Prävention der Pflegebedürftigkeit - Sozialversicherung
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Health System Watch ı Prävention der Pflegebedürftigkeit Prävention der Pflegebedürftigkeit Angesichts der demographischen Entwicklungen stellt die wachsende Anzahl von Personen mit Bedarf an Langzeitpflege oder -betreuung die öffentlichen wie auch viele private Haushalte vor zunehmende Herausforderungen. Dies führt zur Frage der – Sinnhaftigkeit und des Nutzens von Präventionsmaßnahmen. Text: Monika Riedel, Nikolaus Heimerl, Institut für Höhere Studien 1 Einleitung2 zu vermeiden oder ihre Eintrittswahr- dem Zusammenspiel der erlebten Der Begriff Pflege versteht sich im scheinlichkeit bzw. ihr Ausmaß zu positiven und negativen Einfluss- vorliegenden Beitrag als Langzeit- reduzieren. Im Gesundheitsbereich faktoren über den Lebenszyklus und pflege und -betreuung im Kontext des bedeutet dies, Krankheiten mithilfe stellt sich dementsprechend als ein fortgeschrittenen Alters, typischer- spezifischer Interventionen bei einzel- mehrdimensionales Konstrukt dar. weise erst deutlich nach Eintritt des nen Personen oder auf der Bevöl- Neben dem Fehlen von Krankheit und Pensionsalters. Pflegebedürftigkeit kerungsebene vorzubeugen, indem Krankheitssymptomen sowie dem in jüngeren Jahren sowie temporä- ihre Entstehung verhindert, zeitlich Vorhandensein eines ausreichenden re Pflegebedürftigkeit – die übliche hinausgeschoben oder ihre Progres- funktionalen Status gewinnen auch Abgrenzung liegt bei sechs Mona- sion eingedämmt wird (Hurrelmann Dimensionen an Bedeutung, die nicht ten – sind nicht Gegenstand dieses et al. 2018a). Im Bereich der Pflege mehr primär medizinisch determiniert Beitrags. stehen dabei weniger spezifische sind, wie die Möglichkeit zur aktiven, Krankheiten, sondern viel mehr die selbstverantwortlichen und persönlich Grundsätzliches zur Prävention Pflegebedürftigkeit aufgrund des Ver- zufriedenstellenden Lebensgestal- von Pflegebedürftigkeit lusts körperlicher und/oder geistiger tung, die gelingende Bewältigung Unter Prävention werden Aktivitäten Fähigkeiten im Fokus. von Belastungen und Krisen und ein Foto: Getty Images und Maßnahmen verstanden, die Die Prävention von Pflegebedürf- individuell angemessenes System darauf abzielen, vorhersehbare un- tigkeit ist weiter gefasst als ledig- medizinisch-pflegerischer und sozialer erwünschte Zustände in der Zukunft lich die Prävention von Krankheiten. Unterstützung. Hieraus lassen sich durch Eingreifen in der Gegenwart Gesundheit im Alter ergibt sich aus spezifische Ansatzpunkte und Ziele 42
der Prävention im Alter ableiten, die Pflegebedürftigkeit oder chronische kommunale Setting und die „Lebens- auch als Ziele der Prävention von Krankheiten vorliegen, um eben den welt Pflegeheim“, also jene Bereiche, Pflegebedürftigkeit gelten können Anstieg der Pflegebedürftigkeit zu auf die sich auch die für Deutschland (Fonds Gesundes Österreich 2018; verlangsamen oder aufzuhalten (ZPQ am Ende des Artikels ausgeführten Kruse 2018): 2021). Präventionspotenziale be- Entwicklungen beziehen. Vermeidung körperlicher und stehen damit bis ins hohe Alter, wie Im Folgenden werden zwei psychischer Erkrankungen auch ein aktueller deutscher Bericht wesentliche Ursachen von Pflege- Erhaltung der körperlichen und zeigt (GKV-Spitzenverband 2020a). bedürftigkeit hinsichtlich Präventions- geistigen Leistungsfähigkeit Bezogen auf den Ansatzpunkt der bemühungen diskutiert, nämlich de- Erhaltung einer aktiven, selbststän- Interventionen können Präventions- menzielle Erkrankungen und Stürze. digen Lebensführung programme entweder das Individuum Aufrechterhaltung eines angemes- wählen, um das individuelle (Risiko-) Präventionspotenzial am senen Unterstützungssystems Verhalten zu beeinflussen (Verhal- Beispiel von Demenz tensprävention, beispielsweise ein Derzeit ist nicht absehbar, ob es in Präventionsinterventionen können Nikotin-Entwöhnungsprogramm), naher Zukunft möglich sein wird, an unterschiedlichen Betrachtungs- oder es wird auf den Gesundheitszu- Demenzerkrankungen zu heilen oder ebenen ansetzen. Die weit verbreitete stand einer Personengruppe abgezielt durch entsprechende Behandlung Einteilung in Primär-, Sekundär- und (Verhältnisprävention, beispielsweise den Krankheitsverlauf substanziell Tertiärprävention berücksichtigt ein Programm für altersgerechte rückgängig zu machen. Dies gilt auch einerseits den Zeitpunkt, an dem Menüplanung in Pflegeheimen). Ver- für die Untergruppe des Alzheimer- präventive Maßnahmen ansetzen, hältnisprävention versucht demnach, Typs, die rund 70 bis 80 Prozent der und andererseits ihre Zielsetzung, die ökologischen, sozialen, ökono- Demenzerkrankungen ausmacht. was in Folge auch zu unterschied- mischen oder kulturellen Umwelt- Aufgrund dessen kommt effektiver lichen Zielgruppen führt (Tabelle 1). bedingungen so zu verändern, dass Primär- wie auch Sekundärprävention Die einschlägige Literatur hierzu die Entstehung und Entwicklung von hohe Bedeutung zu. Es wird heute orientiert sich vornehmlich an medi- Krankheiten oder unerwünschten davon ausgegangen, dass sich die für zinischen Gesichtspunkten, und ein Ereignissen erschwert wird (Leppin die Demenzerkrankung ursächlichen allgemeingültiges, operationalisier- 2018). molekularen Prozesse langsam über bares Verständnis für die pflegerische Im Rahmen des sogenannten Prävention besteht derzeit nicht. Im Setting- oder Lebenswelt-Ansatzes Verständnis des deutschen Zentrums kombinieren einerseits zielgruppen- für Qualität in der Pflege soll Präven- spezifische Maßnahmen Verhaltens- 1 Frühere Ausgaben von Health System Watch sind abrufbar tion in der Pflege dem Fortschreiten und vor allem Verhältnisprävention, im Internet unter: http://www.ihs.ac.at. 2 Dieser Aufsatz baut großteils auf Erkenntnissen auf, die von Pflegebedürftigkeit entgegen- und es wird andererseits die Brücke die Autorin gemeinsam mit Sophie Fößleitner und Markus wirken und zur Stabilisierung der zwischen Gesundheitsförderung und Kraus im Zuge eines früheren Projektes gewonnen hat gesundheitlichen Situation beitragen. Krankheitsprävention geschlagen (Riedel et al. 2020), denen auch für die kritische Durchsicht des vorliegenden Berichts gedankt sei. Aus Platzgründen Damit kann Prävention auch noch (ZPQ 2021). Im Pflegekontext betrifft wird darauf verzichtet, an jeder einzelnen relevanten Stelle nützen, wenn bereits Gebrechlichkeit, der Setting-Ansatz vor allem das auf diesen früheren Bericht zu verweisen. Gliederung von Präventionsmaßnahmen Tabelle 1 Primärprävention Sekundärprävention Tertiärprävention in Frühstadien der Krankheit bzw. nach nach Manifestation/Akutbehandlung vor Eintreten der Krankheit bzw. des Zeitpunkt der Intervention erstmaligem Eintritt des unerwünschten einer Krankheit bzw. nach mehrmaligem unerwünschten Ereignisses Ereignisses Eintritt eines unerwünschten Ereignisses Krankheitseindämmung, Verhinderung Verringerung der Inzidenz von Krankhei- Verhinderung von Folgeschäden oder Ziel der Intervention eines wiederholten Eintritts eines ten bzw. unerwünschten Ereignissen Rückfällen unerwünschten Ereignisses Adressat*innen der Gesunde bzw. Personen ohne Patient*innen mit chronischer Beein- Akutpatient*innen Intervention Symptomatik trächtigung, Rehabilitand*innen Quelle: IHS-Darstellung angelehnt an Leppin (2018). 43
Health System Watch ı Prävention der Pflegebedürftigkeit einen Zeitraum von über 30 Jahren weil beim Zeitpunkt der Erstdiagnose der insgesamten Krankheitslast zu- entwickeln. Damit steht theoretisch noch Verbesserungspotenzial besteht. gerechnet werden kann (siehe Grafik). ein langes Zeitfenster für eine Früh- Ausgehend von der konservative- Zudem müsste einer der quantitativ erkennung der Erkrankung zur Ver- ren, älteren Einschätzung lässt die bedeutendsten Faktoren – niedrige fügung, bereits lange vor der sympto- demografische Entwicklung bis 2050 Bildung – bereits in Kindheit und Ju- matischen Ausprägung (Jessen 2018). einen Anstieg der Personenanzahl mit gend im Sinne der Prävention mitbe- Die große Verbreitung von demen demenzieller Erkrankung in Österreich dacht werden, was die Zugänglichkeit ziellen Erkrankungen im Alter sowie auf etwa 260.000 erwarten (BMASGK für Präventionsstrategien im Pflege- der daraus entstehende Betreuungs- 2018). Auch wirtschaftlich ist die Be- kontext unrealistisch macht. druck, besonders bei fortgeschrit- deutung von Demenz messbar: Die Somit besteht zumindest bei tener Krankheit, erklären das Inter- WHO schätzt, dass die gesellschaft- einem Bruchteil der demenziellen esse an Präventionspotenzialen für lichen Kosten durch Demenzerkran- Erkrankungen die Möglichkeit, ihrem Demenz. In Österreich sind bereits kungen im Jahr 2015 rund 1,1 Pro- Auftreten präventiv entgegenzuwir- rund 63,5 Prozent der in Pflegehei- zent der globalen Wirtschaftsleistung ken, wobei entsprechende Interventi- men wohnenden Personen von einer entsprachen (WHO 2019). onen an den potenziell vermeidbaren demenziellen Erkrankung betroffen Livingston et al. (2017) kommen Faktoren ansetzen. Um wirkungsvolle (Höfler et al. 2015). Die gesamte Zahl übereinstimmend mit früheren Stu- Präventionsmaßnahmen zu identi- der Erkrankten in Österreich wurde dien zur Auffassung, dass zwar rund fizieren, bewertet eine Guideline der bislang mit rund 130.000 angenom- zwei Drittel aller Demenzerkrankun- Weltgesundheitsorganisation (WHO) men (Sütterlin et al. 2011). Eine neue gen auf Risikofaktoren zurückgehen, mögliche Maßnahmen und formuliert Untersuchung berücksichtigt neben die nicht beeinflussbar sind, dass Empfehlungen, die sich teils auf die der Verschreibung von Antidementiva aber bis zu einem Drittel der Erkran- noch gesunde Bevölkerung, teils auf auch andere Faktoren3 und schätzt kungen auf potenziell modifizierbare Personen beziehen, die bereits von die Zahl der Erkrankten in Österreich Risikofaktoren zurückgeht. Letztere milden kognitiven Einschränkungen auf 175.000 bis 200.000 Personen spannen dabei ein thematisch breites betroffen sind (WHO 2019). Exempla- oder ca. 2,3 Prozent der Bevölkerung und über die gesamte Lebensspan- rische „starke“ Empfehlungen4 zu den (Wurm et al. 2020). Zudem ist von ne reichendes Feld auf, wobei den Risikofaktoren, die auch in höherem einer gewissen diagnostischen Dun- einzelnen Faktoren jeweils nur ein Alter Präventionsmaßnahmen zu- kelziffer auszugehen, unter anderem, vergleichsweise geringer Anteil an gänglich sind, sind die folgenden: Potenziell modifizierbare und nicht modifizierbare Risikofaktoren für Demenz Grafik 8 % niedrige Bildung 65 % nicht modifizierbar 9 % Gehörverlust 35 % potentiell 2 % Bluthochdruck modifizierbar 1 % Übergewicht/Adipositas 5 % Rauchen 4 % Depression Jugend 3 % körperliche Inaktivität mittleres Alter 2 % soziale Inaktivität hohes Alter 1 % Diabetes Quelle: Daten Livingston et al. (2017), IHS Darstellung. 44
Körperliche Aktivität sollte Er- Aktivität, also jene Faktoren, die auch aufbauend, liegen in einigen Ländern wachsenen mit normaler kognitiver aus anderen Kontexten heraus zur Leitlinien für Sturzvermeidung vor, Leistung empfohlen werden, um Gesundheitsförderung und Krank- wie etwa in Österreich für Kranken- das Risiko für kognitiven Abbau zu heitsprävention empfohlen werden, häuser und Pflegeheime (MUG und vermindern. tragen zur Eindämmung vermeidbarer LKH-Universitätsklinikum Graz 2018). Erwachsenen, die Tabak konsu- Demenz bei, sind vergleichsweise Tabelle 2 fasst aktuelle systemati- mieren, sollten Interventionen zur kostengünstig und mit wenig Risi- sche Reviews seit 2020 zusammen. Tabakentwöhnung angeboten ken behaftet (Montero-Odasso et al. Die in den Reviews untersuchten Stu- werden. Verringerter Tabakkonsum 2020). dien unterscheiden sich hinsichtlich kann neben anderen gesundheit- der Art der Präventionsprogramme, lichen Vorteilen auch das Risiko Sturzprophylaxe des Settings, in dem die Program- für kognitiven Abbau und Demenz Risikofaktoren für Stürze lassen sich me stattfinden, sowie bezüglich der verringern. internen Faktoren, wie altersphysio- Ergebnismessung und naturgemäß Gesunde, ausgewogene Ernährung logischen oder krankheitsbedingten weniger bezüglich der Altersgruppe sollte allen Erwachsenen empfohlen werden. Vitamine B und E, mehrfach un- Ausgewogene Ernährung und altersangepasste gesättigte Fettsäuren und Multi- komplex-Supplementierung sollten körperliche Aktivität, also jene Faktoren, die auch aus für die Reduktion des Risikos eines anderen Kontexten heraus zur Gesundheitsförderung kognitiven Abbaus und/oder einer Demenz nicht empfohlen werden. und Krankheitsprävention empfohlen werden, tragen zur Die leitliniengerechte Behandlung Eindämmung vermeidbarer Demenz bei. von Diabetes in Form von Medika- menten und/oder Lebensstil-Inter- ventionen sollte Erwachsenen mit Veränderungen sowie der Einnahme der Pflegebedürftigen, in der Regel Diabetes angeboten werden. bestimmter Medikamente, und ex- Personen ab 60 oder 65 Jahren. Prä- ternen Faktoren, wie Gefahrenquellen ventionsprogramme können anhand Allerdings bewertet die WHO in kei- in der Umgebung, zuordnen. Das der vom Prevention of Falls Network nem der behandelten Maßnahmenfel- Zusammenspiel verschiedener Risiko- Europe (Lamb et al. 2011) entwickel- der die Qualität der Evidenz als hoch, faktoren erhöht die Gefahr zu stürzen: ten Taxonomie unterschieden wer- und entsprechend werden weitere, Ein Alter über 80 Jahren sowie Stürze den: Bei Einzelinterventionen (single hier nicht wiedergegebene Empfeh- im vergangenen halben Jahr gehen interventions) kommt nur ein Bereich lungen zum Teil nur bedingt ausge- bei Bewohner*innen von Pflegehei- von Interventionen zur Anwendung, sprochen, also jeweils eingeschränkt men mit einem etwa vierfach erhöh- in den aktuellen systematischen auf bestimmte Personengruppen. ten Sturzrisiko einher. Bei Personen Reviews fast immer körperliches Hierzu zählt beispielsweise die Emp- mit Demenzerkrankung steigt das Training. Werden Interventionen aus fehlung bezüglich Alkoholabusus: Risiko beispielsweise mit der Zahl der mehreren Bereichen in einem Prä- Personen mit normaler Kognition und eingenommenen psychoaktiv wirken- ventionsprogramm kombiniert (z.B. milden kognitiven Einschränkungen den Medikamente bis zum Zehnfa- körperliches Training und medika- sollten Interventionen angeboten chen (MUG und LKH-Universitätskli- mentöse Behandlung oder Vitamin D- werden, die sich auf die Reduktion nikum Graz 2018). Supplementierung), spricht man von oder gänzliches Einstellen von ge- Programme zur Sturzvermeidung einer multiplen Intervention (multiple fährlichem und schädlichem Alkohol- in der älteren Bevölkerung setzen interventions). Multiple Interventions- konsum richten, um neben anderen daher an unterschiedlichen Risikofak- programme, bei denen die Interven- günstigen Gesundheitseffekten auch toren an, wie etwa schlechte Balan- tionen auf jedes Individuum einzeln das Risiko für kognitiven Abbau und/ ce und/oder Mobilität, schlechtes oder Demenz zu reduzieren. Sehvermögen und schlecht sichtbare Zusammenfassend lässt sich Gefahrenquellen, aber auch Polyphar- 3 Konkret wird einberechnet, dass nur für manche Demenz- festhalten, dass zwar nur ein Teil der mazie. formen eine Therapie zugelassen ist und Antidementiva Inzidenz demenzieller Erkrankungen Die Sturzprophylaxe gehört zu den nach der Diagnose häufig nicht durchgehend eingenom- Präventionsmaßnahmen zugänglich am häufigsten untersuchten Maß- men werden. 4 Abhängig von Qualität und Umfang der vorliegenden ist. Aber ausgewogene Ernährung nahmenbereichen der Primärpräven- Evidenz klassifiziert die WHO ihre Empfehlungen als stark, und altersangepasste körperliche tion von Pflegebedürftigkeit. Darauf moderat oder situationsabhängig. 45
Health System Watch ı Prävention der Pflegebedürftigkeit Aktuelle systematische Reviews zur Sturzprophylaxe Tabelle 2 Analyse- Anzahl Programm- Quelle Setting Intervention Outcome Parameter Ergebnis Art Programme typ Sturzrate, Anzahl (wieder- kT, sichere Wohnum holt) stürzender Personen, Günstiger Effekt auf Sturzrate, Hopewell et gebung, Überprüfung der SR, MA 41 zH mf Knochenbrüche, Hospitali- Anzahl wiederholter Stürze, al. 2020 Medikation, psychologi- sierung, gesundheitsbezo- Sturzrisiko sche Interventionen gene Lebensqualität kT, Schulungen, sichere Günstige Effekte auf Sturzrate Wohnumgebung, Über- Sturzrate, und Anzahl stürzender prüfung der Medikation, Lee et al. 2020 SR, MA 45 zH mf Anzahl stürzender Personen. kT und sichere Mobilitätshilfe, Personen Wohnumgebung sind „vision and psychological besonders effektiv management“ Mit Beteiligung von All- Anteil stürzender Perso- Kein signifikanter Effekt auf den gemeinmediziner*innen. nen, Anteil wiederholt Anteil (wiederholt) stürzender Mackenzie et 21, 19 für SR, MA zH gemischt Schulung, Überprüfung stürzender Personen, Personen, signifikanter Effekt al. 2020 MA und Beurteilung von Anteil von Stürzen mit auf den Anteil von Stürzen mit Sturzrisken, kT etc. Verletzung Verletzung Sherrington et 116, 54 für SR, MA zH e kT Sturzrate Günstiger Effekt auf Sturzrate al. 2020 MA Risiko-Verhältnis von Günstiger Effekt auf Stürze und Wong et al. SR, MA 12 zH e kT Stürzen und von Knochen- Knochenbrüche, mit stärkerem 2020 brüchen Effekt bei Frauen kT, Personalschulung, Stürze, Anzahl stürzender Günstiger Effekt auf Stürze, Gulka et al. Überprüfung der Medika- SR, MA 36 P e, m, mf Personen, Anzahl wieder- Anzahl (wiederholt) stürzender 2020 tion, sichere Wohnum holt stürzender Personen Personen, Sturzrisiko gebung etc. Günstiger Effekt von Balance- Übungen, Training mit Anzahl von Stürzen, Anzahl Schoberer technischen Geräten und kT stürzender Personen, und Breimaier SR, MA 23 P e kT über einen Zeitraum von über Verletzungen, Angst vor 2020 6 Monaten. Bei gebrechlichen Stürzen, Lebensqualität Personen kann kT Sturzrate erhöhen körperliche Aktivität, Jian-Yu et al. kT, sichere Wohnum Keine Evidenz für günstige SR 6 P, zH e Stürze, Angst vor Stürzen, 2020 gebung Effekte Lebensqualität kT, sichere Wohnumge- Keine eindeutig günstigen bung, Überprüfung der Senderovich Sturzrate, Effekte. Auf Individuen SR 13 + 21 SR P, zH e, m, mf Medikation, Behandlung und Tsai 2020 Sturzrisikofaktoren angepasste Interventionen von orthostasischer sind am effektivsten Hypotonie kT kann die Anzahl stürzender Sibley et al. 169, 73 für Anzahl stürzender Personen reduzieren. Effektivi- SR, MA P, zH e kT 2021 MA Personen tät unterscheidet sich je nach genauer Art des Trainings Anzahl von Stürzen, Anzahl stürzender Personen, Sturz- Papalia et al. raten, Balance, Angst vor Günstige Effekte auf Balance SR, MA 16 kA e kT 2020 Stürzen, Lebensqualität, und Sturzraten körperliche Fähigkeiten, „balance confidence“ „incremental cost- kT ist kosteneffizient in der effectiveness ratio“, Kosten Sturzprävention. Einzel Winser et al. SR 12 kA e, mf kT pro qualitätskorrigiertem interventionen sind kosten- 2020 Lebensjahr, Kosten-Nutzen- effizienter als multifaktorielle Verhältnis Interventionen Anmerkungen: SR: Systematic Review; MA: Meta-Analyse; zH: zu Hause; P: Pflegeheim; e: Einzelintervention; m: multiple Intervention; mf: multifaktorielle Intervention, kT: körperliches Training, kA: keine Angabe 46
abgestimmt werden, werden als moderater Intensität, im Gruppen-Set- Eine strukturierte Befragung, meist multifaktorielle Interventionen (multi- ting und mit Follow-up im häuslichen verbunden mit einem multidimen- factorial interventions) bezeichnet. Umfeld werden demnach als kosten- sionalen Assessment, erfasst die Be- Die aktuellen Reviews untermau- effektive Intervention angesehen, darfe und mündet in eine individuelle ern die Bedeutung von körperlichem um Stürze bei älteren Erwachsenen Formulierung von Präventionszielen Training für die Sturzprophylaxe, so (60 Jahre oder älter) zu vermeiden. und Beratungsangeboten. Der Zweck auch allein sieben systematische Allerdings ist davon auszugehen, von PHB besteht darin, die Gesund- Reviews zu körperlichem Training als dass der Effekt abebbt, sobald das heit zu fördern und das Eintreten Einzelintervention. Beispielsweise Training eingestellt wird. von Krankheiten oder Körper- oder schließen Wong et al. (2020), dass in Die Menge der unterschiedlichen Geisteszuständen, die die selbststän- der häuslichen Umgebung Trainings- Interventionen zur Sturzprophylaxe dige Lebensführung erschweren, zu programme die Sturzwahrscheinlich- erfordert, auf kritische Aspekte bei verhindern, abzumildern oder hinaus- keit um bis zu einem Drittel senken der Umsetzung zu achten. So können zuzögern (Renz und Meinck 2018). können, andere Reviews berichten Bewegungsprogramme bei gebrech- Verpflichtend werden PHB nur häufig von schwächeren Effekten. lichen Personen sogar die Sturzwahr- in wenigen Ländern angeboten: In Nur bei Frauen, nicht aber bei Ein- scheinlichkeit steigern, wenn die Dänemark der Bevölkerung ab einem schluss von Männern und Frauen, Übungen unzureichend angepasst Alter von 80 (früher: 75) Jahren, in berichten Wong et al. (2020) über oder ohne professionelle Begleitung Schweden beschränkt auf den Raum Effektivität bezüglich Frakturen. Fünf ausgeführt werden. Zur Stärkung von Stockholm, und in Australien der systematische Reviews über multi- Muskelmasse und Koordination wer- Bevölkerung ab 75 Jahren, allerdings faktorielle Interventionen weisen auf den sie aber dennoch mehrheitlich als wahlweise in der Wohnung oder in die Effektivität von Programmen zur wichtig angesehen, was die konkrete der hausärztlichen Praxis. Das im Ver- Sturzprophylaxe hin, die im häus- Gestaltung der geeigneten Program- einigten Königreich seit den 1990er lichen Setting zum Teil ebenfalls von me – beispielsweise inklusive Balan- Jahren im hausärztlichen Kontext be- Effektstärken bis zu einem Drittel cetraining – besonders wichtig macht stehende Angebot der „75-years-and- berichten. (Schoberer und Breimaier 2020). over checks“ wurde im Jahr 2004 Ein Review fokussiert auf Pro- Diese Aspekte werden in der Evidenz- mangels überzeugender Evaluations- gramme zur Sturzprophylaxe, in basierten Leitlinie Sturzprophylaxe für ergebnisse wieder gestrichen (Riedel denen Hausärzt*innen eine aktive Krankenhäuser und Langzeitpflege- et al. 2020). Rolle einnehmen (Mackenzie et al. einrichtungen ebenfalls berücksichtigt Je nach der Ausgestaltung der 2020). Die umgesetzten Interventio- (MUG und LKH-Universitätsklinikum nationalen Versorgungslandschaft nen bestehen neben körperlichem Graz 2018). führen in vielen Ländern Pflege- Training auch aus der Überprüfung Die beiden folgenden Abschnitte kräfte (insbesondere Community und Beurteilung von Sturzrisiken. Es widmen sich Präventionsmaßnah- Nurses5) oder multiprofessionelle wurde festgestellt, dass die Maß- men, konkret den in einigen Ländern Teams die PHB durch. In den Teams nahmen zwar nicht die generelle durchgeführten präventiven Hausbe- können neben Pflegepersonen auch Sturzhäufigkeit, aber doch Stürze mit suchen und den jüngeren Entwicklun- Personen der Berufsgruppen Sozial- Verletzungsfolgen reduziert haben. gen bezüglich Prävention von Pflege- arbeit, Physio- und Ergotherapie oder Winser et al. (2020) analysieren bedürftigkeit in Deutschland. dem medizinischen Fachgebiet der als einziger der aktuellen Reviews die Geriatrie vertreten sein. Die organi- Kosteneffizienz. Konkret analysieren Ansätze für Prävention von satorische Anbindung der PHB-Pro- sie die Dosierung von körperlichem Pflegebedürftigkeit: Präventive gramme erfolgt je nach nationalem Training als Einzel- wie auch multiple Hausbesuche Gesundheits- und Pflegesystem an Intervention, z.B. in Kombination mit Präventive Hausbesuche (PHB) die Primärversorgung oder das Pfle- der Beurteilung und Behandlung von erfassen systematisch individuelle gesystem (Riedel et al. 2020). Seh- oder Hörbeeinträchtigungen Bedarfe älterer, im häuslichen Umfeld oder medikamentöser Anpassung. lebender Menschen; das Angebot für Von zwölf im Review berücksichtigten den Hausbesuch erfolgt in der Regel Studien deuten sieben auf Kosten- für eine bestimmte Altersgruppe, also 5 Community Nurses sind Pflegekräfte, die außerhalb des Krankenhauses, also in anderen Settings wie Schulen, effektivität hin. Alle kosteneffektiven unabhängig von einem auslösen- Familien oder Gemeinden zum Einsatz kommen. Eine Programme beinhalten Stärkungs- den Ereignis wie einem Sturz oder anerkannte exakte Definition besteht nicht, aber es sind übungen für die unteren Gliedmaßen einem Krankenhausaufenthalt. Die auch alternative Begrifflichkeiten wie Public Health Nurse oder District Nurse gebräuchlich (Riedel et al. 2020). Das und Balancetrainings. Zwei 60-minü- Teilnahme der potenziell Pflegebe- aktuelle Regierungsprogramm sieht in Österreich eine tige Trainingseinheiten pro Woche bei dürftigen ist grundsätzlich freiwillig. Wiedereinführung von Community Nurses vor. 47
Health System Watch ı Prävention der Pflegebedürftigkeit der Krankenversicherung im Pflege- stärkungsgesetz II verpflichtet, ein deutschlandweit einheitliches, struk- turiertes Verfahren für die Klärung der Notwendigkeit von Rehabilitations- maßnahmen umzusetzen (MDS und GKV-Spitzenverband 2018). Auf weitere Entwicklungen für den häuslichen Bereich und die stationäre Pflege wird in den folgenden Ab- schnitten eingegangen. Prävention in der häuslichen Pflege Studien zu Prävention und Gesund- heitsförderung in der häuslichen Um die Sturzwahrscheinlichkeit nicht zu steigern, müssen Bewegungsprogramme Langzeitpflege sind auch auf inter- für gebrechliche Personen entsprechend angepasst oder mit professioneller nationaler Ebene noch sehr rar, wobei Begleitung ausgeführt werden. hier neben den bereits genannten Herausforderungen auch die Schwie- rigkeit zum Tragen kommt, geeignete Evaluationen messen den Erfolg (Stuck et al. 2002, Elkan et al. 2001) Personen zur Teilnahme zu bewegen an gesundheitlichen oder Funktions- und neuere (Huss et al. 2008, Mayo- (Stichwort kognitive Beeinträchti- parametern oder anhand spezifischer Wilson et al. 2014) kritischer bezüg- gung). Dementsprechend wenige ge- Ereignisse, operationalisiert durch lich identifizierter Effekte. Signifikante sicherte Wirksamkeitsnachweise für Erhalt der Selbsthilfekompetenz, Effekte in der gewünschten Richtung Prävention in der ambulanten Pflege Vermeidung oder Verzögerung von sind rar, teils nur bei Subgruppen liegen noch vor. Zur Vorbereitung Pflegeheim- oder Klinikaufenthal- feststellbar, und meist so klein, dass für die Maßnahmenentwicklung in ten, Reduktion von Mortalität oder keine Einsparungen im Versorgungs- den deutschen Pflegekassen wurden gesteigerter Lebensqualität. Steigt system messbar sind. Jüngere ein umfassender Literaturüberblick die Inanspruchnahme von Pflegeleis- Studien kommen aber häufig aus durchgeführt sowie Daten-Auswer- tungen nach PHB, muss dies keine Ländern (Dänemark, Niederlande, tungen vorgenommen, aus denen mangelnde Effektivität ausdrücken, Deutschland), in denen eine ver- die folgenden Erkenntnisse abgeleitet sondern kann Ausdruck dafür sein, gleichsweise hohe Qualität in der wurden (GKV-Spitzenverband 2020a): dass Bedarf gedeckt wird, der bereits Regelversorgung zu vermuten ist, Die Basisausrichtung soll sich nach zuvor bestand. Insofern sind anhand und somit Verbesserungen schwe- den individuellen Gegebenheiten von gesundheitlichen oder Funktions- rer erzielbar sind. Dies könnte die (Erkrankungen und Beeinträchti- parametern gemessene Resultate schwächeren Ergebnisse in jüngeren gungen, Lebensverhältnisse und eindeutiger zu interpretieren. Die Studien miterklären. Biografie, Wissen, Kompetenzen, meisten Analysen beziehen sich Einstellungen und Werte) richten, auf bestimmte Altersgruppen (über Ansätze zur Prävention gegen und auch Präventionsziele und 80 Jahre, über 65 Jahre). Ob bereits Pflegebedürftigkeit: Entwicklun- Maßnahmen sind individuell zu vorliegende Beeinträchtigungen als gen in Deutschland eruieren. Ausschluss- oder als Einschluss- In den letzten Jahren wurde die Stär- Hauptaugenmerk soll auf funktio- kriterium definiert werden, ist unter- kung der Prävention im Pflegebereich nalen Fähigkeiten und Alltagsbe- schiedlich und könnte zur Heterogeni- in Deutschland stärker in den Fokus wältigung liegen, nicht auf Erkran- tät der Ergebnisse beitragen (Renz genommen. So wird beispielsweise kungen. und Meinck 2018). bei der Feststellung von Pflegebe- Dieses erfordert ein – im Idealfall Wohl auch aufgrund der Unter- dürftigkeit u.a. geprüft, ob und ggf. multiprofessionelles – qualifiziertes schiede in den einzelnen Program- welche zumutbaren und notwendi- Assessment. men besteht keine einheitliche gen Präventionsmaßnahmen den Individuelle Maßnahmen wie ab- Foto: Getty Images Beurteilung der Effizienz und Effek- Gesundheitszustand verbessern und gestimmte Bewegungsübungen tivität von PHB-Programmen. Ältere die gesundheitlichen Ressourcen und oder der Einsatz von Hilfsmitteln systematische Reviews beurteilen Fähigkeiten stärken könnten. Hier- sind zunächst in professioneller PHB-Programme tendenziell positiver zu wurde der Medizinische Dienst Begleitung einzuüben, mit dem Ziel 48
selbstständiger Weiterführung und von allfälligen Anpassungen im Ver- zielen diese Beratungen auch auf den schließlich einer entsprechenden sorgungsplan vereinbart werden. Aspekt der Qualitätssicherung bei be- Lebensstiländerung. Freude bei der Diese Pflegeberatung erfüllt zwar stehendem Pflegebedarf ab. Ausübung bzw. der Einhaltung von Aufgaben eines Case Managements, Verhaltensänderungen erhöhen Mo- ist aber nicht als dauerhafte Beglei- Prävention in Pflegeheimen tivation und damit Nachhaltigkeit. tung gedacht, sondern endet auf In Deutschland erteilt das Präven- Ein kritischer Erfolgsfaktor wird in Wunsch, nach Zielerreichung oder tionsgesetz seit 2016 den für die der Ausrichtung der Gesundheits- wenn durch die Fortführung des Be- öffentliche Finanzierung der Pflege versorgung gesehen. Eine perso- ratungsprozesses keine Verbesserung zuständigen Pflegekassen den Auf- nenzentrierte Herangehensweise, der Versorgungsituation zu erwarten trag, stationären und teilstationären die die individuelle Lebenssituation ist. Die Richtlinien für die Beratung Pflegeeinrichtungen Präventionsmaß- sowie die Präferenzen der betroffe- gelten deutschlandweit (GKV-Spitzen- nahmen anzubieten. Jährlich sollen nen Personen systematischer einbe- verband 2020b). Präventionsprogramme und -pro- zieht, würde nach Einschätzung der Deutlich geringeren Umfang hat jekte in Höhe von rund 21 Mio. EUR Autor*innen des auf Deutschland die Pflegeberatung nach § 37 Abs. 3 durchgeführt werden. Der „Leitfaden fokussierten Berichtes allerdings SGB XI, in der Erschwernisfakto- Prävention in stationären Pflegeein- erst einerseits entsprechende Per- ren festgestellt werden, die auf die richtungen“ des GKV-Spitzenver- sonalschulungen und andererseits Gesundheit der Pflegebedürftigen bandes, aktualisiert im Jahre 2018, mittelfristig eine umfangreiche An- und ihrer pflegenden Angehörigen legt Kriterien für diese Leistungen der passung der organisatorischen und einwirken. Eine konkrete Bearbeitung Pflegekassen fest und soll diese bei finanziellen Rahmenbedingungen der Faktoren ist im Rahmen dieser der Entwicklung und Umsetzung ent- erfordern. Beratung nicht vorgesehen, sondern sprechender Angebote unterstützen. sie soll bei Bedarf an andere Orga- Als Ziel der Präventionsmaßnahmen Schon länger bestehen für ältere nisationen bzw. Maßnahmen wie wird die Stärkung der gesundheits- Personen, die zu Hause leben, unter- eben die Beratung nach § 7a SBG XI fördernden Potenziale von Pflegeein- schiedliche Beratungsschienen bei vermitteln. Im Gegensatz zur frei- richtungen definiert, operationalisiert aktuellem und auch bereits bei sich willigen Beratung gemäß § 7a SGB in zwei Teilzielen. Teilziel 1 lautet „Die anbahnendem Pflegebedarf. Per- XI ist diese Beratung verpflichtend, Anzahl der Pflegeeinrichtungen mit sonen, die bereits Pflegeleistungen und zwar für Pflegebedürftige, die einem Steuerungsgremium, das sich beziehen oder zumindest einen keinerlei formale Pflege(sach)leistung mit der Gesundheitsförderung und Antrag gestellt haben, können eine beziehen, sondern ausschließlich Prävention der Bewohnerinnen und Beratung gemäß § 7a Sozialgesetz- Geldleistungen sowie informelle Pfle- Bewohner befasst, ist erhöht.“ Als buch (SGB) XI beantragen. Diese ge. Das deutsche Gesetz sieht solche Teilziel 2 wird in den fünf Handlungs- dient vor allem der Information sowie verpflichtenden Beratungen regel- feldern für die Pflegekassen nach Koordination und Organisation ge- mäßig vor, je nach Pflegegrad pro einheitlichem Muster definiert, die eigneter Leistungen (Erstellung eines Quartal oder Halbjahr. Offensichtlich Anzahl der Pflegeeinrichtungen, die Versorgungsplans). Die Beratung hat auch einen gesundheitsfördernden und präventiven Charakter in dem Sinne, dass ein weiterer Anstieg Zusammenfassung der individuellen Pflegebedürftigkeit verlangsamt werden soll. Der Bera- Der erste Teil dieses Berichts beschreibt den Präventionsbegriff und mögliche Unter- tungsumfang schließt daher explizit gliederungen im Kontext der Langzeitpflege und -betreuung. Der zweite Teil greift auch Maßnahmen zu Prävention und exemplarisch zwei wesentliche Verursacher von Pflege- bzw. Betreuungsbedarf heraus, Gesundheitsförderung, Rehabilitation um das Präventionspotenzial zu diskutieren: Bei demenzieller Erkrankungen wurde bis und auch Entlastungsleistungen für zu einem Drittel der Inzidenz als potenziell vermeidbar klassifiziert, allerdings liegen nur pflegende Angehörige mit ein. Die teilweise bereits klare Handlungsempfehlungen für die Prävention vor. In der Sturz Pflegeberatung erschöpft sich nicht in einem einzelnen Kontakt, sondern prophylaxe sollte die Forschung in Zukunft auch stärker auf konkrete Personengruppen wird auf Wunsch länger tätig: Bei- abstellen, um die vielversprechenden Programme noch effektiver umsetzen zu können. spielsweise kann die Veranlassung Im dritten Teil werden zwei Beispiele für Prävention von Pflegebedürftigkeit vorgestellt, der mit den Betroffenen ausgewähl- präventive Hausbesuche sowie einige der jüngst in Deutschland eingeführten Prä- ten Maßnahmen, ihre Überwachung, ventionsmaßnahmen. und in weiterer Folge das Feststellen 49
Health System Watch ı Prävention der Pflegebedürftigkeit Maßnahmen in den jeweiligen Hand- Dementsprechend gibt der vorlie- Fazit lungsfeldern umsetzen, zu erhöhen. gende Evaluationsbericht auch noch Den Erfolg von Präventionsmaßnah- Die fünf Handlungsfelder lauten nicht übergreifend über derartige men zu messen ist herausfordernder Ernährung, körperliche Aktivität, Stär- Entwicklungen Auskunft. Für das als die Erfolgsmessung bei vielen kung kognitiver Ressourcen, psycho- Berichtsjahr 2019 geben zwar drei Akut-Behandlungen. Die Prävention soziale Gesundheit und Prävention Viertel der teilnehmenden Einrich- von Pflegebedürftigkeit stellt hierbei von Gewalt in der Pflege (Seibt-Lucius tungen an, ihr Präventionsprogramm keine Ausnahme dar. Dies liegt zum et al. 2020). bereits zu evaluieren, es ist aber Teil an den vielfältigen Ursachen, die Die Verpflichtung der Pflegekas- unklar, inwieweit diese Evaluation zu Pflegebedürftigkeit führen können. sen zum Präventionsangebot ist noch mehr als nur den Umsetzungsgrad Das Beispiel Demenz zeigt, wie breit sehr neu, und wird erst von einem der Maßnahme und die Beteiligung gestreut die bekannten Risikofaktoren kleinen, aber steigenden Anteil der der pflegebedürftigen Personen ab- sind, wie vielfältig demnach mögliche Einrichtungen angenommen. Im Jahr bildet. Ansatzpunkte für Prävention, und wie 2019 haben die Pflegekassen bei In Abstimmung zwischen GKV- gering der Anteil der potenziell später insgesamt über 14.000 anerkannten Spitzenverband und den Verbänden Erkrankenden, die durch eine auf Einrichtungen in 3.078 Fällen Pflege- der Pflegekassen ist zukünftig eine einem einzelnen Risikofaktor fußende einrichtungen über Gesundheitsför- kassenübergreifende wissenschaft- Maßnahme erreichbar sind. Maß- derung und Prävention informiert und liche Evaluation der Leistungen nahmenempfehlungen bleiben daher beraten. 971 Einrichtungen entschlos- geplant, Erkenntnisse und Erfahrun- zum Teil sehr allgemein und häufig sen sich zum Einstieg in den Gesund- gen aus der Umsetzung präventiver auf Lebensstilfaktoren bezogen. Eine heitsförderungsprozess und wählten Angebote sollen aus unterschied- Quantifizierung, wie viel Pflegebedürf- zum überwiegenden Teil Maßnahmen lichen Perspektiven – Pflegekassen, tigkeit mit adäquaten Präventions- der Bereiche Förderung körperlicher Pflegeeinrichtungen und Pflegebe- maßnahmen vermeidbar wäre, ist Aktivität und Mobilität (81 Prozent) dürftige – ausgewertet werden und in somit unrealistisch. bzw. Förderung kognitiver Leistungen die Weiterentwicklung des Leitfadens Prävention von Pflegebedürftigkeit (71 Prozent). Die Förderungen der einfließen, die für 2022 geplant ist stellt daher stärker auf den Erhalt des Pflegekassen sind zeitlich und finan- (Seibt-Lucius et al. 2020). funktionalen Status ab als auf die Ver- ziell begrenzt. So hatten 40 Prozent Als weitere Maßnahme in der meidung konkreter Krankheiten. Auch der im Jahr 2019 geförderten Projekte stationären Pflege wurden finan- bei der zweiten hier dargestellten eine Laufzeit von maximal einem hal- zielle Anreize geschaffen, die die häufigen Ursache für Pflegebedürftig- ben Jahr und nur 13 Prozent von über Durchführung von Präventions- und keit, Stürzen, steht der funktionale einem Jahr, wobei längere Laufzeit Rehabilitationsmaßnahmen unter- Status im Vordergrund. Insofern meist mit einer umfassenden Evalua- stützen bzw. bestehenden kontrapro- erklärt sich der starke Fokus, den die tion verbunden ist (Seibt-Lucius et al. duktiven Anreizen entgegenwirken Literatur auf Lebensstilfaktoren, und 2020). sollen (Stichwort „ins Bett pflegen“). hier insbesondere körperliche Aktivi- Bezüglich der Zielerreichung zeigt Das Recht der Pflegebedürftigen auf tät und Bewegung, als wesentliche der Vergleich der in den Jahren 2018 Rehabilitationsmaßnahmen wurde Präventionsmaßnahmen legt. Dies und 2019 verzeichneten Werte, dass unter bestimmten Umständen ver- gilt auch, wenn bereits ein gewisses in allen sechs Indikatoren für die stärkt. Können Pflegebedürftige nach Maß an Pflegebedürftigkeit eingetre- beiden Teilziele die gewünschte Stei- aktivierenden und rehabilitierenden ten ist und somit eine Abschwächung gerung der Anzahl von Einrichtungen Bemühungen in einen niedrigeren des fortschreitenden funktionalen mit den entsprechenden Konzepten Pflegegrad gestuft werden, erhält Abbaus das Präventionsziel ist. bzw. einem Steuerungsgremium das Pflegeheim einen Bonus von Eindeutige Empfehlungen für be- erreicht werden konnte. Beispiels- 2.952 EUR. Allerdings ist der Betrag stimmte Maßnahmen sind rar. Dies weise verfügten 2018 ein Zehntel der zurückzuzahlen, wenn die entspre- gilt selbst bei international so viel be- erreichten Einrichtungen über ein chende Person innerhalb von sechs forschten Konzepten wie jenem des Ernährungskonzept, im Jahr 2019 Monaten wieder „hochgestuft“ wird. präventiven Hausbesuchs, für den bereits 30 Prozent (Seibt-Lucius et al. Weiters müssen Krankenkassen der nach wie vor noch keine eindeutige 2020). Kritisch anzumerken ist, dass Pflegekasse einen Ausgleichsbetrag Evidenz vorliegt. sich die Ziele derzeit ausschließlich in Höhe von 3.072 EUR zahlen, wenn auf Struktur- bzw. Prozessparameter eine medizinisch notwendige Reha- beziehen, noch nicht auf Outcomes bilitationsmaßnahme für pflegebe- 6 https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/ wie verringerte Sturzraten oder dürftige Versicherte nicht rechtzeitig praevention/frueherkennung-vorsorge/praevention-in-der- verbesserter funktionaler Status. erbracht wird.6 pflege.html, Zugriff am 15.01.2021. 50
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