Politische Lyrik von Erich Fried und Hans Magnus Enzensberger in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts
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Ústav germanistiky a nordistiky Filozofická fakulta Masarykova univerzita Brno Lenka Štětková Politische Lyrik von Erich Fried und Hans Magnus Enzensberger in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts Magisterská diplomová práce Vedoucí práce: PhDr. Jaroslav Kovář, CSc. Brno 2007
Prohlašuji, že jsem diplomovou práci vypracovala samostatně s využitím uvedené literatury.
An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei allen bedanken, die mir während der Arbeit geholfen haben und mich unterstützten – meiner Familie, meinem Freund Stephan und meinen Freunden Radana und Benno Dielmann. Juli 2007 L. Š.
Inhalt I. Einleitung ...............................................................................................5 II. Begriffserklärung.....................................................................................7 II.1 „Die politische Lyrik“ ..............................................................................7 II.2 „Das lyrische Ich“ versus „der Autor“........................................................8 III. Der politisch-kulturelle Kontext in der Bundesrepublik Deutschland der 50er und 60er Jahre .......................................................................................11 III.1 Die Situation nach dem Krieg und die 50er Jahre .....................................11 III.2 Die 60er Jahre ......................................................................................14 IV. Biographie von Erich Fried.....................................................................18 IV.1 Die literarischen Anfänge ......................................................................18 IV.2 Warngedichte (1964) ............................................................................21 IV.3 und VIETNAM und (1966).....................................................................25 V. Biographie von Hans Magnus Enzensberger .............................................31 V.1 verteidigung der wölfe (1957) .................................................................33 V.2 landessprache (1960) .............................................................................39 V.3 blindenschrift (1964)..............................................................................43 V.4 Die zweite Hälfte der 60er Jahre..............................................................46 VI. Vergleich der beiden Autoren .................................................................47 VI.1 Das Leben ...........................................................................................47 VI.2 Der dichterische Stil .............................................................................50 VI.3 Die dichterische Aussage der Gedichte ...................................................55 VI.4 Die Bedeutung der politischen und ästhetischen Komponente ...................57 VII. Fazit.....................................................................................................60 VIII. Literaturverzeichnis ...............................................................................61
I. Einleitung Es ist ein alter Gedanke, dass eine Verbindung zwischen der Gesellschaft und den Texten im weitesten Sinne existiert, die in ihr entstehen. Kein Text wird in einer sozialen oder historischen Isolation geschaffen. Dies wird oft in den unterschiedlichsten Disziplinen der Wissenschaft voraussetzend angenommen. Jeder Fachbereich betrachtet den Text in der Ebene, die für ihn am interessantesten und brauchbarsten ist. Soziologie sieht ihn aus der soziologischen Sicht, Politologie aus der politischen, Geschichte aus der historischen. Mit den künstlerischen Werken beschäftigt sich die Literaturwissenschaft, das literarische Feld ist jedoch so breit, dass es manchmal in andere wissenschaftliche Gebiete übergreift. Die Grenzen von Politik und Literatur sind seit der Entstehung der Schrift verschwommen, genauso wie die Unterschiede zwischen einem Politiker und einem Autor. Es ist einfacher und sinnvoller zu verstehen, dass ein Autor in zwei Wirkungsbereichen tätig sein kann, als diese Person ausschließlich als einen Politiker oder einen Schriftsteller zu betrachten. Die Werke, die in diesem Grenzgebiet entstehen, werden als „politische Literatur“ bezeichnet. In der Geschichte der deutschen Literatur finden wir viele politisch tätige Schriftsteller. Sie reichen weit zurück in die Vergangenheit, wie zum Beispiel der mittelalterliche Dichter Walther von der Vogelweide oder der Humanist Ulrich von Hutten. Es gab sie in fast allen Epochen über die Jahrhunderte, herausragend sind dabei die Autoren des Sturm und Drangs, die Jungdeutschen, die Expressionisten und Dadaisten oder die Schriftsteller wie Erich Kästner, Heinrich Böll und gegenwärtig Roger Willemsen. Meine Arbeit greift auf zwei politisch aktive Schriftsteller zurück, die in dieser zahlreichen „Reihe“ von engagierten Autoren einen Ehrenplatz einnehmen. Erich Fried und Hans Magnus Enzensberger beeinflussten in beträchtlichem Maß die politisch-literarische Szene in Deutschland der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere die 50er und 60er Jahre. Ihre eingreifenden lyrischen Proteste wurden zu Symbolen der deutschen politischen Opposition. Sie übten Kritik an der Wohlstands- und Konsumgesellschaft, an den politischen Festereden von Freiheit und Gleichheit, an der moralischen Heuchelei. Jeder schrieb in seinem spezifischen Stil und jeder sah -5-
die gesellschaftlichen Probleme mit teilweise unterschiedlichen, teilweise gleichen Augen. Als Gegenstand meiner Arbeit habe ich mir vorgenommen, das politische lyrische Werk von E. Fried und H. M. Enzensberger formal und inhaltlich zu vergleichen. Diese Arbeit basiert auf keinem ähnlichen Werk, da dieses Thema (direkter Vergleich dieser zwei Autoren) so gut wie noch nie wissenschaftlich behandelt wurde. Um die Konfrontation vollkommen und korrekt durchzuführen, werde ich am Anfang die politisch-gesellschaftliche Situation in Deutschland in den 50er und 60er Jahren darstellen. Ich erläutere auch die literarische Konstellation, in der sich die beiden Dichter zu dieser Zeit befanden und komme anschließend zu ihren Kurzportraits. Ich analysiere ihre bedeutendsten politischen Gedichtbände und zum Schluss versuche ich die beiden Autoren zu vergleichen. Zu den formalen und inhaltlichen Merkmalen füge ich das Kriterium an, in welcher Art und Weise Hans Magnus Enzensberger und Erich Fried die Entwicklung der politischen Lyrik in Deutschland beeinflussten. -6-
II. Begriffserklärung II.1 „Die politische Lyrik“ „Ein politisches Gedicht oder nicht? Das ist ein Streit um Worte.“ (Enzensberger, Einzelheiten, S. 350) Diese zwei Sätze von Hans Magnus Enzensberger deuten auf lange, zu keinem befriedigenden Ergebnis führende Diskussionen über die Frage, was politische Lyrik ist. Es fällt nicht schwer zu entdecken, dass ein Gedicht politisch ist, es scheitert aber immer wieder der Versuch, eine schlüssige, allgemeine Begriffbestimmung zu finden. Viel zu einfach wäre eine Definition, die einige literarische Handbücher zur Verfügung stellen – politische Lyrik sei Lyrik, die eine politische Situation widerspiegelt. Damit löst man das Problem nicht, sondern verschiebt es nur. Denn was ist eine politische Situation? Das erklärt Wolf Girscher in seinem Band Politische Lyrik. Es sei jede Situation, in der sich ein Mensch befindet, jede Selbst- und Weltdeutung, die er vornimmt. Alles, was wir tun, hat immer auch einen politischen Aspekt. Erst recht sei natürlich jede Kunst, die Selbstdeutung des Menschen in Ansicht seiner Umwelt bezweckt, Aussage über bestimmte Aspekte politischer Verhältnisse. (Vgl. Girschner, S. 9) Gegen diese Behauptung äußert sich Ludwig Büttner: „Die Behauptung, dass alles und jedes – und daher auch die Dichtung – es stets mit Politik zu tun habe, ist ebenso richtig wie falsch. Es gibt elementare Erscheinungen des menschlichen Lebens, die gar nichts mit Politik zu tun haben, man denke an Gesundheit und Krankheit, Jugend und Alter, Liebe und Hass (...) und andere naturbedingte, unüberwindbare Gegensätze. Eine totale Politisierung des Lebens ist despotisch und barbarisch, sie unterdrückt die Freiheit des Denkens und des künstlerischen Schaffens. (...) Aktualität und Ideologie sind noch kein Wertmaßstab für künstlerische Schöpfungen. (Vgl. Büttner, S. 133) Wo besteht dann das Unterschied zwischen der politischen und unpolitischen Dichtung? Was für ein Element muss ein Gedicht haben, um als politisch genannt werden zu dürfen? Politische Gedichte reagieren auf historisch-politische Situation, sie wollen einwirken, sie sind „engagiert“. Laut Ludwig Büttner sei jedoch das Wort -7-
„Engagement“ ein modischer Begriff, der verschwommen gebraucht wird, wenn er nur allgemein die Teilnahme des Dichters an aktuellen Verhältnissen und Fragen ausdrücken soll. Selbst bei konservativen Poeten lassen sich, Büttner zufolge, Gedichte finden, die man als engagiert benennen kann. Büttner erklärt, dass selbst die Unterhaltungspoesie dann zur politischen Lyrik zu zählen wäre, weil sie sich immer gegen Mängel der bestehenden Regierung, gegen herrschsüchtige und arrogante Politiker und Funktionäre richtet. (Vgl. Büttner, S. 132) Daraus kann man ableiten, dass das Kritische nur ein Teil eines politischen Werkes ist. Die politischen Gedichte üben zwar Kritik, sind engagiert und wollen beeinflussen, sie beinhalten jedoch noch etwas, was aus ihnen mehr als die oben erwähnte „Unterhaltungspoesie“ oder bloße Auseinandersetzung mit herrschenden Verhältnissen macht – den künstlerischen Bestandteil. Die politische Lyrik liefert nicht nur die Inhalte, die auf der Oberfläche sichtbar sind (sachliche Informationen über der Einstellung des Autors zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation), sondern sie liegt ebenso eine besondere ästhetische Qualität vor, die das Werk von anderen politischen Schriften unterscheidet. Natürlich müssen auch formale Kriterien eines Gedichtes erfüllt werden.1 Von einer strikten Trennung von engagierter und absoluter Poesie im Sinne eines „ästhetischen oder ideologischen Dualismus“ warnt auch Hans Otto Horch in seinem Beitrag zur Theorie der Lyrik. (Horch, S. 253) Er empfiehlt eine offene Stellung des Kritikers, der sich nicht zwischen gegebenen Kategorien entscheiden muss, sondern dies als „Modelle des lyrischen Schreibens“ betrachtet. II.2 „Das lyrische Ich“ versus „der Autor“ In den Handbüchern der literarischen Theorie wird oft darauf aufmerksam gemacht, dass in der Lyrik zwei Begriffe streng zu unterscheiden sind. Der „Autor“ und das „lyrische Ich“. Die Bezeichnung der „Autor“ bezieht sich auf eine reale Person, auf den Schriftsteller, der das Werk geschaffen hat, im Gegensatz zum Begriff des „lyrischen Ichs“, welcher einen fiktiven Sprecher, die Stimme eines Gedichts, das erlebende und empfindende Subjekt der Verse bezeichnet. 1 Die Kriterien eines Gedichtes sind vor allem – die äußere Form, die den Text von Prosa unterscheidet (Vers, Strophenbau,...), besondere sprachliche Mittel (Reim,...), die Dichte (Ausdruckskraft), sprachliche Ökonomie (Prägnanz), Subjektivität, und der Bezug auf ein „lyrisches Ich“. -8-
Dieser sinnvolle Unterschied, dessen Einführung viele Missverständnisse in der Dichtung aufgehoben hatte2, gilt jedoch ohne Ausnahmen nur solange, wie wir uns auf der Ebene eines „absoluten“ Gedichtes befinden. Eines solchen Gedichtes, welches sich in einer absoluten Zeit und einem absoluten Raum abspielt, welches keine kontextuellen Relationen an sich bindet und vor allem – welches sich an niemanden richtet. Übernehmen wir die strikte Unterscheidung zwischen dem Autor und dem lyrischen Ich zum Zweck einer Analyse der politischen Lyrik, geraten wir in Schwierigkeiten. Die Zeit der politischen Gedichte steht fest, die Verse sprechen über konkrete Ereignisse, die man oft sogar mit einem genauen Datum ergänzen könnte. Auch die Festlegung des Raums fällt nicht schwer. Die Gedichte können nicht als vereinzelte, in der lyrischen Luft schwebende Elemente funktionieren, es gibt sie nur in einem gesellschaftlichen und politischen Kontext, in dem sie geschaffen wurden und den man bei ihrer Interpretation vor Augen halten muss. Natürlich könnte man sich einen fiktiven Leser vorstellen, der die gesellschaftliche Situation, in der die Poesie entstanden ist, nicht kennt, und trotzdem die Gedichte liest und sie auf seine Art und Weise auszudeuten versucht. Seine mögliche Interpretation würde jedoch die Antwort auf einen der wichtigsten Bestandteile der Analyse der politischen Lyrik vermissen – auf die Frage nach der Funktion des Gedichtes. Die politische Lyrik will wirken, Dinge und Zustände ändern, sie ist engagiert. Dafür braucht sie eine konkrete Zeit, einen konkreten Raum, sowie einen konkreten Kontext. Und das alles würde nicht ohne einen konkreten, engagierten Gestalter des Gedichtes gehen, dessen Stimme eng mit der Person des Autors verbunden ist. Es ist leicht vorstellbar, dass das lyrische Ich in vielen Genres der Poesie andere Ansichten als der Autor einnehmen kann (z. B. in den Liebesgedichten) – in diesem Fall darf das lyrische Ich keineswegs mit der Dichterpersönlichkeit identifiziert werden. (Vgl. Wilpert, S. 493) Als absurd, wieder aus der Sicht der Funktion des Gedichtes, würden wir jedoch jede Vorstellung bezeichnen, in der der Autor in einem seiner politischen Gedichte eine andere Meinung als die seine wiedergibt. Ein linksorientierter Autor würde mit Sicherheit nicht die Vorteile von Rechtsradikalismus hervorheben, ein antikriegsorientierter Mensch würde nicht die Rüstungspolitik seines Landes verherrlichen, wenn er dazu nicht gezwungen wäre. 2 Den Begriff des „lyrischen Ichs“, als das „umfassendste Symbol, das nach sich die ganze Welt der Symbole, die das lyrische Kunstwerk bilden, bestimmt“, führte am Anfang des 20. Jahrhunderts die -9-
Aus diesem Beispiel ergibt sich, dass man im Fall der politischen Lyrik den Autor und das lyrische Ich nicht völlig abgrenzen kann und dass diese zwei oft ineinander fließen. In meiner Arbeit versuche ich unter anderem herauszufinden, in wiefern sich die Autoren Enzensberger und Fried mit ihren lyrischen Ichs identifizieren, weil dieser Unterschied – oder die Einheit – auch für die Festlegung ihres politisch-dichterischen Engagements entscheidend sein könnte. deutsche Schriftstellerin Margarete Susman ein. (Vgl. Völker, S. 1201) - 10 -
III. Der politisch-kulturelle Kontext in der Bundesrepublik Deutschland der 50er und 60er Jahre Das dichterische Schaffen Hans Magnus Enzensbergers und Erich Frieds war in den frühen Jahrzehnten ihres Lebens in so weit mit den gesellschaftlich-politischen Ereignissen in Deutschland und in der Welt verbunden, dass man ihre Werke nicht ohne, zumindest flüchtige, Kenntnisse der Geschichte Deutschlands der 50er und 60er Jahre verstehen kann. Dieses Kapitel wird daher sowohl der politischen, als auch der literarischen Entwicklung der Bundesrepublik gewidmet. III.1 Die Situation nach dem Krieg und die 50er Jahre Viele historisch-kulturelle Debatten über Nachkriegsdeutschland haben sich früher um die Frage gedreht, ob Deutschland im Jahre 1945 am totalen materiellen und geistigen Anfang stand, oder ob man in dieser Zeit an etwas, was schon während des Krieges entstanden ist, anknüpfte. Heutzutage sind sich fast alle Wissenschaftler einig – nach dem Kriegsende gab es in Deutschland weder aus der Sicht der Wirtschaft noch aus der Sicht der Literatur keine „Stunde Null“. Deutschland war zwar durch den Faschismus politisch und kulturell zurückgeworfen und die Deutschen standen vor der Weltöffentlichkeit als ein Volk da, das eine einmalige Schuld auf sich geladen hatte, was aber die Industrie betrifft, war Deutschland durch die Kriegswirtschaft des Dritten Reiches und seine Rüstungsanstrengungen bereit, eine schnelle, umfangreiche Industrialisierung heranzutreten. Entgegen einer Legendebildung, die ganz Deutschland in Trümmern sieht, waren die industriellen Anlagen generell gut erhalten. Der Marshall-Plan bot dem Westen die Chance zu einem (kapitalistischen) Neubeginn. Im Gegensatz zu den Wünschen der Alliierten wurde aber eine gewisse sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft durchgesetzt, die in einer Überführung bestimmter Industriezweige und monopolartigen Unternehmungen in Gemeineigentum bestand. Wichtige Pfeiler der „Verhinderung“ eines wirklichen Neubeginns waren laut Frank Dietschreit die Währungsreform von 1948, in der die Produktivvermögen nicht angetastet wurden, das Grundgesetz von 1949, das sich mit proklamierter Sozialstaatlichkeit zufrieden gab, und die Wiederaufbau-Euphorie, die mit dem Einsetzten des Kalten Krieges das richtige Feinbild an die Seite gestellt bekam. (Vgl. Dietschreit, S. 10-11) - 11 -
Die wirtschaftliche Kontinuität des Nachkriegsdeutschlands ist unleugbar. Auf dem literarischen Feld erwiesen sich ebenso fortlaufende Tendenzen, die gegen der populären Bezeichnung „Kahlschlag“3 kämpfen und die das Befinden in einer dichterischen Leere in Frage stellen. Das erste Kapitel der Deutschsprachigen Lyrik nach 1945 trägt die Überschrift „1945 – Weder Kahlschlag noch Stunde Null“. (Korte, S. 5) Für eine große Zahl von Nachkriegslyrikern bedeutete das Empfinden, im Jahr 1945 an einem „Nullpunkt“ gestanden zu haben, eine Chance zur „Befreiung“ und eine Möglichkeit, einen Schlussstrich hinter die eigene Vergangenheit zu ziehen. Ein Indiz für die Kontinuität literarischer Produktion ist die Praxis vieler Lyriker, ihre Werke, die während des Krieges oder bereits davor geschrieben wurden, von 1945 an zu veröffentlichen. Die „Trümmerlyrik“ gab eine wirklichkeitsgetreue Darstellung der Kriegs- und Nachkriegserlebnisse. Dabei entstanden stereotype Themenfelder wie Kriegsgefangenenlager, tägliches Überleben, Heimkehr usw. Diese bildeten einige Jahre lang eine der Hauptlinien der deutschen Lyrik. Avantgarde und Moderne hat der Faschismus völlig verdrängt. Durch die systematische Vernichtung intellektueller Schichten des deutschen Judentums wurden auch laut Hermann Korte entscheidende soziale Träger moderner Kultur ausgerottet, nämlich ein nicht unerheblicher Teil der Künstlerschaft einschließlich eines Großteils ihres Publikums. (Vgl. Korte, S. 26) Die Nachkriegslyrik und die Lyrik der 50er Jahre wurden von Naturgedichten beherrscht. Nach fast zwei Jahrzehnten erfährt sie nun allen späten Ruhm öffentlicher Anerkennung. Den Autoren, die im Verborgenen wirkten und sich in den Schonraum Natur zurückziehen wollten, kam zeitweilig eine dominante Stellung auf dem literarischen Gebiet zu. Auch hier wurde mit vielen stereotypischen Mitteln gearbeitet – die Dichter verwandten die alten lyrischen Musterformen und verwiesen damit auf geborgte Autoritäten wie Klopstock, Goethe und Hölderlin. Die Kritiker solcher Außerachtlassung der gegenwärtigen Realität waren später kompromisslos. Walter Hinderer schreibt in seiner Bilanz zur Ortsbestimmung der westdeutschen Lyrik unmittelbar nach Kriegsende, dass der neuen zeitgeschichtlichen Situation nur traditionelle Ausdruckformen antworteten, mit denen man auch die durch sie vermittelte Wirklichkeitsperspektive übernahm. Anstatt die deutsche Misere kritisch zu analysieren und neue ästhetische Entwürfe zu entwickeln, „beließ man es bei den 3 Von einem „Kahlschlag“ und einem formal-lyrischen Neubeginn spricht z. B. Hermann Glaser in seinem Werk Deutsche Kultur. - 12 -
gelegentlichen Äußerungen eines allgemein verbreiteten Unbehagens und schrieb weiter in den schönen Formen deutscher Innerlichkeit.“ (Hinderer, S. 16) Es wurde eine poetische Gegenwelt erschafft, die mit der Realität, aus der sie hervorgegangen ist, nichts mehr zu schaffen haben wollte. Was noch in den 30er Jahren angesichts der faschistischen Herrschaft zugleich Flucht und Protest darstellte, das verwandte sich nun, unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, zur bloßen Abkehr von der da stehenden Realität. Politik hatte in dieser Dichtung nur einen sehr begrenzten Platz. Den Worten von Ralf Schnell zufolge seien in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Literatur und Politik niemals weiter voneinander entfernt gewesen als in den 50er Jahren. (Schnell: DL, S. 592) Die politischen Bemühungen um die Rekonstruktion der tradierten Produktionsverhältnisse und der ideologische Konservatismus waren in der deutschen Lyrik damals nur kaum wahrgenommen. Gegen diese Behauptung äußerte sich jedoch Frank Dietschreit in seinem Werk über H. M. Enzensberger: „Geflissentlich wird übersehen, dass z. B. schon 1955 in dem von Hans Bender initiierten Band Mein Gedicht ist mein Messer, wie auch in den Werken von Enzensberger, Grass oder Rühmkorf Ansätze deutlich wurden, in denen die Autoren gegen die dunklen, hermetischen und alexandrinischen Mächte ihrer Tage protestierten und das offene, mitteilsame, durchscheinende Gedicht forderten: das Gedicht, das auf alle Verschlüsselungen verzichtet, sich von allen esoterischen Bürden befreit. (Dietschreit, S. 9) Man kann aus dieser Debatte schließen, dass Politik und Literatur am Anfang der 50er Jahren weit voneinander standen. Die Situation änderte sich jedoch schnell und zwischen den Intellektuellen erhoben sich Stimmen, die sich nach neuen inhaltlichen und formalen Strukturen sehnten. Sie verhielten sich ablehnend zu den öffentlichen Themen wie die Euphorie des „Wirtschaftswunders“, die Verdrängung des Faschismus, die gefährliche atomare Bewaffnung und die Bedrohung durch Industrialisierung und neue Technologien. Die deutsche, an den Westen gebundene Wirtschaft brachte nämlich plötzlich solche Möglichkeiten, von denen Deutschland vor 1945 nur „zu träumen gewagt hätte.“ (Hacke, S. 99) Binnen kürzester Zeit erholte sich die BRD und überflügelte die wirtschaftlichen Leistungen der westlichen Nachbarn. Die Intellektuellen fragten sich nicht mehr „Was produziere ich?“ oder „Wie viel produziere ich?“, sondern „Wozu produziere ich?“ oder „Welche Wirkung hat meine Arbeit?“. - 13 -
Die literarischen Antworten auf das „Wirtschaftswunder“, Überflussgesellschaft und viele andere politisch-soziale Fragen brachten die 60er Jahre. III.2 Die 60er Jahre Der Blick auf die politisch-kulturelle Situation der 60er Jahre zeigt eine Politisierung an, die alle Bereiche der Gesellschaft erfasst. Ausdruck und Motor dieser Politisierung war die antiautoritäre Studentenbewegung, die an den westdeutschen Universitäten entstanden ist und die eine umfassende Kritik der „lustfeindlichen und repressiven Gesellschaft und des aggressiven Imperialismus in den Ländern der dritten Welt“ entfaltete. (Dietschreit, S. 59) Die Beendigung der ökonomischen Rekonstruktionsperiode, der ungehemmt und krisenfrei prosperierenden Wirtschaft, die sich mit dem Ende der 50er Jahre andeutet, bildet für die Entwicklung in den 60er Jahren eine ebenso wichtige Voraussetzung wie der Bau der Mauer in Berlin am 13. August 1961. Diese beiden Erscheinungen einer an ihre eigenen Grenzen gelangten Politik erschüttern das Selbstverständnis einer Gesellschaft, deren „Glaube an die politische Potenz des Westens und an das eigene ökonomische Wachstum frei von jedem Selbstzweifel geblieben war.“ (Schnell: DL, S. 608) Erst als nach dem Bau der Mauer die Teilung für jeden Einzelnen unmittelbar spürbar wurde, entstand eine komplexe Dualität der Deutschlandpolitik. Es ging nun nicht mehr um langfristige Fragen wie Wiedervereinigung und Grenzenproblematik für das zukünftige Deutschland, sondern um Freizügigkeit für die Menschen. Die politische Ohnmacht seit 1945, die Teilung Deutschlands zu überwinden, wurde ab August 1961 durch die zusätzliche Ohnmacht, den Menschen in der DDR überhaupt nicht mehr begegnen oder helfen zu können, und durch die neue Zwangslage, die DDR nicht mehr verlassen zu können, gesteigert. Konrad Adenauer in der Bundesrepublik und Walter Ulbricht in der DDR personifizierten eine Ära „äußerster Gegensätze zwischen dem sozialistischen Teilstaat DDR und dem demokratischen Teilstaat Bundesrepublik.“ (Hacke, S. 100) Konrad Adenauer konzentrierte seine Politik auf das westliche Nahziel, er wollte die BRD zu einem demokratisch anerkannten Staat im Rahmen der atlantischen Welt machen. Erst später wuchs bei ihm die Bereitschaft, mit der Sowjetunion das Gespräch zu suchen. - 14 -
Die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik, die Einbeziehung der Bundeswehr in das westliche Bündnis und die Lagerung atomarer Waffen auf dem Boden der neuen deutschen Republik stießen auf den heftigsten Protest, der aber im politischen Leerraum verschwand. Die schon erwähnte Ausbeutung der Dritten Welt, insbesondere die Vietnam-Politik der USA, der CIA-gesteuerte Versuch einer Konterrevolution in Kuba, die Ermordung Lumumbas und die Verhinderung eines sozialistischen Kongos, all dies erzeugte vornehmlich in studentischen Kreisen ein wachsendes Unbehagen an den „Segnungen“ der westlichen Welt. Die Desillusionierung über den „Freund“ und „Verbündeten“ USA war angesichts des Vietnam-Debakels offenkundig und kam auf verschiedenste Weise zum Ausdruck. Die Unruhen löste auch die deutsche Innenpolitik aus – die Bildung der großen Koalition mit Sozialdemokraten und Christdemokraten im Jahr 1966, die gleichermaßen eine gefährliche politische Nivellierung anzeigte und die Verabschiedung der Notstandgesetze 1968, durch die im Krisenfall eine Reihe elementarer Grundrechte außer Kraft gesetzt werden können. Die Einschränkung des kritischen Journalismus und zugleich einen beunruhigenden Beweiß staatlicher Machtvollkommenheit brachte schon im Jahre 1962 die „Spiegel-Affäre“ dar.4 Sie bewirkte, dass Schriftsteller, die bislang wenig Solidarität verband, sich zusammenfanden und in Manifesten protestierten. Staatliche Repression gegenüber intellektueller Gesellschaftskritik wurde zum Beispiel einer repressiven Gesellschaft – bei den Literaten bleibt eine nachhaltige Irritation: In einem Land, in dem die Obrigkeit Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit mit Füßen tritt, können all jene, die auf eine funktionierende Öffentlichkeit angewiesen sind, sich nicht heimisch fühlen. Richter schreibt nach der Tagung an Hildesheimer einen Satz, der die allgemeine Erschütterung spüren lässt: „Die Nachkriegszeit, die schöne, wunderbare Nachkriegszeit ist zu Ende gegangen.“ (Lau, S. 152) Die Trennung von Kunst und Politik, Kennzeichen der 50er Jahre, wird durch die unvermeidliche Politisierung ersetzt. Die „schöne Nachkriegszeit“ hat tatsächlich geendet. Man spricht nicht mehr von „Gedichten“, sondern von „Texten“. Man „dichtet“ nicht, sondern „schreibt“ und der Dichter wird zu einer antiquiert wirkenden 4 Am 27. Oktober wird Rudolf Augstein verhaftet, der für diesen Nachmittag sein Escheinen bei der Berliner Tagung angekündigt hatte. Zuvor sind die Redaktionsräume des Magazins durchsucht und zahlreiche Unterlagen beschlagnahmt worden. Der Spiegel-Reporter Conrad Ahlers hatte im Heft vom 10. Oktober 1962 über das Nato-Stabsmanöver „Fallex 62“ berichtet. Er wird auch verhaftet. Es stellt sich fest, dass dies alles auf persönliches Betreiben von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, der sich am Spiegel für die anhaltende Kritik seiner Atomwaffenpläne rächt. - 15 -
Bezeichnung. Tagungen von „Literaturproduzenten“, wie sie sich selbst nennen, haben Dichtertreffen abgelöst. Der Wechsel sei mehr als nur ein Etikettenwechsel, denn in dem Maß, wie von Text und Produktion die Rede sei, ändere sich das Selbstverständnis der Schreibenden. (Vgl. Korte, S. 72) Der Lyriker ist nicht nur Gedichtschreiber, er ist zugleich auch Verfasser von Essays und Zeitschriftenartikeln, Medienkritiker, politischer Publizist, Übersetzer und Herausgeber moderner Poesie- Anthologien. Sein Selbstverständnis zeigt sich in öffentlichen Auftritten und in seinen poetologischen Thesen. Er freut sich seinem wachsenden Einfluss und will ihn nutzen. Wirklichkeit heißt das Schlüsselwort in den Lyriktheorien der 60er Jahre. Das gesamte Jahrzehnt hat sich als „Entdeckung der Wirklichkeit“ verstanden. (Korte, S. 72) Damit wird die oben beschriebene politische und gesellschaftliche Wirklichkeit gemeint. Ein Gedicht zu schreiben heißt, sich im lyrischen Text der Wirklichkeit zu stellen und diese offen zu legen. Die Funktion der Lyrik wandelt sich um, die früher bedeutenden Aspekte der Form spielen jetzt keine Rolle. Verschiedenste literarische Richtungen entstehen, derer Bindeglied die Hinwendung zur Realität heißt: hermetische Gedichte, politische Epigramme, Protestsongs und experimentelle Texte. Es entstand ein neues, den gewünschten Ansprüchen entsprechendes, Genre: das Agitprop (Agitations-Propaganda). Jürgen Egyptien vergleicht diese Text- Strategien, die für Streiksituationen, (Massen-) Versammlungen oder Demonstrationen verfasst wurden, mit den literarischen Strategien aus den 20er Jahren wie die Praktiken des Proletkults und die Tendenzkunst des Bundes Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller. (Vgl. Egyptien, S. 33) In interaktiven Formen wie Happening, Straßentheater oder Graffiti sollte die politische Aufklärung vermittelt werden. Wie schon einmal erwähnt wurde, die Hauptträger des Protestgeistes waren nicht mehr vereinzelte Intellektuelle oder Schriftsteller, sondern eine schnell anwachsende Schicht linksengagierten Studenten.5 Jost Hermand äußert sich in seinem Beitrag zur deutschen Gegenwartsliteratur (Fortschritt im Rückschritt) gegen diese Massenbewegung sehr kritisch: „Die meisten Alternativen, die sie entwarfen, waren daher ausgesprochen antiautoritärer Art, was in der Praxis zur Gründung ,herrschaftsfreier´ Enklaven in Form roter Zellen, Wohnkommunen und anderer subkultureller Formen menschlichen Zusammenlebens führte. Kein Wunder daher, dass in den Jahren 1967/68 von diesen Gruppen nahezu alles als ,bürgerliche - 16 -
Scheiße´ abgelehnt wurde, (Hermand, S. 303) ob nun die bürgerliche Literatur, die Gewerkschaften oder der reale Sozialismus. Das grundsätzliche Dagegensein, das kritische Nein überwog. Die Agitprop-Bewegung hat laut Hermann Korte mit ihren zum Teil misslungenen Texten nicht zuletzt prinzipielle Vorbehalte gegen politische Literatur verstärkt und denjenigen Argumente geliefert, die am Ende der 60er Jahre die Literatur ohnehin als überflüssigen kulturellen Überbau betrachteten. (Vgl. Korte, S. 125) An einer Pariser Mauer stand 1968 eine Graffiti, die „L´art est mort“ – „Tod der Kunst“ prophezeite. „Die Literatur ist tot“, so lautete das im Jahre 1968 im legendären Kursbuch 156 erschienene Manifest von Hans Magnus Enzensberger. Dieses spielerisch formulierte Stichwort, welches auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Funktion der Literatur hinweisen wollte und nicht wirklich die Dichter zum Verstummen bringen sollte, wurde oft missverstanden und erregte eine heftige Debatte über Funktion der Literatur.7 In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts hat die deutsche Literatur aufgrund der politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen der Bundesrepublik einige Änderungen durchgemacht, viele Einflüsse erfahren und verschiedene Stilrichtungen entwickelt. Die politische Lyrik, die zu Beginn dieser Periode am Rande des literarischen Interesses stand, entfaltete sich zu einem der bedeutendsten und populärsten Genres dieser Zeit. Ihre Verdienste daran hatten unter anderen die Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und Erich Fried. 5 SDS: Sozialistischer Deutscher Studentenbund. 6 Das Kursbuch war eine literaturpolitische Zeitschrift in der Bundesrepublik der 60er Jahre. Gegründet wurde sie 1965 von Hans Magnus Enzensberger. Es war ein wichtiger Ort für revolutionäre Theorien, Diskussionen und Argumentationen. 7 Enzensberger distanzierte sich später von dieser Formel. - 17 -
IV. Biographie von Erich Fried Das vielfältige Leben und Werk des Dichters Erich Fried zu beschreiben würde für ein umfangreiches, mehrteiliges Buch reichen. Für den Zweck meiner Arbeit wird eine kompakte Beschreibung seines Lebens genügen, die in denjenigen Abschnitten umfangreicher wird, wo ich mich mit den politischen Ansichten und dem politischen Schaffen des Schriftstellers beschäftigen werde. Erich Fried mag als der politisch engagierte Dichter nach 1945 par excellence gelten. Der Begriff „politisch engagiert“ sagt jedoch nur wenig aus: laut Martin Kane müsse „im Falle Frieds“ der Dichter für jede Phase seiner Entwicklung neu definiert werden. (Vgl. Kane, S. 589) Kane betont, dass es in Frieds zahlreichen Gedicht- und Prosabänden nicht nur „das Schreckensbild“ der politischen Wirklichkeit ist, das auf sich aufmerksam macht. Betrachtet man die Vielfalt der in seinem Werk enthaltenen Ausdruckmittel, entdeckt man einen politischen Schriftsteller von besonderer künstlerischer Begabung. IV.1 Die literarischen Anfänge Erich Fried wurde am 6. Mai 1921 in einer jüdischen Familie in Wien geboren. Er erlebte im März 1938 den „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland und dessen Folgen. In diesen Ereignissen findet er später die entscheidenden Schlüsselmomente seiner politischen Sozialisation. Am 13. März 1938 wurden seine Eltern verhaftet, sein Vater verstarb kurz darauf an den Folgen der Gestapo-Verhöre. Der schockierte Siebzehnjährige musste sich in einer sehr kurzen Zeit von der Geborgenheit seines Elternhauses verabschieden. Ihm gelangen Flucht und Rettung aus seiner okkupierten Heimatstadt Wien und er begann einen ungewissen, neuen Lebensabschnitt als Unbehauster und Exilant in England. In der ersten Zeit des Exils gründete Fried eine Selbsthilfeorganisation von Emigranten, die bei der Suche nach Unterkünften und bei der Beschaffung von Visa behilflich waren und die gegen die gesellschaftliche und kulturelle Isolierung der Vertriebenen wirkten. Die meisten dieser jungen Flüchtlinge gingen später zu den linken Emigrantenorganisationen. Erich Fried hatte sich in London für kurze Zeit dem Young Austria in Great Britain angeschlossen, einer kommunistischen - 18 -
Widerstandsorganisation, deren Zeitschriften Young Austria und Zeitspiegel im Frühjahr 1941 seine ersten Prosaskizzen und Gedichte veröffentlichten. Im Laufe der Zeit distanzierte sich Fried von den linken Emigrantenorganisationen, was nicht nur aus deren Haltung gegenüber Deutschland resultierte. Grundlegender Zweifel kommt auf, als die Entwicklung der kommunistischen Parteien zum System von Stalinismus zu tendieren begann. „Trost und Überleben, Widerständigkeit und Orientierungssuche, wache Auseinandersetzung mit dem Geschehen statt des Ausweichens in einem metaphysischen Eskapismus“ (Thielking, S. 408) – das sind die zentralen Themenfelder seiner ersten frühen Gedichte. Von London aus versucht der Emigrant und Gelegenheitsarbeiter mit den beiden Gedichtbänden Deutschland und Österreich auf sich aufmerksam zu machen. Zuerst wird seine Poesie nur im bescheidenen Kreis der Exilierten gelesen, bewertet und verbreitet. Erst aus der Rückschau seines späteren Erfolgs wurden die konventionellen Sehnsucht- und Mahnverse berühmt. Seit diesen Anfängen gilt aber unbestritten, dass Fried eine „Klarheit eines verständlichen, ja auf Kommunizierbarkeit hin angelegten Gedichts“ bevorzugt (Korte, S. 107). Seine Verse sollen Denken und Handeln anregen. Ein interessantes Kapitel im Frieds Leben stellt seine Wirkung in der deutschsprachigen Rundfunksendung der BBC in London dar. Vereinzelte Beiträge von ihm wurden bereits vor 1945 gesendet, ab 1950 begann er dort regelmäßig zu arbeiten und im Jahr 1952 wurde er dort als politischer Kommentator für das „German Soviet Zone Programme“ fest angestellt. Von dieser Festanstellung löste er sich erst 1968, als er den deutschsprachigen Dienst als politisch zu unflexibel empfand, vor allem in Bezug auf den Kalten Krieg. In der BBC informierte Erich Fried über Wichtiges rund um die Welt, über verschiedene Ereignisse in den Ländern des Ostblocks, und er korrigierte verdrehte Darstellungen über den Westen. Er „analysierte mit britischer Kühle und er sprach mit dem heißen Herzen eines linken Intellektuellen, der zwischen allen Stühlen sitzt.“ (Kaukoreit, S. 53) Er griff als politischer Kommentator immer wieder auf sein eigenes Schicksal und auf seine Erlebnisse zurück – Fried hatte in der BBC sogar seine Gedichte vorgelesen. Den Verfasser der Gedichte wollte er aber nicht verraten und hat sie deswegen als „Gedichte eines anonymen DDR-Lyrikers“ bezeichnet. Volker Kaukoreit legt in seinem Beitrag über E. Fried und seine Wirkung in der BBC Beweise vor, die für Frieds Autorschaft sprechen. „Zwar liegt keines von den - 19 -
Gedichten in der im Radio präsentierten Form gedruckt vor. In ihrem Duktus sind sie jedoch erkennbar ‚friedisch’, und auch die wörtliche Nähe zu veröffentlichten Gedichten, die offenbar aus der Arbeit am Lehrbuch des Einfachen hervorgingen, ist unübersehbar.“ (Kaukoreit, S. 54) Als Beispiel legt Kaukoreit einige dieser Verse vor: das Gedicht Frommer Glaube beschreibt Frieds wachsende Abneigung zur Entwicklung des Kommunismus in der Sowjetunion: Die dir sagen: „Vertraue dem Sozialismus ohne ständige Überprüfung seiner Lehren und seiner Führung“ Sind wie Mechaniker die es für Unrecht halten ein Flugzeug, das sich bewährt hat noch täglich zu inspizieren. Der Autor kritisiert die von der kommunistischen Partei geforderte stumpfsinnige Ergebenheit dem linken Gedankengut gegenüber. Wie schon erwähnt, distanzierte sich Erich Fried bald von der stalinistischen Auffassung des Kommunismus und versuchte auch die anderen Mitglieder der linken Organisationen in diesem Sinn zu beeinflussen und sie von ihrem Dogmatismus und ihrer Fixierung auf Stalin abzubringen. Die Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, waren jedoch gering und 1944 tritt er aus dem österreichischen Kommunistischen Jugendverband aus. Gerhard Lampe spricht in diesem Zusammenhang treffend über Frieds „Schritt in die Emigration in der Emigration.“ (Lampe, S. 86) Er sei einmal mehr heimatlos gewesen: nicht nur aus seiner Heimatstadt vertrieben, nicht nur fremd geblieben in der Exilstadt London, nicht nur als Antifaschist von den Antifaschisten entfremdet, sondern auch ein Sozialist ohne Bindung. Im Deutschland-Band ist ein Gedicht abgedruckt, das seine Enttäuschung aus diesem zweiten und mehrfachen Exil zum Ausdruck bringt: Dichter im Exil Frierend in diese Zeit gekauert und zu Heeren zusammengetrieben, lerntet ihr hassen, ohne zu lieben,- so ist das Wort an euch mir vermauert. Aber mein Wort bleibt ohne Gewicht, wenn es nicht eifert euch zu erreichen. Ihr wohnt fremd hinter Mauern von Leichen; - 20 -
ich gerate euch aus dem Gesicht. Die Versuche des Autors, seinen Freunden die Augen zu öffnen und sie dazu zu bringen, die frostige Wirklichkeit einzusehen, wie sie vor ihnen steht, scheitern. Sein Wort geht an ihnen vorbei und sie frieren und schweigen weiter. Fried distanziert sich von ihnen und entscheidet sich für ein weiteres Exil, welches für ihn erträglicher ist, als das unruhige, schweigende Gewissen der „Gekauerten“. Besteht Frieds frühes Werk zum größten Teil aus Zeitgedichten, die als Reaktion auf den zweiten Weltkrieg, Nationalsozialismus und die Entwicklung der sozialistischen Tendenzen zu verstehen sind, bringt der Autor in den späten vierziger und fünfziger Jahren seine inneren Gefühle zum Ausdruck und verschlüsselt dort die politische Dimension stark (Von Bis nach Seit und Reich der Steine). Mit dem Band Warngedichte (1964) aber, und erst recht mit dem Band und Vietnam und (1966), kehrt Fried der Introvertiertheit den Rücken. IV.2 Warngedichte (1964) „Nicht der erhobene Zeigefinger stand bei diesen Gedichten Pate, sondern das dumpfe Gefühl beim Erwachen und beim Nichteinschlafenkönnen, die nicht lokalisierbare Beklemmung, das Kopfschütteln, die Furcht und Mitleid oder die Erbitterung beim plötzlichen Erfassen der Zusammenhänge zwischen verschiedenen Zeitungsmeldungen. Nein, Warnungen im Sinne einer festeingefahrenen Weltanschauung oder einer politischen Partei sind diese Verse nicht.“ (Fried: GW, S. 645) Die Motive des Begreifens, des Erkennens der Zusammenhänge, die aus scheinbar unwichtigen und vereinzelten Ereignissen bestehen, ziehen sich wie ein roter Faden durch die ganze Sammlung. Etwas geschieht und den Großteil der Menschen interessiert es nicht. Der Bau der Berliner Mauer, die Spiegel-Affäre, die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik, die Lagerung atomarer Waffen, die aggressive Politik der USA, das sind nur Beispiele von Geschehnissen, die den Dichter „nicht lokalisierbar beklemmen“ und ihm schlaflose Nächte bereiten. Obwohl er keine konkreten Ereignisse und Namen nennt (wie es später im Band und Vietnam und geschieht), begleitet seinen Vers ein schleichendes Angstgefühl, das aufgrund der - 21 -
politischen Wirklichkeit entsteht. Fried lehnt das sorglose Leben der deutschen Wohlstandsgesellschaft ab und wendet sich auf die Seite der Protestierenden. Lediglich zu protestieren ist dem Autor aber zu wenig. Er sieht in die Zukunft ein und „mahnt und warnt“: Ein Prophet Dieser Narr erinnert sich an die Zukunft Mit seinem Auge das verfinstert ist vor der Nacht Mit seinem Ohr das nichts mehr hört vor dem Schweigen Mit seinem Hirn das verbrennt vor dem Feuer Mit seinem Schrei (Warngedichte, S. 26) Auf einem sehr kleinen Raum, mit einer geringen Anzahl an Wörtern kommt hier eine der meistverwendeten Aussagen der Warngedichte zum Ausdruck: ein Protest gegen das Schweigen, gegen die gefährliche Passivität und gegen das „Nicht-Sehen- Wollen“. Der Prophet (dem niemand zuhört) warnt schreiend vor der drohenden düsteren Zukunft. Für Bezeichnung der Poesie der Warngedichte verwendet Hermann Korte den Begriff „das epigrammatische Zeitgedicht“. Korte zufolge kalkulierte Fried die Wirkung seiner Verse ein, indem er seine Schlusspointen und Wortspiele auf Konklusionen hin anlegt, die ein Leser nachvollziehen soll. (Vgl. Korte, S.129) Solch eine zugespitzte Erkenntnis stellt oft eine Vorhersage der kommenden schlechten Zeiten dar – wie in Dem Propheten. Die Kombination von Erwartung und Aufschluss wird vom Autor auch umgekehrt benutzt – der Schlüssel zur Pointe wird dem Leser schon am Anfang des Gedichtes vorgelegt, die Zusammenhänge begreift man jedoch erst nach dem Durchlesen: - 22 -
Euphorie Wer keine Ohren hat der glaubt man kann ihm die Haut nicht über die Ohren ziehen weil sie nicht da sind Taub gegen Schreckensrufe hält er sich nie für geschunden wischt sich das Blut von den Knochen und fragt nicht was er zu Markt trägt (Warngedichte, S. 5) Eine irrtümliche, frühzeitige Euphorie, falsche Freude über Dinge und Zustände, die in Ordnung scheinen, nur weil man sich vor der Wirklichkeit versteckt. Das ist die abwegige Einstellung, auf die der Autor den Leser aufmerksam macht und vor der er ihn warnt. Die Motive dieses Gedichts (und der ganzen Sammlung) sind zwar zeitlos, es stecken hinter ihnen jedoch konkrete politische und gesellschaftliche Ereignisse. Der Dichter lässt den Leser Zusammenhänge suchen und er regt ihn zum Mit- und Weiterdenken an. Sigrid Thielking geht in ihrem Essay über Erich Fried noch einen Schritt weiter und behauptet, dass Frieds Warngedichte allesamt auf einer sehr eigenen Art von ausgefeilter didaktischer Kasuistik basieren, welche ein Erfolgsrezept einer neuen Gebrauchslyrik bedeutete. (Vgl. Thielking, S. 409) Die Menge an warnenden und belehrenden Elementen in diesem Band und die Selbstdarstellung des Autors als Aufklärer und Vermittler haben allerdings nicht nur positive Reaktionen bei den Kritikern hervorgerufen. Im Jahr 1968 äußert sich zu den Warngedichten Jürgen P. Wallmann folgendermaßen: „Die Fülle der Mahnungen kann ihn (den Leser) irritieren, und es ist nicht jedermanns Sache, einhundertzwölfmal8 hintereinander gewarnt zu werden. Kurz: Der Quantität ist in diesem jüngsten Band nicht selten auf Kosten der Qualität der Vorzug gegeben worden. Einige Gedichte basieren nur auf einem ein wenig überstrapazierten guten Einfall, vieles ist allzu deutlich auf die Pointe hin konstruiert.“ (Wallmann, S. 63) Beispiele für solche „Geschwätzigkeit“ finden wir z. B. im Gedicht namens Gegengewicht: „Das Gedicht / wird richtiger / Die Welt / wird falscher (...) Die Welt / macht mir Angst / Sie ist schwächer / als ein Gedicht. (Warngedichte, S. 73) Das sind 8 112 ist die Zahl der Gedichte im Band. - 23 -
Verse, die in den 60ern ein breites Publikum erreicht haben – sie erfüllten alle Kriterien der modernen Dichtung und passten in die neue Welle der „Entdeckung der Wirklichkeit“ hinein. Auch die Experimente aus der Nähe des „Sprach-Labors“ der Konkreten Poesie der 60er Jahre9 fanden ihren Platz in den Warngedichten. Im Gedicht Zustand arbeitet Fried mit drei Verben, die er stufenweise aufeinander stapelt und dann auch vertauscht. Nicht wissen nicht wollen nicht können nicht wissen wollen nicht wissen können nicht wollen können (...) Und nichts mehr glauben (Warngedichte, S. 99) Auch diese Verse würden wahrscheinlich laut Wallmann zu den Gedichten zählen, die deutlich auf die Pointe hin konstruiert wurden. Ihre Stärken liegen jedoch im Wortspiel, in dem Sprachmittel, welches von Erich Fried häufig benutzt wird. Im Gegensatz zu anderen Autoren, die mit Wortspielen arbeiten und sie meistens humorvoll einsetzen, sind diese in Frieds politischer Lyrik ein Instrument der dramatischen Zuspitzung des Gedichtes (Ein Kind spielt Graben / bis Erde entsteht / für sein Grab. ibid.), oder eine attraktive Form ernsthafter Inhalte (wie im oben zitierten Ausschnitt aus dem Gedicht Zustand). Erich Fried ist nicht nur für seine politischen, sondern auch für seine Liebesgedichte bekannt. In meiner Arbeit werde ich zwar nicht auf diese letzt genannte Thematik eingehen, ich erwähne jedoch einige Beispiele, wo der Autor politische und intime Motive verbindet und aufgrund interessanter Vergleiche die triste Realität der gesellschaftlichen Zustände entlarvt. In den Warngedichten finden wir das Gedicht Das verschleierte Bild: Sie lieben die Freiheit wie sie ihre Frauen 9 Im „Sprach-Labor“ wurden Worte und ihre Bedeutungen, sprachliche Muster und Zeichen in ihre Bestandteile zerlegt und wieder neu zusammengesetzt. - 24 -
lieben im Dunkeln Sie tappen und wagen den Blick nicht in ihren offenen Schoß (Warngedichte, S. 62) Die für Fried typische „Poetik der Erotik“ dient dem Dichter in diesen Zeilen als Metapher für unehrliche, oberflächige menschliche Handlung. Die Klarheit der Metapher sagt vieles über die Zeit ihrer Entstehung aus – über den Bedarf solcher verständlichen, unkomplizierten Texte, die sofort und frontal wirken. Der Titel des Gedichtes unterstützt seine einzige mögliche Interpretation – eine Warnung vor falscher, halbherziger Realitätswahrnehmung und der Angst vor der Freiheit mit allem, was zu ihr gehört. Fried verfügt in Warngedichten über eine gestische Sprache. Er demonstriert, lobt und verurteilt. Die Worte vom Guten und Bösen sind jedoch noch nicht so konkret, wie sie im folgenden Band und Vietnam und erscheinen werden. Die ersten Stücke aus der im Jahre 1964 herausgegebenen Sammlung Warngedichte hat Erich Fried bereits ein Jahr früher auf der Tagung der Gruppe 47 in Saulgau gelesen. In diesem Jahr wurde er zu ihrem Mitglied. Er fand da nicht nur Freunde mit vergleichbaren politischen Erfahrungen und Einsichten, sondern auch eine Art literarischer Heimat. IV.3 und VIETNAM und (1966) Schon Anfang der 60er Jahre schrieb Erich Fried an Gedichten gegen den Vietnamkrieg.10 Er sprach Mitglieder der Gruppe 47 an und legte ihnen einen Plan vor, gemeinsam einen Band gegen den Vietnamkrieg zu schreiben. Seine Initiative 10 1964 griffen die USA auf der Seite Südvietnams aktiv in den Krieg gegen das kommunistische Nordvietnam ein. Die angebliche Offensive zum Schutz der amerikanischen Kriegsschiffe entwickelte sich immer mehr zu einem Vernichtungskrieg gegen das vietnamesische Volk, in dem die Amerikaner durch den Einsatz von chemischen Waffen durch Flächenbombardierung Tausende von Vietnamesen töteten. Gegen die amerikanische Einmischung in Vietnam regte sich auch in Deutschland ein starker Widerstand. Für die Studentenbewegung war der Vietnamkrieg das entscheidende Symbol für den Imperialismus der Großmächte. Die Studenten wurden auch von einer Reihe von Schriftstellern unterstützt (Vgl. Hoffmann, S. 123-4). - 25 -
fand aber keine Resonanz – Politik und Lyrik waren in der Zeit noch sauber getrennt und die Schriftsteller wagten nicht, diese Grenze zu überschreiten. So vermisste Fried nicht nur einen Kreis gleichgesinnter Kollegen, er fand auch keinen Verleger für den geplanten Band. Erst 1965 traf er den Verleger Klaus Wagenbach, der seine Gedichtsammlung herausgab und mit dem eine lange Freundschaft entstand. Der Band und Vietnam und enthält einundvierzig Gedichte, in denen Fried ganz direkt zum Krieg in Vietnam Stellung nimmt. Sie wenden sich gegen Mord und Folter, gegen Heuchelei und Lüge, wobei die Sympathie des Autors dem gequälten Volk in Vietnam gilt. Die Vietnam-Gedichte zögern nicht anzuklagen, zu enttarnen und zu benennen. Die Täter tragen Namen und haben Gesicht. Auf der ersten Seite der Sammlung aus dem Jahr 1966 ist die Landkarte Vietnams gezeichnet und am Schluss finden wir eine Chronologie der Ereignisse des Vietnam-Krieges. Dem Verfasser ist es offenbar sehr wichtig, dass der Leser genau weiß, worüber gesprochen wird. Eine untypische Verbindung geo-politischer Daten mit Poesie kündigt eine Lyrik an, die nicht nur mit Poetik alleine, sondern auch mit Fakten arbeiten wird. Trotzdem beginnen die Verse im Stil eines Märchens: Das Land liegt sieben Fußtritte und einen Schuss weit seine südliche Hälfte heißt Demokratie In ihrer Hauptstadt Sodom regiert ein Soldat der Mein Kampf lernt Die Mönche sind buddhistisch oder katholisch Die buddhistischen Mönche werden oft Rote genannt In Wirklichkeit sind sie gelb aber nicht wenn sie brennen. (...) Die Mädchen sind zierlich ihre Särge sind leicht zu tragen. Die Toten werden verbrannt wie die Lebenden - 26 -
(...) (und Vietnam und, S. 7) Ein bitterer Sarkasmus erwartet den Leser der ersten Worte dieser Sammlung. Das „märchenhafte“ Erzählen kontrastiert stark mit dem Inhalt des Gedichtes und lässt ihn noch grauenhafter erscheinen. Das Gedicht wirkt direkt und ohne verschiedenartige Interpretationsmöglichkeiten. Sein effektivstes Mittel ist das Schockieren, welches durch das offene Benennen der Sachen, über die man lieber schweigen würde, geschieht. Die Selbstverständlichkeit, mit der das ungeheuere Geschehen beschrieben wird, paralysiert den Leser. Die verwendeten Metaphern sind leicht zu dechiffrieren: südliche Hälfte / heißt Demokratie – der südliche Teil der Insel (seit 1955 die Republik Südvietnam) wurde durch Amerikaner militärisch und politisch unterstützt. An diesem Beispiel kann man gut betrachten, wie Erich Fried mit Ironie und Sarkasmus umgeht (ähnliche Verwendungen dieses Sprachmittels finden wir im ganzen Band). Die südliche Hälfte der Insel sei insofern demokratisch, wie die USA demokratisch seien – der Autor weist mit seinen ironisch gemeinten Versen auf die von amerikanischer Regierung und den Medien verbreitete Propaganda hin, dass nur die „Demokratie“ nach dem Vorbild der USA die richtige sei.11 Die Aufdeckung der Macht der Medien, ihrer Korruptheit und der Tendenz zur Verzerrung der Wirklichkeit des Vietnam-Krieges, ist eines der wichtigsten Themen des Buches. Sigrid Thielking spricht in Bezug auf diesen Band über ein „neues Selbstbewusstsein der politischen Lyrik.“ (Thielking, S. 411) Der Dichter enthülle die Mittelsmänner der Tätergruppen, die mitwirkenden Apparate – Print- und TV- Medien, und weist auf die Rüstungs- und Medienpolitik der USA hin, die fähig ist, durch Presse, Rundfunk und Fernsehen Massen zu manipulieren und sie für „ihre Seite“ zu gewinnen. Eines der bekanntesten Gedichte mit dieser im Vordergrund stehenden Thematik trägt den schlichten Namen 17. – 22. Mai 1966: Aus Da Nang wurde fünf Tage hindurch täglich berichtet: Gelegentlich einzelne Schüsse 11 Die Regierung der USA ließ ihre Bürger für den Großteil der Kriegsdauer im Unklaren über die wirkliche Lage in Vietnam und über die Dimension der Bombardierungen. Die großen Antivietnamkriegs-Proteste fanden erst in der zweiten Hälfte der 60er statt. - 27 -
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