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Logos, I. Antike
Alfred Dunshirn

Das Wort logos bezeichnet allgemein das (gesprochene) Wort, wobei zu bedenken ist, dass damit nicht ein
einzelnes Wort, sondern die Verbindung mehrerer Wörter gemeint ist. Konzis fasst ein antiker Lexikoneintrag
– die 100. der pseudo-platonischen Begriffsbestimmungen – den logos als „in Zeichen gefasste Stimme, die
jedes einzelne Seiende benennen kann“ (Horoi). Das zu logos gehörende Zeitwort ist legein, es benennt ein
Sprechen ebenso wie Auflesen oder Sammeln. Somit kann logos als auswählendes und sinnvoll zusammen-
stellendes Auflesen oder als Sammlung verstanden werden. Daraus wiederum wird ersichtlich, dass logos
als Versammlung oder „Verknüpfung“ (Platon) von Wörtern in großer Bedeutungsvielfalt ebenso auf eine
Erzählung, einen Satz, eine Rede oder ein Argument wie auch auf eine Proportion oder ein Maß referieren
kann. Im frühgriechischen Denken kann man bei Heraklit mit logos eine Instanz benannt sehen, welche die
widerstrebenden Kräfte des Kosmos zusammenhält. In der platonisch-aristotelischen Philosophie ist, wie
schon in der Sophistik, der Umgang mit verschiedensten logoi zu beobachten, denen Wahrheit und Falschheit
zugeschrieben wird. In der Stoa wird der logos zum (materiell aufgefassten) Göttlichen, das alles in der
Welt vollkommen rational bestimmt. In der antiken christlichen Literatur, die massiv vom Neuplatonismus
beeinflusst ist, begegnet der logos schließlich im „Christusereignis“ (Bultmann) als „das WORT“, als der
göttliche Anspruch, der sich den Menschen zu verstehen gibt. Die herausragende Bedeutung der ver -
schiedenen logos-Konzeptionen in der europäischen Geistesgeschichte zeigt sich nicht zuletzt in der Kritik
am Logozentrismus, wie sie vor allem im 20. Jahrhundert formuliert wurde.

Zitations- und Lizenzhinweis
Dunshirn, Alfred (2021): Logos, I. Antike. In: Kirchhoff, Thomas (Hg.): Online Encyclopedia Philosophy of
Nature / Online Lexikon Naturphilosophie. ISSN 2629-8821. doi: 10.11588/oepn.2021.1.81213
Dieses Werk ist unter der Creative Commons-Lizenz 4.0 (CC BY-ND 4.0) veröffentlicht.

                                                             oder das „Zusammenfassen“ und „Gruppieren“ ist, aus
1. Sprachliches
                                                             dem sich die später gängige Bedeutung „Erzählen“ ergab.
Das griechische Wort logos ist eine Ableitung vom Verbum     (Zum Vorrang des „Erzählens“ vor dem „Zählen“ siehe
legein, das zunächst sowohl „(auf-)lesen“, „vereinen“ und    Gianvittorio 2010: 140–146, zum legein im Zusammen-
„sammeln“ als auch „erzählen“, „reden“ und „sprechen“,       hang mit dem Bilden von Mengen Castoriadis 1990:
später „zählen“ bedeutet (Frisk 2006: 94–96; Beekes 2010:    372–454.) Bezeichnen logoi in der frühgriechischen
841 f.). Das Hauptwort logos, Mehrzahl logoi, benennt        Dichtung hauptsächlich (spannende, unterhaltsame,
demgemäß verschiedene Arten von „Sammlungen“,                täuschende oder tröstende) Erzählungen, so ist ab dem
seien es Verknüpfungen von Wörtern als „Erzählungen“,        fünften vorchristlichen Jahrhundert eine Erweiterung
„Sätzen“, „Aussagen“, „Argumenten“ und (sprachlich           des Bedeutungsspektrums in den Texten der früh-
kundgegebenen) „Reden“ oder auch Verbindungen von            griechischen Denker festzustellen (Johnstone 2014: 12–
Anzahlen in „Berechnungen“, „Zählungen“ oder „Maßen“.        17). Der Terminus logos bezeichnet dann auch das
    Wir begegnen dem Wort logos in der Literatur zuerst in   vom konkreten Sprecher unabhängige Argument, eine
den Epen Homers (z.B. Ilias XV, 393). In der Forschung       Erklärung, den Gegenstand der Untersuchung, eine
ist umstritten, ob in diesen frühen Texten die Grund-        Begründung sowie dasjenige, in dem das Begründungs-
bedeutung von legein das (numerische) „(Ab-)Zählen“          und Sprachvermögen verortet wird, den Verstand und
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Alfred Dunshirn | Logos, I. Antike | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.81213

die Vernunft; mit logos kann schließlich ein Verhältnis             auffallendsten bei Heraklit. „Hinsichtlich des logos, des
im Sinn einer mathematischen Ratio angesprochen sein,               seienden, – stets – erweisen sich die Menschen als
wie der Ausdruck „ana-log“ anzeigt; in der christlichen             unverständig“, heißt es am Anfang des traditionell als
Literatur steht logos für das „WORT Gottes“ (Liddell/               Fragment 1 gezählten Stücks (Fragment B 1 D-K, zit.n.
Scott 1996: 1057–1059; Bauer 1958: 942–947). Verwandt               Diels/Kranz 1968: 150). Bereits Aristoteles weist auf die
mit griechisch legein und logos sind lateinisch legere              Schwierigkeit hin, wie in diesem Satz die Wortstellung
und deutsch „lesen“ sowie zahlreiche Ableitungen                    aufzufassen ist. Es sei unklar, worauf sich das „stets“
aus dem Lateinischen in modernen Sprachen, wie das                  oder „immer“ (aei) beziehe (Rhetorik III, 5, 1407b14–
Englische col-lect.                                                 18). Es kann den genannten logos als „immer“ seienden
   Der Begriff logos zeigt nicht ein einzelnes Wort an –            spezifizieren – dann ist die Bahn für die Interpretation
zur Bezeichnung eines solchen dienen beispielsweise                 des logos als eines kosmischen Prinzips geebnet; oder
die Termini onoma, „Name“, „Hauptwort“, und rhema                   das „stets“ bestimmt das Unverständnis der Menschen
„Tunwort“, „Ausspruch“ –, sondern mindestens einen                  näher, die den logos nie verstünden.
Satz, das heißt die Kombination eines „Namen-“ und                      Umstritten ist, ob Heraklit an dieser Stelle mit dem
eines „Tunwortes“, worüber der platonische Sophistes                logos überhaupt auf ein Weltgesetz abzielt oder nicht
informiert: Aus der Verbindung von Tun- und Namen-                  vielmehr auf seine eigene „Rede“ rekurriert (Guthrie
wörtern entstehe die „erste Verknüpfung“, der „erste und            1985: 419–425; Röd 1988: 97–100; Johnstone 2014).
kleinste der logoi“ (Sophistes 262c). Konzis fasst ein an-          Weitere Heraklit-Fragmente (B 2 und 50 D-K, zit.n.
tiker Lexikoneintrag – die 100. der pseudo-platonischen             Diels/Kranz 1968: 151 und 161) legen nahe, dass mit
Begriffsbestimmungen – den logos als „in Zeichen gefasste           logos etwas gemeint ist, das die physis strukturiert. Dies
Stimme, die jedes einzelne Seiende benennen kann“                   mag als metaphysischer „Sinn“, der in der „Rede“
(Horoi 414d). Dass auch zu Platons Zeit unter einem logos           zutage tritt (Vassallo 2020), oder als ein „Maß“ gefasst
in Bezug auf Sprachliches eine stimmlich mitgeteilte Rede           werden, das die Ausgewogenheit und gute Anordnung
verstanden wurde, legt eine im Theaitetos angesprochene             der von Gegensätzen gekennzeichneten, aber göttlich
Einschränkung nahe. Sokrates bezeichnet dort das                    gelenkten Welt bestimmt (Long 2009). Möglicherweise
„(Durch-)Denken“ (dianoeisthai) als logos, den die                  deutet Heraklit mit dem logos darauf hin, dass sich die
„Seele“ bei sich selbst „durchgeht“; ebenso sei das                 Welt als ein geordnetes und intelligibles Ganzes zu
„Meinen“ (doxa) ein logos, den jemand allerdings nicht              erkennen gibt (Johnstone 2014: 21). (Eine Übersicht
mit der Stimme an einen anderen, sondern schweigend                 darüber, wie in den letzten zwei Jahrhunderten Über-
an sich selbst richtet (Theaitetos 189e–190a).                      setzer das Wort logos in den Heraklit-Fragmenten
   Zahlreich sind die von logos und legein abgeleiteten             wiedergaben, bietet Gianvittorio 2010: 158 f.)
Ausdrücke. Der Adjektivbildung logikos beispielsweise                   Begegnet logos bei Heraklit vorwiegend in der
entstammt das Fremdwort „Logik“, abgeleitet aus logike              Einzahl, so betont die Sophistik die Pluralität der logoi,
techne: die „logoi und das Denken betreffende Kunst-                der „Sätze“, „Reden“ oder „Argumente“, die einander
Fertigkeit“. Logos begegnet in zusammengesetzten Wör-               widersprechen können. Markant ist diesbezüglich der
tern wie „Logo-therapie“ oder „Dia-log“. Ab-strakta, die            Titel des anonym überlieferten Traktats Dissoi logoi,
sich von Benennungen nach dem Schema theo-logos („der/              „Zwiefache logoi“, der anhand von Gegensatzpaaren
die über die Götter/Gott redet“) herleiten, bezeichnen viele        verschiedene Argumentationsweisen nachvollziehbar
Wissenschaften, so die im Kontext der Naturbetrachtungen            machen soll (Becker/Scholz 2004). Dieser Text, der an
zentralen Bildungen „Bio-logie“ oder „Kosmo-logie“.                 der Wende vom fünften zum vierten vorchristlichen
                                                                    Jahrhundert entstanden sein dürfte, wird gerne mit dem
                                                                    Relativismus des Protagoras in Verbindung gebracht.
2. Vorplatonisches: logos als kosmisches
                                                                    Protagoras’ logos, der Mensch sei das Maß aller Dinge,
   Prinzip und sophistische logoi-Künste
                                                                    ist uns aus Platons Theaitetos bekannt, wo er ausführlich
In den erhaltenen Bruchstücken der frühgriechischen                 diskutiert wird (151e ff.; Schiappa 2003: 117–133). Die
Denker, die sich mit der physis, der „Natur“, befassen              Ankündigung, den „schwächeren logos zum stärkeren
(siehe Dunshirn 2019), begegnet das Wort logos am                   zu machen“, ist die vermutlich bekannteste Aussage

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Alfred Dunshirn | Logos, I. Antike | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.81213

zum logos, die mit den Sophisten, den „Weisheits-                 Meinung (doxa) mit logos“ (Theaitetos 201c–d). Diese
lehrern“, und den Rhetoriklehrern des fünften vor-                Bestimmung scheint den Gesprächspartnern unter an-
christlichen Jahrhunderts in Verbindung gebracht wird;            derem deshalb unzureichend, weil der logos, verstanden
Aristoteles überliefert sie in der Rhetorik als „Ver-             als Aufzählung der Bestandteile oder als Angabe der
sprechen“ des Protagoras (Rhetorik II, 24, 1402a23 f.)            wesentlichen Merkmale einer Sache, bereits in der
(Für eine Würdigung der Sophistik siehe Schirren/Zins-            Meinung oder der „Vorstellung“ davon, der doxa,
maier 2003: 10–30.)                                               enthalten sei (206–210b; Gill 2003: 167–169).
                                                                     Allgemein ist zu sagen, dass logos sowohl der doxa als
                                                                  auch der episteme, dem „Wissen“, zukommt (zu Platons
3. Platon: der wahre logos der Weltseele
                                                                  Auffassung von Meinung und Wissen Burnyeat 1980;
In Platons rhetorikkritischen Dialogen sind mehrere               Fine 1990; Graeser 1991). Der platonischen Auffassung
Reflexionen auf die sophistische logoi-Technik anzu-              zufolge beziehen sich jedoch Meinen und Wissen auf ihre
treffen. Die wahre Redekunst dürfe keine wissens-                 Inhalte in unterschiedlich hohen Objektivitätsgraden
unabhängige Überzeugungs-Technik sein, sie müsse im               (Szaif 2017). Bei einer ausschließlich auf die Meinung
steten Hinblick auf das Gerechte das Gute zu bewirken             gestützten Betrachtung der Welt geraten wir leicht
versuchen (Gorgias 504d–e); andernfalls agiere ein                in Konfusion; Dinge, von denen wir in einem gewissen
Redner bloß gestützt auf seine Erfahrung und erzeuge              Kontext meinen, sie seien groß, erweisen sich beim
beim Publikum Wohlgefallen, nutze ihm jedoch nicht                nächsten Hinblicken als klein (Politeia 523c–524d).
(Gorgias 462c–463d). Ein Distinktionsmerkmal zwischen             Erst mit dem Wissen, das in Orientierung an den Ideen
scheinbarem und wirklichem Wissen ist die Fähigkeit,              die Sachzusammenhänge ermittelt, gelangen wir zu
einen logos davon geben zu können, das berühmte                   dauerhaft wahren Aussagen. Mit Bezug auf die unter-
logon didonai, „Rechenschaft ablegen“ (Wieland 1999:              schiedlichen Gegenstände von Meinen und Wissen
247–250; Weiner 2012). In Platons Phaidon berichtet               wurde deshalb von einer (epistemischen) Zwei-Welten-
Sokrates, er sei in die logoi geflohen, um in ihnen die           Theorie bei Platon gesprochen (Strobel 2017: 360–362).
Wahrheit „auszuspähen“; durch diese Flucht wollte er              Allerdings etablierte sich oben erwähnter Definitions-
vermeiden, beim Versuch, die Welt mit den Sinnen zu               versuch aus dem Theaitetos, episteme sei „wahre
begreifen, an der Seele zu „erblinden“ (Phaidon 99d–e;            mit logos“, als klassische Bestimmung von Wissen in
Beierwaltes 2011: 79 f.). Die Philosophen hätten im               der Form von „justified true belief“ (wobei „justified“
Unterschied zu den (Gerichts-)Rednern, deren Redezeit             die Worte „mit logos“ wiedergibt), die im Zuge der
begrenzt ist, Muße, den diversen logoi, zu denen sie              Auseinandersetzung mit dem Gettier-Problem (dass eine
gelangen, nachzugehen (Theaitetos 172c–e). Sokrates               gerechtfertigte und wahre Meinung auch zufälligerweise
erweist sich in Platons Dialogen als herausragende                wahr sein kann) intensiv diskutiert wurde (Gettier
Figur bei der Beurteilung, ob einzelne logoi haltbar sind         1963; Schukraft 2017).
oder nicht. Im Theaitetos offenbart Sokrates seine                   Explizit die Wahrheit und Falschheit von logoi
„Hebammenkunst“ (maieutike), eine Gesprächstechnik,               thematisiert der Eleatische Fremde im Sophistes, wo als
die sich auf die „gebärenden Seelen“ und ihre Hervor-             Beispiele für den „kleinsten logos“ die Sätze „Theaitetos
bringungen, die logoi, bezieht (150b; Sedley 2004: 28–            sitzt“ und „Theaitetos fliegt“ fungieren (263a; Lorenz/
37; Futter 2018). Durch Sokrates’ Einwirkung geraten              Mittelstrass 1966). Im Zusammenhang mit der Frage
seine Gesprächspartner in Aporien, in Situationen, wo             nach Nichtsein und Sein bestimmen dort die Diskutan-
sie nicht zum Gesuchten durchdringen können. Dabei                ten – wie oben unter „Sprachliches“ erwähnt – logos als
ermitteln sie jedoch, welche logoi nicht zu einer Lösung          „Verknüpfung“ von onoma und rhema, von „Namen-“
des in Frage stehenden Problems führen (Erler 1987).              und „Tunwort“ oder „Subjekt“ und „Prädikat“ (262c,
So werden im Theaitetos mehrere Anläufe zur Bestim-               eine Stelle, mit der gerne Übersichten zur Grammatik-
mung der episteme, des „Sich-auf-etwas-Verstehens“                theorie einsetzen, vgl. Jungen/Lohnstein 2007: 36 f.;
oder „Wissens“ unternommen. Die Unterredner gelangen              zur Gefahr des Nichtseins von logos König 2020: 449 f.).
zu keiner befriedigenden Definition. Sie verwerfen auch           Das rhema ist ein „Aufweis“ (deloma) von Handlungen,
den letzten Bestimmungsversuch, Wissen sei „wahre                 das onoma ist ein „Zeichen“ (semeion), das denen, die

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Alfred Dunshirn | Logos, I. Antike | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.81213

die Handlungen durchführen, beigelegt ist (262a;                    2007: 399–401). Diesbezüglich lässt sich angemessen
Heidegger 1992: 590–592; zum Verhältnis von onoma                   von „Wahrheitsstufen“ sprechen (Janke 2007: 122),
und logos im Siebten Brief Liatsi 2008; zur Frage nach              zumal das griechische Wort alethes („wahr“, „wahr-
der „Richtigkeit“ der onomata, der „Namen“, Sedley                  haftig“) einer Steigerung fähig ist. So kann bei Platon
2003; Enache 2007). Platons Dialogfiguren äußern sich               die Rede davon sein, dass jemand etwas „Wahreres“
jedoch nicht nur darüber, ob diverse logoi wahr oder                oder „wahrer“ gesagt hat (Gorgias 493d) oder dass die
falsch sind, sie lassen in ihren Gesprächen oft das                 Gesprächspartner (vermeintlich) den „wahrsten“ logos,
Argument oder die Rede selbst zum Subjekt werden. So                die zutreffendste Bestimmung, von etwas gefunden
kann es heißen, der (gegenwärtige) logos, das momen-                hätten (Theaitetos 208b, vgl. Kratylos 438c). Am Gipfel-
tane Gespräch, „zwinge“ sie zu etwas, er „fliehe“ vor               punkt der Erkenntnis kommt es möglicherweise zu
ihnen, er „verberge sich“ und vieles mehr (Dunshirn                 einer Suspendierung des logos. In Platons Symposion
2010: 129–142).                                                     heißt es, dass am Höhepunkt der Aufstiegsbewegung
    Für die Naturphilosophie von besonderer Relevanz                des Wissens ein „wunderbar Schönes“ erblickt wird.
sind die unterschiedlichen logoi, die sich einstellen,              Dieses tritt nicht mehr als Körper, aber auch nicht in der
wenn der göttliche „Handwerker“, der Demiurg, die                   Weise der bisherigen Wissensformen oder des logos
Welt einrichtet, wovon Platons Timaios erzählt. Bei                 in Erscheinung. Es zeigt sich ein „eingestaltiges immer
der Formung der psyche der Welt, des den Kosmos                     Seiendes“ (vgl. Symposion 210e–211b; Sier 1997:
„Beseelenden“, „mischt“ der göttliche Welteneinrichter              285 f.).
aus der „Natur“ des „Selbigen“ und des „Verschiedenen“                 Die Dialogfigur Timaios spricht im Zusammenhang
eine „dritte Form“ von Sein „zusammen“ (Timaios 34b–                mit seiner Erläuterung der Welteinrichtung von einem
35c). Aus allen dreien formt er zwei einander entgegen-             eikos mythos (Timaios 29d) ebenso wie von einem eikos
gesetzte Umläufe, nämlich eine Rotation der Identität               logos (30b; Brisson 2012), also von einer „gleichenden“
und eine Bahn der Differenz (was als die – aus Sicht der            oder „wahrscheinlichen“ „Geschichte“ oder „Rede“ (zur
Erde – gegenläufigen Bewegungen des Fixsternhimmels                 Auslegungstradition des eikos Martijn 2010: 219–235).
und der Planeten aufgefasst werden kann). In ihrer                  Sokrates weist in der Politeia seine Gesprächspartner
Verbindung mit dem Weltkörper bringt die Weltseele                  wiederholt darauf hin, dass sie die „gute Stadt“, über
logoi hervor, die diesen Umläufen entsprechen, freilich             die sie sprechen, „durch den logos“ (472d–e) hervor-
ohne „Laut und Schall“ (37b). Diese logoi ergeben einer-            bringen oder „als Mythos erzählen“ (mythologoumen
seits – herrührend vom Umlauf des „Anderen“ und be-                 logo, 501e). An letzterer Stelle tritt das Wort logos in
zogen auf das Wahrnehmbare – „Meinungen“ (doxai)                    scheinbare Opposition zu ergon, dem „Werk“ oder der
und andererseits „Überzeugung“ (pistis) bzw. – im Fall              „Tat“: Bevor nicht das „philosophische Geschlecht“ die
des Kreisens des „Selben“ und mit Bezug auf das Denk-               Macht erhalte, gebe es kein Ende der Übel, und die Ver-
vermögen – „Vernunft“ (nous) und „Wissen“ (episteme)                fassung, die im Gespräch vorgebracht wird, erreiche
(37b–c; Karfik 2004: 174–201; Karfik 2020).                         nicht „tatsächlich“ (ergo) ihr Ziel (501e). Gleichwohl
    Eine vergleichbare Aufreihung von Erkenntnisleis-               stoßen wir bei Platon auf Passagen zur „Wirksamkeit
tungen ist im Liniengleichnis der Politeia anzutreffen,             der Rede“ (Hetzel 2011), des logos als eines „gewaltigen
das einen Beleg für logos in der Bedeutung „Verhältnis“             Machthabers“, wie ihn Gorgias in seiner Lobrede auf
bietet. Sokrates’ Zuhörer sollen sich eine Linie vorstellen,        Helena nennt (Fragment B 11, 8 D-K, zit.n. Diels/Kranz
die in unterschiedlich lange Teile geteilt ist, und den             1964: 290; zu den Dramenanspielungen bei Gorgias
imaginierten Strich noch einmal „in demselben logos“,               Novokhatko 2020: 86–91). So entpuppen sich in Platons
im identischen Verhältnis, „zerschneiden“ (Politeia 509d).          Charmides die logoi mit Sokrates als die wahren Heil-
Den vier Linienabschnitten sind Entitäten unterschied-              mittel für Charmides’ Unwohlsein, da sie es sind, die
lichen Seinsgrades sowie die ihnen korrespondierenden               Besonnenheit bewirken (Charmides 157a–b; Derrida
„Erlebnisse in der Seele“ zugeordnet: „Vermuten“                    1995: 140 f.).
(eikasia), „Überzeugung“ (pistis), „Verstand“ (dianoia)                Angesichts der genannten Stellen im Timaios und in
und „Vernunfterkenntnis“ (noesis); diese haben in                   der Politeia, an denen mythos und logos in naher Ver-
zunehmendem Maß an der Wahrheit teil (511d–e; Erler                 bindung vorkommen, erscheint eine strikte Trennung

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Alfred Dunshirn | Logos, I. Antike | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.81213

dieser Begriffe im Sinn des Gegensatzes von Irrationalem         erklärt, zentral (Nikomachische Ethik II, 2, 1103b31–
und Rationalem, wie sie einflussreiche Übersichts-               34; Moss 2014; Frede 2020: 409 f.). Die Tugend oder
darstellungen nahelegen (Nestle 1940), problematisch.            „Bestform“ (arete) des Menschen sei die mit dem
Eher ist eine Abtrennung innerhalb des Gesprochenen              richtigen logos verbundene Disposition oder „Haltung“
– mag es als mythos oder als logos bezeichnet sein –             (hexis, Nikomachische Ethik VI, 13, 1144b26 f.).
hinsichtlich der Seinsgrade dessen, was es ausdrückt,               Über Satzteile, Negationen und die Verbundenheit
angemessen: Es kann sich um Erkenntnisse der Ver-                von logoi in Schlüssen handeln Aristoteles’ Schriften,
nunft, die es mit dem „vollkommenen“ Seienden zu tun             die später unter dem Titel „Organon“ zusammen-
hat, oder um Annahmen der Meinung, die auf das                   gefasst wurden. Sie haben die abendländische Auf-
„Dazwischen“, das zugleich Seiende und Nichtseiende,             fassung von Sprechen und Denken für Jahrhunderte
bezogen ist, handeln (Politeia 477a–478e; vgl. Timaios           maßgeblich geprägt. Aristoteles bespricht dort ver-
27d–28a; Strobel 2017: 360 f.).                                  schiedene Arten von logoi, die etwas „anzeigen“
                                                                 (semainein). Ein anzeigender logos ist nicht immer
                                                                 „aufzeigend“ (apophantikos) im Sinn von „wahr“ oder
4. Aristoteles: der Mensch und der logos
                                                                 „falsch“; das zeigt sich bei Gebet und Bitte (Herme-
Mit der Stufung von Seelentätigkeiten im platonischen            neutik 4, 16b26–17a5). Freilich liegt der Schwerpunkt
Liniengleichnis lässt sich bei Aristoteles die Unter-            von Aristoteles’ Analysen auf dem logos apophanti-
scheidung von episteme („Wissen“), doxa („Meinung“),             kos, der „aufzeigenden Rede“. Bei ihr ist „Zusage“
pistis („Überzeugung“) und phantasia („Vorstellung“)             (kataphasis) von „Absage“ (apophasis) zu unterscheiden,
vergleichen. Diese Differenzierung beruht nicht zu-              Bejahung von Verneinung (Hermeneutik 5, 17a8 f.; Wey
letzt auf dem Haben und Nichthaben von logos. Sie ist            2014). Allgemein bejahende oder verneinende (mit Ein-
für Aristoteles’ Naturphilosophie, Anthropologie und             schränkung auch partikulär affirmative oder negative)
Ethik von zentraler Bedeutung (Rese 2003). Laut der              Sätze können als Elemente der Syllogismen betrachtet
aristotelischen Politik hat als einziges unter den               werden, der „Schlüsse“. Diese weisen – über eine
Lebewesen der Mensch logos (Politik I, 2, 1253a9 f.).            endliche Anzahl von Mittelbegriffen verknüpft – das
Wie unterscheidet ihn dieses logos-Haben von ande-               Warum eines Sachverhalts auf (Detel 2005: 21–30).
rem Lebendigen? Logoi sind auch für Aristoteles                     Eine wesentliche Funktion, die auch naturphilo-
Ausdruck der Meinung (doxa) und der damit einher-                sophisch von hoher Relevanz ist, kommt dem logos
gehenden Überzeugungen (pisteis) sowie des nous,                 in Aristoteles’ Betrachtungen der physis und ousia,
der „Vernunft“. Diese Seelenvollzüge sind, wie aus De            des „Wesens“ und der „Seiendheit“ zu, wie sie in der
anima („Über die Seele“) hervorgeht, dem Menschen                Physik und Metaphysik dokumentiert sind (Wiplinger
vorbehalten (De anima III, 3). Gemeinsam mit ihm                 1971). In der Auflistung der vier Weisen, in denen
kommt den anderen Lebewesen Wahrnehmung zu,                      von Ursache gesprochen wird, findet sich logos bei der
manchen von ihnen auch phantasia („Vorstellung“,                 Erläuterung der zweiten Ursachenart, des eidos (der
De anima 428a10). Das Meinen der Menschen dreht                  „Form“): Dies sei „der logos des Was-es-war-zu-sein
sich, wie Aristoteles in der Zweiten Analytik darlegt,           und seine Gattungen“ – der logos fungiert hier als
um „das Wahre und Falsche“, um dasjenige, das                    „Erklärungsrede“ des ti en einai, des „Was-es-war-
sich auch anders verhalten kann (Zweite Analytik I,              zu-sein“ oder des „schöpferischen Wesensbegriffes“
33, 89a2 f.). Die „immer wahrredenden“ Vermögen,                 (Prantl 1997: 211; Höffe 2006: 173). In diesem
Vernunft und Wissen (De anima III, 3, 428a17 f.),                Definitions-logos erfasst die Vernunft das Allgemeine
haben es mit Inhalten zu tun, die sich nicht anders              (to katholou) an einer Sache (Tugendhat 2003: 15–17),
verhalten können (Zweite Analytik I, 33, 88b31 f.;               beispielsweise die Charakterisierung des Menschen
zum Zusammenspiel von Vernunft, Wissen und logos                 als eines „zweibeinigen Lebewesens“ (Aristoteles,
Bronstein 2016: 58).                                             Metaphysik IV, 4, 1006a31–b4; Horn 2005: 330 f.;
   Für den Bereich des Handelns ist laut Aristoteles             zur Problematik der Bestimmung der ousia, der
die Orientierung am orthos logos, an der „richtigen              „Seiendheit“ oder „Substanz“, als logos Weiner
Begründung“, die zugleich etwas vorschreibt und                  2016).

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Alfred Dunshirn | Logos, I. Antike | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.81213

                                                                  sie (Cicero, De natura deorum II, 14, 37–39; vgl. SVF II
5. Der Welt-logos der Stoa
                                                                  641 = Arnim 2004, Band 2: 193 f.). Ähnliche Auffassun-
Die vermutlich – zumindest naturphilosophisch – wirk-             gen traf Cicero bei Panaitios an, der den harmonischen
mächtigste Konzeption von logos entstammt der Stoa.               Aufbau der Welt betont und insbesondere die Einheit-
Insbesondere die Vertreter der Alten Stoa gelten als              lichkeit des menschlichen Organismus herausstreicht:
Proponenten des Welt-logos, der alle Erscheinungen                Im Menschen ist alles in bester Weise daraufhin ange-
und Entwicklungen im Kosmos bestimmt (Kahn 1969).                 legt, dass er das Göttliche und die Schönheit in der Welt
Als Bestandteile des Universums kann man in der Stoa              erkennt (Cicero, De natura deorum II, 54–56, 133–141;
zwei Prinzipien angeführt sehen, nämlich dasjenige,               Pohlenz 1959: 196 f.; Capelle 1954: 51 f.).
worauf eingewirkt wird, und das Tätige (SVF II 300;                   Mehrfach ist in Darlegungen der stoischen Lehr-
vgl. Long/Sedley 2006: 319 f./Fragment 44B). Ersteres             meinungen auch von logos im Plural zu hören: So
lässt sich als Materie benennen, zweiteres als der in             berichtet der Doxograph Aëtios in Bezug auf den Gott
ihr wirkende logos, das ist die göttliche Vernunft. Die           der Stoiker, er umfasse die logoi spermatikoi, die
Stoiker sprechen diese auch als Gott, als „Schicksals-            „Samenprinzipien“, denen gemäß alles schicksalshaft
fügung“ (heimarmene) oder als logos, demgemäß alles               geschieht. Zugleich betont Aëtios das Einende des
ausgeführt wird, an (SVF II 915 = Arnim 2004, Band 2:             logos. Als vernunftbegabte Gottheit wirkt er wie ein
264). Laut Diogenes Laertios wird die Welt-Vernunft von           „kunstverständiges Feuer“, das sich durch den gesam-
Zenon, dem Gründer der stoischen Schule, und von sei-             ten Kosmos hindurchzieht und je nach dem Stoff, in
nem Nachfolger Chrysipp als „Samenprinzip“, als logos             dem er wirkt, verschiedene Bezeichnungen annimmt
spermatikos, gefasst, der den Keim von allem in sich              (Aëtios I, 7, 33 = SVF II 1027; vgl. Long/Sedley 2006:
enthält; dieser bringt als Urfeuer alles hervor und macht         327/Fragment 46A). Diese Wirkkraft ist oft als „Atem-
die Materie, der er innewohnt, „wohl bearbeitbar“                 strom“ (pneuma) oder „Atemstromsubstanz“ bezeichnet,
für das weitere Werden und schafft die vier Elemente              die den Körpern ihren Zusammenhalt gewährt (SVF II
(Diogenes Laertios VII, 135 f. = SVF I 102; vgl. Long/            439; vgl. Long/Sedley 2006: 335 f./Fragment 47F), der
Sedley 2006: 327/Fragment 46B; weitere Stellen bei                als „Spannung“ (tonos) gefasst ist. In der zweifachen
Arnim 2004, Band 4: 91–93). Dabei wird ebenso wie die             Form der damit einhergehenden „Spannungsbewegung“
Materie der logos als etwas Körperliches aufgefasst, da           zeigt sich die Dynamik des Weltgeschehens: Nach außen
etwas Unkörperliches den Stoikern zufolge nichts                  gerichtet stiftet die Spannungsbewegung Größen und
bewirken kann (SVF II 363; vgl. Long/Sedley 2006: 323/            Eigenschaften, nach innen gerichtet Einheit und Substanz
Fragment 45B). Das wirkende Prinzip ist ebenso wie das            (SVF II 451; vgl. Long/Sedley 2006: 337/Fragment 47J).
leidende ungeworden und unvergänglich, im Gegensatz                   Aufgrund derartiger Zeugnisse wurde die stoische
zu sämtlichen Elementen des Kosmos, die beim zyklisch             Weltauffassung als monistisch (vgl. z.B. Steinmetz 1994:
eintretenden Weltbrand zugrunde gehen (SVF II 299;                606 f.) und pantheistisch gekennzeichnet (vgl. Zellers
vgl. Long/Sedley 2006: 320/Fragment 44B). Durch den               geistesgeschichtlich wirkungsvolle Darstellung des
Welten-logos ist alles vollständig rational durch-                „stoischen Systems“, Zeller 2006: 118; allgemein zum
bestimmt. Eine bei Plutarch überlieferte Aussage                  Pantheismus Bollacher 2020). „Alles ist miteinander
Chrysipps betont, dass in der Welt nicht einmal der               verflochten“ und bildet eine „heilige Verbindung“, die zu
kleinste Teil in anderer Weise als gemäß der „gemein-             einer Ordnung in „demselben Kosmos“ führt, heißt es
samen Natur“ und gemäß deren logos entstehen kann                 bei Mark Aurel – der im gleichen Atemzug vom „einen
(Plutarch, Die Widersprüche der Stoiker 1050B–D =                 Kosmos“, der aus allem besteht, dem „einen Gott“, der
SVF II 937; vgl. Long/Sedley 2006: 394 f./Fragment                durch alles hindurchwirkt, und dem „einen logos“, der allen
54T). Der logos kann als „Strukturplan“, demgemäß die             vernunftbegabten Lebewesen gemeinsam ist, spricht
Natur tätig ist, gefasst werden (Löbl 1986: 64). Alle             (Mark Aurel, Selbstbetrachtungen VII, 9). Im Zusammen-
Dinge im Kosmos sind, so referiert Cicero die Ansicht             hang mit der als „Schicksalsfügung“ (heimarmene)
Chrysipps, wegen einer anderen Sache entstanden und               gefassten Notwendigkeit der Naturvorgänge ist in der
unvollkommen; einzig die Welt umfasst alles und ist               Stoa auch von „Vorsehung“ (pronoia) die Rede (Selbst-
deshalb vollkommen – es gibt „nichts Perfekteres“ als             betrachtungen XII, 14; zu Chrysipps Auffassung der

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Alfred Dunshirn | Logos, I. Antike | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.81213

Vorsehung vgl. z.B. Plutarch, Widersprüche der Stoiker               prophorikos logos, die „zum Vorbringen geeignete Rede“,
1044E–F = SVF II 1160/Arnim 2004, Band 2: 334). Zur                  sondern durch den endiathetos logos, die „ins Innere
Frage, warum es bei einer Lenkung der Welt und der                   gesetzte Rede“, von den a-logischen Lebewesen unter-
menschlichen Angelegenheiten durch die Vorsehung                     scheide (Adversus mathematicos VIII, 275 = SVF II 135/
Übel gebe, ist eine mehrgliedrige Erläuterung Chrysipps              Arnim 2004, Band 2: 43). Diese Unterscheidung eines
überliefert: Das Gute ist dem Üblen entgegengesetzt;                 (wie tierische Laute) nach außen gerichteten logos von
Gutes und Übles müssen zusammen bestehen und ein-                    einem (wie die Vernunft) im Inneren tätigen logos lässt
ander wechselseitig stützen, da kein Gegensatzbegriff                sich auf die Zeit der Auseinandersetzung zwischen den
ohne das ihm Entgegengesetzte existiert. Darüber hin-                Stoikern des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts und
aus sind in der Natur ungünstige Dinge als „Neben-                   dem Platoniker Karneades über die Frage zurückver-
folge“ (parakolouthesis) entstanden: Die Einrichtung                 folgen, ob auch anderen Lebewesen logos zukomme
des menschlichen Kopfes beispielsweise ist höchst                    (Pohlenz 1959: 39; Kamesar 2004: 163 f.). Diese Frage
förderlich für die Steigerung seiner Vernunft, sie bringt            wird in der römischen Kaiserzeit wichtig für die theo-
jedoch mit sich, dass der dünne Schädelknochen für                   logische Spekulation werden, wie sie bei Philon von
Verletzungen durch Schläge anfällig ist (SVF II 1169 f.;             Alexandria angelegt ist.
vgl. Long/Sedley 2006: 392 f./Fragment 54Q; zur
Entwicklung der „Theodicee“ in der Stoa Zeller 2006:
                                                                     6. Die logos-Theologie der römischen Kaiserzeit
176–182, vgl. Steinmetz 1994: 610–612).
    Der Kritik am Determinismus, der aus der göttlichen              In Philons allegorischer Interpretation biblischer
Schicksalsbestimmung der Welt resultiere und der ein                 Geschichten vertritt beispielsweise Moses den logos
freies Handeln ausschließe, wird in der Stoa entgegen-               endiathetos und Aaron den logos prophorikos. Während
gehalten, dass die „vollkommene Ursache“ für die                     dieser mit seinen Verlautbarungen dem Volk die Inhalte
Handlungen beim Menschen liegt (SVF II 974/Arnim                     der Offenbarung des Moses mitteilt, spricht Gott „in“
2004, Band 2: 282 f.), nämlich sein logos, seine Vernunft            Moses, dessen Geist mit dem Herrn in Verbindung steht
ist. Die Vorstellungen (phantasiai), die durch äußere                (Quod deterius 126 f.; Kamesar 2004: 164). Ähnlich wie
Einwirkungen entstehen und das Erkenntnismaterial                    bei den Stoikern ist bei Philon der logos göttliche Wirk-
liefern, sind demgegenüber nur mitwirkende Ursachen,                 macht, wobei sein logos-Konzept von hoher Komplexität
denen der Mensch erst seine Zustimmung (synkatathesis)               zeugt (Lévy 2018). Auch Philon spricht vom spermatikos
erteilen muss, damit sie einen Handlungsimpuls auslösen              logos, dem „Samenprinzip“, das eine vernunftgemäße
(Steinmetz 1994: 611; Schriefl 2019: 114–118). Gemäß                 Entwicklung alles Werdenden garantiert (Legum allego-
dem einen Welt-logos und „in Übereinstimmung“ (homo-                 riae III, 150; Verbeke 1980: 485 f.). Für die nachfolgende
logumenos) mit der physis zu leben bedeutet für den                  christliche logos-Tradition ist vor allem die Rolle von
Menschen nicht Unfreiheit durch Vorherbestimmung,                    Bedeutung, die Philon dem logos als Zuwendung Gottes
sondern die höchste Vervollkommnung (SVF I 179; vgl.                 zur Welt zuschreibt (Löhr 2010: 354; Burz-Tropper
Long/Sedley 2006: 471/Fragment 63B).                                 2014: 102 f.). Philon fasst den logos unter anderem als
    In der stoischen Tradition gilt, wie bei Aristoteles, das        „erstgeborenen Sohn“ Gottes (De agricultura 51; Löhr
Teilhaben des Menschen am logos als ein Distinktions-                2010: 348) oder als Verbindung von Gottes Macht und
merkmal gegenüber den anderen Lebewesen (SVF I                       Güte (Pohlenz 1959: 373–375; Hadas-Lebel 2012:
515/Arnim 2004, Band 1: 116). In den lateinischen                    186–188; Niehoff 2018: 217–223).
Zeugnissen zu den stoischen Lehren ist logos in diesem                  Offensichtlich kann das christliche Denken diese
Zusammenhang als ratio gefasst. Cicero zitiert in De                 logos-Konzeption gut nutzen, wenn es Christus, die
natura deorum die Aussage Chrysipps, dass es nur im                  zweite Person in der Trinität der göttlichen Dreifaltig-
Menschen ratio („Vernunft“) gebe, über die nichts                    keit, als logos fasst (Menke 2009). Die Auffassung von
hinausragen könne (De natura deorum II, 6, 16 = SVF II               Christus als dem aus Gott hervorgehenden „Wort“
1012; vgl. Long/Sedley 2006: 387/Fragment 54E).                      (logos) ist bereits bei den frühchristlichen Autoren
Sextus Empiricus spezifiziert diese Abtrennung                       anzutreffen, etwa bei Justinos Martyr im zweiten nach-
dahingehend, dass sich der Mensch nicht durch den                    christlichen Jahrhundert (Apologia prima pro Christianis

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23; Hünermann 2009). Zentraler neutestamentlicher                    Eine Zusammenschau und Kritik der verschiedenen
Text für die christliche logos-Theologie ist der Prolog          antiken logos-Auffassungen in der nichtchristlichen
des Johannesevangeliums: En arche en ho logos, kai               Philosophie und in der Gnostik findet sich bei Plotin
ho logos en pros ton theon, kai theos en ho logos,               (Brisson 1999). Im Traktat Über die Vorsehung
„Im Anfang war der logos, und der logos war bei Gott,            (Enneade III, 2 und 3) kritisiert er gleichermaßen eine
und Gott war der logos“. (Die Spuren der „Weisheitlichen         Weltbetrachtung, die alles dem zufälligen Aufeinander-
Tradition“ im des Johannesprologs – das heißt der                treffen von Atomen oder dem Auseinandertreten
theologischen Spekulationen, die sich z.B. in den Bibel-         diverser Urstoffe zuschreibt, wie die stoische Lehre, der
büchern Ijob, Kohelet oder Sprüchen widerspiegeln –              Kosmos sei bis ins letzte Detail von einem göttlichen
erläutern Lips 1990: 290–317 und Burz-Tropper 2014.)             logos bestimmt. In diesem Fall gäbe es nur das Göttliche,
Diese Worte lassen den Beginn der Genesis widerhallen,           „wir“ wären „nichts mehr“ (III, 2, 9). Desgleichen ist die
wo es heißt: Bereschit bara elochim …, „Im Anfang schuf          Ansicht der Anhänger der Lehre des Aristoteles zu ver-
Gott …“; dort erklingt auch der „Sprechakt“: „Und Gott           werfen, die göttliche Vernunfteinwirkung beziehe sich
sprach: Es werde Licht“ (Genesis 1,3; Hetzel 2011: 370–          nur auf die Himmelsphären und nicht auf die sublunare
376). Traditionell wird logos im Johannesprolog mit              Welt, also die vier Sphären unterhalb des Mondes,
„Wort“ übertragen, was offenkundig nicht ein Einzel-             nämlich Feuer, Luft, Wasser und Erde (als Mittelpunkt
wort, sondern das göttliche verbum als „vollmächtiges            der Welt im geozentrischen Weltbild). Vielmehr erstreckt
Wort“ (Bühner/Verbeke 1980: 499) meint, eine Rede,               sich laut Plotin die göttliche Vorsehung auf alles, nichts
der große Wirkmacht zugeschrieben wird. In der Theo-             unterliegt nicht ihrer Obsorge; das All hängt vom nous,
logie ist im Zusammenhang mit dem göttlichen logos,              dem „Geist“, ab (III, 2, 6). Den logos fasst Plotin aber
der sich der Welt zuwendet, vom „Christusereignis“ die           nicht wie die Stoa als Gottheit auf, die als körperliche
Rede (Bultmann 1993: 288 f.). Dieser logos ist das               Kraft das Geschehen in der Welt vollständig determiniert.
„schaffende“ und „heilende“ Sprechen (ebd.: 268–274):            Der logos „fließt“ vielmehr aus dem nous, der Vernunft,
Im Alten Testament ist das Wort Gottes zu vernehmen,             aus (Emanation); durch den logos wirkt die Vernunft auf
welches Himmel und Erde und alles, was ist, hervorruft           die Materie ein: „Denn das aus dem Geist Ausfließende
und erschafft (Schlier 1974: 417–419). Die heilende              ist logos, und er fließt immer aus ihm aus, solange der
Wirkung des göttlichen logos kommt beispielsweise in             Geist in den Seienden gegenwärtig ist“ (III, 2, 2). Dieser
den das Neue Testament aufgreifenden Gebetsworten                logos ist die Ausfaltung der einen, einzigen Vernunft zu
der Messliturgie zum Ausdruck: „Aber sprich nur ein              der materiellen, aus vielen Teilen bestehenden Welt
Wort (eipe logo), so wird meine Seele gesund“ (vgl.              (Halfwassen 2004: 17). In dieser Vielfältigkeit des logos
Matthäus 8,8; Lukas 7,7; zum wesensbestimmenden                  ist ein Grund für die (scheinbare) Schlechtigkeit und das
Hören der im „Wort“ Gottes „ergehenden Offen-                    Unglück in der Welt zu suchen. Im Unterschied zum
barung“ in der Theologie Rahner 1997: 16 f.).                    nous, der immer in völliger Einheit bei sich ist, ist der
   Der frühchristliche Theologe Origenes rekurriert in           aus ihm „kommende“ logos weder überall in seiner
seiner Auslegung des Christus-logos (für eine Stellen-           Vollform vorhanden, noch „gibt er sich selbst denen,
sammlung siehe Balthasar 1991: 95–216) auf die oben              denen er sich gibt, zur Gänze“ (III, 2, 16). Er setzt die
im Zusammenhang mit der logos-Auffassung der Stoa                Teile der Welt in Opposition zueinander und bringt
angesprochene Unterscheidung des logos prophorikos               sie als mangelhafte hervor, woraus Krieg und Kämpfe
vom logos endiathetos, der „zum Vorbringen geeig-                resultieren (ebd.). Plotin spricht vom logos auch im
neten Rede“ von der „ins Innere gesetzten Rede“.                 heraklitischen Sinn als Einheit der Gegensätze. Das
Origenes betont, dass beide logos-Arten als Ausdruck             Wesen des logos ist, in sich Unterschiede zu umfassen
der menschlichen Vernunft den göttlichen logos nicht             (ebd.; Motta 2019).
erfassen können (Contra Celsum VI, 65). Porphyrios                   Den Bezug von Einem (hen) und logos betont am
greift das in seiner Polemik gegen den Christus-logos            Ausgang der Antike Proklos in seiner Zusammenschau
auf, der gar kein logos sei (Ramelli 2012: 334–336;              der Positionen verschiedener „Platoniker“ zu den
allgemein zur logos-Auslegung bei Origenes Gögler                Hypostasen, den Seins- oder Emanationsstufen konkret
1963: 244–281).                                                  bestehender Sachen (zur Hierarchie der logoi bei

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Alfred Dunshirn | Logos, I. Antike | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.81213

Proklos im Zusammenhang mit seiner Naturphilosophie                Löhr, Winrich 2010: Logos. In: Schöllgen, Georg/Brak-
Martijn 2010: 235–239). Gäbe es das Eine nicht, gäbe                  mann, Heinzgerd/de Blaauw, Sible/Fuhrer, Therese/
es weder Erkenntnis (gnosis) noch logos: „Denn auch                   Hoheisel, Karl/Löhr, Winrich/Speyer, Wolfgang/
der logos ist ein Einer aus Vielen, wenn er vollkommen                Thraede, Klaus (Hg.): Reallexikon für Antike und
ist“ (Theologia Platonica II, 1 = Saffrey/Westerink 1974,             Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinander-
Band 2: 8, Zeile 20 f.). Damit ist deutlich die Verbindung            setzung des Christentums mit der antiken Welt.
von Einem, Sein, Erkennen und Sprache ausgesprochen,                  Band 23. Stuttgart, Hiersemann: 327–435.
zugleich jedoch der Unterschied von Einem und logos:               Rowe, Christopher J. 2003: Logos. In: Hornblower, Simon/
Das Eine ist „noch nicht“ logos, das Seiende ist „bereits“            Spawforth, Antony (Hg.): The Oxford Classical
logos (Theologia Platonica II, 2 = Saffrey/Westerink 1974,            Dictionary. Third Edition Revised. Oxford, Oxford
Band 2: 21, Zeile 12 f.).                                             University Press: 882–882.

7. Ausblick                                                        Literatur
Die verschiedenen antiken logos-Konzeptionen haben                 Aall, Anathon 1968: Der Logos. Geschichte seiner Ent-
in der weiteren europäischen Geistesgeschichte                         wickelung in der griechischen Philosophie und der
herausragende Bedeutung entfaltet. Diese zeigt sich                    christlichen Litteratur. 2 Bände. Unveränderter Nach-
zum Beispiel darin, dass die 1910 gegründete erste                     druck der Ausgabe Leipzig 1896–1899. Frankfurt/M.,
„Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur“ in             Minerva.
Deutschland den Titel „Logos“ trug (siehe Becker et al.            Aëtios 2020: Aëtiana V. An Edition of the Reconstructed
2020). Dies zeigt sich aber nicht zuletzt auch darin, dass             Text of the Placita with a Commentary and a Collec-
vor allem im 20. Jahrhundert eine grundlegende Kritik                  tion of Related Texts. Edited by Jaap Mansfeld and
am sog. Logozentrismus formuliert wurde. Unter dieser                  David Runia. Leiden, Brill.
Bezeichnung kritisiert nun etwa Ludwig Klages eine                 Aristoteles: De anima = Aristoteles 2011: Über die
lebensfeindliche Rationalität, die das Leben im Geiste                 Seele. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und heraus-
binde, und Jacques Derrida – „logozentrisch“ eine völlig               gegeben von Gernot Krapinger. Stuttgart, Reclam.
andere Bedeutung gebend – eine die gesamte Tradition               Aristoteles: Hermeneutik = Aristotle 1973: The Cate-
der europäischen Philosophie bestimmende Konzep-                       gories. On Interpretation. With an English Trans-
tion des Zeichens, die die gesprochene gegenüber der                   lation by Harold P. Cooke. Prior Analytics. With an
geschriebenen Sprache als Medium der Erkenntnis                        English Translation by Hugh Tredennick. Reprint.
systematisch bevorzugt (Pöhler 1980).                                  Cambridge/MA, Harvard University Press.
                                                                   Aristoteles: Metaphysik = Aristoteles 1989: Metaphysik.
                                                                       Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann Bonitz.
Basisliteratur
                                                                       Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von
Aall, Anathon 1968: Der Logos. Geschichte seiner Ent-                  Horst Seidl. Griechischer Text in der Edition von Wilhelm
    wickelung in der griechischen Philosophie und der                  Christ. Griechisch-Deutsch. 2 Bände. 3., verbesserte
    christlichen Litteratur. 2 Bände. Unveränderter Nach-              Auflage. Hamburg, Meiner.
    druck der Ausgabe Leipzig 1896–1899. Frankfurt/M.,             Aristoteles: Nikomachische Ethik = Aristoteles 2008:
    Minerva.                                                           Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben
Bühner, Jahn-Adolf/Verbeke, Gérard 1980: Logos. In:                    von Ursula Wolf. 2. Auflage. Reinbek bei Hamburg,
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Alfred Dunshirn | Logos, I. Antike | 2021 | doi: 10.11588/oepn.2021.1.81213

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Aristoteles: Politik = Aristoteles 2012: Politik. Übersetzt              Destrée, Pierre/Gonzalez, Francisco J. (Hg.): Plato and
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    Analytik. Zweite Analytik. Herausgegeben, übersetzt,                 Reden, Fragmente und Testimonien. Griechisch-
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    unter Mitarbeit von Hans Günter Zekl neu heraus-                   Auflage. Heidelberg, Winter.
    gegeben sowie mit Einleitung und Anmerkungen                   Futter, Dylan B. 2018: Spiritual pregnancy in Plato’s
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    Realencyclopädie der classischen Altertumswissen-                  Schenker. Stuttgart, Deutsche Bibelgesellschaft.
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