Off-Label-Use von Medikamenten in der Schwangerschaft

Die Seite wird erstellt Marlene Haas
 
WEITER LESEN
DIAGNOSTIK + THERAPIE
                        ARZNEIMITTELTHERAPIE

                        Off-Label-Use von Medikamenten
                        in der Schwangerschaft
                        Christof Schaefer
                        Viele Arzneimittelanwendungen in der Schwangerschaft sind                            gen Jahren ein Tollwutimpfstoff. Bei
                        Off-Label-Use, weil Arzneimittel in aller Regel nicht an schwan-                     Befolgen dieses Hinweises unterblie-
                        geren Frauen untersucht werden und entsprechende Warnhin-                            be die postexpositionelle Prophylaxe
                        weise im Beipackzettel und in der Fachinformation enthalten                          als einzig wirksame Behandlung ei-
                        sind. Trotzdem gibt es zahlreiche Situationen, in denen eine                         ner tödlich verlaufenden Infektion
                        derartige Verordnung zwingend ist.                                                   aus angeblicher Rücksicht auf ein un-
                                                                                                             terstelltes embryotoxisches Risiko.
                        Risikoklassifikationen und kurz ge-       n unzureichend erprobte oder ris-          Da keines der vier in den letzten Jahr-
                        fasste Informationen zur Schwanger-       kante Arzneimittel mit erhöhtem Fehl-      zehnten in Deutschland verstorbenen
                        schaft in der Roten Liste oder auf Pa-    bildungsrisiko verschrieben werden,        Tollwutopfer eine schwangere Frau
                        ckungsbeilagen sind häufig nicht am       weil die üblichen Angaben keine ver-       war, wurde dieser Hinweis offenbar
                        aktuellen wissenschaftlichen Kennt-       gleichende Risikobewertung erlauben.       nicht so genau genommen, da anzu-
                        nisstand orientiert und zu allgemein                                                 nehmen ist, dass unter den zahlrei-
                        gehalten. Auf der anderen Seite lie-      Was ist ein Off-Label-Use?                 chen behandelten Patientinnen mit
                        gen für die meisten Arzneimittel kei-                                                ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch
                        ne für eine differenzierte Bewertung      Unter Off-Label-Use versteht man die       Schwangere mit Kontakt zu infizier-
                        ausreichenden Daten, d.h. epidemio-       Behandlung mit einem Medikament,           ten Tieren waren.
                        logische Studien zur Verträglichkeit      das für die zu behandelnde Erkran-
                        für den Embryo vor. Tierexperimen-        kung, d.h. die vorgesehene Indika-         Risikoinformationen
                        telle Ergebnisse helfen nur wenig wei-    tion oder/und für die betreffende          zu lapidar gefasst
                        ter, da zwar die beim Menschen be-        Patientengruppe (z.B. Schwangere,
                        kannten teratogenen Substanzen auch       Kinder) nicht zugelassen ist. Die Zu-      Zu den primären Informationsquel-
                        in geeigneten Tierversuchen zu Schä-      lassung für Erkrankungen ist im Bei-       len, von denen man sich Angaben zur
                        digungen führen, umgekehrt die nicht      packzettel, in der Roten Liste oder in     Anwendung in der Schwangerschaft
                        selten ermittelten Auffälligkeiten im     der ausführlicheren vom Hersteller         erhofft, gehören Beipackzettel, Ro-
                        Tierversuch aber nicht zwangsläufig       verfassten Fachinformation im Ab-          te und Gelbe Liste sowie die aus-
                        teratogene Effekte beim Menschen er-      schnitt „Anwendung“ zu finden. Die         führlichere so genannte Fachinfor-
                        warten lassen.                            Zulassung für Schwangere wird im All-      mation des Herstellers. In deren Ab-
                                                                  gemeinen nicht explizit genannt. Der       schnitt 4.3 werden Gegenanzeigen
                        Der teilweise unbefriedigende Kennt-      Hinweis „kontraindiziert in der            formuliert (z.B. „Schwangerschaft“),
                        nisstand, Schwierigkeiten mit der In-     Schwangerschaft“ oder „Schwanger-          im Abschnitt 4.6 ggf. differenzierte-
                        terpretation von epidemiologischen        schaft“ im Absatz „Gegenanzeigen“          re Einschränkungen wie z.B. „bei vi-
                        Studien sowie undurchschaubare Kri-       zeigt jedoch an, dass eine dennoch         taler Indikation“, und unter 5.3 wer-
                        terien bei der Klassifizierung von Me-    durchgeführte Behandlung einem Off-        den tierexperimentelle Erkenntnisse
                        dikamenten in der Schwangerschaft be-     Label-Use entspricht.                      genannt.
                        günstigen eine Fehleinschätzung des
                        Arzneimittelrisikos mit der Folge, dass   Ebenso wie in der Kinderheilkunde ist      In der Roten Liste finden sich an ent-
                        n notwendige Verordnungen unter-          eine Therapie bei Schwangeren häu-         sprechender Stelle folgende einfüh-
                        bleiben oder verschriebene Medika-        fig nur off label möglich, weil für vie-   rende Hinweise zur Schwangerschaft:
                        mente nicht eingenommen werden            le Erkrankungen keine Medikamente          „... In zunehmendem Maße wurden
                        (schlechte Compliance);                   ohne den Vermerk „Gegenanzeige:            und werden (...) Anwendungsbe-
                        n nach bereits erfolgter Einnahme         Schwangerschaft” verfügbar sind.           schränkungen angegeben, auch wenn
                        vermeintlich suspekter Medikamente                                                   keine entsprechenden Befunde vorlie-
                        erwünschte und intakte Schwanger-         Grotesk wird die Situation, wenn ei-       gen. Eine Gegenanzeige (Kontraindi-
                        schaften abgebrochen werden oder          ne lebensrettende Maßnahme mit ei-         kation) oder Anwendungsbeschrän-
                        nicht gerechtfertigte (invasive) Di-      ner Kontraindikation für Schwangere        kung (Strenge Indikationsstellung) in
                        agnostik durchgeführt wird;               bewehrt wird, wie z.B. bis vor weni-       der Schwangerschaft lässt den Arzt im

  20                    FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 1
DIAGNOSTIK + THERAPIE
Unklaren, wie schwerwiegend diese An-     Weglassen der Gegenanzeige Schwan-             Medikament nicht als kontraindiziert
gabe sein kann.” Die Angabe der in        gerschaft orientiert sich häufig nicht         bewertet werden“ (4).
der Roten Liste für die Schwanger-        am aktuellen wissenschaftlichen
schaft benutzten Chiffren (Gr 1–11;       Kenntnisstand, auch nicht an Thera-            Das Beispiel Misoprostol
s. Tab. 1) „beinhaltet auch den nur       piestandards oder Leitlinien, sondern
theoretisch begründeten Verdacht auf      an haftungsrechtlichen und auch an             Seit 1985 ist Misoprostol (Cytotec) in
eine Schädigung (...). Dem Grundsatz      ökonomischen Interessen des Her-               über 80 Ländern als Ulkusmedikament
(…) strenger Indikationsstellung (…)      stellers.                                      zugelassen, nicht jedoch für gynäko-
tragen Hersteller Rechnung, die Ein-                                                     logisch-geburtshilfliche Indikationen.
schränkungen in der Schwangerschaft       Das deutsche Bundesinstitut für Arz-           Allerdings erwähnt die US-Zulas-
angeben und dies mit Gr 1–Gr 3 (kei-      neimittel und Medizinprodukte                  sungsbehörde FDA Misoprostol in
ne Hinweise auf fruchtschädigende Wir-    (BfArM) prüft bei Zulassungen von              Kombination mit Mifepriston zum
kung) begründen.”                         Medikamenten die Warnhinweise auf              Schwangerschaftsabbruch.
                                          Aktualität und Widersprüchlichkeit,
Die Missverständlichkeit dieser Aus-      um die Angaben in den o.g. Infor-              Als Prostaglandin-E1-Derivat hat Mi-
führungen und die für klinische Ent-      mationsmedien verlässlicher und in             soprostol ein günstiges Nebenwir-
scheidungen häufig zu allgemeinen         der Praxis anwendbarer zu gestalten.           kungsprofil ohne nennenswerte Ef-
Risikoklassifizierungen sind kein spe-    Wie das BfArM, so empfiehlt auch die           fekte auf Bronchien oder Blutgefäße
zifisch deutsches Problem. Auch in        europäische Zulassungsbehörde Eu-              und den Vorteil gegenüber anderen
anderen Ländern werden praktikable-       ropean Medicines Agency (EMEA) in              Prostaglandinprodukten, dass es oral,
re Risikotexte eingefordert, z.B. an-     London: „Wenn es keine sicherere Be-           sublingual, vaginal und rektal ange-
gesichts der ebenfalls unbefriedi-        handlungsoption gibt und eine Be-              wendet werden kann. Eine infek-
genden Erfahrungen mit der FDA-Klas-      handlung nicht aufgeschoben werden             tionsbegünstigende invasive Appli-
sifizierung in den USA (2).               kann, sollte das in Frage kommende             kation ist also nicht erforderlich. Die

Bedeutet „Gegenanzeige
Schwangerschaft“ immer                     In der Roten Liste benutzte Risikoklassifizierung
ein hohes Risiko?                          für die Schwangerschaft
Es ist verständlich, dass Zulassungs-      Gr 1: Bei umfangreicher Anwendung am Menschen hat sich kein Verdacht
behörden und Hersteller von Arznei-               auf eine embryotoxische/teratogene Wirkung ergeben. Auch der Tier-
                                                  versuch erbrachte keine Hinweise auf embryotoxische/teratogene
mitteln ein potenzielles Risiko anders
                                                  Wirkungen.
betrachten als die Ärztin/der Arzt,        Gr 2: Bei umfangreicher Anwendung am Menschen hat sich kein Verdacht
die/der eine einzelne Schwangere be-              auf eine embryotoxische/teratogene Wirkung ergeben.
handelt und berät: Ein gering erhöh-       Gr 3: Bei umfangreicher Anwendung am Menschen hat sich kein Verdacht
tes Fehlbildungsrisiko, das in einem              auf eine embryotoxische/teratogene Wirkung ergeben. Der Tierversuch
relativen Risiko (RR) von beispiels-              erbrachte jedoch Hinweise auf embryotoxische/teratogene Wirkungen.
weise 1,2 zum Ausdruck kommt, ist                 Diese scheinen für den Menschen ohne Bedeutung zu sein.
als individuelles Risiko zu vernach-       Gr 4: Ausreichende Erfahrungen über die Anwendung beim Menschen liegen
lässigen und für die Beratung einer               nicht vor. Der Tierversuch erbrachte keine Hinweise auf embryo-
einzelnen Schwangeren irrelevant.                 toxische/teratogene Wirkungen.
Wenn jedoch mit einer Zahl von             Gr 5: Ausreichende Erfahrungen über die Anwendung beim Menschen liegen
                                                  nicht vor.
10.000 im ersten Trimenon behan-
                                           Gr 6: Ausreichende Erfahrungen über die Anwendung beim Menschen liegen
delten Schwangeren gerechnet wird,                nicht vor. Der Tierversuch erbrachte Hinweise auf embryotoxische/
sind bei einem relativen Risiko von               teratogene Wirkungen.
1,2 und einer Prävalenz für große Fehl-    Gr 7: Es besteht ein embryotoxisches/teratogenes Risiko beim Menschen
bildungen (Hintergrundrisiko für alle             (1. Trimenon).
Schwangeren) von 3% 60 geschädig-          Gr 8: Es besteht ein fetotoxisches Risiko beim Menschen
te Kinder zusätzlich zu erwarten.                 (2. und 3. Trimenon).
                                           Gr 9: Es besteht ein Risiko perinataler Komplikationen beim Menschen.
Doch nicht nur bei Hinweisen auf Te-       Gr 10: Es besteht das Risiko unerwünschter hormonspezifischer Wirkungen
ratogenität, sondern auch bei unzu-               auf die Frucht beim Menschen.
reichender Datenlage oder sogar trotz      Gr 11: Es besteht das Risiko mutagener/karzinogener Wirkung.
ausreichender Erprobung werden
„Kontraindikationen“ gegen die Be-        Tab. 1: In der Roten Liste werden diese Chiffren benutzt, um die Erfahrungen beim Menschen
handlung Schwangerer festgelegt. Das      und im Tierversuch zusammenzufassen.

                                                                                                       FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 1     21
DIAGNOSTIK + THERAPIE
                        Lagerung ist problemlos und erfor-        natal- und Geburtsmedizin > 4.3.          spielsweise in den Ländern Afrikas die
                        dert keine Kühlung.                       Schwangerschaft > 4.3.2. Prosta-          Nichtzulassung dieses einfach anzu-
                                                                  glandine in Geburtshilfe und Gynä-        wendenden, nicht kühlpflichtigen,
                        Wenn Misoprostol zur Einleitung ei-       kologie).                                 preisgünstigen Prostaglandins in er-
                        nes Schwangerschaftsabbruchs gege-                                                  heblichem Maße für die Mutter-Kind-
                        ben wird und die Schwangerschaft          Gründe für die                            Sterblichkeit verantwortlich ist, ab-
                        dann doch erhalten bleibt, besteht        Nichtzulassung                            gesehen vom unnötigen Verbrauch
                        ein embryotoxisches Risiko für Dis-                                                 der beschränkten finanziellen Res-
                        ruptionsanomalien der Hirnnerven und      Misoprostol ist ein preiswertes Medi-     sourcen. In diesen Ländern orientiert
                        Extremitäten (Moebius-Sequenz) (9).       kament, weil es als langfristig ange-     man sich vor allem am Zulassungs-
                                                                  wendetes Ulkusmittel konkurrenzfä-        status in Großbritannien und den USA.
                        Zur Anwendung in der Geburtshilfe         hig mit anderen Ulkustherapeutika         Selbst dort, wo Misoprostol als Ulkus-
                        zeigen zahlreiche Studien und Coch-       sein muss. Die einmalige und im Ver-      präparat zur Verfügung steht, erge-
                        rane Reviews, dass eine orale und va-     gleich zur Anwendung bei Ulkus (z.B.      ben sich unnötige Risiken bei der Tei-
                        ginale Applikation bei Beachtung be-      4x200 µg/Tag) sehr niedrige Dosis         lung der für gynäkologisch-geburts-
                        kannter Vorsichtsregeln (vorange-         bei gynäkologisch-geburtshilflichen       hilfliche Indikationen zu hoch do-
                        hende Sectio, Dosis etc.) sicher und      Indikationen kostet nur wenige Cent       sierten Tablette, d.h. fetale Hypoxie
                        wirksam ist (z.B. 1). Die bisher größ-    und ist daher für einen Hersteller öko-   und Uterusruptur können aus einer
                        te randomisierte Studie, die Miso-        nomisch uninteressant. Ein anderer        versehentlichen Überdosierung re-
                        prostol per os mit Dinoproston vagi-      Grund sind Initiativen von Abtrei-        sultieren.
                        nal bei 741 Schwangeren vergleicht,       bungsgegnern in den USA, die eine
                        bestätigt die gute Verträglichkeit und    Ausweitung des Anwendungsbereichs         Weeks und Mitarbeiter (11) resumie-
                        ermittelt eine höhere Akzeptanz bei       auf gynäkologische Indikationen arg-      ren: „The pharmaceutical industry’s
                        der Misoprostolbehandlung (3).            wöhnisch betrachten und im Inter-         refusal to apply for a license in this
                                                                  net vehement gegen einen Off-Label-       situation raises serious ethical ques-
                        ACOG hat vorsichtige                      Use von Misoprostol vorgehen, eine        tions“. Die ethische Problematik ge-
                        Empfehlung zu Misoprostol                 Bewegung, die sich gegen die ge-          winnt vor allem dann an Bedeutung,
                        herausgegeben                             samte Produktpalette des Herstellers      wenn der Hersteller am Patentschutz
                                                                  wenden könnte. Ferner wird vom glei-      festhält und damit anderen die Mög-
                        Gynäkologisch-geburtshilfliche Fach-      chen Hersteller ein erheblich teure-      lichkeit nimmt, das Produkt anzubie-
                        gesellschaften in manchen Ländern         res, für die Geburtseinleitung zuge-      ten. Derzeit ist es den Zulassungs-
                        positionieren sich inzwischen und         lassenes, ausschließlich invasiv zu       behörden trotz evidenten Bedarfs
                        geben vorsichtige Empfehlungen zum        verabreichendes PGE2-Präparat (Di-        rechtlich nicht möglich, eine Zulas-
                        nicht zugelassenen Misoprostol in der     noproston; z.B. Minprostin E2) ange-      sungserweiterung von sich aus zu ver-
                        Geburtshilfe heraus, wie z.B. die nord-   boten, dem Misoprostol eine Kon-          anlassen. Angesichts der hiesigen Dis-
                        amerikanische ACOG, die sinngemäß         kurrenz wäre. Aus Herstellerperspek-      kussion um Arzneimittelbudgets und
                        schreibt: „Falls Misoprostol zur Zer-     tive gibt es also kaum Gründe, eine       der wesentlich gewichtigeren oben
                        vixreifung eingesetzt wird, sollten       Indikationserweiterung zu beantra-        angesprochenen globalen Bedeutung
                        25 µg als Initialdosis betrachtet wer-    gen.                                      dieses essenziellen Arzneimittels gibt
                        den...“ und das englische RCOG: „Eine                                               es dringenden weiteren Diskussions-
                        vaginale Anwendung von Misoprostol        Anfang 2006 wurde Misoprostol in          und Handlungsbedarf. Misoprostol
                        erscheint effektiver als intravaginale    Deutschland ganz vom Markt genom-         steht in der 2005-WHO-Liste der es-
                        oder intrazervikale PGE2-Präparate oder   men. Das heißt, dass es nur im Aus-       sential medications.
                        Oxytocin, die Anwendungssicherheit        land zu beziehen ist. Stellt sich hier-
                        ist noch unklar, daher sollte eine Mi-    zulande die Situation dar als Ent-        Das Beispiel Nifedipin
                        soprostolanwendung nur im Rahmen          scheidung zwischen einer einfach an-
                        randomisierter kontrollierter Studien     zuwendenden, kostengünstigen, aber        Nifedipin (z.B. Adalat) wird inzwi-
                        erfolgen...“.                             vermeintlich juristisch problemati-       schen in vielen Ländern als Tokoly-
                                                                  schen Medikation (Misoprostol) und        tikum den Betamimetika vorgezogen,
                        Eine Stellungnahme der deutschen          einer rund 100mal teureren, um-           eine Zulassung für diese Indikation
                        Gesellschaft für Gynäkologie und Ge-      ständlicheren, aber zugelassenen The-     besteht jedoch nicht. In der Roten
                        burtshilfe findet sich in der kürzlich    rapieoption (Dinoproston), so erge-       Liste findet sich der Hinweis auf N 33
                        veröffentlichten Leitlinie „Anwen-        ben sich für die so genannte Dritte       in den roten Seiten. Dort heißt es
                        dung von Prostaglandinen in Ge-           Welt ganz andere Implikationen.           ebenso wie unter Abschnitt 4.3 in
                        burtshilfe und Gynäkologie“ (http://      Weeks und Mitarbeiter (11) haben          der Fachinformation „kontraindiziert
                        www.dggg.de, > Leitlinien > 4. Prä-       kürzlich darauf hingewiesen, dass bei-    in der Schwangerschaft“. Allerdings

  22                    FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 1
DIAGNOSTIK + THERAPIE
wird dieser Hinweis unter Abschnitt      beobachteten Fehlbildungen waren          damals keine Zulassung vorlag. Aus
4.6 wieder relativiert, indem einer      jedoch heterogen. Nur zwei Cumarin-       diesem Urteil kann sogar ausnahms-
Anwendung „bei vitaler Indikation“       embryopathien wurden unter insge-         weise eine Rechtspflicht zum Off-
nicht widersprochen wird. Man kann       samt 356 Lebendgeborenen beob-            Label-Use abgeleitet werden, wenn
nun darüber streiten, ob eine Toko-      achtet (0,6%). Beide waren deutlich       für eine behandlungsbedürftige,
lyse mit Nifedipin eine vitale Indi-     länger als bis zur Schwangerschafts-      schwerwiegende Erkrankung keine zu-
kation darstellt, da andere zugelas-     woche 8 p.m. bzw. ausschließlich          gelassenen Medikamente zur Verfü-
sene Tokolytika zur Verfügung ste-       danach exponiert (7). Das Spontan-        gung stehen (10).
hen. Insofern ist bei einer tokolyti-    abortrisiko war um das Zwei- bis Drei-
schen Applikation von Nifedipin von      fache erhöht.                             Off-Label-Use ist Gewährung
einem Off-Label-Use auszugehen. Im                                                 einer zusätzlichen
Gegensatz zu Misoprostol bestehen        Der Abbruch einer gewünschten und         Heilungschance
beim Markenführer aber Tendenzen,        intakten Schwangerschaft aufgrund
die Kontraindikation Schwangerschaft     einer (versehentlichen) Exposition in     Das Urteil verdeutlicht die Relativi-
zu lockern. Da keine Kostenrücker-       der (Früh-)Schwangerschaft ist nicht      tät des Begriffs „Standardbehand-
stattung erfolgt, wird Nifedipin der-    indiziert. Die Entwicklung des Feten      lung“. In vielen Fällen entspricht der
zeit höchstens in Kliniken eingesetzt.   sollte im Fall einer Exposition jedoch    Zulassungsstandard des Präparats zu-
Wie Misoprostol steht Nifedipin in       mit hoch auflösendem Ultraschall kon-     gleich dem Behandlungsstandard. Ei-
der 2005-WHO-Liste der essential         trolliert werden.                         ne neue Arzneimitteltherapie wird
medications.                                                                       dann zum Standard, wenn sie an ei-
                                         Gerichte verpflichten unter               nem für Aussagen über die Nutzen-
Das Beispiel Phenprocoumon               bestimmten Bedingungen                    Risiko-Bilanz ausreichend großen Pa-
                                         zum Off-Label-Use                         tientenkreis medizinisch-wissen-
Der Markenführer des in Deutschland                                                schaftlich erprobt und im Wesentli-
vorwiegend benutzten Cumarin-Anti-       Nach deutscher Rechtsprechung ist         chen unbestritten ist – und für den
koagulans Phenprocoumon (z.B. Mar-       ein zulassungsüberschreitender Ein-       jeweiligen Patienten risikoärmer oder
cumar) bezeichnet sein Produkt als       satz von Arzneimitteln dann nicht         weniger belastend ist oder bessere
kontraindiziert in der Schwangerschaft   rechtswidrig, wenn das für Schwan-        Heilungschancen verspricht. Existiert
und gibt an, dass drei Monate Ab-        gere nicht zugelassene Medikament         noch gar kein Behandlungsstandard,
stand zu einer Schwangerschaft ein-      nach dem aktuellen wissenschaftli-        kommt dem Off-Label-Use eher der
gehalten werden müssen. Die ande-        chen Erkenntnisstand hinreichend          Charakter der Gewährung einer zu-
ren Anbieter von Phenprocoumon           wirksam und unbedenklich ist und ei-      sätzlichen Heilungschance zu. Hier-
fordern lediglich eine strenge Indi-     ne gleichwertige therapeutische Al-       bei muss der jeweilige Patient in be-
kationsstellung. Da demnach keine        ternative nicht zur Verfügung steht.      sonderer Weise über den Nutzen und
einheitliche Bewertung i.S. einer        Die Unbedenklichkeit ist relativ zu       die speziellen Risiken aufgeklärt wer-
Kontraindikation vorliegt, stellt eine   verstehen, das heißt, es steht kein       den, die sich aus der Zulassungs-
Therapie Schwangerer keinen Off-         anderes wirksames Medikament zur          überschreitung ergeben (5).
Label-Use dar.                           Verfügung, das sicherer erscheint, und
                                         eine Nichtbehandlung wäre im Sinne        Zusammenfassung und
Die Forderung nach drei Monaten Ab-      einer Nutzen-Risiko-Abwägung ris-         Ausblick
stand zu einer Schwangerschaft ist       kanter. Bei dieser Handlungsoption
durch wissenschaftliche Daten eben-      handelt es sich stets um eine Einzel-     Bei der Therapie Schwangerer geht
so wenig belegt wie die häufig be-       fallentscheidung. Ob eine gleichwer-      es unabhängig von einer formalen
schriebene sensible Phase in Schwan-     tige therapeutische Alternative exis-     Gegenanzeige („kontraindiziert“) oder
gerschaftswoche 6–9 und das mit ei-      tiert, ist individuell vom Arzt zu be-    einer „strengen Indikationsstellung“
ner Exposition in dieser Phase ver-      stimmen – unter Berücksichtigung der      in der Schwangerschaft darum, dass
bundene Risiko von 5–15% für             jeweiligen Neben- und Wechselwir-         bei der Auswahl eines akzeptablen
Cumarinembryopathien. Eine große,        kungen.                                   Mittels im Sinne einer vergleichen-
kürzliche publizierte Kohortenstudie                                               den Risikobewertung das Medikament
mit 666 Frauen, bei denen in eine        Zivilrechtliche Grundlage zum Off-        herausgefunden werden muss, zu dem
Schwangerschaft hinein mit einem         Label-Use ist auch heute noch das so      nach aktueller wissenschaftlicher Da-
oralen Antikoagulans behandelt wur-      genannte Aciclovir-Urteil des Ober-       tenlage die meisten Erfahrungen und
de, ermittelte zwar ein mit 4,9% vs.     landesgerichts Köln (30.5.1990 – Az.      keine oder vergleichsweise geringe
1,4% (OR 3,86) signifikant erhöhtes      27 U 169/87), das wegen unterlas-         Verdachtsmomente vorliegen. Juris-
Risiko für große Fehlbildungen nach      sener Aciclovir-Behandlung einer Her-     tisch wird die wissenschaftliche
Behandlung im ersten Trimenon. Die       pes-Enzephalitis gefällt wurde, für die   Datenlage höher bewertet als die

                                                                                              FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 1     23
DIAGNOSTIK + THERAPIE
                                                                                                                 formale Klassifizierung. Für die meis-
                         Regeln bei der Verschreibung von Arzneimitteln                                          ten im reproduktionsfähigen Alter
                         bei Schwangeren                                                                         vorkommenden Erkrankungen gibt es
                         n Eine (potenziell) Schwangere sollte nur mit Medikamenten behandelt wer-
                                                                                                                 ausreichend erprobte und akzeptable
                                                                                                                 Therapieoptionen (s. Tab. 2 und 3).
                           den, die schon seit vielen Jahren eingeführt sind. Voraussetzung ist natür-
                           lich, dass keine embryotoxischen Bedenken vorliegen. Neue Arzneimittel
                           bergen ein unwägbares Risiko, und in vielen Fällen handelt es sich um
                                                                                                                 Eine Alternative zu den kurz gefass-
                           „Pseudoinnovationen“ ohne erwiesenen therapeutischen Vorteil.                         ten Risikobeschreibungen auf Bei-
                         n Eine Monotherapie ist anzustreben.
                                                                                                                 packzetteln, in der Roten Liste usw.
                         n Die Dosis eines Medikaments ist so niedrig wie therapeutisch möglich zu
                                                                                                                 wäre, grundsätzlich auf eine formel-
                                                                                                                 hafte Risikoklassifizierung zu ver-
                           wählen.
                         n Die Erkrankung selbst kann ein Risiko für die normale vorgeburtliche Ent-
                                                                                                                 zichten. Statt dessen könnte eine ver-
                                                                                                                 gleichende Bewertung der „pränata-
                           wicklung darstellen. Auch schwere Belastungen wie Schmerzen oder psy-                 len Verträglichkeit“ (als Summe aller
                           chische Konflikte können den Schwangerschaftsverlauf gefährden. Das Un-
                                                                                                                 humantoxikologischen und tierexpe-
                           terlassen einer therapeutischen Intervention kann ein größeres Risiko für
                           das Ungeborene darstellen als die Behandlung selbst.
                                                                                                                 rimentellen Erfahrungen sowie wei-
                         n Relativ unproblematisch ist die Auswahl eines gut erprobten und für den
                                                                                                                 terer pharmakologischer Eigenschaf-
                                                                                                                 ten) unter Berücksichtigung aner-
                           Embryo verträglichen Mittels bei Allergien, Asthma, bakteriellen Infektio-
                                                                                                                 kannter Therapieempfehlungen zu ei-
                           nen, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, Diabetes mellitus, Gastri-
                           tis, Glaukom, Hyperemesis, Hypertonus, Refluxösophagitis und Schmerzen                ner abgestuften Therapieempfehlung
                           sowie psychiatrischen Erkrankungen (6; www.frauen-und-psychiatrie.de).                speziell für Schwangere zusammen-
                           Bei anderen Indikationen wie zum Beispiel Epilepsie, rheumatischen Er-                gefasst werden, die für alle Frauen im
                           krankungen (Immunsuppressiva und immunmodulatorische Substanzen),                     reproduktionsfähigen Alter gelten
                           Koagulopathien (Cumarin-Antikoagulanzien) und Malignomen kann man je-                 sollte. Diese Therapieempfehlung um-
                           doch oft nicht auf teratogene oder unzureichend erprobte Medikamente in               fasst für jede Erkrankung eine Rang-
                           der Schwangerschaft verzichten.                                                       folge der infrage kommenden Medi-
                                                                                                                 kamente (Mittel der ersten, zweiten,
                                                                                                                 dritten Wahl), die regelmäßig aktua-
                        Tab. 2: Soll medikamentös behandelt werden, und wenn ja womit? Regeln helfen bei der
                        Entscheidungsfindung.
                                                                                                                 lisiert werden muss.

                                                                                                                 Eine solche Vorgehensweise hat den
                         Beispiele für ausreichend erprobte Medikamente                                          Vorteil, dass sie neben der praxisori-
                                                                                                                 entierten Entscheidungshilfe auch das
                                                         prinzipiell akzeptable Arzneimittel
                                                         (spezielle Einschränkungen beachten,                    haftungsrechtliche Dilemma zwischen
                         Erkrankung                      ggf. individuelle Beratung!)                            dem verschreibenden Arzt einerseits
                                                                                                                 und den Arzneimittelherstellern an-
                         Allergien                       Clemastin, Dimetinden, Loratadin                        dererseits lockert: Bisher sucht näm-
                         Asthma                          β2-Sympathikomimetika (inhalativ),                      lich die Ärztin/der Arzt oft vergeb-
                                                         Glukokortikoide, Theophyllin                            lich das „absolut unbedenkliche“ Me-
                         bakterielle Infektionen         Penicilline, Cephalosporine (Reserve: Makrolide)        dikament, das der Arzneimittelher-
                         Diabetes mellitus               Humaninsulin                                            steller (aufgrund der weiter oben
                         chronisch entzündliche          Mesalazin, Sulfasalazin, Glukokortikoide                dargelegten Gründe) nicht als „ak-
                         Darmerkrankungen                (Reserve: Azathioprin)                                  zeptabel“ in Schwangerschaft und
                         Gastritis                       Antazida, bewährte H2-Blocker wie Ranitidin             Stillzeit klassifizieren möchte.
                         Glaukom                         Betarezeptorenblocker, Carboanhydrasehemmstoffe,
                                                         Cholinergika                                            Literatur
                         Hyperemesis                     Meclozin, Dimenhydrinat, Metoclopramid                  1. Alfirevic Z, Weeks A: Oral misoprostol for
                                                                                                                   induction of labour. Cochrane Database
                         Hypertonus                      α-Methyldopa, Metoprolol, Dihydralazin, Nifedipin         Syst Rev CD001338, 2006.
                         Refluxösophagitis               Omeprazol                                               2. Briggs GG, Freeman RK, Yaffe SJ: Classifi-
                                                                                                                   cation of drugs for teratogenic risk: an
                         Schmerztherapie                 Paracetamol, ggf. + Codein, Ibuprofen, Diclofenac         anachronistic way of counseling: a reply
                                                         (nur bis Woche 30), ggf. Tramadol (cave sub partu)        to Merlob and Stahl. Birth Defects Re-
                                                         bei Migräne ggf. Sumatriptan                              search A 67 (2003) 207–208.
                                                                                                                 3. Dodd JM, Crowther CA, Robinson JS: Oral
                                                                                                                   misoprostol for induction of labour at
                                                                                                                   term: randomised controlled trial. BMJ
                        Tab. 3: Beispiele häufiger Indikationen, zu denen ausreichend erprobte Medikamente zur     332 (2006) 509–513.
                        Behandlung Schwangerer zur Verfügung stehen (8).                                         4. European Medicines Agency (EMEA):

  24                    FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 1
DIAGNOSTIK + THERAPIE
   Discussion paper on contraindications in
   pregnancy concerning sections 4.3, 4.6
   and 5.3 of the summary of product cha-
   racteristics. London, 2004.
 5. Göben J: Off-Label Use: Anwendung von
   Arzneimitteln außerhalb des zugelasse-
   nen Indikationsbereiches? Chefarzt Aktu-
   ell 3 (2004).
 6. Rohde A, Schaefer C: Psychopharmako-
   therapie in Schwangerschaft und Stillzeit.
   2. Aufl. Thieme, Stuttgart, 2006.
 7. Schaefer C, Hannemann D, Meister R et
   al.: Vitamin K antagonists and pregnancy
   outcome. A multi-centre prospective stu-
   dy. Thromb Haemost 95 (2006) 949–957.
 8. Schaefer C, Spielmann H, Vetter K: Arz-
   neiverordnung in Schwangerschaft und
   Stillzeit. 7. Aufl. Elsevier/Urban & Fi-
   scher, München, 2006.
 9. Schüler L, Pastuszak A, Sanseverino MTV
   et al.: Pregnancy outcome after exposure
   to misoprostol in brazil: a prospective,
   controlled study. Reprod Toxicol 13
   (1999) 147–151.
10. Schwarz JA, Bass R, Holz-Slomczyk M et
   al.: Therapieversuche mit nicht zugelasse-
   nen Prüfsubstanzen (Compassionate Use)
   und zugelassenen Arzneimitteln (Off-label
   Use). Pharm Ind 614 (1999) 309–314.
11. Weeks AD et al.: Misoprostol and the de-
   bate over off-label drug use. BJOG 112
   (2005) 269–272.

 Autor

 Dr. med. Christof Schaefer
 Pharmakovigilanz- und
 Beratungszentrum für
 Embryonaltoxikologie
 Berliner Betrieb für Zentrale
 Gesundheitliche Aufgaben
 (BBGes)
 Spandauer Damm 130, Haus 10,
 14050 Berlin
 schaefer@embryotox.de

 Anfang September 2006 ist die voll-
 ständig überarbeitete bzw. weitge-
 hend neu geschriebene 7. Auflage
 des Lehrbuchs „Arzneiverordnung
 in Schwangerschaft und Stillzeit“
 erschienen; Autoren: C. Schaefer,
 H. Spielmann, K. Vetter.

                                                  25
Sie können auch lesen