PLEA BARGAINING Ein Rechtsvergleich - JKU ePUB
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PLEA BARGAINING Eingereicht von Julia Wolfmair Angefertigt am Institut für Ein Rechtsvergleich Strafrechtswissenschaften Beurteiler / Beurteilerin Mag.a Dr.in Lisa Schmollmüller Februar, 2023 Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magistra der Rechtswissenschaften im Diplomstudium Rechtswissenschaften JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT LINZ Altenberger Straße 69 4040 Linz, Österreich www.jku.at
Genderklausel In dieser Diplomarbeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint. 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 2/59
Abkürzungsverzeichnis Abs Absatz aF alte Fassung AnwBl Anwaltsblatt Art Artikel bspw beispielsweise B-VG Bundes-Verfassungsgesetz bzw beziehungsweise dh das heißt EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EMRK Europäische Menschenrechtskonvention etc et cetera f folgend ff fortfolgend FRCP Federal Rule of Criminal Procedure HS Halbsatz iHv in Höhe von iSd im Sinne der/des iVm in Verbindung mit JBl Juristische Blätter lit littera OGH Oberster Gerichtshof ÖJZ Österreichische Juristen Zeitung RDG Richter- und Staatsanwaltschaftsdienstgesetz Rz Randziffer RZ Richterzeitung S Seite 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 3/59
sog sogenannt StA Staatsanwaltschaft StGB Strafgesetzbuch StGG Staatsgrundgesetz StPO Strafprozessordnung ua unter anderem vs versus VfGH Verfassungsgerichtshof Vgl Vergleiche WiJ Journal der Wirtschaftsstrafrechtlichen Vereinigung WK Wiener Kommentar Z Ziffer zB zum Beispiel ZfRV Zeitschrift für Europarecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung ZIS Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 4/59
Inhaltsverzeichnis I. Einleitung ............................................................................................................................... 9 II. Überblick amerikanisches Strafverfahren ........................................................................ 11 A. Rechtsquellen und Kompetenzen .................................................................................... 11 B. Behörden und Gerichte im Strafverfahren........................................................................ 11 C. Der Verfahrensablauf im Jury-Trial .................................................................................. 13 1. Was ist ein Trial Case/ Wann liegt einer vor? ........................................................... 13 2. Das Vorverfahren ...................................................................................................... 14 3. Das Trial-Verfahren................................................................................................... 14 a) Anklageeröffnungsverfahren (arraignment) ....................................................................................15 b) Prozessuale Anträge vor dem eigentlichen Gerichtsverfahren .......................................................15 c) Juryverzicht .....................................................................................................................................15 d) Auswahl und Inpflichtnahme der Jury .............................................................................................15 e) Eröffnungserklärungen der Parteien ...............................................................................................16 f) Beweisverfahren .............................................................................................................................16 g) Schlusserklärungen der Parteien ....................................................................................................17 h) Instruktion der Jury..........................................................................................................................17 i) Spruch der Jury (verdict) .................................................................................................................17 j) Aufhebung des Schuldspruchs durch das Gericht /Retrial..............................................................18 k) Verurteilung (sentencing) ................................................................................................................18 III. Prozessabsprachen in Amerika / Plea Bargaining .......................................................... 19 A. Allgemeines ...................................................................................................................... 19 B. Definition .......................................................................................................................... 20 C. Verhandlungsstruktur ....................................................................................................... 21 D. Wann kann es zu einem Plea Bargaining kommen?........................................................ 21 1. Interesse des Anklägers am Bargaining ................................................................... 21 2. Interesse des Verteidigers am Bargaining ................................................................ 22 3. Interesse des Richters am Bargaining ...................................................................... 22 4. Interesse des Angeklagten am Bargaining ............................................................... 23 E. Inhalt des Bargaining........................................................................................................ 23 F. Wie wird verhandelt? ........................................................................................................ 24 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 5/59
1. Verhandlungen in Ankläger-Verteidiger-Beziehung .................................................. 24 2. Verhandlung in Verteidiger-Angeklagten-Beziehung ................................................ 25 G. Aufgabe des Richters beim Plea Bargaining .................................................................... 26 1. Verhandlungen in Richter-Ankläger-Beziehung ........................................................ 26 2. Annahme des Guilty Plea ......................................................................................... 27 H. Erscheinungsformen ........................................................................................................ 28 1. Sentence Bargaining................................................................................................. 28 a) Allgemeines.....................................................................................................................................28 b) Beispiele..........................................................................................................................................28 2. Charge Bargaining .................................................................................................... 29 a) Allgemeines.....................................................................................................................................29 b) Beispiele..........................................................................................................................................29 3. Count Bargaining ...................................................................................................... 30 a) Allgemeines.....................................................................................................................................30 b) Beispiele..........................................................................................................................................30 4. Fact Bargaining ......................................................................................................... 30 5. Judge Shopping ........................................................................................................ 31 IV. Kritik und Rechtfertigung ................................................................................................... 32 A. Kritik ................................................................................................................................. 32 1. Risiko für Fehlurteile ................................................................................................. 33 2. Rechtsverzicht .......................................................................................................... 35 B. Rechtfertigung .................................................................................................................. 35 V. Rechtsvergleich mit den Absprachen in Österreich ....................................................... 37 A. Allgemeines über Absprachen in Österreich .................................................................... 37 1. Zulässigkeit von Absprachen in Österreich............................................................... 37 2. Begriff der Absprache in Österreich .......................................................................... 37 3. Erscheinungsformen ................................................................................................. 38 4. Beteiligte ................................................................................................................... 39 5. Konsequenzen bei unzulässigen Absprachen .......................................................... 39 6. Versuch der Rechtfertigung von Absprachen ........................................................... 39 B. Wesentliche Unterschiede zum Plea Bargaining ............................................................. 40 C. Plea Bargaining und die österreichischen Verfahrensgrundsätze.................................... 41 1. Grundsatz der materiellen Wahrheit § 3 StPO.......................................................... 41 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 6/59
a) Absprachen in Österreich im Lichte des § 3 StPO ..........................................................................42 b) Amerikanische Absprachen im Lichte des § 3 StPO.......................................................................43 2. Legalitätsprinzip ........................................................................................................ 43 a) Verfassungsrechtlich normiertes Legalitätsprinzip ..........................................................................43 b) Strafprozessuales Legalitätsprinzip ................................................................................................43 c) Absprachen in Österreich im Lichte des verfassungsrechtlich normierten und strafprozessualen Legalitätsprinzips ...............................................................................................44 d) Amerikanische Absprachen im Lichte des verfassungsrechtlich normierten und strafprozessualen Legalitätsprinzips ...............................................................................................45 3. Grundsatz des rechtlichen Gehörs ........................................................................... 45 a) Absprachen in Österreich im Lichte des rechtlichen Gehörs ..........................................................45 b) Amerikanische Absprachen im Lichte des rechtlichen Gehörs .......................................................46 4. Recht auf Verteidigung ............................................................................................. 46 a) Absprachen in Österreich im Lichte des § 7 Abs 1 StPO................................................................46 b) Amerikanische Absprachen im Lichte des § 7 Abs 1 StPO ............................................................46 5. Nemo-tenetur-Grundsatz .......................................................................................... 47 a) Absprachen in Österreich im Lichte des nemo-tenetur-Grundsatzes .............................................47 b) Amerikanische Absprachen im Lichte des nemo-tenetur-Grundsatzes ..........................................48 6. Unschuldsvermutung ................................................................................................ 48 a) Absprachen in Österreich im Lichte der Unschuldsvermutung .......................................................48 b) Amerikanische Absprachen im Lichte der Unschuldsvermutung ....................................................49 7. Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und die Laiengerichtsbarkeit .................................................................................................. 49 a) Absprachen in Österreich im Lichte des gesetzlichen Richters ......................................................49 b) Amerikanische Absprachen im Lichte des gesetzlichen Richters ...................................................50 8. Öffentlichkeit und Mündlichkeit ................................................................................. 50 a) Absprachen in Österreich im Lichte des § 12 StPO ........................................................................51 b) Amerikanische Absprachen im Lichte des § 12 StPO.....................................................................51 9. Unmittelbarkeitsgrundsatz ........................................................................................ 51 a) Absprachen in Österreich im Lichte des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ...........................................52 b) Amerikanische Absprachen im Lichte des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ........................................52 10. Freie Beweiswürdigung und der Zweifelsgrundsatz ................................................. 53 a) Absprachen in Österreich im Lichte der freien Beweiswürdigung sowie des Zweifelsgrundsatzes .......................................................................................................................54 b) Amerikanische Absprachen im Lichte der freien Beweiswürdigung sowie des Zweifelsgrundsatzes .......................................................................................................................54 11. Gleichheitsgrundsatz ................................................................................................ 54 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 7/59
a) Absprachen in Österreich im Lichte des Gleichheitsgrundsatzes ...................................................54 b) Amerikanische Absprachen im Lichte des Gleichheitsgrundsatzes ................................................55 VI. Conclusio ............................................................................................................................. 56 Literaturverzeichnis ................................................................................................................... 57 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 8/59
I. Einleitung Während in Österreich Prozessabsprachen die Ausnahme von der Regel sind, werden diese international sehr häufig praktiziert. Dies bedeutet aber nicht, dass Absprachen in Österreich nicht stattfinden. Vielmehr hat sie der OGH in einem obiter dictum für unzulässig erklärt. Grund dafür ist, dass Absprachen die österreichischen Prozessgrundsätze aushöhlen, zumal sie mit den meisten Verfahrensgrundsätzen unvereinbar sind.1 Einen schönen Kontrast zu der österreichischen Absprachenpraxis bildet die amerikanische Praxis, denn das sog plea bargaining ist ein wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil des amerikanischen Strafverfahrens. Etwa 90 – 95% der Strafverfolgungen in Amerika enden nicht mit einem ordentlichen Verfahren, sondern mit einem sog guilty plea,2 also einer Erklärung des Angeklagten, in der er sich schuldig im Sinne der Anklage bekennt. Diese guilty pleas resultieren aber nicht aus einer erhöhten Geständniswilligkeit der Angeklagten, vielmehr sind sie das Ergebnis der in Amerika üblichen (außergerichtlichen) Verhandlungen zwischen dem öffentlichen Ankläger und dem Angeklagten (sog plea bargaining). Kommt es in Folge eines plea bargaining zur Abgabe eines guilty pleas, erhält der Ankläger ein für ihn günstiges Schuldeingeständnis des Angeklagten und der Angeklagte bekommt im Gegenzug dafür Zugeständnisse in verschiedenster Art (Win-Win-Situation).3 Das plea bargaining stellt in den USA zwar die gängige Verfahrenspraxis dar, die Zulässigkeit derartiger Absprachen ist aber dennoch umstritten. Um einen Vorgeschmack auf die häufigsten Kritikpunkte zu geben, ist die Missbrauchsanfälligkeit der Absprachenverhandlung, die in der Regel zwischen Ankläger und Verteidiger des Angeklagten stattfindet, der umfassende Rechtsverzicht durch den Angeklagten und das hohe Fehlurteilrisiko zu nennen. Fragen um ein generelles Verbot des plea bargaining oder bloß einschränkende Bedingungen stehen daher in dauernder Diskussion.4 Der wesentliche Vorteil des plea bargaining ist, dass das in Amerika sehr aufwendige Strafverfahren mit Geschworenen verkürzt wird bzw gar nicht erst stattfindet und damit Ressourcen eingespart werden können, was wiederum zur Folge hat, dass die enorme Anzahl an Strafsachen überhaupt erledigt werden kann. Meine Diplomarbeit soll zunächst einen groben Überblick über die Struktur und den Gang eines amerikanischen Strafverfahrens verschaffen. In der Folge wird das plea bargaining aufgrund der besonderen Bedeutung im amerikanischen Strafverfahren im Detail erörtert und die verschiedenen Ausformungen anhand von realen Beispielen plastisch dargestellt. Weiters werden die Hauptkritikpunkte und die Gründe anhand welcher das plea bargaining gerechtfertigt wird einander gegenübergestellt. 1 OGH 24.08.2004, 11 Os 77/04. 2 Velten in Fuchs/Ratz, WK StPO Nach § 1 Rz 86. 3 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten: Eine Einführung2 (1993), 59. 4 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 59. 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 9/59
Im Anschluss werde ich die in Österreich existierende Absprachenpraxis, deren Zulässigkeit, die gängigen Erscheinungsformen sowie die wesentlichen Unterschiede zum amerikanischen plea bargaining erläutern. Zumal sich die Kritik in Österreich primär auf die Unvereinbarkeit der Absprachen mit den österreichischen Verfahrensgrundsätzen bezieht, sollen diese im Einzelnen kurz und knapp erklärt und deren Verletzung durch die in Österreich stattfindenden Absprachen aufgezeigt werden. Da das amerikanische System die meisten der österreichischen Prozessgrundsätze nicht kennt und das amerikanische plea bargaining oftmals als Vorbild für das österreichische Strafverfahren betrachtet wird, soll weiters auch auf die Vereinbarkeit der Verfahrensgrundsätze mit einem amerikanischen (Absprachen)System eingegangen werden. Am Ende meiner Diplomarbeit werde ich versuchen, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob und inwiefern ein amerikanisches System eines plea bargaining in Österreich implementierbar wäre. 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 10/59
II. Überblick amerikanisches Strafverfahren Im Vergleich mit dem österreichischen Strafverfahren erkennt man, dass der amerikanische Strafprozess einige Besonderheiten aufweist, die in Österreich nicht denkbar wären. Zum einen handelt sich um einen Parteiprozess (adversatorisches Verfahren), was bedeutet, dass den Parteien, also Ankläger, Verteidiger und Angeklagtem die Durchführung einer Verhandlung sowie die Beweisführung obliegt.5 Der Ankläger ist zwar zur objektiven Wahrheitserforschung verpflichtet, ihm geht es aber vor allem darum, eine Verurteilung des Angeklagten zu erzielen. Der Richter hat in einer Hauptverhandlung darauf zu achten, dass sich die Prozessbeteiligten an die Regeln halten, ihm kann daher lediglich die Funktion eines Schiedsrichters beigemessen werden. Zudem ist die Verfahrensbeendigung mittels einem plea of guilty nahezu gang und gäbe.6 In diesem Kapitel geht es darum, einen Überblick über die Besonderheiten sowie den Gang eines Strafverfahrens in den USA zu verschaffen. A. Rechtsquellen und Kompetenzen Die im Jahr 1787 in Philadelphia errichtete Bundesverfassung ist auch heute noch, ergänzt durch Verfassungszusätze (Amendments), in Kraft und enthält wesentliche Bestimmungen für das Strafverfahren auf Bundesebene. Die sogenannte Bill of Rights, die 1791 eingefügt wurde (Amendments I-X), legt die grundlegenden Freiheitsrechte der Bürger fest und stellt die bedeutendste Erweiterung der Verfassung dar.7 Jeder Bundesstaat hat zudem eine eigene Verfassung mit einer für das einzelstaatliche Strafverfahren relevanten Bill of Rights, welche jedoch in der Regel die Rechte der Bundesverfassung wiederholen.8 Art III Section 2 der Bundesverfassung sieht vor, dass die Strafsachen im Zusammenhang mit dem Bundesrecht, also betreffend die Verfassung, Gesetze der USA etc, der Bundesgerichtsbarkeit obliegen. In den übrigen Angelegenheiten, die in der Regel die Mehrheit bilden (etwa 95% aller Strafsachen), sind die Einzelstaaten zuständig. Es ist daher stets zu differenzieren, ob es sich um eine Angelegenheit auf Bundesebene oder auf Ebene der Einzelstaaten handelt.9 B. Behörden und Gerichte im Strafverfahren Da das Prozessrecht in den meisten Fällen in die Kompetenz der Einzelstaaten fällt, lässt sich ableiten, dass die Organisation und Ausgestaltung der Strafverfolgung in den 50 5 Müller, Probleme um eine gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren, Band 4 (2008), 328; Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA: Eine Untersuchung zur Strafgewalt im föderativen Staat, Band 5 (2010), 171; Velten in Fuchs/Ratz, WK StPO Nach § 1 Rz 86. 6 Herrmann in Jung, Der Strafprozess im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen (1989), 134. 7 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 20. 8 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 23. 9 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 20; Kodek, Erfahrungen bei der StA New York, RZ 1991, 130. 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 11/59
Bundesstaaten sehr unterschiedlich erfolgt. Aus diesem Grund kann hier nur ein grober Überblick über die Behördenstruktur im Strafverfahren gegeben werden.10 Wie auch im kontinentaleuropäischen Raum, braucht es für die Einleitung eines Strafverfahrens in den USA, Ermittlungen durch die Polizei. Diese muss einen Verdächtigen ermitteln und dessen Spuren sicherstellen. Die Polizei sammelt die Grundlagen für das gerichtliche Verfahren. Üblicherweise wird das Strafverfahren mit der Verhaftung des Verdächtigen durch die Polizei eröffnet, sie spielt daher bei den Zwangsmaßnahmen (arrest, search and seizure) eine bedeutsame Rolle.11 Das amerikanische Strafverfahren ist ein Anklageprozess. Im Bereich der Bundesgerichtsbarkeit üben, die vom Präsidenten ernannten, U.S. Attorneys die Anklagefunktion in ihren Gerichtsbezirken aus.12 In den Verfahren, die der einzelstaatlichen Gerichtsbarkeit unterliegen, ist der Ankläger in den meisten Staaten der auf Bezirksebene tätige und in politischer Wahl gewählte Bezirksanwalt (district attorney). Zudem verfügt jeder Bundesstaat über einen Generalstaatsanwalt, der die Spitze der Anklagebehörde bildet. Seine Funktion ist mit einem Justizminister vergleichbar.13 Die Aufgabe des Anklägers im Strafverfahren ist es, die Schuld des Angeklagten über jeden vernünftigen Zweifel hinaus (beyond any reasonable doubt) zu beweisen und damit in möglichst vielen Fällen eine Verurteilung zu erreichen. Der Ankläger hat einen großen Ermessensspielraum (prosecutorial discretion) was die Anklageerhebung betrifft. Erfährt der Ankläger von einer Straftat, ist er in seiner Entscheidung frei, ob er Anklage erhebt oder den Fall einstellt. Grund für dieses weite Ermessen ist das fehlende Legalitätsprinzip im amerikanischen Recht. Eine Anklage soll jedoch nur erhoben werden, wenn sie auch im öffentlichen Interesse liegt, was ua einen hinreichenden Tatverdacht erfordert. Zudem darf die Anklageerhebung nicht in diskriminierender Weise erfolgen. Das Ermessen des Anklägers ist gesetzlich nicht geregelt, es fehlen daher auch Möglichkeiten eine Anklage erzwingen zu können. Manche Staaten sehen allerdings vor, dass die sog grand jury auch ohne Ankläger eine Anklage formulieren kann, aber dazu später mehr.14 Dem Gerichtsverfahren ist ein sog Vorprüfungsverfahren vorgelagert. Das Vorprüfungsverfahren schützt die Gerichte vor Überlastung und soll verhindern, dass Personen aufgrund unberechtigter Anklagen vor Gericht landen. Die Behörden in diesem Verfahren sind der Magistrat und die grand jury. Magistrate sind neutrale Justizpersonen, die von den Strafverfolgungsbehörden und Verwaltungsbehörden unabhängig sind. Die grand jury ist eine Mischung aus Untersuchungs-, Anklage- und Gerichtsbehörde, welche in der Regel aus 12 bis 23 Mitglieder besteht.15 10 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 35. 11 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 38; Kodek, Erfahrungen bei der StA New York, RZ 1991, 130. 12 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 39 f; Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA, 172. 13 Herrmann in Jung, Der Strafprozess im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, 136; Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 39 f. 14 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 40 ff; Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit: Funktionsprobleme der Strafjustiz und ihre Lösungen – am Beispiel des amerikanischen plea bargaining (1977), 96; Herrmann in Jung, Der Strafprozess im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, 138; Reinbacher, Das Strafrechtssystem der USA, 172. 15 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 42 f. 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 12/59
Auf Bundesebene gibt es für das Gerichtsverfahren in jedem der 50 Bundesstaaten mindestens ein Bundesbezirksgericht (U.S. District Court), wo in der Regel ein Einzelrichter entscheidet. Eine Geschworenenbank (jury) ist nur bei einem sog trial case beizuziehen, der Angeklagte hat aber das Recht, auf die Beiziehung der jury zu verzichten. Rechtsmittel gegen Urteile der Bundesbezirksgerichte gehen an die sog Bundesappellationsgerichte (U.S. Courts of Appeals). Der oberste Gerichtshof (Supreme Court), welcher über Berufungen in Bundessachen und in beschränktem Maße auch über die Verfassungsmäßigkeit von einzelstaatlichen Urteilen entscheidet, bildet die Spitze der amerikanischen (Bundes)Justiz.16 Das Gerichtssystem auf einzelstaatlicher Ebene ist etwas komplizierter. Lower courts bilden mit lokalen Richtern und Gerichten die unterste Schicht der Gerichtshierarchie. Einzelrichter entscheiden hier über bloß geringfügige Delikte (misdemeanors). Superior courts entscheiden auf Bezirksebene über schwerere Delikte (ua trial cases mit jury) und über Berufungen gegen Entscheidungen der lower courts. Urteile der superior courts können bei, in allen Bundesstaaten vorhandenen, Appellationsgerichten bekämpft werden.17 C. Der Verfahrensablauf im Jury-Trial Auch was den Verfahrensablauf angeht, ist es schwer diesen genau zu skizzieren, zumal die Bundesstaaten unterschiedliche Regeln für unterschiedliche Verfahren vorsehen. Das häufigste und in den USA wichtigste Verfahren ist das jury trial, weswegen im Folgenden die grobe Struktur eines solchen trials erläutert werden soll. 1. Was ist ein Trial Case/ Wann liegt einer vor? Art III Abs 3 der Verfassung der Vereinigten Staaten 1787 sieht vor, dass alle Verbrechen (...) von Geschworenengerichten zu entscheiden sind. Der 6. Verfassungszusatz verleiht dem Angeklagten in allen Strafsachen das Recht auf einen Prozess vor einem unparteiischen Geschworenengericht des Tatortstaates/-bezirkes. Jedoch sind entgegen der Verfassung, nicht alle Straftaten trial cases, welche die Beiziehung einer jury erfordern. Geschworene werden vielmehr nur bei schweren Delikten (sog serious offenses) beigezogen, geringfügige Delikte (petty offenses) werden ohne jury entschieden.18 Wann ein Geschworenengericht zuständig ist, beurteilt sich nach der für das Delikt angedrohten Strafe, wobei grundsätzlich auf Bundesebene eine Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten ausreichend ist. Liegen die Voraussetzungen für die Beiziehung einer jury vor, hat der Angeklagte aber das Recht auf das jury-trial zu 16 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 46; Kodek, Erfahrungen bei der StA New York, RZ 1991, 130. 17 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 47 f; Kodek, Erfahrungen bei der StA New York, RZ 1991, 130. 18 Rosenkranz, Die Jury im US-amerikanischen Prozessrecht, ZfRV 2012, 85; Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 50 f. 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 13/59
verzichten.19 Die jury-Garantie gilt grundsätzlich auch in einzelstaatlichen Verfahren, die erforderliche Schwere der Tat ist allerdings unterschiedlich ausgestaltet.20 2. Das Vorverfahren Voraussetzung für die Durchführung eines Hauptverfahrens vor Gericht ist, dass die Strafsache im Vorprüfungsverfahren überprüft wurde. Der Ankläger kann daher nicht sofort Anklage bei Gericht erheben. In der Regel gelangt eine Strafsache zuerst an den Magistrat. Das Verfahren kann direkt durch eine Strafanzeige aber auch, wie in den meisten Fällen, durch Verhaftung einer verdächtigen Person eingeleitet werden.21 Der Magistrat entscheidet über die Entlassung des Beschuldigten gegen Kaution bzw über die Verhängung der Untersuchungshaft. Der Beschuldigte kann, außer bei minderwichtigen Delikten, eine Voruntersuchung (preliminary hearing) verlangen, wobei der Magistrat den Beschuldigten und mögliche Zeugen verhört und dabei feststellt, ob ein ausreichender Tatverdacht (probable cause) vorliegt, der einen Prozess rechtfertigt. Liegt ein probable cause vor, überweist der Magistrat den Fall mittels Überweisungsbeschluss zu Gericht, ansonsten wird die Strafklage der Polizei abgewiesen.22 Weiters ist nach bzw neben der Vorprüfung durch den Magistraten eine Vorprüfung durch die grand jury möglich. Das grand-jury-Verfahren soll den Beschuldigten vor unberechtigten Anklagen schützen und einer Überlastung der Gerichte vorbeugen, indem die Tatsachenbasis der Anklageschrift überprüft wird. Zwingend vorgesehen ist diese Vorprüfung auf Bundesebene bei Delikten, die mit der Todesstrafe bedroht sind (sog capital crimes). In den Bundesstaaten gibt es unterschiedliche Voraussetzungen, wann ein Anspruch auf eine Prüfung durch die grand jury besteht. Nur etwa die Hälfte aller Bundesstaaten sieht eine Einrichtung wie die grand jury vor. Die Institution der grand jury wurde stark zurückgedrängt, da ein Überweisungsbeschluss ihrerseits in den meisten Staaten keine Voraussetzung mehr für eine Anklageerhebung durch den öffentlichen Ankläger ist. Für einen solchen Überweisungbeschluss zum Gericht bedarf es der Stimmen von mindestens 12 Geschworenen. Findet keine Vorprüfung durch die grand jury statt, verfasst der Ankläger eine Anklageschrift, wodurch der Fall ebenso vor Gericht gelangt.23 3. Das Trial-Verfahren Im Anschluss an das Vorprüfungsverfahren geht die Strafsache an das zuständige Gericht. Das Gerichtsverfahren umfasst folgende Stadien:24 19 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 50 f. 20 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 52. 21 Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit, 86. 22 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 53 f. 23 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 54 ff; Rosenkranz, Die Jury im US- amerikanischen Prozessrecht, ZfRV 2012, 85. 24 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 57. 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 14/59
a) Anklageeröffnungsverfahren (arraignment) Nach Einlangen eines Überweisungsbeschlusses oder einer Anklage bei Gericht kommt es zum Anklageeröffnungsverfahren. Der Angeklagte wird erstmals vor Gericht über den Gegenstand der Anklage, seine Rechte und Möglichkeiten informiert.25 Der Angeklagte darf dazu, in Form sog pleas, persönlich und freiwillig Stellung nehmen. Er kann sich dabei als nicht schuldig (plea of not guilty) bekennen, was zu einem trial führt, in welchem über die Schuldfrage entschieden wird. Auch ein Schuldbekenntnis, mit der Folge eines sofortigen Schuldspruchs ist möglich (plea of guilty). Die dritte Möglichkeit ist die Erklärung „kein Bestreiten“ („nolo contendere“), welche ebenfalls in der Regel zu einem sofortigen Schuldspruch führt. Für ein nolo contendere ist im Vorhinein aber grundsätzlich die Zustimmung des Gerichts einzuholen.26 b) Prozessuale Anträge vor dem eigentlichen Gerichtsverfahren Der Richter hat die Möglichkeit aufgrund eines Antrags einer Partei, vor Beginn des trials, also noch im Vorstadium, den Überweisungsbeschluss bzw die Anklage zurückzuweisen. Nicht nur die Verteidigung, sondern auch der Ankläger kann einen solchen Antrag erheben, wenn er die Beweislage für unzureichend erachtet.27 c) Juryverzicht Die Möglichkeit eines Juryverzichtes gibt es sowohl auf Bundesebene als auch auf Ebene der Einzelstaaten. Auf Bundesebene ist ein Verzicht nur mit Zustimmung von Gericht und Ankläger, schriftlich durch den Angeklagten zulässig. Die Einzelstaaten legen die Möglichkeiten eines Verzichts auf die jury unterschiedlich fest. In manchen Staaten kann immer verzichtet werden, in anderen ist ein Verzicht nur bei den capital crimes ausgeschlossen. Konnte der Angeklagte wirksam auf die jury verzichten, wird das Verfahren von einem Einzelrichter geführt, der allein über die Schuldfrage entscheidet.28 d) Auswahl und Inpflichtnahme der Jury Die jury besteht in der Regel aus zwölf Laien, wobei seit 1970 im Bundesstrafverfahren auch Geschworenenbanken mit mindestens sechs Geschworenen zulässig sind.29 Die Geschworenen werden aus der Liste der Geschworenen des jeweiligen Gerichtsbezirkes per Los ermittelt. Die so bestimmten Geschworenen werden hinsichtlich ihrer Eignung vom zuständigen Richter und den Parteien überprüft, wobei es darum geht im Ergebnis eine unparteiische und unbeeinflusste jury zu bekommen (sog voir-dire-Verfahren). Einzelne Geschworene können dabei von ihrem Amt befreit, aber auch von den Parteien (grundlos) abgelehnt werden.30 Konnte nach dem voir-dire-Verfahren eine jury gebildet 25 Kodek, Erfahrungen bei der StA New York, RZ 1991, 130. 26 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 58; Müller, Probleme um eine gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren, 334; Ransiek, Zur Urteilsabsprache im Strafprozess: ein amerikanischer Fall, ZIS 3/2008,117; Miller/Wright/Turner/Levine, Criminal Procedures: Cases, Statutes and Executive Materials6 (2019), 987. 27 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 61. 28 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 65; Herrmann in Jung, Der Strafprozess im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, 146. 29 Rosenkranz, Die Jury im US-amerikanischen Prozessrecht, ZfRV 2012, 85. 30 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 66 f; Rosenkranz, Die Jury im US- amerikanischen Prozessrecht, ZfRV 2012, 86. 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 15/59
werden, werden die Geschworenen vom Gericht vereidigt und über ihre Tätigkeit als Geschworene, nämlich das Fällen eines Urteils (verdict), aufgeklärt.31 e) Eröffnungserklärungen der Parteien Das eigentliche trial beginnt mit dem Eröffnungsplädoyer des Anklägers32, wobei er den Sachverhalt schildert und einen Überblick über die Beweise gibt, mit denen er die Schuld des Angeklagten belegen will. Im Anschluss kann der Verteidiger darlegen, weshalb die Beweise des Anklägers aus seiner Sicht nicht für einen Schuldspruch ausreichen und welche Gegenbeweise er vorbringen wird. Aus taktischen Gründen wird sich der Verteidiger beim Eröffnungsplädoyer wohl aber meist zurückhalten.33 Hier ist noch kurz zu erwähnen, dass es in Amerika keine Fälle einer notwendigen Verteidigung gibt. Auch bei schwersten Verbrechen hat der Angeklagte daher die Möglichkeit, auf Beiziehung eines Verteidigers zu verzichten, vorausgesetzt er kennt die Folgen eines solchen Verzichts. In diesem Fall muss sich der Angeklagte selbst verteidigen, was für einen juristischen Laien nahezu unmöglich ist.34 f) Beweisverfahren Im Anschluss an die Eröffnungsplädoyers folgt das Beweisverfahren. Der Ankläger beginnt mit der Präsentation der Belastungsbeweise. Ein Unterschied zu den kontinentaleuropäischen Verfahren ist, dass in den USA Belastungszeugen primär vom Ankläger und nicht vom Richter befragt werden. Der Richter ist zwar zur Befragung befugt, nimmt aber nur selten von dieser Befugnis Gebrauch, was auf den Grundsatz des Parteiprozesses zurückzuführen ist.35 Nach Vorlage der Belastungsbeweise hat die Verteidigung die Möglichkeit das Gericht im Zuge eines Kreuzverhörs davon zu überzeugen, dass die Beweise gegen den Angeklagten nicht haltbar sind. Ein Kreuzverhör findet unmittelbar nach der Haupteinvernahme eines Zeugen statt. Anschließend an das Kreuzverhör kann der Belastungszeuge wieder durch den Ankläger befragt werden, worauf wiederum ein Kreuzverhör folgen kann usw.36 Der Verteidiger hat in diesem Verfahrensstadium weiters die Möglichkeit, die Abweisung der Anklage zu beantragen. Gibt das Gericht dem Antrag statt oder ist es selbst der Überzeugung, dass die Beweislage des Anklägers unzureichend ist, folgt ein Freispruch.37 Wird der Antrag auf Abweisung der Anklage hingegen abgelehnt38 und ist der Ankläger mit der Darstellung seiner Sachverhaltshypothese fertig, ist die Verteidigung mit der Präsentation ihrer Entlastungsbeweise am Zug, worunter auch die eventuelle Aussage des Angeklagten fällt.39 Die Entlastungszeugen werden zunächst in einem Hauptverhör 31 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 69; Rosenkranz, Die Jury im US- amerikanischen Prozessrecht, ZfRV 2012, 86. 32 Herrmann in Jung, Der Strafprozess im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, 157. 33 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 69 f. 34 Herrmann in Jung, Der Strafprozess im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, 144. 35 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 70. 36 Herrmann in Jung, Der Strafprozess im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, 152. 37 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 73. 38 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 74. 39 Herrmann in Jung, Der Strafprozess im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, 158. 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 16/59
durch den Verteidiger und anschließend in einem Kreuzverhör durch den Ankläger befragt. Das Kreuzverhör dient demnach immer der Erschütterung von Hypothese bzw Gegenhypothese.40 g) Schlusserklärungen der Parteien Nach dem Beweisverfahren folgen die von Anklage und Verteidigung an die Geschworenen gerichteten Schlussplädoyers, in denen sie darlegen, weshalb sie von der Schuld bzw Unschuld des Angeklagten überzeugt sind. Auf Bundesebene hat der Ankläger das erste Wort, ihm folgt der Verteidiger mit seinem Plädoyer, danach kommt wieder der Ankläger zu Wort. Auf einzelstaatlicher Ebene herrscht hinsichtlich der Reihenfolge der Schlusserklärungen jedoch Uneinheitlichkeit.41 h) Instruktion der Jury Die jury entscheidet in der Regel allein über die Schuldfrage. Dafür muss das Gericht den Geschworenen die erforderlichen Instruktionen erteilen. In vielen Staaten darf sich der Richter bei diesen Instruktionen nur auf Rechtsfragen, nicht aber auf die Beweislage und die Tatfrage beziehen. Dem Richter ist es allerdings gestattet, die Beweise zusammenzufassen und zu kommentieren. Jedoch muss er dabei sicherstellen, dass die jury nicht an seine Ausführungen gebunden ist. Die Beschränkungen hinsichtlich der Instruktionen haben zum Ziel, eine richterliche Beeinflussung der jury zu verhindern.42 i) Spruch der Jury (verdict) Nach den Instruktionen folgt die geheime Beratung der jury. Wie auch im österreichischen Prozessrecht vorgesehen, gibt es die Möglichkeit weitere Instruktionen vom Gericht zu verlangen, wenn es bei der Beratung Unklarheiten gibt.43 Grundsätzlich wird für einen Schuldspruch bzw Freispruch Einstimmigkeit der jury verlangt. Die Einzelstaaten begnügen sich jedoch häufig mit einer bloßen Mehrheit.44 Weitere Voraussetzung für einen Schuldspruch ist, dass die jury in den präsentierten Beweisen Elemente der vermeintlich begangenen Straftat wiederfindet. Die jury kann den Angeklagten wegen des angeklagten Delikts freisprechen oder einen Schuldspruch fällen. Befinden die Geschworenen den Angeklagten für schuldig, unterscheidet man den Schuldspruch iSd Anklage (guilty on all charges), den teilweisen Schuldspruch iSd Anklage (guilty on some of the charges) oder den Schuldspruch wegen eines minderschweren Deliktes (guilty of a lesser offense). In Fällen, in denen dem Angeklagten die Fähigkeit fehlt, das Unrecht seiner Tat einsehen zu können, kann ihn die jury unschuldig wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit (not guilty by reason of insanity) erklären. Der Spruch hat stets schriftlich zu erfolgen und muss sich auf das Angeklagte beschränken. 40 Herrmann in Jung, Der Strafprozess im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, 152 f. 41 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 74; Herrmann in Jung, Der Strafprozess im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, 138. 42 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 74 f; Rosenkranz, Die Jury im US- amerikanischen Prozessrecht, ZfRV 2012, 87. 43 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 76 f. 44 Rosenkranz, Die Jury im US-amerikanischen Prozessrecht, ZfRV 2012, 85. 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 17/59
Kommt es trotz bereits begonnenem Verfahren nicht zu einem Spruch der Geschworenen, liegt ein sog mistrial vor. Häufigster Grund für ein mistrial ist die Uneinigkeit der jury, wenn also Einstimmigkeit nicht erzielt werden kann.45 Kommt es zu keinem Spruch der Geschworenen, hat der Ankläger die Möglichkeit, erneut Anklage zu erheben, was zu einem neuen Verfahren mit neuen Geschworenen führt. Er kann den Angeklagten auch gehen lassen. Dies stellt aber keinen Freispruch des Angeklagten dar und eine erneute Strafverfolgung ist damit nicht ausgeschlossen.46 j) Aufhebung des Schuldspruchs durch das Gericht /Retrial Ist der Richter der Auffassung, dass der Schuldspruch der Geschworenen unrichtig ist, hat er verschiedene Möglichkeiten, um einzugreifen. Er kann den Schuldspruch beispielsweise ablehnen, wenn damit seiner Ansicht nach das Recht verletzt werden würde. Folge ist eine erneute Beratung der jury. Fand im Verfahren ein plea bargaining (siehe später) statt und kam es in der Folge zu einem Schuldspruch der jury, so sehen manche Prozessordnungen vor der gerichtlichen Verurteilung (sentencing) die Möglichkeit eines Rückzugs des guilty pleas vor. Der Schuldspruch wird sodann vom Gericht aufgehoben.47 Ähnlich dem österreichischen Verfahrensrecht, sehen manche Prozessordnungen der Bundesstaaten die Anordnung eines new trials bei Hervorkommen neuer Beweismittel nach dem jury verdict bzw nach dem gesamten trial vor (sog retrial). Wird ein neues Verfahren angeordnet, gelangt der Fall vor eine neue jury.48 k) Verurteilung (sentencing) Nach einem Schuldspruch durch die jury gelangt das Verfahren in ein neues Stadium, in welchem sich das Gericht (üblicherweise allein) mit der zu verhängenden Strafe beschäftigt.49 Da sich bis zu diesem Zeitpunkt das Verfahren nur mit der Schuld bzw Unschuld des Angeklagten befasst hat, kommt es vor der Verurteilung durch das Gericht erneut zu einer Befragung des Angeklagten (sentence hearing). Wie diese Befragung im Genauen ausgestaltet ist, ist in den Bundesstaaten unterschiedlich geregelt.50 45 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 76 f. 46 Lawteryx, What Causes a Mistrial & What Happens Next? https://www.lawteryx.com/knowledge- center/criminal-law/what-causes-mistrial/ (28.12.2022). 47 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 77 f. 48 Rosenkranz, Die Jury im US-amerikanischen Prozessrecht, ZfRV 2012, 89; Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 77 f. 49 Rosenkranz, Die Jury im US-amerikanischen Prozessrecht, ZfRV 2012, 86. 50 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 79 f. 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 18/59
III. Prozessabsprachen in Amerika / Plea Bargaining Dieses eben skizzierte Verfahren kommt allerdings nur in Ausnahmefällen zur Anwendung. Grund dafür ist die enorme Anzahl an Strafsachen, die das amerikanische Rechtssystem konfrontiert und überfordert. Abhilfe gegen diese regelrechte Verfahrensflut verschaffen guilty pleas, die das Ergebnis des sog plea bargaining darstellen.51 Das plea bargaining wird in der Folge im Detail erläutert. A. Allgemeines Eine Hauptverhandlung ist in den USA mehr die Ausnahme als die Regel. Nur etwa 2 – 5% aller Strafsachen werden in einem jury trial erledigt, die restlichen Fälle werden eingestellt oder mit einem guilty plea beendet.52 Es wird vermutet, dass es in ca. 90% der Strafverfolgungen in den USA zu einem plea bargaining kommt.53 Wie häufig das bargaining tatsächlich stattfindet, kann allerdings nicht genau gesagt werden, die Prozentzahl ergibt sich lediglich daraus, wie häufig ein Schuldbekenntnis abgegeben wird, unabhängig davon, ob dem Verhandlungen vorangegangen sind oder sich der Angeklagte von sich aus geständig zeigt (on the nose).54 Zu beachten ist weiters, dass die Häufigkeit des plea bargaining auch von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden sein kann. Im Staat New York kommt es im Durchschnitt in 96% aller Straffälle zu einem plea bargaining, in Pennsylvania sind es nur etwa 67%. Grund dafür sind ua die prozessualen Verschiedenheiten in den Bundesstaaten.55 Hintergrund der enormen praktischen Relevanz des plea bargaining ist der Entfall eines sehr aufwendigen und zeitintensiven jury trials für den Fall, dass der Angeklagte ein plea of guilty abgibt. Grundlage für die Entwicklung des plea bargaining ist der in Amerika vorgesehene Parteiprozess (das adversatorische Verfahren). Das bargaining fand anfangs nur informell statt, wurde aber nach und nach durch höchstgerichtliche Rechtsprechung legalisiert. In der Entscheidung Santobello gegen New York qualifizierte der U.S. Supreme Court das plea bargaining sogar als essenziellen und äußerst wünschenswerten Bestandteil des Strafprozesses.56 Die Hauptbeteiligten am Verhandlungsprozess sind auf der einen Seite der Ankläger und auf der anderen Seite der Angeklagte bzw sein Verteidiger. Dem Gericht ist grundsätzlich die Beteiligung an den Absprachen untersagt, seine Aufgabe beschränkt sich dabei auf die Kontrolle und Annahme des Schuldbekenntnisses des Angeklagten.57 51 Ransiek, Zur Urteilsabsprache im Strafprozess, 118. 52 Kodek, Erfahrungen bei der StA New York, RZ 1991, 130. 53 Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 59; Hermann in Jung, Der Strafprozess im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, 148; Müller, Probleme um eine gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren, 334; Velten in Fuchs/Ratz, WK StPO Nach § 1, Rz 86; Miller/Wright/Turner/Levine, Criminal Procedures6, 979. 54 Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit, 79. 55 Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit, 82. 56 Santobello vs New York, 404 U.S. 257 (1971). 57 Velten in Fuchs/Ratz, WK StPO Nach § 1, Rz 86; Miller/Wright/Turner/Levine, Criminal Procedures6, 987. 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 19/59
B. Definition Unter plea bargaining versteht man ganz allgemein die Vereinbarung zwischen Ankläger und Angeklagtem, nach der sich der Angeklagte bezüglich des angeklagten oder eines anderen Delikts geständig zeigt und im Gegenzug dafür Zugeständnisse seitens des Anklägers erhält. Es handelt sich um eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten, denn für den Angeklagten reduziert sich das Strafübel und der Ankläger erspart sich Arbeitsaufwand sowie Zeit und erhält dennoch ein Schuldeingeständnis des Angeklagten.58 Zu beachten ist, dass das plea bargaining ganz unterschiedliche Ausformungen haben kann, was vom jeweiligen Bundesstaat, Gerichtsbezirk, Gericht und sogar Einzelfall abhängig ist. Verhandlungspartner muss daher nicht zwingend der Ankläger sein, auch ein Richter kann in manchen Staaten grundsätzlich Verhandlung führen. In vielen Fällen verhandelt der Ankläger auch nicht mit dem Angeklagten selbst, sondern mit dessen Verteidiger. Für das Schuldeingeständnis kann der Angeklagte beispielsweise ein umfassendes Geständnis ablegen, es genügt aber auch sich schlicht und einfach schuldig zu bekennen (guilty plea). Auch die Zugeständnisse seitens des Anklägers können unterschiedlich ausgestaltet sein, der Ankläger kann zum Beispiel eine geringere Strafe empfehlen bzw versprechen oder auch den der Anklage zugrundeliegenden Straftatbestand verändern und damit die Anklage nachträglich modifizieren. Die verschiedenen Ausformungen des bargainings werden später im Detail erläutert.59 Der Wesenscharakter des plea bargaining liegt darin, dass dem Angeklagten oder dessen Verteidiger ein Angebot der Milde gemacht wird für den Fall, dass sich der Angeklagte kooperativ zeigt. Das Schuldeingeständnis erfolgt somit aufgrund eines Angebots. Der Angeklagte muss aber nicht auf das Angebot eingehen. Auch gescheiterte Verhandlungen, die in der Folge zu einem trial führen, sind unter das plea bargaining zu subsumieren.60 Grund dafür ist, dass unter dem plea bargaining sämtliche Verhandlungen über das Verfahrensergebnis, zu verstehen sind (auch wenn sie zu keinem guilty plea führen). Dies zeigt, dass sich die allgemeine Definition des plea barganing auf zahlreiche Verfahrensabläufe erstreckt und Fälle erfasst, die man im ersten Moment nicht als plea agreement qualifizieren würde.61 Das plea bargaining findet meistens bereits im Stadium des Anklageeröffnungsverfahrens statt. Absprachen können aber auch noch im späteren Verfahren erfolgen. Grund für den (oftmals) frühen Zeitpunkt ist, dass das aufwendige Hauptverfahren mit jury auf ein kurzes Strafzumessungsverfahren reduziert werden kann.62 58 Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit, 76 f; Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten2, 59; Ransiek, Zur Urteilsabsprache im Strafprozess, 117. 59 Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit, 77 f. 60 Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit, 77 f. 61 Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit, 78 f. 62 Müller, Probleme um eine gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren, 334. 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 20/59
C. Verhandlungsstruktur Beim plea bargaining gibt es vier Beteiligte: den Angeklagten, seinen Verteidiger, den Ankläger und den Richter. Wer die konkreten Verhandlungspartner beim plea bargaining sind, hängt davon ab, ob der Anklage ein Verbrechen oder Vergehen zugrunde liegt. Bei einem Verbrechen verhandelt der Ankläger auf erster Ebene in der Regel mit dem Verteidiger des Angeklagten. Auf zweiter Ebene wird zwischen Verteidiger und Angeklagtem verhandelt und auf dritter Ebene, sofern es sich um ein sentence bargaining handelt, zwischen Ankläger und Richter. Bei einem Vergehen, also einem Delikt für dessen Begehung keine beträchtliche Freiheitsstrafe angedroht ist, finden Verhandlungen üblicherweise direkt zwischen Ankläger und Angeklagtem statt, wobei sich aus der Rechtsprechung des Supreme Courts eine Präferenz für die Zwischenschaltung des Verteidigers erkennen lässt, sofern einer vorhanden ist. Auf zweiter Verhandlungsebene wird wiederum nur bei einem sentence bargaining zwischen Ankläger und Richter verhandelt.63 D. Wann kann es zu einem Plea Bargaining kommen? 1. Interesse des Anklägers am Bargaining Grundsätzlich kommt ein plea bargaining in den USA auch bei den schwersten Verbrechen in Betracht, dafür braucht es aber die Bereitschaft der an den Verhandlungen Beteiligten.64 Die Straffälle werden aus Sicht des Anklägers in drei Gruppen unterteilt: 1.) Fälle, die für ein plea bargaining völlig ungeeignet sind, 2.) Fälle, die sehr wahrscheinlich mit einer Verurteilung enden und 3.) sonstige Fälle. Typ 1 umfasst Fälle, an denen ein sehr großes öffentliches Interesse besteht, die außergewöhnlich oder besonders grausam begangen wurden. Hier finden nur selten Verhandlungen statt. Zum Typ 2 gehören Fälle mit einfacher Beweislage, die eine Verurteilung des Angeklagten nahelegen. Auch in dieser Gruppe wird der Ankläger nur selten Interesse an einem plea bargaining haben, ihm fehlt es an einer Gegenleistung, da er eine Verurteilung auch ohne bargaining erreichen kann. Typ 3 erfasst die breite Masse der Strafsachen, insbesondere Fälle mit schlechter Beweislage, illegal beschafften Beweisen sowie aufwendige und aussichtslose Fälle.65 Ziel des Anklägers ist es stets, ein Verfahren so schnell wie möglich mit einem Schuldspruch zu beenden. Da in Fällen des Typ 1 und 2 eine Verurteilung in der Regel naheliegt, hat ein Ankläger nur in Fällen des Typ 3 ein Interesse am plea bargaining. Insbesondere bei einem Beweisnotstand ist das plea bargaining ein taugliches Mittel, um dennoch einen Schuldspruch zu erreichen. Typ-3-Fälle sind daher die Art von Fällen, bei 63 Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit, 85. 64 Velten in Fuchs/Ratz, WK StPO Nach § 1, Rz 86; Hermann in Jung, Der Strafprozess im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, 148. 65 Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit, 98. 03. Februar 2023 Julia Wolfmair 21/59
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