksam machen, auf den neuen Roman «Bagdad
Marlboro» von Najem Wali.

            Najem Wali wurde 1956 in Basra geboren. 1980, bei Ausbruch des
Iranisch-Irakischen Kriegs, fälschte seinen Wehrpass und desertierte nach
Deutschland. Wali lebt heute in Berlin, als Journalist und Romanautor. Seine
publizistischen Beiträge für deutschsprachige Zeitungen schreibt er auf Deutsch,
seine Romane und Erzählungen auf Arabisch.

           Walis Hauptthema ist der Irak in seiner unglücklichen Geschichte und
seiner zerrütteten Gegenwart. Er führt uns vor Augen, wie die fast permanenten
Kriege und die Einmischungen von außen die einst kosmopolitische urbane Kultur
des Irak zerschlagen und die Menschen des Landes materiell und moralisch
traumatisiert haben. Er zeigt, wie die einstige multikulturelle Vielfalt des Irak – eines
Landes, in dem die unterschiedlichsten Ethnien und Religionen (Muslime, Juden,
Kurden, Sabäer, Chaldäer, Yesiden, Christen, etc.) friedlich zusammenlebten –
zuerst durch panarabisch-sunnitische Kräfte, durch Vertreibung der Juden, der
Kurden, der Armenier, etc., und seither durch amerikanische und iranische
Interventionen sowie einen radikalisierten politischen Islamismus zerstört wurde.

          Im Roman «Bagdad Marlboro» sind die nationalen Traumata der
kriegsgeschädigten Iraker Najem Walis Thema: Es ist die unbefriedete
Vergangenheit, die verdrängte Erinnerung an schreckliche Gewalterfahrungen, die
immer wieder hervorbricht und sich nicht vergessen lässt.

           Im Wesentlichen spielt der Roman 2004, im zweiten Jahr nach der
Besetzung des Landes durch US-Marines. Zwei Schreckensereignisse aus dem
Kuwait-Krieg sind die Dreh- und Angelpunkte des Romans. Die eine Untat wurde von
Irakern begangen, die andere von Amerikanern. Irakische Soldaten haben
amerikanische Kriegsgefangene, die sie bewachen sollten, massakriert; Amerikaner
haben ein irakisches Bataillon, das sich in der Wüste in Schützengräben verschanzt
hatte und sich ergeben wollte, als es nahe am Verdursten war, mit Bulldozern bei
lebendigem Leib zugeschüttet.

             Diese Untaten haben die beiden Protagonisten des Romans zutiefst
erschüttert, denn beide haben vorher nie getötet und sind ihrem Wesen nach
friedfertig, freundlich und jeder Gewalt abhold – Salmân Mâdi, der irakische Dichter,
und Daniel Brooks, der schwarze US-Leutnant. Wegen ihrer jeweiligen Teilnahme an
diesen Gräueln sind beide über sich selbst entsetzt.
14

           In seiner doppelten Perspektive – aus irakischer und aus amerikanischer
Sicht – strebt Najem Walis Kriegsroman nach einem gerechten Blick auf die
Vorgänge im Irak. Das macht den Roman einzigartig und seinen Autor zu einem
bedeutenden Vermittler zwischen der westlichen und der arabischen Welt.

          Der moderne High-Tech-Krieg, der seine mörderische Gewalt auf ein
Bildschirm-Geschehen reduziert und so in scheinbarer Abstraktheit technisch
verschwinden lässt, ist gleichwohl literaturfähig. Autoren wie Najem Wali zeigen,
dass sich auch solche Kriege erzählen lassen – wenn man dem Menschen hinter der
Kriegsmaschine seine Aufmerksamkeit und imaginative Kraft zuwendet.

Erwähnte Bücher:
Über die Tschetschenien-Kriege:
Arkadi Babtschenko: «Die Farbe des Krieges» (rororo 2007); «Ein guter Ort zum
Sterben» (rororo 2009); «Ein Tag wie ein Leben. Vom Krieg» (Rowohlt Berlin 2014)
Anthony Marra: «Die niedrigen Himmel» (Suhrkamp 2014)

Über die Kriege Israels:
Yoram Kaniuk: «1948» (Aufbau 2013)
Ron Leshem: «Wenn es ein Paradies gibt» (Rowohlt Berlin 2008)

Über den Biafra-Krieg:
Chinua Achebe: «There Was a Country. A Personal History of Biafra» (Penguin
2012)
Chimamanda Ngozi Adichie: «Die Hälfte der Sonne» (btb 2008)

Über die Bürgerkrieg in Somalia:
Nadifa Mohamed: «Der Garten der verlorenen Seelen» (C. H. Beck 2014)

Über den Bürgerkrieg in Uganda:
Dinaw Mengestu: «Unsere Namen» (Kein & Aber 2014)

Über den Krieg im Irak:
Najem Wali: «Bagdad Marlboro» (Hanser 2014)
Sie können auch lesen