Off-Label-Use von Medikamenten in der Schwangerschaft
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DIAGNOSTIK + THERAPIE ARZNEIMITTELTHERAPIE Off-Label-Use von Medikamenten in der Schwangerschaft Christof Schaefer Viele Arzneimittelanwendungen in der Schwangerschaft sind gen Jahren ein Tollwutimpfstoff. Bei Off-Label-Use, weil Arzneimittel in aller Regel nicht an schwan- Befolgen dieses Hinweises unterblie- geren Frauen untersucht werden und entsprechende Warnhin- be die postexpositionelle Prophylaxe weise im Beipackzettel und in der Fachinformation enthalten als einzig wirksame Behandlung ei- sind. Trotzdem gibt es zahlreiche Situationen, in denen eine ner tödlich verlaufenden Infektion derartige Verordnung zwingend ist. aus angeblicher Rücksicht auf ein un- terstelltes embryotoxisches Risiko. Risikoklassifikationen und kurz ge- n unzureichend erprobte oder ris- Da keines der vier in den letzten Jahr- fasste Informationen zur Schwanger- kante Arzneimittel mit erhöhtem Fehl- zehnten in Deutschland verstorbenen schaft in der Roten Liste oder auf Pa- bildungsrisiko verschrieben werden, Tollwutopfer eine schwangere Frau ckungsbeilagen sind häufig nicht am weil die üblichen Angaben keine ver- war, wurde dieser Hinweis offenbar aktuellen wissenschaftlichen Kennt- gleichende Risikobewertung erlauben. nicht so genau genommen, da anzu- nisstand orientiert und zu allgemein nehmen ist, dass unter den zahlrei- gehalten. Auf der anderen Seite lie- Was ist ein Off-Label-Use? chen behandelten Patientinnen mit gen für die meisten Arzneimittel kei- ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch ne für eine differenzierte Bewertung Unter Off-Label-Use versteht man die Schwangere mit Kontakt zu infizier- ausreichenden Daten, d.h. epidemio- Behandlung mit einem Medikament, ten Tieren waren. logische Studien zur Verträglichkeit das für die zu behandelnde Erkran- für den Embryo vor. Tierexperimen- kung, d.h. die vorgesehene Indika- Risikoinformationen telle Ergebnisse helfen nur wenig wei- tion oder/und für die betreffende zu lapidar gefasst ter, da zwar die beim Menschen be- Patientengruppe (z.B. Schwangere, kannten teratogenen Substanzen auch Kinder) nicht zugelassen ist. Die Zu- Zu den primären Informationsquel- in geeigneten Tierversuchen zu Schä- lassung für Erkrankungen ist im Bei- len, von denen man sich Angaben zur digungen führen, umgekehrt die nicht packzettel, in der Roten Liste oder in Anwendung in der Schwangerschaft selten ermittelten Auffälligkeiten im der ausführlicheren vom Hersteller erhofft, gehören Beipackzettel, Ro- Tierversuch aber nicht zwangsläufig verfassten Fachinformation im Ab- te und Gelbe Liste sowie die aus- teratogene Effekte beim Menschen er- schnitt „Anwendung“ zu finden. Die führlichere so genannte Fachinfor- warten lassen. Zulassung für Schwangere wird im All- mation des Herstellers. In deren Ab- gemeinen nicht explizit genannt. Der schnitt 4.3 werden Gegenanzeigen Der teilweise unbefriedigende Kennt- Hinweis „kontraindiziert in der formuliert (z.B. „Schwangerschaft“), nisstand, Schwierigkeiten mit der In- Schwangerschaft“ oder „Schwanger- im Abschnitt 4.6 ggf. differenzierte- terpretation von epidemiologischen schaft“ im Absatz „Gegenanzeigen“ re Einschränkungen wie z.B. „bei vi- Studien sowie undurchschaubare Kri- zeigt jedoch an, dass eine dennoch taler Indikation“, und unter 5.3 wer- terien bei der Klassifizierung von Me- durchgeführte Behandlung einem Off- den tierexperimentelle Erkenntnisse dikamenten in der Schwangerschaft be- Label-Use entspricht. genannt. günstigen eine Fehleinschätzung des Arzneimittelrisikos mit der Folge, dass Ebenso wie in der Kinderheilkunde ist In der Roten Liste finden sich an ent- n notwendige Verordnungen unter- eine Therapie bei Schwangeren häu- sprechender Stelle folgende einfüh- bleiben oder verschriebene Medika- fig nur off label möglich, weil für vie- rende Hinweise zur Schwangerschaft: mente nicht eingenommen werden le Erkrankungen keine Medikamente „... In zunehmendem Maße wurden (schlechte Compliance); ohne den Vermerk „Gegenanzeige: und werden (...) Anwendungsbe- n nach bereits erfolgter Einnahme Schwangerschaft” verfügbar sind. schränkungen angegeben, auch wenn vermeintlich suspekter Medikamente keine entsprechenden Befunde vorlie- erwünschte und intakte Schwanger- Grotesk wird die Situation, wenn ei- gen. Eine Gegenanzeige (Kontraindi- schaften abgebrochen werden oder ne lebensrettende Maßnahme mit ei- kation) oder Anwendungsbeschrän- nicht gerechtfertigte (invasive) Di- ner Kontraindikation für Schwangere kung (Strenge Indikationsstellung) in agnostik durchgeführt wird; bewehrt wird, wie z.B. bis vor weni- der Schwangerschaft lässt den Arzt im 20 FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 1
DIAGNOSTIK + THERAPIE Unklaren, wie schwerwiegend diese An- Weglassen der Gegenanzeige Schwan- Medikament nicht als kontraindiziert gabe sein kann.” Die Angabe der in gerschaft orientiert sich häufig nicht bewertet werden“ (4). der Roten Liste für die Schwanger- am aktuellen wissenschaftlichen schaft benutzten Chiffren (Gr 1–11; Kenntnisstand, auch nicht an Thera- Das Beispiel Misoprostol s. Tab. 1) „beinhaltet auch den nur piestandards oder Leitlinien, sondern theoretisch begründeten Verdacht auf an haftungsrechtlichen und auch an Seit 1985 ist Misoprostol (Cytotec) in eine Schädigung (...). Dem Grundsatz ökonomischen Interessen des Her- über 80 Ländern als Ulkusmedikament (…) strenger Indikationsstellung (…) stellers. zugelassen, nicht jedoch für gynäko- tragen Hersteller Rechnung, die Ein- logisch-geburtshilfliche Indikationen. schränkungen in der Schwangerschaft Das deutsche Bundesinstitut für Arz- Allerdings erwähnt die US-Zulas- angeben und dies mit Gr 1–Gr 3 (kei- neimittel und Medizinprodukte sungsbehörde FDA Misoprostol in ne Hinweise auf fruchtschädigende Wir- (BfArM) prüft bei Zulassungen von Kombination mit Mifepriston zum kung) begründen.” Medikamenten die Warnhinweise auf Schwangerschaftsabbruch. Aktualität und Widersprüchlichkeit, Die Missverständlichkeit dieser Aus- um die Angaben in den o.g. Infor- Als Prostaglandin-E1-Derivat hat Mi- führungen und die für klinische Ent- mationsmedien verlässlicher und in soprostol ein günstiges Nebenwir- scheidungen häufig zu allgemeinen der Praxis anwendbarer zu gestalten. kungsprofil ohne nennenswerte Ef- Risikoklassifizierungen sind kein spe- Wie das BfArM, so empfiehlt auch die fekte auf Bronchien oder Blutgefäße zifisch deutsches Problem. Auch in europäische Zulassungsbehörde Eu- und den Vorteil gegenüber anderen anderen Ländern werden praktikable- ropean Medicines Agency (EMEA) in Prostaglandinprodukten, dass es oral, re Risikotexte eingefordert, z.B. an- London: „Wenn es keine sicherere Be- sublingual, vaginal und rektal ange- gesichts der ebenfalls unbefriedi- handlungsoption gibt und eine Be- wendet werden kann. Eine infek- genden Erfahrungen mit der FDA-Klas- handlung nicht aufgeschoben werden tionsbegünstigende invasive Appli- sifizierung in den USA (2). kann, sollte das in Frage kommende kation ist also nicht erforderlich. Die Bedeutet „Gegenanzeige Schwangerschaft“ immer In der Roten Liste benutzte Risikoklassifizierung ein hohes Risiko? für die Schwangerschaft Es ist verständlich, dass Zulassungs- Gr 1: Bei umfangreicher Anwendung am Menschen hat sich kein Verdacht behörden und Hersteller von Arznei- auf eine embryotoxische/teratogene Wirkung ergeben. Auch der Tier- versuch erbrachte keine Hinweise auf embryotoxische/teratogene mitteln ein potenzielles Risiko anders Wirkungen. betrachten als die Ärztin/der Arzt, Gr 2: Bei umfangreicher Anwendung am Menschen hat sich kein Verdacht die/der eine einzelne Schwangere be- auf eine embryotoxische/teratogene Wirkung ergeben. handelt und berät: Ein gering erhöh- Gr 3: Bei umfangreicher Anwendung am Menschen hat sich kein Verdacht tes Fehlbildungsrisiko, das in einem auf eine embryotoxische/teratogene Wirkung ergeben. Der Tierversuch relativen Risiko (RR) von beispiels- erbrachte jedoch Hinweise auf embryotoxische/teratogene Wirkungen. weise 1,2 zum Ausdruck kommt, ist Diese scheinen für den Menschen ohne Bedeutung zu sein. als individuelles Risiko zu vernach- Gr 4: Ausreichende Erfahrungen über die Anwendung beim Menschen liegen lässigen und für die Beratung einer nicht vor. Der Tierversuch erbrachte keine Hinweise auf embryo- einzelnen Schwangeren irrelevant. toxische/teratogene Wirkungen. Wenn jedoch mit einer Zahl von Gr 5: Ausreichende Erfahrungen über die Anwendung beim Menschen liegen nicht vor. 10.000 im ersten Trimenon behan- Gr 6: Ausreichende Erfahrungen über die Anwendung beim Menschen liegen delten Schwangeren gerechnet wird, nicht vor. Der Tierversuch erbrachte Hinweise auf embryotoxische/ sind bei einem relativen Risiko von teratogene Wirkungen. 1,2 und einer Prävalenz für große Fehl- Gr 7: Es besteht ein embryotoxisches/teratogenes Risiko beim Menschen bildungen (Hintergrundrisiko für alle (1. Trimenon). Schwangeren) von 3% 60 geschädig- Gr 8: Es besteht ein fetotoxisches Risiko beim Menschen te Kinder zusätzlich zu erwarten. (2. und 3. Trimenon). Gr 9: Es besteht ein Risiko perinataler Komplikationen beim Menschen. Doch nicht nur bei Hinweisen auf Te- Gr 10: Es besteht das Risiko unerwünschter hormonspezifischer Wirkungen ratogenität, sondern auch bei unzu- auf die Frucht beim Menschen. reichender Datenlage oder sogar trotz Gr 11: Es besteht das Risiko mutagener/karzinogener Wirkung. ausreichender Erprobung werden „Kontraindikationen“ gegen die Be- Tab. 1: In der Roten Liste werden diese Chiffren benutzt, um die Erfahrungen beim Menschen handlung Schwangerer festgelegt. Das und im Tierversuch zusammenzufassen. FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 1 21
DIAGNOSTIK + THERAPIE Lagerung ist problemlos und erfor- natal- und Geburtsmedizin > 4.3. spielsweise in den Ländern Afrikas die dert keine Kühlung. Schwangerschaft > 4.3.2. Prosta- Nichtzulassung dieses einfach anzu- glandine in Geburtshilfe und Gynä- wendenden, nicht kühlpflichtigen, Wenn Misoprostol zur Einleitung ei- kologie). preisgünstigen Prostaglandins in er- nes Schwangerschaftsabbruchs gege- heblichem Maße für die Mutter-Kind- ben wird und die Schwangerschaft Gründe für die Sterblichkeit verantwortlich ist, ab- dann doch erhalten bleibt, besteht Nichtzulassung gesehen vom unnötigen Verbrauch ein embryotoxisches Risiko für Dis- der beschränkten finanziellen Res- ruptionsanomalien der Hirnnerven und Misoprostol ist ein preiswertes Medi- sourcen. In diesen Ländern orientiert Extremitäten (Moebius-Sequenz) (9). kament, weil es als langfristig ange- man sich vor allem am Zulassungs- wendetes Ulkusmittel konkurrenzfä- status in Großbritannien und den USA. Zur Anwendung in der Geburtshilfe hig mit anderen Ulkustherapeutika Selbst dort, wo Misoprostol als Ulkus- zeigen zahlreiche Studien und Coch- sein muss. Die einmalige und im Ver- präparat zur Verfügung steht, erge- rane Reviews, dass eine orale und va- gleich zur Anwendung bei Ulkus (z.B. ben sich unnötige Risiken bei der Tei- ginale Applikation bei Beachtung be- 4x200 µg/Tag) sehr niedrige Dosis lung der für gynäkologisch-geburts- kannter Vorsichtsregeln (vorange- bei gynäkologisch-geburtshilflichen hilfliche Indikationen zu hoch do- hende Sectio, Dosis etc.) sicher und Indikationen kostet nur wenige Cent sierten Tablette, d.h. fetale Hypoxie wirksam ist (z.B. 1). Die bisher größ- und ist daher für einen Hersteller öko- und Uterusruptur können aus einer te randomisierte Studie, die Miso- nomisch uninteressant. Ein anderer versehentlichen Überdosierung re- prostol per os mit Dinoproston vagi- Grund sind Initiativen von Abtrei- sultieren. nal bei 741 Schwangeren vergleicht, bungsgegnern in den USA, die eine bestätigt die gute Verträglichkeit und Ausweitung des Anwendungsbereichs Weeks und Mitarbeiter (11) resumie- ermittelt eine höhere Akzeptanz bei auf gynäkologische Indikationen arg- ren: „The pharmaceutical industry’s der Misoprostolbehandlung (3). wöhnisch betrachten und im Inter- refusal to apply for a license in this net vehement gegen einen Off-Label- situation raises serious ethical ques- ACOG hat vorsichtige Use von Misoprostol vorgehen, eine tions“. Die ethische Problematik ge- Empfehlung zu Misoprostol Bewegung, die sich gegen die ge- winnt vor allem dann an Bedeutung, herausgegeben samte Produktpalette des Herstellers wenn der Hersteller am Patentschutz wenden könnte. Ferner wird vom glei- festhält und damit anderen die Mög- Gynäkologisch-geburtshilfliche Fach- chen Hersteller ein erheblich teure- lichkeit nimmt, das Produkt anzubie- gesellschaften in manchen Ländern res, für die Geburtseinleitung zuge- ten. Derzeit ist es den Zulassungs- positionieren sich inzwischen und lassenes, ausschließlich invasiv zu behörden trotz evidenten Bedarfs geben vorsichtige Empfehlungen zum verabreichendes PGE2-Präparat (Di- rechtlich nicht möglich, eine Zulas- nicht zugelassenen Misoprostol in der noproston; z.B. Minprostin E2) ange- sungserweiterung von sich aus zu ver- Geburtshilfe heraus, wie z.B. die nord- boten, dem Misoprostol eine Kon- anlassen. Angesichts der hiesigen Dis- amerikanische ACOG, die sinngemäß kurrenz wäre. Aus Herstellerperspek- kussion um Arzneimittelbudgets und schreibt: „Falls Misoprostol zur Zer- tive gibt es also kaum Gründe, eine der wesentlich gewichtigeren oben vixreifung eingesetzt wird, sollten Indikationserweiterung zu beantra- angesprochenen globalen Bedeutung 25 µg als Initialdosis betrachtet wer- gen. dieses essenziellen Arzneimittels gibt den...“ und das englische RCOG: „Eine es dringenden weiteren Diskussions- vaginale Anwendung von Misoprostol Anfang 2006 wurde Misoprostol in und Handlungsbedarf. Misoprostol erscheint effektiver als intravaginale Deutschland ganz vom Markt genom- steht in der 2005-WHO-Liste der es- oder intrazervikale PGE2-Präparate oder men. Das heißt, dass es nur im Aus- sential medications. Oxytocin, die Anwendungssicherheit land zu beziehen ist. Stellt sich hier- ist noch unklar, daher sollte eine Mi- zulande die Situation dar als Ent- Das Beispiel Nifedipin soprostolanwendung nur im Rahmen scheidung zwischen einer einfach an- randomisierter kontrollierter Studien zuwendenden, kostengünstigen, aber Nifedipin (z.B. Adalat) wird inzwi- erfolgen...“. vermeintlich juristisch problemati- schen in vielen Ländern als Tokoly- schen Medikation (Misoprostol) und tikum den Betamimetika vorgezogen, Eine Stellungnahme der deutschen einer rund 100mal teureren, um- eine Zulassung für diese Indikation Gesellschaft für Gynäkologie und Ge- ständlicheren, aber zugelassenen The- besteht jedoch nicht. In der Roten burtshilfe findet sich in der kürzlich rapieoption (Dinoproston), so erge- Liste findet sich der Hinweis auf N 33 veröffentlichten Leitlinie „Anwen- ben sich für die so genannte Dritte in den roten Seiten. Dort heißt es dung von Prostaglandinen in Ge- Welt ganz andere Implikationen. ebenso wie unter Abschnitt 4.3 in burtshilfe und Gynäkologie“ (http:// Weeks und Mitarbeiter (11) haben der Fachinformation „kontraindiziert www.dggg.de, > Leitlinien > 4. Prä- kürzlich darauf hingewiesen, dass bei- in der Schwangerschaft“. Allerdings 22 FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 1
DIAGNOSTIK + THERAPIE wird dieser Hinweis unter Abschnitt beobachteten Fehlbildungen waren damals keine Zulassung vorlag. Aus 4.6 wieder relativiert, indem einer jedoch heterogen. Nur zwei Cumarin- diesem Urteil kann sogar ausnahms- Anwendung „bei vitaler Indikation“ embryopathien wurden unter insge- weise eine Rechtspflicht zum Off- nicht widersprochen wird. Man kann samt 356 Lebendgeborenen beob- Label-Use abgeleitet werden, wenn nun darüber streiten, ob eine Toko- achtet (0,6%). Beide waren deutlich für eine behandlungsbedürftige, lyse mit Nifedipin eine vitale Indi- länger als bis zur Schwangerschafts- schwerwiegende Erkrankung keine zu- kation darstellt, da andere zugelas- woche 8 p.m. bzw. ausschließlich gelassenen Medikamente zur Verfü- sene Tokolytika zur Verfügung ste- danach exponiert (7). Das Spontan- gung stehen (10). hen. Insofern ist bei einer tokolyti- abortrisiko war um das Zwei- bis Drei- schen Applikation von Nifedipin von fache erhöht. Off-Label-Use ist Gewährung einem Off-Label-Use auszugehen. Im einer zusätzlichen Gegensatz zu Misoprostol bestehen Der Abbruch einer gewünschten und Heilungschance beim Markenführer aber Tendenzen, intakten Schwangerschaft aufgrund die Kontraindikation Schwangerschaft einer (versehentlichen) Exposition in Das Urteil verdeutlicht die Relativi- zu lockern. Da keine Kostenrücker- der (Früh-)Schwangerschaft ist nicht tät des Begriffs „Standardbehand- stattung erfolgt, wird Nifedipin der- indiziert. Die Entwicklung des Feten lung“. In vielen Fällen entspricht der zeit höchstens in Kliniken eingesetzt. sollte im Fall einer Exposition jedoch Zulassungsstandard des Präparats zu- Wie Misoprostol steht Nifedipin in mit hoch auflösendem Ultraschall kon- gleich dem Behandlungsstandard. Ei- der 2005-WHO-Liste der essential trolliert werden. ne neue Arzneimitteltherapie wird medications. dann zum Standard, wenn sie an ei- Gerichte verpflichten unter nem für Aussagen über die Nutzen- Das Beispiel Phenprocoumon bestimmten Bedingungen Risiko-Bilanz ausreichend großen Pa- zum Off-Label-Use tientenkreis medizinisch-wissen- Der Markenführer des in Deutschland schaftlich erprobt und im Wesentli- vorwiegend benutzten Cumarin-Anti- Nach deutscher Rechtsprechung ist chen unbestritten ist – und für den koagulans Phenprocoumon (z.B. Mar- ein zulassungsüberschreitender Ein- jeweiligen Patienten risikoärmer oder cumar) bezeichnet sein Produkt als satz von Arzneimitteln dann nicht weniger belastend ist oder bessere kontraindiziert in der Schwangerschaft rechtswidrig, wenn das für Schwan- Heilungschancen verspricht. Existiert und gibt an, dass drei Monate Ab- gere nicht zugelassene Medikament noch gar kein Behandlungsstandard, stand zu einer Schwangerschaft ein- nach dem aktuellen wissenschaftli- kommt dem Off-Label-Use eher der gehalten werden müssen. Die ande- chen Erkenntnisstand hinreichend Charakter der Gewährung einer zu- ren Anbieter von Phenprocoumon wirksam und unbedenklich ist und ei- sätzlichen Heilungschance zu. Hier- fordern lediglich eine strenge Indi- ne gleichwertige therapeutische Al- bei muss der jeweilige Patient in be- kationsstellung. Da demnach keine ternative nicht zur Verfügung steht. sonderer Weise über den Nutzen und einheitliche Bewertung i.S. einer Die Unbedenklichkeit ist relativ zu die speziellen Risiken aufgeklärt wer- Kontraindikation vorliegt, stellt eine verstehen, das heißt, es steht kein den, die sich aus der Zulassungs- Therapie Schwangerer keinen Off- anderes wirksames Medikament zur überschreitung ergeben (5). Label-Use dar. Verfügung, das sicherer erscheint, und eine Nichtbehandlung wäre im Sinne Zusammenfassung und Die Forderung nach drei Monaten Ab- einer Nutzen-Risiko-Abwägung ris- Ausblick stand zu einer Schwangerschaft ist kanter. Bei dieser Handlungsoption durch wissenschaftliche Daten eben- handelt es sich stets um eine Einzel- Bei der Therapie Schwangerer geht so wenig belegt wie die häufig be- fallentscheidung. Ob eine gleichwer- es unabhängig von einer formalen schriebene sensible Phase in Schwan- tige therapeutische Alternative exis- Gegenanzeige („kontraindiziert“) oder gerschaftswoche 6–9 und das mit ei- tiert, ist individuell vom Arzt zu be- einer „strengen Indikationsstellung“ ner Exposition in dieser Phase ver- stimmen – unter Berücksichtigung der in der Schwangerschaft darum, dass bundene Risiko von 5–15% für jeweiligen Neben- und Wechselwir- bei der Auswahl eines akzeptablen Cumarinembryopathien. Eine große, kungen. Mittels im Sinne einer vergleichen- kürzliche publizierte Kohortenstudie den Risikobewertung das Medikament mit 666 Frauen, bei denen in eine Zivilrechtliche Grundlage zum Off- herausgefunden werden muss, zu dem Schwangerschaft hinein mit einem Label-Use ist auch heute noch das so nach aktueller wissenschaftlicher Da- oralen Antikoagulans behandelt wur- genannte Aciclovir-Urteil des Ober- tenlage die meisten Erfahrungen und de, ermittelte zwar ein mit 4,9% vs. landesgerichts Köln (30.5.1990 – Az. keine oder vergleichsweise geringe 1,4% (OR 3,86) signifikant erhöhtes 27 U 169/87), das wegen unterlas- Verdachtsmomente vorliegen. Juris- Risiko für große Fehlbildungen nach sener Aciclovir-Behandlung einer Her- tisch wird die wissenschaftliche Behandlung im ersten Trimenon. Die pes-Enzephalitis gefällt wurde, für die Datenlage höher bewertet als die FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 1 23
DIAGNOSTIK + THERAPIE formale Klassifizierung. Für die meis- Regeln bei der Verschreibung von Arzneimitteln ten im reproduktionsfähigen Alter bei Schwangeren vorkommenden Erkrankungen gibt es n Eine (potenziell) Schwangere sollte nur mit Medikamenten behandelt wer- ausreichend erprobte und akzeptable Therapieoptionen (s. Tab. 2 und 3). den, die schon seit vielen Jahren eingeführt sind. Voraussetzung ist natür- lich, dass keine embryotoxischen Bedenken vorliegen. Neue Arzneimittel bergen ein unwägbares Risiko, und in vielen Fällen handelt es sich um Eine Alternative zu den kurz gefass- „Pseudoinnovationen“ ohne erwiesenen therapeutischen Vorteil. ten Risikobeschreibungen auf Bei- n Eine Monotherapie ist anzustreben. packzetteln, in der Roten Liste usw. n Die Dosis eines Medikaments ist so niedrig wie therapeutisch möglich zu wäre, grundsätzlich auf eine formel- hafte Risikoklassifizierung zu ver- wählen. n Die Erkrankung selbst kann ein Risiko für die normale vorgeburtliche Ent- zichten. Statt dessen könnte eine ver- gleichende Bewertung der „pränata- wicklung darstellen. Auch schwere Belastungen wie Schmerzen oder psy- len Verträglichkeit“ (als Summe aller chische Konflikte können den Schwangerschaftsverlauf gefährden. Das Un- humantoxikologischen und tierexpe- terlassen einer therapeutischen Intervention kann ein größeres Risiko für das Ungeborene darstellen als die Behandlung selbst. rimentellen Erfahrungen sowie wei- n Relativ unproblematisch ist die Auswahl eines gut erprobten und für den terer pharmakologischer Eigenschaf- ten) unter Berücksichtigung aner- Embryo verträglichen Mittels bei Allergien, Asthma, bakteriellen Infektio- kannter Therapieempfehlungen zu ei- nen, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, Diabetes mellitus, Gastri- tis, Glaukom, Hyperemesis, Hypertonus, Refluxösophagitis und Schmerzen ner abgestuften Therapieempfehlung sowie psychiatrischen Erkrankungen (6; www.frauen-und-psychiatrie.de). speziell für Schwangere zusammen- Bei anderen Indikationen wie zum Beispiel Epilepsie, rheumatischen Er- gefasst werden, die für alle Frauen im krankungen (Immunsuppressiva und immunmodulatorische Substanzen), reproduktionsfähigen Alter gelten Koagulopathien (Cumarin-Antikoagulanzien) und Malignomen kann man je- sollte. Diese Therapieempfehlung um- doch oft nicht auf teratogene oder unzureichend erprobte Medikamente in fasst für jede Erkrankung eine Rang- der Schwangerschaft verzichten. folge der infrage kommenden Medi- kamente (Mittel der ersten, zweiten, dritten Wahl), die regelmäßig aktua- Tab. 2: Soll medikamentös behandelt werden, und wenn ja womit? Regeln helfen bei der Entscheidungsfindung. lisiert werden muss. Eine solche Vorgehensweise hat den Beispiele für ausreichend erprobte Medikamente Vorteil, dass sie neben der praxisori- entierten Entscheidungshilfe auch das prinzipiell akzeptable Arzneimittel (spezielle Einschränkungen beachten, haftungsrechtliche Dilemma zwischen Erkrankung ggf. individuelle Beratung!) dem verschreibenden Arzt einerseits und den Arzneimittelherstellern an- Allergien Clemastin, Dimetinden, Loratadin dererseits lockert: Bisher sucht näm- Asthma β2-Sympathikomimetika (inhalativ), lich die Ärztin/der Arzt oft vergeb- Glukokortikoide, Theophyllin lich das „absolut unbedenkliche“ Me- bakterielle Infektionen Penicilline, Cephalosporine (Reserve: Makrolide) dikament, das der Arzneimittelher- Diabetes mellitus Humaninsulin steller (aufgrund der weiter oben chronisch entzündliche Mesalazin, Sulfasalazin, Glukokortikoide dargelegten Gründe) nicht als „ak- Darmerkrankungen (Reserve: Azathioprin) zeptabel“ in Schwangerschaft und Gastritis Antazida, bewährte H2-Blocker wie Ranitidin Stillzeit klassifizieren möchte. Glaukom Betarezeptorenblocker, Carboanhydrasehemmstoffe, Cholinergika Literatur Hyperemesis Meclozin, Dimenhydrinat, Metoclopramid 1. Alfirevic Z, Weeks A: Oral misoprostol for induction of labour. Cochrane Database Hypertonus α-Methyldopa, Metoprolol, Dihydralazin, Nifedipin Syst Rev CD001338, 2006. Refluxösophagitis Omeprazol 2. Briggs GG, Freeman RK, Yaffe SJ: Classifi- cation of drugs for teratogenic risk: an Schmerztherapie Paracetamol, ggf. + Codein, Ibuprofen, Diclofenac anachronistic way of counseling: a reply (nur bis Woche 30), ggf. Tramadol (cave sub partu) to Merlob and Stahl. Birth Defects Re- bei Migräne ggf. Sumatriptan search A 67 (2003) 207–208. 3. Dodd JM, Crowther CA, Robinson JS: Oral misoprostol for induction of labour at term: randomised controlled trial. BMJ Tab. 3: Beispiele häufiger Indikationen, zu denen ausreichend erprobte Medikamente zur 332 (2006) 509–513. Behandlung Schwangerer zur Verfügung stehen (8). 4. European Medicines Agency (EMEA): 24 FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 1
DIAGNOSTIK + THERAPIE Discussion paper on contraindications in pregnancy concerning sections 4.3, 4.6 and 5.3 of the summary of product cha- racteristics. London, 2004. 5. Göben J: Off-Label Use: Anwendung von Arzneimitteln außerhalb des zugelasse- nen Indikationsbereiches? Chefarzt Aktu- ell 3 (2004). 6. Rohde A, Schaefer C: Psychopharmako- therapie in Schwangerschaft und Stillzeit. 2. Aufl. Thieme, Stuttgart, 2006. 7. Schaefer C, Hannemann D, Meister R et al.: Vitamin K antagonists and pregnancy outcome. A multi-centre prospective stu- dy. Thromb Haemost 95 (2006) 949–957. 8. Schaefer C, Spielmann H, Vetter K: Arz- neiverordnung in Schwangerschaft und Stillzeit. 7. Aufl. Elsevier/Urban & Fi- scher, München, 2006. 9. Schüler L, Pastuszak A, Sanseverino MTV et al.: Pregnancy outcome after exposure to misoprostol in brazil: a prospective, controlled study. Reprod Toxicol 13 (1999) 147–151. 10. Schwarz JA, Bass R, Holz-Slomczyk M et al.: Therapieversuche mit nicht zugelasse- nen Prüfsubstanzen (Compassionate Use) und zugelassenen Arzneimitteln (Off-label Use). Pharm Ind 614 (1999) 309–314. 11. Weeks AD et al.: Misoprostol and the de- bate over off-label drug use. BJOG 112 (2005) 269–272. Autor Dr. med. Christof Schaefer Pharmakovigilanz- und Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie Berliner Betrieb für Zentrale Gesundheitliche Aufgaben (BBGes) Spandauer Damm 130, Haus 10, 14050 Berlin schaefer@embryotox.de Anfang September 2006 ist die voll- ständig überarbeitete bzw. weitge- hend neu geschriebene 7. Auflage des Lehrbuchs „Arzneiverordnung in Schwangerschaft und Stillzeit“ erschienen; Autoren: C. Schaefer, H. Spielmann, K. Vetter. 25
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