Praktiken beenden , die Frauen und Mädchen schaden und GleichstellunG verhindern

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Praktiken beenden , die Frauen und Mädchen schaden und GleichstellunG verhindern
Praktiken beenden   ,
                                                                           die Frauen und Mädchen
                                                                           schaden und Gleichstellung
                                                                           verhindern

United Nations Population Fund   Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW)
605 Third Avenue                 Hindenburgstr. 25
New York, NY 10158               30175 Hannover
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                                                                                        Deutsche Kurzfassung
                                 www.dsw.org

Rechte und Entscheidungsfreiheit für alle
Praktiken beenden , die Frauen und Mädchen schaden und GleichstellunG verhindern
UNFPA, der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen
UNFPA fördert eine Welt, in der jede Schwangerschaft gewollt, jede Geburt sicher und das
Potenzial jedes jungen Menschen verwirklicht wird.

Mehr Informationen unter www.unfpa.org

Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW)
Die DSW ist eine international tätige Entwicklungsorganisation. Ziel unserer Arbeit ist es,
zur Umsetzung des Menschenrechts auf Familienplanung und zu einer zukunftsfähigen
­Bevölkerungsentwicklung beizutragen. Jugendliche sind daher die wichtigste Zielgruppe
 unserer Projekte.

Auf nationaler und internationaler Ebene bringt sich die DSW in politische Entscheidungs­
prozesse in den Bereichen Gesundheit, Familienplanung und Gleichstellung der Geschlechter ein.

Mehr Informationen unter www.dsw.org

Rechte und Entscheidungsfreiheit für alle
Praktiken beenden , die Frauen und Mädchen schaden und GleichstellunG verhindern
Weltbevölkerungsbericht 2019

Praktiken  beenden  ,
die Frauen und Mädchen
schaden und Gleichstellung
verhindern

 Deutsche Kurzfassung
Zwar können
Schädliche
praKtiKeN
sehr unterschiedlich sein,
doch verletzen sie
alle die rECHTE
             von
Frauen und Mädchen.
INHALT

GEZWUNGEN, ABGELEHNT, BESCHNITTEN
Schädliche Praktiken - eine stille Krise
SEITE 6

VERWEIGERT, ENTZOGEN, VERLETZT
Schädliche Praktiken und Menschenrechte
SEITE 12

     ..              ..
UNERWUNSCHT, VERNACHLASSIGT, BESEITIGT
Eine Präferenz für Söhne verletzt viele Rechte
SEITE 26

                          ..
GESCHNITTEN, GESCHABT, GENAHT
Weibliche Genitalverstümmelung: gesellschaftlich
legitimierte geschlechtsspezifische Gewalt
SEITE 36

VERSPROCHEN, WEGGEGEBEN,
GEHANDELT, VERKAUFT
Tag für Tag verbauen Frühverheiratungen die Chancen
von 33.000 Mädchen
SEITE 50

AUFBEGEHREN
Handlungen für eine Welt ohne schädliche Praktiken
SEITE 64
AKTIV WERDEN
    und            Schädigungen
        beenden
    Jeden Tag werden mehrere Zehntausend Mädchen ihrer Gesund­heit,
    ihrer Rechte und ihrer Zukunft beraubt. Manche ­werden Opfer
    weiblicher Genital­verstümmelung, andere werden im Kindesalter
    zwangsverheiratet, wieder andere werden vernachlässigt oder
    mangel­ernährt, nur weil sie Mädchen sind.

    Viele Eltern, die ihre Kinder schädlichen         ­ ntschieden die Beseitigung schädlicher
                                                      e
    Praktiken aussetzen, tun das vielleicht in        Praktiken. Im Jahr darauf erklärten die
    guter Absicht. Irrtümlicherweise nehmen           Regierungen anlässlich der Vierten Welt­
    sie es hin, dass die weibliche Genital­           frauen­konferenz erneut, dass schädliche
    verstümmelung in einem sozialen Umfeld,           Praktiken enden müssen.
    in dem diese Praxis weit verbreitet ist, nun
    mal dazu­gehört, wenn man akzeptiert              Zwar konnte die Verbreitung einiger schäd­
    ­werden will. Sie glauben, die Zukunft eines      licher Praktiken gebremst werden, doch in
     Kindes zu sichern, wenn sie es früh ver­         Wirklichkeit nimmt die Zahl der Mädchen,
     heiraten. Manchen ist nicht klar, welche         denen Schaden zugefügt wird, aufgrund des
     Gefahren für die physische und psychische        Bevölkerungswachstums zu. Es liegt auf der
     Gesundheit damit verbunden sind. Doch            Hand, dass Versprechen und Resolutionen
     wenn Mädchen wegen einer Zwangsheirat            nicht ausreichen, um schädliche Praktiken
     die Schule verlassen und sich von ihren          ein für allemal zu beseitigen. Jetzt brauchen
     Freundinnen trennen müssen, oder wenn sie        wir echte Veränderungen und greifbare
     ihr ganzes Leben lang unter gesundheit­          Ergebnisse.
     lichen Problemen leiden, weil sie wegen
     eines schädlichen Initiationsritus verstümmelt   Bei der Weltbevölkerungskonferenz in
     wurden, dann sind gute Absichten kein            Nairobi (ICPD25) im vergangenen Jahr
     stichhaltiges Argument.                          ­gingen die Delegationen von Regierungen,
                                                       Basis­organi­sa­tionen, Entwick­lungsträgern
    Bei der Weltbevölkerungskonferenz (ICPD)           und der Privatwirtschaft über Versprechen
    im Jahr 1994 bekannten sich die Regier­ungen       und Reso­lu­tionen hinaus. Sie verpflichteten
    der Welt zu universeller sexueller und             sich, den ungedeckten Bedarf an Verhütungs­
    reproduktiver Gesundheit und forderten             mitteln aufzustocken, die ­vermeidbare

4
Mütter­­sterblichkeit zu beenden sowie             ­ er­ändern. Wir wissen, dass die
                                                   v
geschlechts­spezifische Gewalt und                 Abschaffung patrilinearer Eigentums-
­schädliche Praktiken zu beseitigen.               und Vererbungs­systeme dazu beitragen
                                                   kann, die Früh­verheiratung abzuschaffen.
In diesem Jahr beginnt die „Dekade des             Wir wissen, was funktioniert.
Handelns“, um die Ziele für nachhaltige
Entwicklung bis 2030 zu erreichen, ein­            Und heute wissen wir auch, was es kosten
schließlich der Zielvorgabe 5.3 über die           würde, die beiden häufigsten schädlichen
Beseitigung schädlicher Praktiken. Jetzt ist       Praktiken, nämlich die weibliche Genital­
die Zeit für ein entschlosseneres Eingreifen       verstümmelung und die Frühverheiratung,
gekommen, um unser Ziel zu erreichen und           zu beseitigen: von 2020 bis 2030 müssen
die Millionen Frauen und Mädchen zu                durchschnittlich 3,4 Milliarden US-Dollar
­schützen, deren körperliche Integrität ge­fähr­   pro Jahr klug eingesetzt werden, um das
 det ist. Wir müssen schneller vorankommen.        Leid von schätzungsweise 84 Millionen
                                                   Mädchen zu beenden.
Die Regierenden müssen ihrer Verpflich­tung
nachkommen, Mädchen und Frauen vor                 Mit Wissen ausgestattet, mit internationalen
Schaden zu bewahren. In verschiedenen              Menschenrechtsabkommen im Rücken und
Menschenrechtsabkommen, wie etwa dem               durch neue Verpflichtungen von Regierungen
Übereinkommen über die Rechte des                  und Zivilgesellschaft ermutigt, sind wir stark
Kindes, werden die Vertragsstaaten ange­           genug, um den Unheil bringenden Kräften
wiesen, „alle wirksamen und geeigneten             entgegenzutreten und eine Welt zu verwirk­
Maßnahmen [zu ergreifen], um überlieferte          lichen, in der jede Frau und jedes Mädchen
Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder         ihre persönliche Zukunft frei gestalten kann.
schädlich sind, abzuschaffen.“
                                                   Zu Beginn des Jahres 2020 steht die Welt
Vielleicht ist das schwierig, aber ich habe        vor einer beispiellosen Pandemie. COVID-19
keinen Zweifel, dass es möglich ist. Einige        grassiert auf dem ganzen Erdball, fordert
schädliche Praktiken haben zwar Jahr­              Menschenleben und richtet verheerende
hunderte überdauert. Doch das wird – und           gesellschaftliche und volkswirtschaftliche
muss – sich ändern. Der erste Schritt zur          Schäden an. Auch in dieser schlimmen Zeit
Veränderung von Einstellungen und gesell­          wird UNFPA in den Ländern und Gemein­
schaftlichen Normen ist die Aufklärung der         schaften, in denen wir tätig sind, die
Eltern über die Folgen schädlicher Praktiken       Gesundheit und Rechte von Frauen und
für ihre Töchter und darüber, wie Familien         Mädchen schützen.
und Gemeinschaften profitieren, wenn
Mädchen gesund sind und ihre Rechte                Dr. Natalia Kanem
­respektiert werden. Wir wissen, dass              UN-Untergeneralsekretärin und
 Maßnahmen zur Gleichstellung von                  Exekutivdirektorin UNFPA,
 Frauen, Männern, Mädchen und Jungen               die Organisation der Vereinten Nationen
 in allen Lebensbereichen helfen können,           für sexuelle und reproduktive Gesundheit
 über­kommene schädliche Traditionen zu

                                                                                                    5
GEZW UNTNGEN
   LEH
ABGE
BESCHNITTEN
 Schädliche
 Praktiken –
 eine stille krise
Sie sind Waren, die
gehandelt werden.
Sie sind Objekte
der Lust.
Eine Bürde, der
man sich entledigt.
Eine Quelle unbe­
zahlter Arbeit.

Sie sind Mädchen.
Was bedeutet, dass sie,
­ungeachtet ihrer angeborenen
 und unveräußerlichen
 Menschen­rechte, nicht selbst
 über ihren Körper, ihr Leben und
 ihre Zukunft bestimmen können.

Wir leben in einer Welt, in
der nach wie vor zu viele
Dimensionen von Macht und
Wahlmöglichkeiten vom
­Geschlecht bestimmt werden.
 Die meisten Frauen und
 Mädchen sind auf dem Weg zur
 Gleichstellung mit diskriminie-
 renden Barrieren konfrontiert,
 wobei schädliche Praktiken
 mit zu den heimtückischsten
 ­Ursachen und Folgen
  geschlechts­spezifischer
  ­Diskriminierung gehören.

                               7
Obwohl derartige Praktiken ganz unmittelbare und      verknüpft sind – weibliche Genitalverstümmlung,
    häufig irreversible Schäden verursachen, werden sie   Kinderehen und die Präferenz von Söhnen.
    unter Umständen als normal, wenn nicht sogar
    nützlich akzeptiert. In vielen Fällen schreiben sie   Zur „Erklärung“ dieser Praktiken werden häufig
    den Körpern von weiblichen Kleinkindern und           Tradition, Religion oder Kultur bemüht, und auf
    Mädchen schon früh im Leben Machtlosigkeit und        den ersten Blick können manche davon auch gut
    Ungleichheit zu. Ihr gesamtes Leben hindurch          gemeint erscheinen. Doch unterm Strich steht
    kann das ihre Aussichten auf Bildung, auf sichere     ­hinter allen schädlichen Praktiken die Überzeugung,
    Geburten, auf einen menschenwürdigen Lebens-           dass die Rechte und das Wohlergehen von Frauen
    unterhalt verbauen und sie daran hindern, ihre         und Mädchen weniger zählen als von Männern
    Rechte einzufordern.                                   und Jungen. Mit der Folge, dass Frauen und
                                                           ­Mädchen weniger Wahlmöglichkeiten offenstehen
    Kinder-, Früh- und Zwangsehen und weibliche             und Entscheidungen für sie getroffen werden,
    Genitalverstümmlung gehören zu den hervor­              die sie unter die sexuelle, rechtliche und wirtschaft-
    stechendsten schädlichen Praktiken. In vielen           liche Kontrolle von Männern bringen.
    ­unterschiedlichen Formen sind schädliche Prak­
     tiken gegen Mädchen und Frauen weithin und in        Eine ganze Reihe von internationalen Menschen-
     allen Regionen der Welt verbreitet. Kein Land        rechtsverträgen und anderen Abkommen ver­
     kann behaupten, gänzlich frei davon zu sein.         pflichtet Staaten, aktiv auf die Beseitigung von
                                                          schädlichen Praktiken hinzuarbeiten. So schreibt das
    Alle schädlichen Praktiken bis 2030 in allen          Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der
    ­Ländern und Gemeinschaften zu beseitigen – ein       Diskriminierung der Frau vor, alle angemessenen
     erklärtes Anliegen von UNFPA und ein Schlüssel-      Maßnahmen zur Beseitigung von Vorurteilen und
     ziel der Agenda für Nachhaltige Entwicklung –,       Praktiken auf der Grundlage von Geschlechter­
     verlangt rasche Veränderungen im Denken der          diskriminierung zu ergreifen. Das Aktionsprogramm
     Menschen.                                            der Internationalen Konferenz über Bevölkerung
                                                          und Entwicklung von 1994 prangert die weibliche
    Die Hinweise mehren sich, dass viele Mädchen der      Genitalverstümmelung explizit als Menschen-
    jüngeren Generation sich ihrer Rechte bewusster       rechtsverletzung an, die verboten werden muss.
    sind und schädliche Praktiken mehr denn je zurück­
    weisen. Weltweit besteht seit langem die Über­        Die Staaten sind verpflichtet, schädliche Praktiken
    einkunft, diese Praktiken zu beseitigen, und auch     zu unterbinden – ganz unabhängig davon, wer sie
    Männer und Jungen stellen die Ungleichheit der        ausführt, ob Familienmitglieder, religiöse Gemein-
    Geschlechter zunehmend in Frage.                      schaften, Gesundheitsdienstleister, private Unter-
                                                          nehmen oder staatliche Einrichtungen. In vielen
    Ein Verstoß gegen Rechte                              Fällen ist dazu mehr als ein bloßes gesetzliches
    Die Bandbreite schädlicher Praktiken gegen Frauen     ­Verbot nötig, auch wenn das ein unerlässlicher
    und Mädchen ist groß. Dieser Bericht konzentriert      Schritt ist. Soll Geschlechtergleichheit erreicht
    sich auf drei schädliche Praktiken, die besonders      ­werden, verlangt das eine Reihe von Schritten, die
    eng mit der sexuellen und reproduktiven Gesund-         Mädchen und Frauen wirksam vor Schädigungen
    heit und den damit zusammenhängenden Rechten            schützen.

8   GEZWU NG E N , A BG E LE H N T, BE SCH N I T T EN
Ein gemischtes Bild des                                  Kluft der Geschlechter im Hinblick auf die wirt-
­Fortschritts                                            schaftliche Gleichstellung geschlossen ist, könnten
Einige schädliche Praktiken, denen in den ver­           sogar über 250 Jahre vergehen.
gangenen Jahren systematisch Aufmerksamkeit
­geschenkt wurde, nehmen dort ab, wo sie besonders       Die geschlechtsspezifische Diskriminierung spielt
 weit verbreitet waren. Ungeachtet großer Fortschritte   sich vor dem Hintergrund weltweit zunehmender
 beim gleichberechtigten Zugang zu Gesundheits-          Ungleichheiten und stetig verschärfter Ausgrenzung
 versorgung und Bildung, bestehen rund um den            ab. Diese Ungleichheiten werden durch die vor-
 Globus nach wie vor akute Diskriminierung und           herrschenden Wirtschaftsmodelle festgeschrieben
 Marginalisierung von Frauen und Mädchen fort.           und schüren soziale Spaltungen und Spannungen.
                                                         Sie zementieren und verschärfen die Diskriminie-
In 57 Ländern sind nur 55 Prozent der Frauen im          rung von Frauen und Mädchen, während zugleich
Alter von 14 bis 49, die verheiratet sind oder in        eine gezielte Offensive gegen die Gleichstellung der
­einer festen Partnerschaft leben, in der Lage, selbst   Geschlechter an Boden gewinnt. Im Zuge von Spar­
 über ihre sexuellen Beziehungen und die Nutzung         maßnahmen drohen Kürzungen der öffentlichen
 von Verhütungsmitteln und Dienstleistungen der          Mittel für Gesundheits- und andere Dienstleistun-
 reproduktiven Gesundheit zu entscheiden. Die            gen, auf die arme Gemeinschaften und insbesondere
 ­globale Gender-Kluft insgesamt zu überwinden,          Frauen mit niedrigem Einkommen angewiesen
  könnte nahezu ein Jahrhundert dauern und bis die       sind. Schon 2021 werden etwa 5,8 Milliarden

Street Art Foto, mit freundlicher Genehmigung von
Daniel Quesada-Robolledo, Horizons of Friendship,
Tegucigalpa, Honduras.
Menschen in Ländern leben, die von Sparplänen             Mädchen, die einer Genitalverstümmlung
     betroffen sind, darunter fast 2,9 Milliarden Frauen       ­unter­zogen werden, leiden zuerst unter großen
     und Mädchen, fast drei Viertel der weiblichen              ­Schmerzen, dem Risiko von Blutungen, Infektionen
     Weltbevölkerung.                                            und sogar Tod. Später haben sie unter U
                                                                                                       ­ mständen
                                                             mit Entzündungen des Reproduktions­trakts,
     Eine Kaskade von Schädigungen                           ­chronischen Rückenschmerzen, schmerz­haftem
     Eine schädliche Praxis kann als ein einmaliges           Geschlechtsverkehr, dem Verlust sexueller Lust
     ­Ereignis beginnen. Einem Mädchen werden die             ­sowie Komplikationen bei der Geburt zu kämpfen.
      Beine auseinandergezwungen und Teile ihrer               Darüber hinaus sind sie auch einer h­ öheren Gefahr
      ­Genitalien abgetrennt. Eine in hübsche Kleider          für psychische Erkrankungen einschließlich post-
       ­gehüllte Kinderbraut betet mit tonloser Stimme ihr     traumatischer Belastungsstörungen ausgesetzt.
        Eheversprechen herunter. Doch auf diesen e­ inen
        Moment folgen unzählige weitere, und aus einer       Mädchen, die zu einer frühen Heirat gezwungen
        schädlichen Praxis entspringt eine ganze K
                                                 ­ askade    werden, brechen in vielen Fällen die Schule ab, was
        von Schädigungen.                                    ihre Aussichten auf ein späteres Einkommen und
                                                             Autonomie schmälert. Oftmals fühlen sie sich
     Mädchen und Frauen, denen beigebracht wird, dass        ­sozial i­soliert und neigen zu Depressionen. Und sie
     ihr Körper in erster Linie dafür da ist, Männern         sind einem höheren Risiko ausgesetzt, schwanger
     Lust zu bereiten oder von ihnen kontrolliert zu          zu werden, ob sie wollen oder nicht, und zwar oft
     werden, fehlt eher das Wissen um ihre Rechte.            bevor ihr Körper dazu bereit ist. Das kann wieder-
     Und diese Rechte werden auf breiter Front verletzt,      um eine Vielzahl von Risiken und Folgen für sie
     darunter die Rechte auf Gleichstellung und               und die Neugeborenen nach sich ziehen.
     ­Nichtdiskriminierung, auf Sicherheit und Ent-
      scheidungsfreiheit. Genauso aber können ihnen die      Die Präferenz für Söhne kann sich schon vor der
      Rechte auf sexuelle und reproduktive Gesundheit        Geburt in Form von pränataler Geschlechter­
      verweigert werden, auf Bildung und auf ihre            selektion manifestieren oder sich danach in kürzerer
      ­Chancen, sich im Beruf und im Leben zu entfalten.     Stillzeiten, schlechterer Ernährung, unzureichender

                                                             Wandmalerei von Fidel Évora im Largo Intendente,
                                                             Lissabon, zur Bewusstseinsschärfung gegenüber weiblicher
                                                             Genitalverstümmelung. © CML | DPC | José Vicente 2014

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Schulbildung und weniger Impfungen für Mädchen              Verbesserung der Gesetze und Initiativen sind viele
niederschlagen. Die Folge ist, dass sie später im           Formen dieser Gewalt noch immer nicht sichtbar,
Hinblick auf Bildung, Chancen am Arbeitsmarkt,              nicht verstanden und werden nicht als Problem
politische Rechte und familiären Status weniger             ­akzeptiert. Trends wie die „Medikalisierung“
gut gerüstet sind.                                           der weiblichen Genitalverstümmelung, bei der
                                                             ­geschultes medizinisches Personal den Eingriff
Schädliche Praktiken haben auch im größeren                   ­durchführt, Fälle, in denen Kinderbräute über
Rahmen weitreichende Auswirkungen. Frühverhei-                 ­soziale Medien “verkauft” werden, und der Einsatz
ratungen etwa stehen in engem Zusammenhang                      von Technologien der reproduktiven Gesundheit,
mit einer höheren Fruchtbarkeitsrate und der Fort-              um diskriminierende Präferenzen für Söhne zu
dauer von Armut über Generationen hinweg. Die                   ­ermöglichen, sind besorgniserregende Anzeichen
Bevorzugung von Söhnen hat vielerorts zu einem                   dafür, wie schädliche Praktiken in die moderne
groben Missverhältnis in der Anzahl von Männern                  Welt übertragen werden.
und Frauen geführt, und zwar in einem solchen
Maße, dass viele Männer Gefahr laufen, keine                Anlass zur Hoffnung gibt der Wandel der öffent­
Partnerin finden und keine Familie gründen zu               lichen Meinung. In Ländern, die von weiblicher
können. Das wiederum kann das Risiko von Ge-                Genitalverstümmelung betroffen sind, vertreten
walt gegen Frauen erhöhen, den Menschenhandel               sieben von zehn Mädchen und Frauen die Ansicht,
antreiben und Frauen anfälliger für andere Formen           dass diese Praxis beendet werden sollte. Und dieser
von Diskriminierung und Unterdrückung machen.               Widerstand könnte weiter zunehmen, da der
                                                            ­Anteil heranwachsender Mädchen, die Genitalver-
Schädliche Praktiken beenden                                 stümmlung ablehnen, um mindestens 50 Prozent
Die Gleichbehandlung der Geschlechter ist ein                höher liegt als bei älteren Frauen.
­vereinbartes globales Ziel im Rahmen der Agenda
 2030 für nachhaltige Entwicklung, die explizit zur         Traditionelle schädliche Praktiken tatsächlich zu
 Beendigung aller Formen von Diskriminierung,               beenden, verlangt jedoch wesentlich schnellere
 Gewalt und schädlichen Praktiken gegen Frauen              Fortschritte. Gemeinschaften müssen sich darauf
 und Mädchen überall auf der Welt aufruft. 2019             verständigen, ihre Töchter zu schützen. Mädchen
 haben sich die Teilnehmer*innen des ICPD25-                müssen in die Lage versetzt werden, in qualitativ
 Gipfels von Nairobi auf eine Null-Toleranz für             hochwertigen Schulen zu bleiben, sich über ihre
 schädliche Praktiken verpflichtet. 2020 hat der 25.        Rechte und Wahlmöglichkeiten zu informieren
 Jahrestag der Vierten Weltfrauenkonferenz 1995             und frei über ihre Wünsche und Bedürfnisse zu
 dem weltweiten Streben nach Gleichstellung der             sprechen. Die öffentlichen Dienste müssen die
 Geschlechter und der Stärkung der Rolle der Frau           gleichberechtigte Aufteilung von unbezahlter
 neuen Schwung verliehen.                                   ­Pflege und Hausarbeit unterstützen, um so die
                                                             ­geschlechtsspezifische Diskriminierung in den
Schädliche Praktiken stellen eine stille Krise dar            ­Familien zu reduzieren. Die Wirtschaft muss jeder
und sind Teil weit verbreiteter und andauernder                Frau die Möglichkeit bieten, sich ein menschen-
Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Weltweit wird                 würdiges Leben aufzubauen, das von Autonomie,
jede dritte Frau irgendwann im Laufe ihres Lebens              Würde und Wahlmöglichkeiten geprägt ist.
körperlich oder sexuell missbraucht. Trotz ständiger

                                                   W E LT B E VÖL K E R UN G S B E R I C H T 2 02 0   KUR Z FASS UN G   11
VERW E I G E R T
 ENtZOgen
  ERLETZT
  Schädliche
  Praktiken
  Menschenrechte
Jeden Tag,
werden weltweit
hunderttausende
MÄDCHEN mit der
Kenntnis und dem
Einverständnis ­ihrer
Familien, ­ihrer
Freundinnen und
Freunde und i­ hres
­sozialen ­Umfelds,
 physisch oder
 ­psychisch ­geschädigt.
Manchmal durch die
Verstümmelung i­hrer Genitalien,
was häufig als I­ nitiationsritus
an der Schwelle z­ wischen der
­Kindheit und einem L­ eben als
 ­erwachsene Frau rationa­lisiert
  wird. ­Manchmal durch die
  ­Weitergabe, den Verkauf oder
   Tausch eines Mädchens gegen
   Geld oder e­ inen Wertgegenstand,
   oft als „Ehe“ beschönigt.
   Und manchmal kommt die
   ­Schädigung eher schleichend
    daher: als Bevor­zugung der
    ­Söhne vor den T­ öchtern, wodurch
     negative E­ instellungen über den
     Wert von Frauen und Mädchen
     in der ­Gesellschaft verfestigt
     ­werden und die Benachteiligung
      der Frauen fortgeschrieben wird.

                                  13
All diese unterschiedlichen schädlichen Praktiken       Die Vereinten Nationen sind der Auffassung, dass
     haben eines gemeinsam: Es handelt sich um               schädliche Praktiken häufig zur Folge − und zum
     ­Menschenrechtsverletzungen.                            Ziel − haben, dass die Anerkennung, Inanspruch-
                                                             nahme oder Ausübung der Menschenrechte und
     Im Laufe der Jahre hat sich die internationale          Grundfreiheiten durch Frauen und Kinder beein-
     ­Gemeinschaft darauf verständigt, dass einige           trächtigt oder vereitelt werden, wie es in einer
      schädliche Praktiken inakzeptabel sind und             ­Reihe von internationalen Übereinkommen und
      ­beendet werden müssen. Dennoch existieren diese        Erklärungen heißt.
       Praktiken noch immer überall auf der Welt,
       selbst in Ländern, in denen sie gesetzlich verboten    Schädliche Praktiken haben negative Folgen für
       sind. Und das bedeutet, dass die Menschenrechts-       die Würde, die physische, psychosoziale und
       verletzungen fortgesetzt werden.                       ­moralische Integrität und Entwicklung, die gesell-
                                                               schaftliche Teilhabe, die Gesundheit, die Bildung
     Was bedeutet eine Schädigung                              sowie für den wirtschaftlichen und sozialen Status
     wirklich?                                                 von Mädchen. In diesem Bereich gibt es zwei
     Die schädliche Praxis – die eigentliche Handlung –,       wichtige Abkommen: das Übereinkommen über
     mit der einem Mädchen körperlicher Schaden                die Rechte des Kindes und das Übereinkommen
     ­zugefügt wird, verursacht Folgeschäden, weil dem         zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung
      Mädchen damit auch viele weitere Rechte ver­             der Frau – bekannt als Kinderrechtskonvention
      weigert werden. Die Auswirkungen ziehen sich             und als Frauenrechtskonvention. Darin sind
      durch die ganze Gesellschaft und verstärken genau      ­Beeinträchtigungen der Würde als Menschen-
      jene geschlechterbezogenen Stereotype und die           rechtsverletzungen anerkannt, weil Frauen und
      Ungleichheit, die diese Praxis überhaupt erst           Kinder durch diese Formen der Diskriminierung
      ­hervorgebracht haben.                                  daran gehindert werden, in vollem Umfang an
                                                              der Gesellschaft teilzuhaben oder ihr volles Poten-
     In der internationalen Menschenrechtsarena deckt         zial zu entwickeln und auszuschöpfen.
     der Begriff Schädigung ein großes Spektrum und
     ein breites Bedeutungsfeld ab. Dabei geht es um         Schädliche Praktiken erwachsen aus gesellschaft­
     mehr als eine körperliche, mentale oder emotionale      lichen Normen, die dazu dienen, die Dominanz
     Verletzung, die einem Menschen zugefügt wird. Es        von Männern und Jungen über Frauen und
     geht um mehr als eine wirtschaftliche Schädigung,       ­Mädchen aufrechtzuerhalten. Letztlich werden sie
     die das Einkommen und die Er­sparnisse schmälert.        den Frauen und Kindern von Familienangehörigen,
     Und es geht um mehr als eine Rufschädigung, die          anderen Personen aus dem sozialen Umfeld oder
     das Ansehen einer Person in ihrem sozialen Umfeld        der Gesellschaft insgesamt aufgezwungen – egal ob
     beeinträchtigt. Derartige Schäden sind messbar,          die Betroffenen damit einverstanden sind oder
     aber die Schädigung durch Frühverheiratung oder          nicht. All diesen Praktiken liegt der Glaube an eine
     die Bevorzugung von S­ öhnen kann weit über das          unveränderliche, kategorische Zweiteilung zugrunde,
     einzelne Mädchen h ­ inausreichen und – mit einem        die Männer und Frauen, Jungen und Mädchen
     Wort – unermesslich sein.                                voneinander trennt und hierarchisch strukturierte
                                                              gesellschaftliche Rollen und Erwartungen diktiert,

14   V E RWEIGE RT, E N TZO G E N , V E R LE TZ T
Praktiken           ,
die gemäß internationalen
Menschenrechtsabkommen als schädlich gelten

• Verbrechen, die im Namen der sogenannten Ehre
  ­begangen werden
• Beschuldigungen der Hexerei
• Binden, Brandmarken, das ­Beibringen von Narben
   oder ­Stammeszeichen
• Körpermodifikationen wie zum Beispiel
   Tellerlippen, ­Halsverlängerung
• Brustbügeln
• Brautgeld und mitgiftbezogene Gewalt
• Frühverheiratung
• Körperstrafen
• Weibliche Genitalverstümmelung (FGM)
• Geschlechtsselektion
• Inzest
• Kindestötung
• Nahrungsmitteltabus und ­traditionelle
   ­Geburtspraktiken
• Unterernährung oder das Mästen von Mädchen
• Steinigung
• Tabus oder Praktiken, durch die Frauen an der
    Selbstbestimmung über ihre Fertilität gehindert
    werden
• Gewaltsame Initiationsriten
• Jungfräulichkeitstests
• Diskriminierende Behandlung von und Gewalt
    gegen Witwen

                            W E LT B E VÖL K E R UN G S B E R I C H T 2 02 0   KUR Z FASS UN G   15
denen zufolge Männern und Jungen ein höherer          In der Kinderrechtskonvention wird von den
     Wert und eine höhere Wertschätzung zugesprochen       ­Vertragsstaaten gefordert, alle wirksamen und ge-
     werden und Frauen und Mädchen demnach u   ­ nter       eigneten Maßnahmen zu ergreifen, um überlieferte
     ihnen stehen.                                          Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder
                                                            ­schädlich sind, abzuschaffen. Die Weltgesundheits-
     Zu den Praktiken, die als Menschenrechtsver­            organisation (WHO) definiert Gesundheit als
     letzungen anerkannt sind, gehören die weibliche         ­einen ­Zustand des vollständigen körperlichen,
     Genitalverstümmelung (FGM), die Verheiratung             ­geistigen und ­sozialen Wohlergehens und nicht nur
     im Kindesalter und die Geschlechtsselektion. Die          als das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.
     Präferenz für Söhne stellt zwar an und für sich           Mit einer Ausnahme wurde die Kinderrechts­
     ­keine Menschenrechtsverletzung dar, ist aber             konvention von allen M ­ itgliedstaaten der Vereinten
      ­treibende Kraft von schädlichen Praktiken, welche   Nationen ratifiziert.
       die Menschenrechte verletzen, zum Beispiel der
       ­Geschlechtsselektion. Weitere Praktiken, die mit   Die Gleichstellung der Geschlechter, das Recht
        Nahrungs- oder Menstruationstabus zusammen­        auf Freiheit von Diskriminierung aufgrund des
        hängen, geben den Menschenrechtsexpert*innen       ­Geschlechts und das Recht auf Gleichbehandlung
        ebenfalls Anlass zur Sorge.                         sind in der Internationalen Menschenrechtscharta
                                                            weithin als Menschenrechte anerkannt.
     Alle geeigneten Maßnahmen
     In der Frauenrechtskonvention und der Kinder-         Der internationale Menschen-
     rechtskonvention wird ausdrücklich auf schädliche     rechtsrahmen
     Praktiken eingegangen und ausgeführt, wozu            Gemäß dem Übereinkommen zur Besei­tigung
     die Vertragsstaaten verpflichtet sind, um diese zu    ­jeder Form von Diskriminierung der Frau sollen
     beseitigen.                                            die Vertragsstaaten:
                                                            • alle geeigneten Maßnahmen treffen, um einen
     Mit der Frauenrechtskonvention verpflichten sich         Wandel in [solchen] sozialen und kulturellen
     die Staaten, „alle geeigneten Maßnahmen einschließ­      Verhaltensmustern zu bewirken …
     lich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung
     oder Aufhebung aller bestehenden Gesetze, Verord-     Gemäß dem Internationalen Pakt über wirtschaft-
     nungen, Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen,     liche, soziale und kulturelle Rechte sollen die
     die eine Diskriminierung der Frau dar­stellen“, und   ­Vertragsstaaten dem Sinn nach auch:
     „alle geeigneten Maßnahmen [zu treffen] …, um          • sicherstellen, dass der Zugang zu vor- und nach-
     einen Wandel in den sozialen und kulturellen Ver-        geburtlicher Betreuung und zur Familienplanung
     haltensmustern von Mann und Frau zu bewirken,            nicht durch schädliche soziale oder traditionelle
     um so zur Beseitigung von Vorurteilen sowie von          Praktiken b­ eeinträchtigt wird und
     herkömmlichen und allen sonstigen                      • verhindern, dass Frauen durch Dritte g­ ezwungen
     auf der Vorstellung von der Unterlegenheit oder          werden, sich traditionellen Praktiken zu unter-
     ­Überlegenheit des einen oder anderen Geschlechts        ziehen.
      oder der stereotypen Rollenverteilung von Mann
      und Frau beruhenden Praktiken zu gelangen“.

16   V E RWEIGE RT, E N TZO G E N , V E R LE TZ T
Gemäß dem Übereinkommen über die Rechte des                  daran hindern müssen, Menschenrechte zu verletzen,
Kindes sollen die Vertrags­staaten:                          und dass sie Verfahren zur Wiedergutmachung
• Kinder vor jeglicher Form von körper­licher oder           von Menschenrechtsverletzungen vorsehen müssen.
  geistiger Gewaltanwendung schützen, auch                   Und verwirklichen bedeutet, dass die Staaten die
  wenn diese von Eltern oder anderen Betreuungs-             notwendigen Informationen und Dienstleistungen
  personen ­ausgeht.                                         bereitstellen müssen, um alle aufgeführten Ergeb-
                                                             nisse zu erzielen.
Vertragsausschüsse haben die Staaten aufgefordert:
• wirksame soziale Maßnahmen zu e­ rgreifen, um              Weil schädliche Praktiken häufig mit Gewalt gegen
  Normen zu verändern, die substanzielle Gleich-             Mädchen und Frauen verbunden sind, sind die
  stellung der ­Geschlechter zu unterstützen und             ­Regierungen verpflichtet, solche Handlungen zu
  die Rechte von Frauen und Mädchen zu f­ ördern.             verhindern, zu untersuchen und zu bestrafen, auch
• alle ihnen zu Gebote stehenden – fi ­ nanziellen,           in Fällen, in denen die Gewalt von nichtstaatlichen
  gesetzgeberischen, ­ver­waltungstechnischen und             Akteuren ausgeht, also beispielsweise von Familien-
  politischen – ­Mittel selbstständig und in                  angehörigen.
  ­Zusammenarbeit mit zivilgesellschaf­­t­lichen,
   ­religiösen und gemeindenahen Gruppen einzu-              Nach Angaben von UN Women haben alle
    setzen, um schädliche Praktiken zu beseitigen.           ­Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen einen
                                                              Grundsatz in ihre Verfassung aufgenommen, der
Vertragsausschüsse haben die Vertragsstaaten                  die Gleichstellung der Geschlechter und die
­a­ußerdem aufgefordert, diesen Verpflichtungen               ­Nichtdiskriminierung in bestimmten Bereichen
 durch ihre Gesetzgebung nachzukommen.                         garantiert, so zum Beispiel im Bereich der politi-
 Die Regierungen sollen:                                       schen Partizipation. 181 Verfassungen garantieren
 • Gesetze in Hinblick auf eine wirksame Beendi-               das Recht auf Gleichberechtigung in der Ehe und
    gung schädlicher Praktiken anpassen oder ver­              im Familienleben, 182 das Recht auf Gewaltfreiheit.
    abschieden. Sie ­müssen außerdem sicherstellen,
    dass diese mit den einschlägigen Verpflichtungen         Gesetze reichen nicht aus
    der UN-Konvention zur Besei­tigung jeder Form            Es ist zwar notwendig, Gesetze zu verabschieden
    von Diskriminierung der Frau und der UN-                 und Rechte in Verfassungen festzuschreiben, aber
    Kinderrechts­konvention einhergehen und den              das reicht bei Weitem nicht aus, um gegen Frauen
    ­Kinderrechten und allen anderen internationalen         und Mädchen gerichtete schädliche Praktiken zu
     Menschenrechtsstandards entsprechen.                    verhindern und zu beenden. So ist beispielsweise
                                                             FGM in den meisten Ländern, in denen sie
Respektieren, schützen und                                   praktiziert wird, gesetzlich verboten, dennoch
­verwirklichen                                               ­findet sie weiterhin statt. Wirksame Maßnahmen
Unter menschenrechtlichen Verpflichtungen ver-                zur Verhinderung und Beseitigung schädlicher
steht man die Pflichten der Staaten, die Menschen-            Praktiken müssen in eine klar formulierte, rechte­
rechte ihrer Einwohner*innen zu respektieren, zu              basierte und den lokalen Gegebenheiten angepasste
schützen und zu verwirklichen. Respektieren                   ganzheitliche Strategie eingebettet sein. Diese
­bedeutet, dass sie Menschenrechte nicht direkt               ­Strategie sollte Gesetze, politische Konzepte und
 ­verletzen dürfen. Schützen bedeutet, dass sie Dritte         soziale Interventionen umfassen – verbunden mit

                                                    W E LT B E VÖL K E R UN G S B E R I C H T 2 02 0   KUR Z FASS UN G   17
einem angemessenen politischen Engagement und         ­ raktiken besonders gefährdet sind, Zugang zu
                                                           P
     einer entsprechenden Rechenschaftspflicht auf         schützenden Maßnahmen und Dienstleistungen
     ­allen Ebenen.                                        erhalten.

     Die Staaten sind demnach verpflichtet, Daten          Weibliche Genitalverstümmelung
     über die Häufigkeit und das Ausmaß schädlicher        (FGM)
     ­Praktiken zu sammeln, zu aktualisieren und zu        Abkommen
      ­verbreiten, unter Beteiligung betroffener Gemein-   Die Liste der Menschenrechtsabkommen und
       schaften „geeignete“ Gesetze und Verordnungen zu    ­anderer Vereinbarungen, in denen auf FGM einge-
       entwickeln und anzuwenden, Präventionsmaß­           gangen wird, ist lang. Dasselbe gilt für die Liste der
       nahmen zur Etablierung rechtebasierter sozialer      Richtlinien zur Beseitigung dieser Praxis, die an
       und kultureller Normen umzusetzen und Frauen         staatliche und nichtstaatliche Akteure gerichtet
       und Gemeinschaften durch Bildung und wirt-           sind. Menschenrechtsausschüsse beschreiben FGM
       schaftliche Chancen zu stärken. Zudem sollen         als geschlechtsspezifische Praxis, die sich g­ ezielt
       Staaten die Menschen sensibilisieren, ihr Engage-    ­gegen Frauen und Mädchen richtet, und zwar in
       ment dokumentieren und dafür sorgen, dass             einer Art und Weise, dass deren Möglichkeiten,
       ­Frauen und Mädchen, die durch schädliche             ihre Menschenrechte gleichermaßen in Anspruch

     Wandmalerei von Andrea Fonseca Poder Femenino,
     Salamanca, Spanien 2018.

18   V E RWEIGE RT, E N TZO G E N , V E R LE TZ T
zu nehmen wie Männer, eingeschränkt werden.                       Weil die körperliche Schädigung und die gesund­
Damit werden ihre Rechte auf Nichtdiskriminie-                    heitlichen Folgen von FGM teilweise darauf
rung und Gleichberechtigung verletzt.                             ­zurückzuführen sind, dass die Operation unter
                                                                   unhygienischen Bedingungen durchgeführt wird,
Darüber hinaus ist diese Praxis ein Ausdruck                       wenden sich manche Eltern an Ärzt*innen,
­diskriminierender und klischeebehafteter Über­                    ­Pflegepersonal oder Hebammen. Sie glauben, die
 zeugungen über die weibliche Sexualität – dass                     Prozedur sei weniger schädlich, wenn sie „medika-
 ­nämlich Frauen und Mädchen vor ihr geschützt                      lisiert“, bzw. von medizinischen Fachkräften in
  und der Kontrolle von Männern unterworfen                         ­einer sterilen Umgebung durchgeführt wird. Doch
  ­werden müssten. Die Sonderberichterstatterin der                  die Vertragsausschüsse der Vereinten ­Nationen
   Vereinten Nationen über Gewalt gegen Frauen,                  und andere Organisationen, wie zum Beispiel die
   ­deren Gründe und Auswirkungen beschrieb FGM                  Internationale Vereinigung für Gynäkologie und
    als Ergebnis patriarchaler Machtstrukturen, welche           Geburtshilfe sowie zahlreiche nationale medizi­
    die Auf­fassung legitimieren, dass das L
                                           ­ eben von            nische Fachverbände, haben eine Medikalisierung
    Frauen kontrolliert werden müsse. Diese erwachse             kategorisch zurückgewiesen, weil es niemals einen
    aus der klischeebehafteter Vorstellung, Frauen seien         medizinischen Grund für FGM gibt und weil sich
    die obersten Hüterinnen der Sexualmoral, würden              medizinische Fachkräfte im Fall einer Zustimmung
    ­jedoch von unkontrollierten sexuellen Trieben               zu Mittäter*innen bei Menschenrechtsverletzungen
     ­beherrscht.                                                machen. Abgesehen davon gibt es auch keine
                                                                 ­Hinweise darauf, dass die Gesundheitsrisiken bei
Bei einer FGM werden häufig Klitoris und                          einer medikalisierten FGM geringer sind.
­Vulvalippen des Mädchens amputiert und deren
 Überbleibsel zusammengenäht, sodass Urin und                    Wozu die Regierungen verpflichtet sind
 Menstruationsblut nur noch durch eine kleine                    Im Aktionsprogramm der Kairoer Weltbevöl­
 ­Öffnung abfließen können. Weil diese Praxis eine               kerungskonferenz, das 1994 von 179 Regierungen
  chirurgische Veränderung des Körpers darstellt,                gebilligt wurde, heißt es: Die Regierungen „sollten
  steht hier vor allem die Gesundheit des Mädchens               dringend Schritte ­unternehmen, um der Praxis der
  auf dem Spiel. Als Komplikationen kann es zu                   Verstümmelung weiblicher Genitalien ein Ende zu
  ­Blutungen, Infektionen, Sepsis und Tod kommen.                setzen und um Frauen und Mädchen vor allen
   Häufige Folgen sind Depressionen sowie der lang-              ähnlichen un­nötigen und gefährlichen Praktiken
   fristige Verlust des sexuellen Lustempfindens und             zu schützen.“ Regierungen und örtliche Gemein-
   der Sexualfunktion. Weitere Langzeitfolgen sind               schaften sollten unbedingt
   unter anderem Unfrucht­barkeit, Schmerzen,                    • Programme für gezielte, sehr intensive Maß­
   ­Narbenbildung, Harnwegserkrankungen, Beein-                    nahmen auf örtlicher Ebene unter Einbeziehung
    trächtigungen beim Entbinden und eine schlechte                von Dorfältesten und religiösen Führern, Auf­
    Verfassung von neugeborenen Kindern. Abkom-                    klärung und Beratung über die Auswirkungen
    men, in denen Gesundheitsrechte ausdrücklich                   solcher Praktiken auf die Gesundheit von
    ­angesprochen werden, sind der Internationale Pakt             ­Mädchen und Frauen,
     über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte,        • die angemessene Behandlung und Rehabilitation
     die Frauenrechtskonvention und die Kinderrechts-               von Frauen und Mädchen, an denen FGM vor-
     konvention.                                                    genommen wurde,

                                                        W E LT B E VÖL K E R UN G S B E R I C H T 2 02 0   KUR Z FASS UN G   19
• Beratungsangebote für Frauen und Männer,             ­ heschließung e­ ines Kindes keine Rechtswirksam-
                                                            E
       um solchen Praktiken entgegenzuwirken,               keit haben. Die Regierungen werden aufgefordert,
     unterstützen.                                          alle erforder­lichen Maßnahmen – einschließlich
                                                            gesetz­geberischer Maßnahmen – zu ergreifen, um
     Frühverheiratung                                       ein Mindestalter für die Ehe­schließung festzulegen
     Abkommen                                               und zur Eintragung der Eheschließung in ein amt-
     In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte        liches Register zu verpflichten. In Anlehnung an
     aus dem Jahr 1948 heißt es, dass heiratsfähige         die Kinderrechts­konvention legen die meisten
     Männer und Frauen das Recht haben, zu heiraten         Staaten eine M ­ indestaltersgrenze von 18 Jahren für
     und eine Familie zu gründen, und dass eine Ehe         die Zu­stimmung zur Eheschließung fest. Dabei
     nur bei freier und uneingeschränkter Willenseini-      liegt das Mindestalter zuweilen bei nur 16 Jahren
     gung der künftigen Ehegatten geschlossen werden        oder sogar erst bei 21 Jahren, was teilweise auch
     darf. Achtzehn Jahre später fand eine ähnliche         vom Geschlecht abhängig gemacht wird. Trotzdem
     ­Formulierung Eingang in den Internationalen Pakt      kann in mehr als der Hälfte aller Staaten das
      über bürgerliche und politische Rechte. Auch in       ­Mindestalter durch die Zustimmung der Eltern
      der Frauenrechtskonvention ist das Recht auf eine      außer Kraft gesetzt werden.
      Eheschließung ohne Zwang und Gewalt verankert.
      Durch eine Frühverheiratung werden darüber hin-       Diskriminierung und stereotype
      aus aber auch das Recht, nicht auf eine bestimmte     ­Geschlechterrollen
      Geschlechterrolle festgelegt zu werden, die Rechte    Die Festlegung auf bestimmte Geschlechterrollen
      auf Leben und Sicherheit der Person, auf Schutz vor   und Diskriminierung aufgrund des Geschlechts
      Gewalt, auf Gesundheit und auf Bildung verletzt.      sind die Hauptgründe dafür, dass überwiegend
                                                            Mädchen und nicht Jungen im Kindesalter ver­
     Das Recht zu heiraten: in freier und                   heiratet werden. Überkommene patriarchalische
     ­uneingeschränkter Willenseinigung                     Vorstellungen, der Wert eines Mädchens hinge von
     Nur Personen, welche in ihrem Land gesetzlich          ihrer Jungfräulichkeit, ihrer Fortpflanzungsfähig-
     festgelegte „Volljährigkeit“ erlangt haben, gelten     keit und ihrer Arbeitsfähigkeit im Haushalt ab,
     bei einer Eheschließung als einwilligungsfähig. In     führen dazu, dass Männer durch die Verheiratung
     manchen Ländern werden Ehen, die unterhalb             in die Lage versetzt werden, Frauen und Mädchen
     dieser Altersgrenze geschlossen wurden, für ungültig   zu kontrollieren. Mädchen, die im Kindesalter
     erklärt. Nach internationalen A ­ bkommen und in       ­verheiratet werden, orientieren sich mit hoher
     vielen Ländern gilt eine Heirat im Kindesalter          Wahrscheinlichkeit an traditionellen Geschlechter-
     grundsätzlich als erzwungen, weil davon auszuge-        rollen, übernehmen klischeehafte Vorstellungen
     hen ist, dass ein Kind unter 18 Jahren nicht in der     und tradieren diese Normen an ihre Kinder.
     Lage ist, einer Eheschließung zuzustimmen. Die
     Gründe liegen zum Teil in der „­ bedeutenden           Die Angst vor sexualisierter Gewalt, die angeblich
     Verant­wortung“, die bei der Eheschließung über-       die Jungfräulichkeit eines Mädchens „ruiniert“,
     nommen wird, und darin, dass das Erreichen der         und vor der damit verbundenen Stigmatisierung
     „vollen Reife und Handlungs­fähigkeit“ sicher­         ist eines der Motive für die Frühverheiratung. Es
     gestellt sein muss. In Artikel 16 der Frauenrechts-    herrscht die Überzeugung, dass ein Mädchen vor
     konvention heißt es, dass die ­Verlobung und           Vergewaltigung geschützt sei, wenn sie verheiratet

20   V E RWEIGE RT, E N TZO G E N , V E R LE TZ T
ist. Diese Überzeugung ist auch eine Triebfeder für          frisch verheirateten Mädchen. Die Frühverheira-
andere schädliche Praktiken, wie zum Beispiel das            tung ist auch ein Grund für höhere Raten an
Brustbügeln, durch das ein Mädchen entstellt                 Schulabbrüchen. Dabei ist Bildung eine wichtige
­werden, um sie für potenzielle Angreifer unattrak-          Voraussetzung für die Inanspruchnahme vieler
 tiver zu machen. Für die Eheschließung hat die              Rechte und führt insbesondere zu besserer
 weib­liche Jungfräulichkeit eine derart überragende         ­Gesundheit und besseren Entwicklungserfolgen.
 ­Bedeutung, dass Frauen und Mädchen in vielen
  Ländern Jungfräulichkeitstests unterzogen werden –         Wozu die Regierungen verpflichtet sind
  einer invasiven vaginalen Untersuchung, bei der            Da die Frühverheiratung ein Ergebnis geschlechts-
  nach dem Hymen getastet wird. Doch auch diese              spezifischer Rollenklischees und Diskriminierung
  Praxis ist als Menschenrechtsverletzung geächtet.          ist, sind die Staaten gemäß der Frauenrechts­
                                                             konvention verpflichtet, einen Wandel derartiger
Die Frühverheiratung bedeutet, dass Mädchen ihr              sozialer und kultureller Verhaltensmuster herbei­
Recht verlieren, über ihr eigenes Leben zu ent-              zuführen.
scheiden. Denn auch dort, wo verheiratete
­Mädchen laut Gesetz wie Erwachsene zu behan-                Ein gesetzlich festgelegtes Heiratsalter von
 deln sind, müssen sie oft die Erlaubnis ihrer               ­mindestens 18 Jahren ist zwar wichtig, reicht allein
 ­Ehemänner einholen, wenn sie zur Schule gehen,              aber nicht aus, um die Frühverheiratung zu unter­
  außerhalb des eigenen Haushalts arbeiten oder               binden. Die Durchsetzung solcher Gesetze kann
  Verhütungsmittel anwenden wollen. Dies verstößt             eine Herausforderung sein, unter anderem wegen
  gegen ihre Rechte auf Nichtdiskriminierung und              bestimmter Ausnahmeregelungen. Dazu zählt zum
  Gleichberechtigung, Bildung, Beschäftigung,                 Beispiel, wenn eine Zustimmung der Eltern vor-
  ­Familienplanung und Gesundheit.                            liegt oder wenn Gewohnheitsrechte und religiöse
                                                              Vorschriften nicht mit dem nationalen Recht
Rechte, die einander bedingen: Leben,                         ­übereinstimmen. Regierungen sind daher unter
­Gesundheit und Bildung                                        ­Umständen besser beraten, wenn sie die gesell-
Die Frühverheiratung ist mit frühen und mehr­                   schaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen
maligen Schwangerschaften und Geburten in                       ­Ursachen der Frühverheiratung bekämpfen und
­kurzen Abständen verbunden. Die Mortalität bei                  verlässliche und zugängliche Systeme zur
 15- bis 19-jährigen Mädchen ist hauptsächlich                   ­Registrierung von Geburten etablieren. So wird
 auf schwangerschaftsbedingte Sterbefälle zurück­                 das ­Lebensalter der Betroffenen überprüfbar und
 zuführen.                                                        ­gesetzeswidrige Eheschließungen können für
                                                                   ­ungültig erklärt werden.
Der Ausschuss für die Beseitigung der Diskrimi-
nierung der Frau und der Ausschuss gegen Folter              Bevorzugung von Söhnen
führen körperliche, mentale und sexuelle Schädi-             Söhne werden auf vielerlei Art und Weise bevor-
gungen auf die frühe Verheiratung im Kindesalter             zugt. Eine besonders drastische Form dieser
zurück. Zu den Folgen der Frühverheiratung                   ­Bevorzugung ist die Geschlechtsselektion, unter
­gehören unter anderem Suizid, häusliche Gewalt               anderem durch die Tötung weiblicher Föten. Die
 einschließlich körperlicher und psychischer                  Gründe dafür liegen weitgehend in negativen
 ­Gewalt, Säureanschläge auf und Morde an den                 ­Klischeevorstellungen über die Geschlechterrollen.

                                                    W E LT B E VÖL K E R UN G S B E R I C H T 2 02 0   KUR Z FASS UN G   21
Geschlechtsselektion hat sich in Ländern mit stark    Wenn Söhne gegenüber Töchtern bevorzugt w    ­ erden,
patrilinearen Familienstrukturen herausgebildet, wo   dann liegt das daran, dass Männer und Jungen
verheiratete Paare mit der Familie des Ehemannes      und die ihnen zugeschriebenen Geschlechterrollen
zusammenleben oder in deren Nähe wohnen. Sie          in der Familie, im sozialen Umfeld und in der
geht mit einer starken und beständigen Präferenz      ­Gesellschaft eine höhere Wertschätzung genießen
für Söhne und einer Unterbewertung von Mädchen         als Frauen und Mädchen. Die Bevorzugung von
einher. Früher vermieden es Frauen und Paare           Söhnen geht auf althergebrachte strukturelle
­gegebenenfalls, Verhütungsmittel anzuwenden,          ­Faktoren zurück. Ein häufig genannter Grund ist
 und bekamen eben so lange Kinder, bis ein Sohn         Armut: Weil Männer nach allgemeiner Auffassung
 geboren wurde. Heute nimmt die Fertilität ab und       als „Versorger“ und „Beschützer“ des Haushalts
 der Trend geht zu kleineren Familien (was eine         gelten, hat ihr Wohlergehen Vorrang. Im Gegen-
 ­Geschlechtsselektion wünschenswert erscheinen         satz dazu gelten Frauen als „Betreuerinnen“, die
  lässt, um einen Sohn zu bekommen). Deshalb            sich um Hausarbeit, Kindererziehung und Alten-
  greift die Praxis der Geschlechtsselektion immer      pflege kümmern müssen – Aufgaben, die wenig
  weiter um sich, was durch die Verbreitung von         formale Bildung erfordern und − wenn überhaupt −
  Methoden zur Geschlechtsbestimmung zusätzlich         nur schlecht entlohnt werden. Insbesondere in
  begünstigt wird.

Künstlerische Illustration mit
freundlicher Genehmigung von
Fatma Mahmoud Salama Raslan.
Südasien müssen Mädchen deshalb „wegver­heiratet“           Gewalt wirkt sich unzweifelhaft auf die Gesund-
werden, wofür eine kostspielige Mitgift aufge-              heit aus. Durch die Bevorzugung von Söhnen wird
bracht werden muss. Infolgedessen wählen F­ amilien         die Gesundheit von Frauen noch weiter beein-
verschiedene Methoden, um dafür zu s­ orgen, dass           trächtigt, weil sie bis zur Geburt eines Sohnes
sie mindestens einen Sohn bekommen.                         ­unter Umständen mehrere Schwangerschaften
                                                             durchstehen müssen. Dabei verschlechtert sich die
Aber Armut ist nur eine Seite der Medaille. In               Gesundheit vieler Frauen, die keinen Zugang zu
Ländern mit patriarchalischen Familienstrukturen             adäquater Ernährung und vor- oder nachgeburt­
werden Söhne auf allen sozioökonomischen                     licher Betreuung haben. Im Zusammenhang mit
­Ebenen bevorzugt. Die anhaltende Bevorzugung                ihren Schwangerschaften haben sie mit emotio­
 von Söhnen drückt genau die Klischees aus, die              nalem und psychischem Stress zu kämpfen, weil
 für Frauen und Mädchen schädlich sind und                   sie die Vorstellung verinnerlicht haben, dass ihr
 ­zementiert sie. Deswegen sind Regierungen                  Selbstwert und ihre soziale Wertschätzung nicht
  ­verpflichtet, dagegen vorzugehen. Der Menschen-           nur allgemein von der Geburt eines Kindes,
   rechtsausschuss, der die Umsetzung und Einhal­            ­sondern im Besonderen von der Geburt eines
   tung des Internationalen Pakts über bürgerliche            ­Sohnes abhängen. Die Gründe dafür haben häufig
   und politische Rechte überwacht, hat gegenüber              mit stereotypen Geschlechterrollen zu tun, die von
   den Vertragsstaaten deutlich gemacht, dass die              Männern und Frauen erwartet werden und mit
   ­Geschlechtsselektion eine Erscheinungsform der             ­finanziellen Vorteilen und Belastungen, wie zum
    Unterordnung von Frauen darstellt und sie deshalb           Beispiel der Mitgift, verbunden sind.
    verpflichtet sind, deren Ursachen zu bekämpfen.
                                                            Wozu die Regierungen verpflichtet sind
Gewalt und Gesundheit                                       Weil die Geschlechtsselektion als eine Form der
In Gesellschaften mit erheblich mehr Männern als            Diskriminierung aufgrund des Geschlechts aner-
Frauen im heiratsfähigen Alter sind Frauen stärker          kannt ist, sind die Staaten gemäß Frauenrechts-
durch sexualisierte und geschlechtsspezifische              konvention aufgefordert, einen Wandel in den
­Gewalt gefährdet als anderswo. Ein weiteres                ­entsprechenden sozialen und kulturellen
 ­Problemfeld ist der Frauenhandel für Hausarbeit,           Verhaltens­mustern zu bewirken. Bei der Weltbe-
  sexuelle Dienstleistungen und für den Heirats-             völkerungskonferenz im Jahr 1994 verpflichteten
  markt. Dazu kommt, dass alle schwangeren Frauen            sich 179 Regierungen, die Diskriminierung von
  einem höheren Risiko von Gewalt durch den Ehe-             Mädchen in all ihren Formen sowie die tieferen
  partner und die Familie ausgesetzt sind als nicht          Ursachen der Bevorzugung von Söhnen, die zu
  schwangere Frauen, dass aber diejenigen, die keine         schädlichen und unethischen P   ­ raktiken wie der
  Söhne zur Welt bringen, in noch größerer Gefahr            Tötung von Mädchen und der vorgeburtlichen
  schweben. Auch Frauen, die gar keine Kinder                Geschlechtsselektion führen, zu beseitigen.
  ­bekommen können oder für die Unfruchtbarkeit              Später haben sich Regierungen, die das Ziel 5 für
   eines Paares verantwortlich gemacht werden,               ­nachhaltige Entwicklung – die Gleichstellung der
   ­haben ein erhöhtes Risiko, Opfer von häuslicher           ­Geschlechter – unterstützen, darauf verständigt,
    und familiärer Gewalt zu werden.                           schädliche Praktiken einschließlich der
                                                               ­Geschlechtsselektion zu verbieten.

                                                   W E LT B E VÖL K E R UN G S B E R I C H T 2 02 0   KUR Z FASS UN G   23
Nahrung, Menstruation und                              oder Hütten außerhalb des Hauses verbannt
     ­traditionelle Geburtspraktiken                        ­werden, erhöht die Wahrscheinlichkeit von Durch­
     Dort, wo die Bevorzugung von Söhnen am                  fallerkrankungen, Dehydrierung, Unterkühlung
     ­weitesten verbreitet ist, erhalten Mädchen oft         und Harnwegsinfektionen. Diejenigen, die dabei
      ­weniger oder schlechtere Nahrung als ihre Brüder.     krank werden, müssen warten, bis die Menstruation
       In einigen Gegenden werden die Mädchen nicht          vorbei ist, bevor sie medizinische Hilfe in
       so lange gestillt wie Jungen. Dies ist zum großen     ­Anspruch nehmen dürfen. Frauen und Mädchen,
       Teil darauf zurückzuführen, dass die Eltern darauf     die für die Zeit ihrer Menstruation verbannt
       bedacht sind, Mädchen möglichst bald zu ent­           ­werden, berichten über Gefühle der Verlassenheit,
       wöhnen, damit die Frauen möglichst bald wieder          Unsicherheit, Schuld und Erniedrigung, weil sie
       menstruieren und schwanger werden können –              „unrein“ und „unberührbar“ seien.
       diesmal vorzugsweise mit einem Jungen.
                                                            Andere Überzeugungen beziehen sich darauf,
     Andernorts widerfährt den Mädchen das                  ­welche Nahrungsmittel Frauen und Mädchen­
     ­Gegenteil: Sie werden gemästet. Die Praxis der         ­während der Menstruation zu sich nehmen oder
      Zwangs­ernährung, auch unter den Bezeichnungen          wann und ob sie ein Bad nehmen dürfen. Verstöße
      „Gavage“ oder „Leblouh“ bekannt, geht auf die           gegen eines dieser Verbote können Angst, Schuld­
      kulturelle Überzeugung zurück, dass übergewichtige      zuweisungen, Anklagen und Bestrafung zur Folge
      oder fettleibige Frauen für Ehemänner attraktiver       haben. Umgekehrt werden junge Frauen und nicht
      seien. Tatsächlich hängt sie eng mit der Praxis         menstruierende Frauen stigmatisiert, weil sie den
      der Frühverheiratung zusammen, weil sie häufig          konventionellen Vorstellungen von Weiblichkeit
      dazu dient, Mädchen älter und damit heiratsfähig        nicht entsprechen.
      aussehen zu lassen.
                                                            Einige überkommene traditionelle Geburtspraktiken
     Mancherorts können Nahrungstabus, die festlegen,       stellen eine Gefahr für die Gesundheit und das
     welche Nahrungsmittel während der Schwanger­           Wohlergehen von Müttern und Säuglingen dar. In
     schaft und nach der Geburt sicher oder gefährlich      der Türkei zum Beispiel glauben manche Frauen,
     seien, einer Frau und ihrem Baby schaden. Solche       ein Sprung aus großer Höhe werde die Wehen
     den schwangeren Frauen und stillenden Müttern          ­beschleunigen. Im westlichen Äthiopien herrscht
     aufgezwungene Tabus werden mit geringem Ge­             in manchen Bevölkerungsgruppen die Über­
     burtsgewicht, Mikronährstoffmangel bei Kindern          zeugung, das Blut einer Frau sei verflucht. Deshalb
     und einem erhöhten Sterberisiko von Müttern und         werden schwangere Frauen mit Beginn der Wehen
     Neugeborenen in Zusammenhang gebracht.                  allein in den Busch geschickt, um dort ihr Kind
                                                             zur Welt zu bringen. In einigen Gegenden Nigerias
     In einigen Gemeinschaften gilt die Menstruation         und Nigers wird bei Geburtskomplikationen der
     als Quelle von Schmutz und Unreinheit, wodurch          „yankan gishiri“, der Salzschnitt, angewendet,
     die emotionale, mentale und körperliche Gesund­         ­indem traditionelle Geburtshelfer*innen mit einer
     heit von Frauen beeinträchtigt wird. „Chhaupadi“,        Rasierklinge die Vagina aufschneiden. Dies führt
     eine Praxis in Nepal, der zufolge Frauen und             nachweislich zu weiteren Komplika­tionen, unter
     ­Mädchen während ihrer Menstruation in Verschläge      anderem zu Scheidenfisteln.

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