Pausen-Tee mit Ballgeschichten - WM-Magazin am 25.06.2006
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COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Pausen-Tee mit Ballgeschichten – WM-Magazin am 25.06.2006 Redaktion: Hanns Ostermann Moderation: Jörg Degenhardt Freunde zu Gast beim Weltmeister – ein etwas großspuriges Plakat, das da gestern in der Münchner WM-Arena in die Kamera gehalten wurde. Noch ist nicht aller Tage Abend, aber so viel lässt sich jetzt schon sagen: Diese Endrunde 2006 hat auf fast allen Feldern die Erwartungen übertroffen. Auch meine übrigens: Im Studio Jörg Degenhardt. Vom positiven Auftreten der deutschen Mannschaft zeigen sich selbst einige Fußballexperten überrumpelt. Auch wenn natürlich noch völlig offen ist, ob die Deutschen am Ende wirklich im Finale stehen, oder die Engländer, die gerade spielen - oder vielleicht doch die Australier? Take 01 10jährige Fußballexperten (Musik ran, Sprecher rauf)
Das Traurigsein, das kann warten bis zum 9.Juli. Dieses Halbzeit-Magazin dreht sich natürlich um den Ball, der schon lange nicht mehr aus Leder, sondern aus Kunststoff ist. Und um die, die ihn treten, die von ihm leben, die über ihn reden und die sich manchmal auch über ihn lustig machen. kurze Musikblende, dann die Musik unter dem nächsten Sprechertext wegziehen… Und damit sind wir bei den Kollegen vom Fernsehen, die der Klinsmann-Elf eine Rekordquote nach der anderen verdanken. Der 2:0-Erfolg von Ballack und Co. gegen Schweden bescherte dem ZDF gestern Abend einen Marktanteil von 86,3 Prozent – das ist der Höchstwert für die laufende WM. Und wie weltmeisterlich waren die Leistungen der Reporter und Moderatoren? Günter Herkel hat für uns zugeschaut und hingehört. Take 02 Medien-Kritik Take 1 (0:15) Rethy: Die deutsche Mannschaft fährt nach Berlin, und zwar zum Viertelfinale, nicht zum Packen, sondern um Einzug zu halten ins Halbfinale. Sie ist unter den letzten acht. Das war gestern kurz vor 19 Uhr In der Juni-Ausgabe des Journalisten-Magazins „Medium“ hatte ARD-Sport-Frontfrau Monika Lierhaus noch bitter darüber geklagt, wie wenig Begeisterung doch hier zu Lande über die WM
zu spüren sei. Auch Reporter können irren. Spätestens nach dem zweiten Sieg über Polen befindet sich die Nation im kollektiven Fußballrausch. Take 2 (0:15) Ovationen: Wir werden Weltmeister und es wird immer mehr. – Klose macht et, Klose ist wieder da. – Wir werden Weltmeister. – Klar, Achtelfinale, Sieg auf jeden Fall, wolln mal sagen, wir werden Weltmeister. Wir werden Weltmeister, absolut, wolln wir mal so sehen. – Einfach geil, wir werden Finale-Meister, wir werden gewinnen. Da mochte sich auch Harald Schmidt in Waldis WM-Klub nicht zurückhalten. Take 3 (0:20) Schmidt: Wir haben gesagt, wir sind auf dem richten Weg. Das Konzept stimmt, es wird geübt, wir haben heute zu Null gespielt, das war das, was sich alle gewünscht haben. Wir haben Dramatik erlebt, wir sind ins Spiel zurückgekommen, obwohl wir gar nicht weg waren, wir haben schnell gespielt, wir haben dynamisch gespielt, wir haben über die Flügel gespielt, wir haben hinten dicht gemacht, wir sind steil nach vorn gegangen, wir haben in der 92. Minute ein 1:0 geschossen– was wollen wir mehr… Aber Ironie ist in diesen Tagen nationaler Besoffenheit in den Medien eher seltener anzutreffen. Was kümmern uns Hartz IV, Gesundheitsreform und Steuerschraube? Selbst Münchner Obdachlose – so schilderte eine eindrucksvolle Reportage der „Süddeutschen Zeitung“ – feiern die Erfolge von Klinsmanns Buben: Mit Fernseher, Fahne und Fusel. Take 4 (0:18) Repo Fahnenproduktion: Ein Land bekannt Farbe. Und die Berliner Stoffdruckerei sorgt für den Nachschub. Immer wieder Schwarz-Rot-Gold. Die 1000-Meter-Stoffrollen werden im Tagesrhythmus gewechselt, der Druckerschlitten ein Konditionswunder, immer wieder Schwarz-Rot-Gold, Kilometerweise wurde produziert. Das am häufigsten in Funk und Fernsehen gebrachte Reporterwort der letzten Wochen dürfte Stimmung sein, wahlweise erweitert zur tollen Stimmung, zur phantastischen Stimmung, zur Superstimmung. Die Stimmung stimmt, vor allem auch an den RTL-Super-Sonntagen, selbst wenn auf dem Rasen Kroatien und Japan einen eher müden Kick abliefern. Wenn dem japanischen Torwart der Ball gefährlich verspringt, fachsimpeln Pierre Littbarski und die RTL- Moderatorin über mögliche Ursachen:
Take 5 (0:12) RTL: Kann das auch n Platzfehler gewesen sein, dass möglicherweise da irgendwas nicht in Ordnung, aber da musser trotzdem mit rechnen in sonem Augenblick…- Ja, sass n Maulwurf drin. Unsere Plätze sind klasse, wir haben hier Superplätze und das ist zu einfach. Alles super, wie gehabt. Und die deutsche Mannschaft? Bestand vor der WM vor allem aus Ballacks Wade, die laut Bundestrainer Klinsmann noch längst nicht da war, wo sie sein sollte, es aber zur Dauerpräsenz in den Hauptnachrichtensendungen des Deutschen Fernsehens schaffte. Nach dem problemlosen 3:0 der Deutschen gegen Ecuador war aber selbst Skeptiker Günter Netzer des Lobes voll. Take 6 (0:10) Netzer bei Delling: Bisschen holprig angefangen in diesem Eröffnungsspiel, aber dann in zwei souveränen Spielen doch eindeutig bewiesen, dass sie auf nem sehr guten Weg sind. Überhaupt die Moderatoren. Das Tandem Netzer-Delling, bislang sozusagen die sportjournalistische Entsprechung zum ehemaligen Politduo Hauser und Kienzle, läuft Gefahr, mit dem routinemäßigen Abspulen der immergleichen Frotzeleien seinen Charme einzubüßen. Erneuerung tut Not, sonst enden die beiden bald wie die Oldtimer der Muppetshow. Dagegen bekam Dauergrinsemann Kerner im Zweiten mit dem erfrischend respektlosen Jürgen Klopp ein wohltuendes Korrektiv zur Seite gestellt. Was Kerner nicht hinderte, immer wieder mal auf impertinente Weise das Schleichwerbeverbot zu unterlaufen. Etwa gestern, als er die Leistung von Lukas Podolski so würdigte:
Take 7 (0:07 Kerner: …ist beachtlich, wie der sich in seinem neuen Heimatstadion – dann heißt es ja wieder Allianz- Arena, wenn die Bundesliga beginnt – eingeführt hat. Monika Lierhaus gelang es immerhin, mit kuriosen Fragen dem Bundestrainer den einen oder anderen verbalen Purzelbaum zu entlocken. Take 8 (0:14) Klinsmann bei Lierhaus: Wie sehr haben Sie sich denn trotz allem über das Tor von Lukas Podolski freuen können? Ein bisschen mehr vielleicht als über die anderen Tore? – Nein, wir freuen uns über jedes Tor. Wir wissen natürlich: Der Miro ist seit Monaten in bestechlicher Form… Die plötzliche Wertschätzung dürfte den medienerfahrenen Klinsmann nicht wundern, offenbart aber aufs Neue den grenzenlosen Opportunismus mancher Medien. Eben noch wegen seiner Kaliforniensehnsucht als Bundestrainer auf Abruf geschmäht, wurde er nach zwei, drei Siegen bereits als neuer Kaiser gehandelt. Oder Ronaldo: Noch im Eröffnungsspiel der Brasilianer gegen Kroatien als übergewichtiger Standfußballer und Arbeitsverweigerer verspottet, wird er nach einem einzigen starken Auftritt gegen Japan schon wieder als gefährlichster Konkurrent Kloses im Kampf um die Torjägerkanone hochgejazzt. Hauptspaßfaktor in all dem Fußball-Overkill: Die Auftritte von Harald Schmidt in Waldis WM- Klub. Take 9 (0:17) Schmidt: Das ist wirklich ne sehr schöne Geste, immer wenn die mit den Kindern an der Hand reinkommen, das ist wirklich schön aber ich finde im Rahmen des demographischen Faktors und des gesellschaftlichen Wandels, dass wir immer älter werden, wäre es dann doch bei der Europameisterschaft schön, wenn jeder Spieler n Rentner an der Hand hätte… Und was Schmidt nach dem Ekuador-Spiel sagte, gilt nach dem gestrigen Sieg erst recht. Take 10 (0:06) Schmidt: Also ich finde, nach dem Spiel heute Mittag stellt sich für mich nur noch die Frage: Wie hoch gewinnen wir im Finale?
Fußball-Fachmann Harald Schmidt in der Sport-TV Kritik von Günter Herkel. Wer der bekannten Stimmen von ARD und ZDF und RTL und Premiere überdrüssig ist, für den gibt es neben dem Radio eine weitere und vor allem eine witzige Alternative. Sebastian Holzapfel stellt sie vor. Kurz Musik Trailer „Sputnik TV“, dann Ausschnitt Kommentar einblenden Ooohhhh, ooooooooooooohhhhhhhhhhhhhh, aahhhhhhhhhhhhhhhhhh - Wir sind beim Fußball, liebe Freunde. SPRECHER:…und zwar im Weltmeisterstudio Mitte in Berlin. Beim zweiten Vorrundenspiel der Deutschen Nationalmannschaft gegen Polen. Hier sitzt der deutsche Moderatoren-Nachwuchs am Mikrofon. Emotional, fachlich kompetent und mit dem kaltem Blick des Fußball-Analytikers. Ausschnitt Kommentar 19:42 Die Deutschen konzentrieren sich im Augenblick so doll, dass sie das Spielen vergessen. Das ist immer das Problem: Entweder sie konzentrieren sich oder sie spielen schön. Wenn sie schön spielen, kriegen sie nen Gegentreffer und wenn sie sich konzentrieren, dann schießen sie kein Tor. [11sec] SPRECHER: Seit mittlerweile vier Jahren beglückt das vierköpfige Kommentatoren- Kollektiv vom WM-Studio Mitte eine wachsende Fangemeinde in der Hauptstadt mit ihren etwas anderen Fußball-Kommentaren – mit verbalen Dribblings und innovativen Wortkreationen. Ausschnitt Kommentar 23:50 Und dann musste eigentlich Krzynowek diesen Ball mit links einsenden als Outswinger…Nee, jetzt wird es doch Culawski sein und damit gibt’s einen Inswinger.[15sec] O-Ton Knuth Das geht eigentlich seit 98 so, dass wir immer zu Hause gesessen haben, immer jekiekt haben und soviel geplappert haben, dass wir jedacht haben: Das wollen wir selber machen. Und bei der WM 2002 war dieser Punkt: erstens mussten wir in diesen vier Wochen nicht arbeiten und zweitens war der Punkt, dass Premiere die WM damals übertragen hat und als zweite Tonoption ein Stadionkanal rausjeschickt hat ohne Kommentator. Dat heißt: man konnte anmachen und man konnte selber drüberlabern. Und das ham wir anfangs als Spaß in den ersten paar Tagen gemacht, – dann ham wir anjefangen im Club und dit war immer voll und absolut geil, und 2003 ham wir gesacht: machen wir das einfach regelmäßig: Bundesliga, Champions-League und die EM und so ging`s immer weiter und jetzt machen wir`s schon vier Jahre und jetzt sind wir es.
SPRECHER: Sagt Sven-Ole Knuth, einer der Kommentatoren des selbsternannten Fußball-Kompetenzteams. Bisher tingelten die vier Ostberliner durch kleine Klubs und Kneipen. Jetzt - zur WM 2006 – wurde ein großer Sportartikelhersteller [Puma] auf sie aufmerksam und verpflichtete sie als Kommentatoren für sein WM-Hauptquartier im altehrwürdigen Cafe Moskau, dem Gastronomie-Flaggschiff der ehemaligen DDR. Erstmals sind sie hier mit ihrem eigenen Fernsehsender „Sputnik TV“ am Start und liefern neben dem Kommentar Vorberichte, Halbzeitanalysen und Nachberichte. Vorbild ist die alte DDR-Kommentatoren-Schule. Sagt Nachwuchs-Sprecher Waldefried Forkebeck. O-Ton Forkebeck Das Konzept von uns ist ja ne Vermischung von den modernen Aspekten des Sportkommentars mit ner gewissen Tradition, mit dem goldenen Handwerk und wie wir uns alle ja gut zurück erinnern können: Die DDR-Sportreporter und Kommentatoren, die waren natürlich alle exzellent ausgebildet und die hatten schon ne sehr geschliffenen Sprache, wo man sich in unserem Alter und aufgrund der fehlenden Ausbildung ganz schön nach der Decke strecken muss. SPRECHER: Zumindest eines aber unterscheidet die Jungs vom Weltmeisterstudio von ihren real existierenden Vorbildern. Bei ihnen darf auch mal gelacht werden. Ausschnitt Kommentar 40:58 Torsten Frings schreitet zur Seitenlinie. Sein Haarreif muss gerichtet werden. Hat da Probleme. Jetzt kommt jemand aus der Outfitberater-Abteilung, das können Sie nicht sehen, wir schauen da mal über die Pressetribüne hinweg. [15sec] O-Ton Knuth Wir reden deutlich mehr, wir plappern eigentlich ununterbrochen und wir verbinden den Fußballkommentar – wo wir einfach mal 5 Minuten genauso reden wie im Fernsehen: Einfach Name -, kennt man ja - einfach mit, na ja im schlimmsten Falle: Kalauern oder Witzen, also Humor: wir deuten die Sachen einfach um, die wir sehen. Dit, was wir ganz jut machen ist: Wenn man irgendwas sieht: Trainer oder irgendne Aktion auf dem Feld – wenn wir jut druff sind, fällt uns sofort in dieser Sekunde irgendwas ein, was definitiv nicht so ist aber was exrem jut rinpasst in die Situation und dit mögen die Leute, da lachen se drüber. SPRECHER: Dem Publikum jedenfalls scheint`s zu gefallen. Auch an diesem Abend im prallgefüllten Atrium des Cafe Moskau. VOXPOP (Mann 1) Es macht extrem Spaß, es ist auf jeden Fall witziger als das, was man aus dem Fernsehen kennt und die Stimmung ist super und ich find`s einfach super, was die hier machen. // (Frau 2)sehr gut, ich kenn die ja schon von der letzten EM und deshalb sind wir extra hierher gegangen…//(Frau 3) ist lustiger, ja auf jeden Fall lustiger als zu Hause alleine vorm Fernseher. //(Mann 4) Ich komm ja ursprünglich aus Dresden und es für mich ne neue Erfahrung und ich find`s einfach saugeil, weil es ist ne totale Stimmung und die Leute sind sehr sympathisch. Ich bin begeistert, auf jeden Fall.// (Frau 5) super, ganz toll, ist große Klasse. Die Kommentare sind einfach viel witziger, originell und natürlich nicht wirklich ernst. Es ist einfach witzig und trotzdem sind sie professionell, sie ham Ahnung vom Fußball...
SPRECHER: Fachkompetenz, die sich die vier durch jahrelanges exzessives Fußballgucken erworben haben. Im Unterschied – wie zumindest Waldefried Forkebeck meint – zu ihren etablierten Fernsehkollegen. O-Ton Forkebeck Das müsste das Ziel sein, dass endlich mal nicht die so genannten Experten kommentieren wie ein Beckmann, wie ein Kerner, die überhaupt nicht die Zeit haben, sich in diese Materie wirklich zu vertiefen, die stehen ja nicht beim Training am Spielfeldrand und beobachten die Spieler, die schauen sich nicht jeden Tag zwei Fußballspiele an, sondern die müssen in ihren Redaktionen, in ihren Agenturen müssen die irgendwelche Sendungen produzieren mit Mario Adorf und Hildegard Knef über die Entwicklung des Chansons in den 50er Jahren und dann ist natürlich klar: Wenn sie dann so ein Spiel kommentieren und auf einmal springen dann irgendwelche Angolaner da rum, die man noch nie vorher gesehen hat und auch nie wieder sehen wird muss halt der Assistent von der rechten Seite immer schön reinschieben [Stimme oben] SPRECHER: Einen Assistenten gibt es im WM-Studio Mitte nicht. Dafür werden die Spiele jeweils zu zweit kommentiert. Und wenn einem dann doch einmal nichts einfällt, dann wagt man schon mal einen Exkurs. Zum Beispiel in den Bereich der Namensforschung. Ausschnitt Kommentar 13:13 Das dürfte Irenius Jelen sein. Was für Vornamen bei unseren Nachbarn. Er sieht nun wirklich nicht aus wie Irenius. Eher wie Tomas, oder wie Spinew oder wie Jejows. SPRECHER: Apropos Namen: Waldefried Forkebeck. Ein Künstlername als Programm: O-Ton Forkebeck Der Name ist abgekupfert von einem sehr berühmten DDR-Fußball-Kommentator…Ich denke dieser Name ist ein Kulturgut, da ist alles drin: Wald, Fried, Forke und das Feld. Er klingt unhip, unmodern, fast schon altbacken, das ist ja genau die richtige Antwort auf diese ganze Medien- Agenturwelt, auf diese ganze bunte Plastikblase, gegen die wir mit unseren Kommentaren versuchen, ein bisschen anzukämpfen. SPRECHER: Ein Kampf, den die vier auch in den nächsten Jahren weiterführen wollen. Und das, wie sie einhellig beteuern, gänzlich ohne chemische Unterstützung Ausschnitt Kommentar Sie bemerken das Blitzlichtgewitter, da hat sich ein Paparazzo in unsere Kabine geschlichen, sucht hier mit seiner Linse nach den angeblichen Drogen, aber wir sind doch total nüchtern, wir sind Null-Ouvert, anders kann man doch so ein Turnier gar nicht überstehen als Kommentator. Fußballgucken und genießen mit völlig wildfremden Menschen, das funktioniert nicht nur auf den Fanmeilen zwischen München und Hamburg – oder in speziellen Studios wie dem im Cafe Moskau in
Berlin. Auch zahlreiche Kirchen in Deutschland haben ihre Türen geöffnet und bieten öffentliche Spielübertragungen an. Wie hat es doch der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber formuliert: „Fußball ist ein starkes Stück Leben. In zwei Mal 45 Minuten lässt sich mehr an Glück und Angst, an Freude und Scheitern erleben als sonst in ganzen Wochen oder Monaten. Katrin Schlaß berichtet. Take 03 Fußball in der Kirche Kirche und Fußball – das ist kein Widerspruch – das passt. Der Mann, den wir Ihnen jetzt vorstellen wollen, weiß das nur zu gut. Er war Fußball-Weltmeister und hat Millionen verdient. Jetzt setzt er sich für die ein, die von einer ähnlichern Karriere nur träumen können. Folgen sie Ole Schulz nach Rio. Sprecher 1: Wir sind im Norden Rio de Janeiros - weitab vom Zuckerhut und der Copacabana, zu Besuch bei einem ehemaligen Bundesliga-Profi. O-Ton Jorginho ”Also ich bin Jorginho, heute bin ich Trainer, Fußballtrainer, früher habe ich Fußball gespielt, in der Nationalmannschaft und auch in Brasilien in ein paar Mannschaften und in Deutschland - drei Jahre in Leverkusen und dann Bayern München zweieinhalb Jahre bis Ende 94. Nachher bin ich nach Japan, jetzt bin ich Trainer hier. Wir sind jetzt in Guadeloupe, das ist ein Traum für mich, wo ich auch aufgewachsen bin, ein bisschen zu helfen.“
Sprecher 1: In Guadeloupe sieht Rio ganz anders aus als in den Hochglanzprospekten: Es ist staubig und riecht nach Abfall. Hier leben Menschen, die fast nichts haben: weder eine Krankenversicherung noch ein festes Einkommen. Eingerahmt wird Jorginhos Fußballprojekt von einem hässlichen Betonungeheuer - dort ist Jorginho groß geworden: O-Ton Jorginho „Ich wollte unbedingt für die Kinder und Jungen hier eine Möglichkeit für die Zukunft bringen. Und heute haben wir hier, auf Portugiesisch heißt es „Bola pra Frente“, und das ist „Ball nach vorne“. Das ist #Sozialarbeit, wir arbeiten mit Erziehung, beruflicher Ausbildung, Sport, Kultur, Tanz, Musik, Theater und vielen anderen Sachen.“ Sprecher 1: Der bekennende Christ Jorginho, der 1994 mit Brasilien Weltmeister wurde, gründete nach Karriereende im Jahr 2000 gemeinsam mit seinem Ex-Mitspieler Bebeto das Projekt ”Bola pra Frente”. Hier wird zwar auch Fußball gespielt, das ist aber nicht das Wichtigste. Denn Jorginho weiß, dass, nur wenige den Sprung zum Fußballprofi schaffen: O-Ton Jorginho ”Das ist unser Wunsch: Das sie merken, sie können in ihrem Leben gewinnen. Sie können vielleicht nicht Fußballspieler werden, sie können aber ein normaler Arbeiter sein, eine Familie gründen, und nicht zum Beispiel mit Drogen Probleme bekommen. Ich glaube schon, dass es eine Möglichkeit ist, dass sie merken, es ist ein Blick in die Zukunft, es gibt ein Licht am Ende des Tunnels. Es ist schon möglich - wenn du kämpfst, kannst du gewinnen.“ Sprecher 1: Täglich kommen 700 Mädchen und Jungen hierher; um Schreiben zu lernen - oder um bei einem der Sponsoren eine Ausbildung zu machen. Damit übernimmt ”Bola pra Frente” Aufgaben, die laut Jorginho eigentlich vom Staat geleistet werden müssten: O-Ton Jorginho ”Wenn wir nicht mit diesen Kindern arbeiten, wenn sie nicht eine richtige Erziehung bekommen, richtigen Respekt, eine richtige Liebe bekommen, gehen sie auf jeden Fall in die Kriminalität, weil ihr Vorbild ist der Chef, der Drogenchef, weil der Drogenchef Respekt hat. Wenn Du zum Beispiel zuhause kein Essen hast, kauft er für dich im Supermarkt etwas, wie ein Robin Hood.” Sprecher 1: ”Bola pra Frente” erhält weder von der Stadt noch von der Regierung direkte finanzielle Unterstützung. Darum ist das Projekt auf die Gelder von Sponsoren angeweisen. Trotzdem stellt Jorginho dem so viel gescholtenen Regierungschef Lula ein insgesamt gutes Zeugnis aus. Allerdings müsse der Staat endlich mehr in Erziehung und Bildung investieren: Musik
Vom Zuckerhut noch einmal an die Spree und zu einem sozialen Projekt, das gleichfalls mit Fußball zu tun hat. Von der Berliner Theatergruppe RambaZamba soll die Rede sein. Hier spielen geistig Behinderte, überwiegend junge Menschen mit Down-Syndrom. Ihr aktuelles Stück, Bestandteil des WM-Kulturprogramms heißt: „Ein Herz ist kein Fußball“. Jutta Heess war bei den Proben. Atmo Probe 0'00- Anweisungen Regisseurin: „Komm nur, jetzt geht's los, ich bin da, 0'04 nanana!" Atmo und Probe eines ganz besonderen Ensembles vor der Abendvorstellung: Die Sprechertext Schauspieler bereiten sich vor auf eine Aufführung anlässlich der Fußball- Weltmeisterschaft: „Ein Herz ist kein Fußball" heißt das Stück. Die Berliner Theater-Gruppe RambaZamba besteht aus geistig Behinderten, überwiegend aus jungen Menschen mit Down-Syndrom. Seit fünfzehn Jahren betreut Gisela Höhne das Team. Die Regisseurin leitet ihre Schauspieler einfühlsam, geduldig - und hin und wieder mit freundlicher Strenge: Atmo Probe 0'18- Anweisung Regisseurin: „Beim Drehen, Michael, bei dieser Bewegung 0'23 mit den Händen, klatschst du leider nicht." Sprechertext Im aktuellen Theater-Stück ist Fußball zwar Thema - aber der Ball spielt keine wichtige Rolle. Denn kurz vor dem Anpfiff ist er verschwunden. O-Ton Höhne Was geschieht, wenn der Ball weg ist, das habe ich absichtlich so offen OT1, 0'34-0'50 gelassen, was geschieht, wenn ein Lebenszentrum weg ist, auf das wir alle hinleben, was geschieht, wenn ein gewohntes Muster verschwindet. Wie geht man damit um, neugierig auf Lösungen unserer Schauspieler. Sprechertext Gemeinsam mit ihren Schauspielern hat Gisela Höhne das Bühnenspiel erdacht und entwickelt. Alle Ensemblemitglieder tragen ihren Teil dazu bei, mit eigenen Ideen, eigenen Ausdrucksformen. Improvisation und ein assoziativer Umgang mit Fußball prägen die Theaterarbeit und somit auch die Aufführung. O-Ton Höhne Das Besondere besteht eigentlich darin, dass die Improvisation - wir 0'01-0'58 Normalen haben immer noch unseren Kopf dazwischen - aber unsere Schauspieler improvisieren nicht über den Kopf, sondern man kann ein Wort, einen Begriff oder eine Situation nehmen, und sagt dann, was könntest du damit machen. Und sie denken keine Sekunde darüber nach, was richtig wäre, was normal wäre, was zu erwarten wäre, sondern sie spielen damit, [...] Und dann geht das plötzlich los. Sehr oft ist das dicht an ihren eigenen Befindlichkeiten, an ihrer eigenen Not an ihren Sehnsüchten und Wünschen.
Sprechertext Die Probe neigt sich dem Ende zu, die Schauspieler schlüpfen nach und nach in ihre Kostüme, einige Songs werden noch einmal geübt und kleine Korrekturen an Tänzen vorgenommen. Bei der Aufführung im Berliner Kesselhaus sollen die einstudierten Bewegungen und Gesten sitzen. Song 0'37-0'55 Fußball, Fußball Sprechertext mit Fußball als Tanz, als Spiel ohne Ball - RambaZamba greift sich Song Fußballbegriffe und Fußballposen und interpretiert sie auf eine ganz eigene, ausdrucksstarke Art. Mitten im WM-Fieber ist „Ein Herz ist kein Fußball" mit seinem fantastischen und humorvollen Blick auf das Rasenspiel ein tiefsinniges Gegen-Stück. Und ein Beweis für das Können behinderter Schauspieler: O-Ton Höhne, Ich denke auch persönlich, dass die Kunst gerade für diese Menschen das 2'08/2'52-3'00 eigentlich Gebiet ist, wo sie ihre mindestens Gleichwertigkeit, wenn nicht manchmal sogar Überlegenheit zeigen können. [...] Eine sehr, sehr große Selbstbewusstheit ist da, sie kennen ihren Wert, ihr Wert ist so angehoben. Sprechertext Den Wert des Menschen mit Hilfe des Fußballs zu zeigen - RambaZamba gelingt dieses Kunststück auf wunderbare Weise. Trommelwirbel und Applaus Ein Herz ist kein Fußball – das aktuelle Stück von RambaZamba läuft über den Finaltag am 9.Juli hinaus. Vorstellungen gibt es z.B. vom 1. bis 4.August im Berliner Kesselhaus. Wahrscheinlich wird dann schon niemand mehr wissen, wer Goleo und Pille waren. Der Plüschlöwe und der sprechende Ball gaben bisher jedenfalls als WM-Maskottchen eine traurige Figur ab. Wir wollen deswegen zum Abschluss dieses Nachspielmagazins noch einmal an sie erinnern. Uli Schäfer übernimmt das.
Immerhin: Nach Informationen des Nachrichtenmagazins sind jetzt doch noch 700 000 Nachbestellungen für den Plüsch-Löwen beim fränkischen Hersteller eingegangen. Über den Berg ist das insolvente Unternehmen damit noch nicht. Auch am kommenden Wochenende regiert hier im Nachspiel König Fußball. Dann schauen wir allerdings schon mal nach Südafrika, dort findet die WM in vier Jahren statt. Und ganz aktuell noch der Spielstand aus der Achtelfinalpartie England gegen Ecuador: Zur Halbzeit steht es Ein spannend Abend noch wünscht Jörg Degenhardt.
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