PRESS REVIEW Thursday, January 28, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal
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PRESS REVIEW Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal Thursday, January 28, 2021
PRESS REVIEW Thursday, January 28, 2021 Jura Forum, BSA, DIVAN, DB Hohe Kunst oder auf Augenhöhe? Musikprojekte in Krisenregionen Die Zeit Theater, Museen, Konzerthäuser – alle streamen jetzt wieder, bloß wie. Eine Umfrage zu Chancen und Risiken Der Tagesspiegel Scholz plant Hilfsfonds für Veranstaltungen Frankfurter Allgemeine Zeitung Ein Gespräch mit Thomas Ostermeier, dem Intendanten der Berliner Schaubühne, über den verstobenen schwedischen Dramatiker Lars Norén Rbb24 „Diaspora Europa“ Digitales Festival an der Volksbühne gegen das Vergessen Der Tagesspiegel Transmediale: Das Festival startet mit einem digitalen Almanach Süddeutsche Zeitung Die Sanierung der Oper Köln soll erst 2024 abgeschlossen werden Die Zeit Beethoven wollte gar nicht so schnell. Ein großes Rätsel der Musikgeschichte ist gelöst Der Tagesspiegel Als erste deutsche Landesregierung diskutiert der rot-rot-grüne Senat in diesen Tagen über eine sogenannte Migrantenquote in der Verwaltung
Internet Quelle: Auch in: Juraforum.de vom 27.01.2021 (Internet-Publikation, Hannover) 3 weiteren Quellen » AÄW: 2.778€ ♦ JURAFORUM Visits: 1.388.970 Reichweite: 46.299 Autor: k.A. Weblink Hohe Kunst oder auf Augenhöhe? Musikprojekte in Krisenregionen Mit Musik die Welt verändern und zu Frieden und Versöhnung beitragen - zahllose Projekte welt weit verfolgen solche Ziele, um ein Stück „heile Welt" in Krisengebieten zu schaffen. Doch mit wel chen Intentionen verfolgen sie dabei welches Verständnis von Musik und Kultur? Lassen sie sich auf die Traditionen und Rahmenbedingungen der jeweiligen Länder ein oder transferieren sie ein westliches Verständnis unverändert in eine andere Gesellschaft? Und welche Effekte haben die Projekte vor Ort? Marion Haak-Schulenburg, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Musikpädagogik und Musikdidaktik der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU), untersucht die Wurzeln und Wirkungen des Musikbegriffes am Beispiel zweier Institutionen, die in Palästina tätig sind. Da mit knüpft sie an den Schwerpunkt „Community Music" der Professur an, der musikalische Projekte mit Fragen von Inklusion, kultureller Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit verbindet. Die KU bietet zudem als europaweit erstes Studienangebot dieser Art den Masterstudiengang „Inklusive Musik pädagogik/Community Music". Haak-Schulenburg studierte zunächst Musik und Englisch in Berlin an der Universität der Künste sowie der Humbold-Universität, um Lehrerin zu werden. Nach dem ersten Staatsexamen bot sich ihr jedoch die Möglichkeit, für drei Jahre an der Musikschule der Barenboim-Said-Stiftung im paläs tinensischen Ramallah zu arbeiten. Diese geht zurück auf den berühmten Dirigenten Daniel Baren boim und den aus Palästina stammenden Literaturwissenschaftler Edward Said, die 1999 das re nommierte „West-Eastern Divan Orchestra" gründeten. Das Ensemble setzt sich aus arabischen und israelischen Musikerinnen und Musikern zusammen, so dass es als Symbol für die Möglichkeit von Koexistenz und Frieden in der Region fungiert. Ausgangspunkt für Musikschule waren die be grenzten Möglichkeiten für arabische Musikerinnen und Musiker, sich professionell weiterzubilden. Die Schule richtet sich jedoch auch an Kinder und Jugendliche und bietet diesen Unterricht für Or chesterinstrumente und Klavier. Parallel zu ihrer Arbeit in der Musikschule kam sie in Kontakt mit der niederländischen Organisation „Musicians without Borders", die weltweit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für die musikalische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ausbilden. Haak-Schulenburg gründete so Kinderchöre in Ra mallah und verschiedenen Dörfern sowie dem Balata Flüchtlingslager in Nablus. Wichtiger Be standteil des Repertoires waren nicht klassische Musik, sondern arabische Lieder, Rhythmen und Tänze. ,,Diese Kinder leben meist in ärmsten Verhältnissen und haben eine schlechte Schulbildung. Sie findet man gerade nicht im klassischen Musikunterricht der Barenboim-Said-Stiftung", berichtet Marion Haak-Schulenburg. Aus dem Kontrast beider Erfahrungen erwuchs für die Wissenschaftle rin die grundlegende Frage ihrer Doktorarbeit, aus welchen Wurzeln das jeweilige Musikverständnis solcher Initiativen erwächst und welche Wirkung es entfaltet. ,,In Palästina gibt es viele Projekte, die den Menschen in ihrer schwierigen Situation Zugang zu Kul tur bieten wollen. Das ist jedoch in der Regel europäisch geprägte Kultur - ohne kritische Reflexion darüber, ob das Angebot überhaupt Sinn macht. Blickt man dann ins Publikum, taucht dort meist nur eine bestimmte Schicht der einheimischen Bevölkerung auf, die sich am Westen orientiert, so wie Europäer oder Amerikaner, die vor Ort tätig sind", so Haak-Schulenburg. Wie sie in Interviews vor Ort feststellte, gilt dies auch für die klassisch ausgerichtete Musikschule der Barenboim-Said Stiftung, die ihr Angebot nur an Privatschulen bewerbe. Die Schülerinnen und Schüler stammten aus Familien der bildungsorientierten Mittel- und Oberschicht, besuchten überwiegend christliche Schulen und betrieben sogar mehrere Hobbies - undenkbar für Kinder, die staatliche Schulen be suchen. ,,Die Musikschule setzt sich jedoch den weitreichenden Anspruch, in Palästina zu einer ge sellschaftlichen Transformation beizutragen. Es genügt aber nicht, zu hoffen, Musik werde es schon richten und Beethovens Fünfte habe es schon immer gerichtet", so Haak-Schulenburg. Es stehe außer Zweifel, dass die Musikschule sinnvolle Arbeit für die Schülerinnen und Schüler leiste. Die Tradition einer Autonomie der Künste beinhalte jedoch auch eine Haltung von Hegemonie. Dieses auf das Werk konzentrierte Musikverständnis habe auch Auswirkungen auf die Förderung entsprechender Projekte: So habe ein Berliner Jugendorchesterprojekt mit geflüchteten Kindern nach einem halben Jahr keine Förderung mehr erhalten, da die Resultate zu wenig künstlerisch seien und zu sozial gearbeitet werde. ,,Klassische Musikpädagogik hat das Ziel, Musik im Hinblick auf einen Lehrplan zu vermitteln - verbunden mit formalen Fähigkeiten, wie etwa dem Notenlesen. Community Music hingegen will zusammen mit Menschen Musik entstehen lassen - frei von Vor- 5
28.1.2021 https://epaper.zeit.de/webreader-v3/index.html#/940345/47 Feuilleton · Ulrich Stock Lesezeit: 5 Min. Wenn wir uns verströmen Theater, Museen, Konzerthäuser – alle streamen jetzt wieder, bloß wie? Eine Umfrage zu Chancen und Risiken VON ULRICH STOCK Er hat Pralinés mitgebracht, natürlich warm von Körpernähe, Cognac-Kirsche, Cremehüt- chen. Jetzt baden? In die Wanne. Komm! Lauwarmes Wasser. Wie Gewitternacht. Und als er ihr Gefieder streicheln will, findet er es von Tränen nass. So intim miteinander sind die Gespenster in der gleichnamigen Aufführung der Münchner Kammerspiele, die vergangene Woche Premiere hatte. Verführerische Worte in Mannscher Diktion, Pardon: in Mannschen Diktionen, denn das Stück kreist um Erika, Klaus und Tho- mas Mann und die inzestuösen Niederungen der Hochkultur. Aber halt. Wir sehen die Akteure nicht leibhaftig, sitzen nicht im ausverkauften Saal, haben nicht vorfreudig auf den Vorhang geschaut, auf dass er sich gleich hebe. Wir lümmeln zu Hause vor dem Laptop, bei Bier und Schnittchen, knorpelige Stecker im Ohr, um den Klang zu verbessern. Gespenster – Erika, Klaus und der Zauberer ist die erste nur gestreamte Pre- miere der Kammerspiele. Eigentlich ist es ein Theaterstück, das seine Generalprobe im November hatte, seine Urauf- führung vor Publikum dann aber nicht mehr erlebte, weil behördlich verfügte Beschrän- kungen im Lauf der Monate die Zahl der Zuschauer im Saal von 690 auf 180 auf 50 auf schließlich 0 reduzierten. So entschloss sich das kleine Ensemble um das Inszenierungskollektiv raum+zeit, das Stück für die Ausstrahlung im Netz zu präparieren. Fünf Kameraleute wurden angeheuert und schwarz verhüllt, sodass sie kaum (aber doch!) zu sehen sind, wenn sie zwischen den vier Darstellern durch das schwarz-karge Bühnenbild huschen. Mehrere Tage wird Theater für und mit und zwischen Kameras geprobt. Der Kniff der Münchner ist der Schnitt in Echtzeit. Anders als bei einer Fernsehproduktion wird hier nichts nachbearbeitet. Jede Unschärfe der Bildregie wird sichtbar und darf auch sichtbar sein als ein gestreamter Reflex jener Unmittelbarkeit, die das Theater seit je aus- macht. https://epaper.zeit.de/webreader-v3/index.html#/940345/47 1/4
28.1.2021 https://epaper.zeit.de/webreader-v3/index.html#/940345/47 Egal, wo man sich zurzeit umhört, ob an Schauspielhäusern, Musikhallen oder Museen: Streaming ist das Thema, das alle beschäftigt. Kurze Rückblende, März 2020: Ein Virus umstellt die Kulturstätten, Lockdown. Fast in- stinktiv wird gestreamt, die Musiker sind die Ersten. Smartphone vors Klavier, hallo, YouTube. Oder ein Gig aus dem leeren Club mit Spenden-Button. Wir sind noch da, wir ma- chen weiter. Das Publikum ist kurz angetan, schnell gelangweilt: Immer Bildschirm! Mit den Chancen des digitalen Mediums beschäftigen sich viele zunächst nicht weiter. Denn das Wetter ist gut, der Sommer kommt, alle Kunst zieht nach draußen – so sie es kann. Der Spuk scheint nachzulassen, der Herbst bringt Hygienekonzepte, abständiges Zu- schauen bei gedritteltem Publikum. Geht doch! Geht ein paar Wochen lang, dann fegt die zweite Welle die Kulturhäuser leer. Sofort ist das Streaming wieder da. Diesmal wissen alle: Über die nahe Zukunft gemeinschaftlich zu erle- bender Kunst lässt sich keine verlässliche Aussage mehr treffen. Streaming zählt zu den wenigen Möglichkeiten, das ausgesperrte Publikum zu erreichen. Einige Beispiele: Viele Festivals werden abgesagt, das Jazzfest Berlin im November 2020 findet statt: als Stream. So haben immerhin die Musiker Einnahmen. Nicht ein verkauftes Ticket, dafür alle vier Abende gratis auf Arte Concert. Erstaunliches Resultat: Statt bis zu 9000 zahlender Gäste am Set mehr als 100.000 Zuschauer im Netz, wobei es immer noch mehr werden, denn nur wenige sehen die Übertragung live. Der Stream steht ein Jahr lang zum Abruf be- reit, sehr bequem, sehr seltsam auch: Die Rezeptionshaltung verändert sich. »Man ist nicht gezwungen, sich Dingen auszusetzen, die einem nicht so gefallen«, sagt Patricia Hofmann, Sprecherin des Jazzfestes. »Das Kunsterlebnis ist viel stärker abhängig davon, in welcher Stimmung ich bin. Ob ich dann sage: Ich mach mir was zu essen und guck das Konzert, oder ich bügel nebenher Hemden.« Das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg transferiert Ende November die seit Jahren er- folgreiche Theaterposse Anna Karenina – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie in einen rasanten Live-Stream. 6,50 Euro kostet das digitale Ticket; kein Nach- Schauen im Netz! »Theater hat extrem viel damit zu tun, dass es jetzt stattfindet und nicht in einer halben Stunde«, erläutert der Dramaturg Ralf Fiedler. »Dass das jetzt passiert, und https://epaper.zeit.de/webreader-v3/index.html#/940345/47 2/4
28.1.2021 https://epaper.zeit.de/webreader-v3/index.html#/940345/47 dann ist es auch vorbei.« Der Moment des Einmaligen müsse erhalten bleiben, deshalb gibt es vom Schauspielhaus keine abrufbaren Konserven mehr. Ungewohnt bleibt das Spielen vor Kameras: Am Ende von Anna Karenina haben sich die Mitwirkenden nicht verbeugt; war ja niemand im Saal. Prompt, sagt Fiedler, hätten sich einige der 2000 (!) Online-Zu- schauer beschwert. Auch das Publikum muss seine Erwartungen an das Medium noch jus- tieren. Heiko Jahnke von der Karsten Jahnke Konzertdirektion in Hamburg steht dem Streaming großer Bands eher skeptisch gegenüber. Bislang habe er nur wenig Überzeugendes gese- hen, sagt er, um dann von den minimalistisch-kraftvollen Hauskonzerten des New Yorker Musikerpaars Dezron Douglas und Brandee Younger zu schwärmen. Ein Kontrabass, eine Harfe, ein Mikrofon! Traditionell zugespitzter Lockdown-Jazz, der in Auswahl inzwischen auf dem Album Force Majeure erschienen ist, das – hier sei es bestätigt – zu den besten Aufnahmen des Virusjahres zählt. »Wir sind kein medienproduzierendes Haus«, sagt Florian Schütz, Kurator am Museum für Kommunikation in Berlin. »Die Leute sind gewohnt, ins Museum zu gehen, und wenn das nicht mehr geht, müssen sie erst merken, dass sie sich einen Stream ansehen können. Da bauen wir unser Publikum gerade auf.« Eine erste Erkenntnis laute: »Die Eins-zu-eins-Ab- bildung des Besuchs am Ort funktioniert nicht. Videoführungen dürfen nicht länger als zehn Minuten sein, das sieht sich sonst keiner an.« Vorneweg beim Streaming ist die Hamburger Elbphilharmonie, die des unendlichen An- drangs wegen schon immer auf Sendung geht. Weil es nie genug Karten gebe, verspüre man eine Bringschuld, sagt ihr Sprecher Tom R. Schulz. Und wie läuft es? »Super.« Eine Er- fahrung hier: Die Herkunft eines Künstlers bestimmt mit über die Zusammensetzung des Publikums. Singt am Elbufer Youssou N’Dour aus dem Senegal, schaltet sich im Netz Afrika zu. Noch einmal zurück zu den Münchner Kammerspielen. Der Dramaturg Mehdi Moradpour sieht eine Beschränkung des Live-Streamings gerade in seiner Einmaligkeit. Eine Theater- aufführung lebe durch ihre Prozessualität (die Entwicklung von Aufführung zu Auffüh- rung) und durch die täglich variierende Präsenz (die Gegenwärtigkeit des Ensembles wie des Publikums). Jeder Abend ist anders. Eine Aufführung aber Abend um Abend live zu streamen, das könne niemand bezahlen. https://epaper.zeit.de/webreader-v3/index.html#/940345/47 3/4
28.1.2021 https://epaper.zeit.de/webreader-v3/index.html#/940345/47 Andererseits, glaubt er, berge das neue Medium Möglichkeiten der Teilhabe und Ver- schmelzung, die nun in einer Phase des Experimentierens erschlossen werden müssten, »bis hin zum Twittertheater«. Wenn es gut laufe, lasse sich vom Auftritt im Netz sogar et- was »fürs Theater im Theater« lernen – für jene schöne Zeit, in der man wieder vor Publi- kum spielen kann. Foto: Heinz Holzmann Spielen hinter Glas: Bernardo Arias Porras in der Münchner »Gespenster«-Premiere https://epaper.zeit.de/webreader-v3/index.html#/940345/47 4/4
28.1.2021 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/474373/18-19 Donnerstag, 28.01.2021, Tagesspiegel / Kultur Scholz plant Hilfsfonds für Veranstaltungen Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) will für die Kultur weitere Corona-Hilfen schaffen. Geplant sei ein zweiteiliger Hilfsfonds, sagte Scholz in der Februar-Ausgabe in der Zeitung „Politik & Kultur“ des Deutschen Kulturrats. „Wir wollen kleinere Kulturveranstaltungen finanziell fördern, die aufgrund von Hygienevorgaben mit deutlich weniger Publikum stattfinden müssen und sich sonst nicht rechnen würden. Das zweite Element ist ein Fonds als eine Art Versicherung für größere Kulturveranstaltungen. Die Versicherung soll einspringen für den Fall, dass eine Veranstaltung geplant und organisiert wird, wegen Corona dann aber wider Erwarten doch abgesagt werden muss“, erklärte Scholz. So sollten Kulturschaffende ermuntert werden, früh genug zu planen, „damit nach Ende der Pandemie Konzerte, Lesungen und Theater bald wieder stattfinden können.“ Tsp https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/474373/18-19 1/1
28.1.2021 https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/466325/11 F.A.Z. - Feuilleton Donnerstag, 28.01.2021 Sein Tod muss uns innehalten lassen Ein Gespräch mit Thomas Ostermeier, dem Intendanten der Berliner Schaubühne, über den verstorbenen schwedischen Dramatiker Lars Norén Wer war Lars Norén? Zuerst einmal war er ein unglaublich produktiver Autor, der die meiste Zeit des Tages mit Schreiben verbracht hat. Unabhängig von den unzähligen Stücken und deren Varianten hat er ja auch noch Lyrik verfasst und Tagebuch geschrieben. Er hat sich während seiner Laufbahn als Autor sehr stark gewandelt. Angefangen hat er in der Tradition von Ibsen, dessen glasklare Dramaturgie er bewun- dert hat, mit klassischen Kammerspielen wie „Dämonen“ oder „Nacht, Mutter des Tages“. Ende der Neunziger hat er sich dann vom bürgerlichen Interieur abgewandt und eine andere Form des sozial- realistischen Schreibens für sich entdeckt, dabei die Ränder der Gesellschaft aufgesucht. Für „Perso- nenkreis 3.1“ hat er lange Interviews mit Obdachlosen, Drogenabhängigen, physisch Kranken und Prostituierten geführt. Ein tiefer, ich würde sagen traumatisierender Einschnitt in seiner Biographie war „Sieben drei“, ein Gefängnisprojekt mit straffällig gewordenen Rechtsradikalen, bei dem zwei der Gefangenen die Theaterarbeit zur Flucht nutzten und nach einem Bankraub zwei Polizisten erschossen. Das war der Boulevardpressen-Moment in Noréns Leben, aber es wäre schade, wenn man ihn auf dieses Unglück reduzieren würde. Denn es gab noch eine dritte, letzte Phase in seinem Schaffen, in der er vielstimmige Todesfugen über das Altern und Sterben geschrieben hat. Als Sie 2000 an die Berliner Schaubühne kamen, haben Sie Ihre Intendanz mit „Personenkreis 3.1“ eröffnet. Warum? Das war für mich das perfekte Stück, um an das anzuknüpfen, was mich seit meinen Anfängen an der „Baracke“ am Deutschen Theater interessiert hat: die Wirklichkeit der sozialen Ungerechtigkeit auf der Bühne zu zeigen. Dieses Stück gab jenen eine Stimme, die sonst keine haben. Gleichzeitig war es für mich der richtige Stoff, um mich von der Tradition der alten Schaubühne abzusetzen, sowohl programmatisch als auch ästhetisch: Wir haben das Stück in einem nackten Betonraum auf leerer Bühne gespielt und das Publikum hufeisenförmig angeordnet. Ich wollte allen klarmachen: Jetzt beginnt etwas Neues! Aber die Inszenierung wurde ein ziemlicher Misserfolg, wohl auch, weil das Stück keine Protagonisten im traditionellen Sinne hat, sondern zwanzig unterschiedliche Figu- ren. Ich erinnere mich noch an das schlagende Geräusch der Garderobenschränke in der Pause, als viele Zuschauer das Theater erbost verließen. Wie haben Sie Lars Norén persönlich erlebt? Er war ein unglaublich öffentlichkeitsscheuer Mensch, der den hysterischen Lärm des Betriebs nicht ertragen konnte. Seine Abneigung gegen die Adabeis und karrieristischen Meinungsmacher kann man ja in seinen kürzlich veröffentlichten Tagebüchern nachlesen. Zum letzten Mal habe ich ihn vor ein paar Jahren an der Comédie-Française getroffen, und wir haben lange über das Theater und sein Schreiben geredet. Von meiner Seite war unsere Bekanntschaft von großer Bewunderung geprägt. https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/466325/11 1/2
28.1.2021 https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/466325/11 In Schweden wird Norén jetzt als „größter Dramatiker nach Strindberg“ gefeiert, bei uns ist er seit Ihrer Wiederentdeckung Anfang des Jahrtausends eher in Vergessenheit geraten. Warum? In den achtziger Jahren wurde Lars Norén auch bei uns durchaus viel gespielt. Stücke wie „Nachtwa- che“ erlebten sehr viele Aufführungen. Peymann hat damals sogar die deutsche Erstaufführung von „Dämonen“ mit Kirsten Dene und Gert Voss inszeniert. 2005 gab es eine Premiere von ihm in Bonn mit einem Stück über Kriegsheimkehrer, und 2015 hat Köln ihn noch mal gespielt. Meine eigene Inszenierung von „Dämonen“, die seit 2010 an der Schaubühne läuft, würden wir im Übrigen gerade als Gastspiel in Paris spielen, wenn uns Corona keinen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Aber generell stimmt natürlich, dass Norén nicht mehr an seine breite Wirkung aus den Achtzigern anknüpfen konnte. „Personenkreis 3.1“ kam an der Schaubühne etwas zu früh zur Aufführung, einige Jahre später hätte man es vielleicht als Parabel über die Auswirkungen von Schröders „Agenda 2010“ interpretiert. Lars Norén ist an den Folgen einer Covid-Erkrankung gestorben. Kommt Ihnen sein Tod zeichenhaft vor? Uns allen führt sein Tod noch einmal brutal vor Augen, wie furchtbar diese Krankheit in Europa wütet. Spätestens jetzt, wo berühmte Menschen sterben, deren Namen wir kennen, sollten wir noch einmal innehalten. Insbesondere für uns Theatermacher ist Noréns Tod ein Warnruf: Ja, es ist eine Katastrophe, dass Theater gerade nicht öffnen können. Ja, es stimmt, dass allem Anschein nach der Aufenthalt in einem Theater nicht zur Ausbreitung der Pandemie beiträgt. Trotzdem ist es jetzt wichtiger denn je, keine Werturteile über Altersgruppen zu fällen, sondern die gesamte Gesellschaft zu schützen. Dazu werden wir durch den Tod von Lars Norén in Schweden gemahnt: dass der Schutz aller Altersgruppen wichtiger ist, als vorschnell Kontaktbeschränkungen zu lockern. Und dass ein Absenken der Inzidenz entscheidender ist als eine zu frühe Wiedereröffnung der Theater. Das Gespräch führte Simon Strauß. https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/466325/11 2/2
28.1.2021 Diaspora Europa: Digitales Festival an der Volksbühne gegen das Vergessen | rbb24 Diaspora Europa | Digitales Festival Volksbühne Berlin Verortungen und Visionen gegen das Vergessen 27.01.21 | 15:34 Uhr "Diaspora Europa" heißt ein digitales Festival der Berliner Volksbühne. Fünf Tage lang werden dort Performances und Tanz, Konzerte, Vorträge und Diskussionen von und mit Roma, Sinti und Juden gezeigt. Ute Büsing stellt einige der Beteiligten vor. Beitrag hören Sie wurden schon einmal an den Rand Europas gedrängt und sie werden es wieder: Juden und Sinti und Roma. In einem zunehmend rechtspopulistischen Klima will die Volksbühne jetzt mit ihrem Diaspora-Festival ein Gegengewicht setzen. Intendant Klaus Dörr wollte es eigentlich bereits zum 8. Mai 2020, dem 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus im letzten Jahr, platzieren. Im Mittelpunkt hätte dann Hans-Werner Kroesingers Inszenierung von Peter Weiss "Die Ermittlung" gestanden. Die findet Corona-bedingt nicht statt. "Hauptausgangspunkt ist die Verantwortung der Täter", sagt Dörr. "Aber wir erzählen aus der Perspektive von Juden und Sinti und Roma." Digital gebündelt werden in Zusammenarbeit mit dem "European Roma Institute for Arts and Culture" fünf Tage lang Performances und Tanz, Konzerte, Vorträge und Diskussionen von und mit Romas, Sinti und Juden. Mit Erinnerungserzählungen, Verortungen und Visionen blicken sie ab dem 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, weltweit Holocaust-Gedenktag, auf das Zusammenleben in Europa. Multiethnische Hintergründe im Zusammenspiel Die Choreografin und Tänzerin Oxana Chi entreißt in ihrem Projekt "Durch Gärten" die jüdisch-russisch-chinesische Tänzerin Tatjana Barbakoff dem Vergessen, die in den 1930er Jahren für Furore sorgte, bevor sie in Auschwitz ermordet wurde. Barbakoff war auch Modell für berühmte Maler wie Otto Dix, Orientierungspunkt und Inspirationsquelle der Boheme. Oxana Chi bezeichnet sich selbst als "Geschichtenerzählerin ohne Worte". Sie arbeitet sehr viel mit Gesten und Gesichtsausdrücken, stellt "Stummfilmcharaktere" her. Die Bewegungen schöpft sie aus verschiedenen Tanzstilen "vom Ballett bis hin zu Kung Fu". "Multiethnische Hintergründe" prägen die Beteiligten des Festivals, wie die Choreografin Chi, Tochter einer Ukrainerin und eines Nigerianers, im Ruhrgebiet aufgewachsen, gerade wahlbeheimatet in New York. "Ich fand es toll zu sehen, dass es bereits in den 20er, 30er Jahren multiethnische Stars gab", erzählt sie. Die Sängerin, Autorin, Regisseurin und politische Aktivistin Tayo Awosusi-Onutor bezeichnet sich selbst als "Afro- Sintezza". Beim Diaspora-Festival bringt die Deutsch-Nigerianerin jetzt ihren Romnja-Jazz mit dem Rosenberg Trio zum Klingen. Weitere musikalische Hochkaräter sind das Ferenc Snétberger und das Janko Lauenberger Quartett. Holocaust-Relativierung und Antiziganismus Mit populistischen Bewegungen und dem verstärkten Zulauf dazu und dem Weiterleben lange tot geglaubter "Zigeuner"-Klischees beschäftigt sich die Netzaktivistin Sonja Kosche in ihrem Vortrag über Rassismus gegen Sinti und Roma im Internet. "Der Hass gegen Sinti und Roma im Internet hat sich hochgeschaukelt, wir finden tausende Hass- Kommentare", sagt Kosche. "Holocaust-Relativierung geht mit Antiziganismus Hand in Hand." Wie die meisten Beteiligten des Diaspora-Festivals der Volksbühne hat auch Sonja Kosche eine tiefe persönliche Verbindung zu dem, worüber sie heute hellsichtig aufklärt. 2015 hat sich ihr Vater umgebracht. Er wurde noch in Jugoslawien geboren, seine Mutter war aus Rumänien. "Er hat immer versucht, sich zu assimilieren ist aber niemals wirklich in Deutschland angekommen." Seitdem konzentriert sich Netzaktivistin Sonja Kosche auf die eigene Herkunft, "weil es kaum Gegenreden zum Antiziganismus gibt." Sendung: Inforadio, 27.01.2021, 07:55 Uhr Beitrag von Ute Büsing https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2021/01/volksbuehne-berlin-roma-sinti-juden-diaspora-europa-menschenrechte.html
28.1.2021 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/474373/18-19 Donnerstag, 28.01.2021, Tagesspiegel / Kultur Transmediale: Jetzt alle mal schön langsam Das Festival startet mit einem digitalen Almanach Von Birgit Rieger © Transmediale Wuff. Der Hund Roja aus Micha Cárdenas VR-Spiel „Sin Sol /No Sun“. Im digitalen Raum regiert die Schnelligkeit: als Erste den Tweet lesen, zügig reagieren, ad hoc in den Live-Talk reinhören, spontan mitreden, schnell eine Konferenz aufsetzen, stets den Kalender updaten. Die neue Leiterin der Transmediale, dem Berliner Festival für Kunst und digitale Kultur, Nora O Murchú, macht zunächst einmal Schluss mit dem Druck. Wenn man sich ansieht, wie sie die Veranstaltung in diesem Jahr geplant hat, scheint ihre Devise zu lauten: Prall gefülltes Festival ja, Zeitstress nein. Die sonst in Irland lebende und lehrende Wissenschaftlerin, Kuratorin und Interaction Designerin hat die Transmediale, die sonst eine mehrtägige Konferenz und eine mehrwöchige Ausstellung umfasst, zu einem einjährigen Festivalformat erweitert. Natürlich passt das auch besser in die Pandemiezeit, in der volle Konferenzsäle nicht möglich sind. Dass es eine entschleunigte Festivalvariante werden sollte, mit mehr Zeit https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/474373/18-19 1/2
28.1.2021 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/474373/18-19 für künstlerische Prozesse und einer nachhaltigeren Beschäftigung mit den Kunstwerken und Denkbeiträgen, war aber jenseits der Pandemie bereits O Murchús Anliegen. Dieses Ja zum Festival, und Nein zur Hektik passt gut zum inhaltlichen Thema, das die künstlerische Leiterin für die Veranstaltung gewählt hat. Die Pandemie und alles was man in dem Zusammenhang ablehnen könnte, inspirierte nicht zum Thema „for refusal“, wohl aber das Gefühl, dass in der Verweigerung, im Nicht-den-üblichen-Weg-Gehen, eine Chance liegt, soziale, politische, kulturelle Strukturen zu verändern. Nicht mit der Keule des gewaltvollen Protests soll Wandel herbeigeführt werden. Es geht unter anderem um Formen der „sanften Verweigerung“ im Zusammenhang mit digitalen Technologien. Was bedeuten die durch neue Technologien veränderten Arbeitsbedingungen, wie viel Stunden hat ein Tag, was ist Urlaub? Wie kann man der On-Demand-Logik begegnen, ohne von Firmen und deren Abo-Modellen abhängig zu sein? Was bedeutet das Einschalten eines Ad Blockers, die Nutzung eines bestimmten Browsers (und eines anderen nicht), oder das Löschen des eigenen Facebook-Profils, während man auf anderen Plattformen weiterhin aktiv ist? Mit diesen Fragestellungen werden sich Künstlerinnen, Wissenschaftler und digitale Vordenkerinnen beschäftigen. Am heutigen Donnerstag startet das Festival mit einer digitalen Plattform, die sich „Almanac for Refusal“ nennt. Ein Almanach ist eine Chronik des Wissens, geordnet nach Jahreszeiten und astrologischen oder meteorologischen Ereignissen. Und so sollen auch diesem Almanach jeden Monat, jeweils zum Vollmond (wie an diesem 28. Januar) neue Inhalte hinzugefügt werden, etwa Podcasts, Filme, Gespräche, Soundexperimente und Daten von vielfältigen Künstlerinnen. Nora O Murchú, die in 33 Jahren die erste Frau ist, die die Transmediale leitet, will eine queer-feministische, intersektionale und postkolonial Perspektive ein bringen . In der Auftaktrunde steht etwa die Marshall McLuhan Lecture des in Kanada lehrenden Digital-Poeten, Aktivisten und Software Designers Jason Edward Lewis bereit, in der „Die Frage nach KI“ auch aus der Perspektive indigener Communities beleuchtet wird. Die nigerianisch-amerikanische Datenspezialistin Mimi Onuoha hat sich mit der an schwarzer feministische Praxis und Kulturgeografie interessierten Künstler*in Romi Morrison zu einem Video-Essay zusammengetan. Die Ausstellung, die dieses Mal nicht wie üblich im Haus der Kulturen der Welt, sondern im Silent Green und im Kunstquartier Bethanien stattfindet, wird ab 15. Februar zunächst digital zugänglich sein. Birgit Rieger ab 28. Januar auf transmediale.de Wuff. Der Hund Roja aus Micha Cárdenas VR-Spiel „Sin Sol /No Sun“.Foto: Transmediale https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/474373/18-19 2/2
28.1.2021 https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/801977/10 Theater und kein Ende Die Sa nie rung der Oper Köln soll erst 2024 ab ge schlos sen wer den Die Sa nie rung der Köl ner Oper und des Schau spiel hau ses am Of fen bach platz verlän gert sich voraus - sicht lich um ein wei te res hal bes Jahr und wird er neut deut lich teu rer. Ober bür ger meis te rin Hen riet te Reker sag te, es ge be bei den Bau ar bei ten „sehr gu te, aber auch we ni ger gu te Nach rich ten“. Zu den we ni- ger gu ten ge hört sicherlich, dass die ursprüng lich auf 253 Mil lio nen Eu ro ge schätz ten Ge samt kos ten für die Sa nie rung der Köl ner Büh nen sich mehr als verdrei fa chen werden: Die Bau kos ten stei gen auf min - des tens 618 Mil lio nen; bei Ein tritt al ler Ri si ken könn ten es auch 644 Mil lio nen werden. Hin zu kom men Fi nan zie rungs- sowie Pacht- und Miet kos ten für die provi so ri schen Spiel stät ten von ins ge samt 260 Mil- lio nen. Un term Strich werden so mit zwi schen 878 Mil lio nen und 904 Mil lio nen Eu ro ste hen. Bernd Streit ber ger, ehe ma li ger Bau de zer nent der Stadt und mitt ler wei le tech ni scher Be triebs lei ter der Köl ner Büh nen, möch te das fer tig sa nier te Opern haus nun im März 2024 schlüs sel fer tig über ge ben, statt wie zu letzt ge plant im drit ten Quar tal 2023. Die zwei te we ni ger gu te Nach richt lau tet so mit: Die Bau zeit ver zö gert sich um ins ge samt neun Jah re. Die Sa nie rungs ar bei ten am denk mal ge schütz ten Opern haus be gan nen im Ju ni 2012. Die Neueröff nung soll te 2015 statt fin den. Doch im Som mer 2015 ent stand Cha os beim Versuch, die Haus tech nik ein zu bau- en. Man ha be da mals „al les auf null stel len und im Prin zip kom plett von vorn be gin nen“ müs sen, er klär- te Hen riet te Reker nun. Ein Gut ach ten be nann te un zäh li ge Feh ler bei Pla nung und Bau auf sicht. Noch steht die Ab seg nung der neuen Zah len durch den Rat der Stadt aus, sie darf al lerdings als sicher gel ten. Die Köl ner Ober bür ger meis te rin ist par tei los, wird je doch von den Frak tio nen von Bünd nis 90/Die Grü nen und der CDU un terstützt. Die kul tur po li ti sche Spre che rin der SPD-Frak tion, Mia Hel mis, sprach an ge sichts der er neu ten Bud get erhö hung von ei nem „Fass oh ne Bo den“. „Die stän di gen Ver zö ge - run gen und Kos ten ex plo sio nen be schä di gen das Ver trauen in die Stadt schwer“, so Hel mis. Der In te - rims spiel be trieb der Oper im Staa ten haus am Rhein park sowie der des Thea ters im De pot an der Schan - zen stra ße ist bis zum De zem ber 2022 durch Rats be schlüs se ab ge sichert. Ei ne Spiel zeit kos tet hier er fah - rungs ge mäß zwi schen neun und zehn Mil lio nen Eu ro. Alex an der Men den https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/801977/10 1/1
28.1.2021 https://epaper.zeit.de/webreader-v3/index.html#/940345/43 Feuilleton · Christine Lemke-Matwey Lesezeit: 2 Min. Beet hoven wollte gar nicht so schnell Ein großes Rätsel der Musikgeschichte ist gelöst Die Bombe kommt aus Spanien und könnte, wenn sie platzt, ein paar viel geliebte Konflikte mit großem Knall beenden – und gleichzeitig nicht nur die Beethoven-Rezeption erschüt- tern, sondern alles Hören und Begreifen von Musik des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Seit Dezember ist sie in der Welt, und dass Forschung und interessierte Öffentlichkeit sie erst jetzt wahrnehmen, wollen wir mal mit Corona begründen und damit, dass auch das Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 so gut wie in der Versenkung verschwand. Oder ist es doch nur ein Bömbchen, die 1381. Fußnote im immer mal wieder aufflackern- den, gern mit großem ideologischem Besteck geführten Dauerstreit um Beethovens Metro- nomzahlen? Traditionell stehen sich hier zwei Fraktionen gegenüber: die Zahlengläubigen und die Freiheitssüchtigen. Diejenigen, die die Metronomzahlen, die Beethoven nachträg- lich in seine Partituren schrieb, für bare Münze halten – und diejenigen, die darin mehr ei- ne inspirierende Anregung sehen, eine Art Klaps auf den Popo. Historisch informiert hei- ßen die einen, romantisch die anderen. Und natürlich beleben unterschiedliche Interpreta- tionen immer das Geschäft. Das Problem ist nur: Beethovens Angaben ergeben keinen rechten Sinn, bis heute nicht. Die Metronomzahl misst die auf einen bestimmten Notenwert (Achtel, Viertel, Halbe) fest- gelegten Schläge pro Minute, sie gibt das Tempo vor. Bei Beethoven sind diese Zahlen in den allermeisten Fällen viel zu hoch – und die Tempi entsprechend viel zu schnell. Manche Stücke wie der Kopfsatz der Hammerklaviersonate (Halbe = 138!) geraten so an die Grenze der Unspielbarkeit, andere wie der Trauermarsch aus der Eroica klingen nach »Als die Bil- der laufen lernten«, wieder andere zerreißen den Werkkontext oder unterlaufen jede Intui- tion. War das alles so gemeint? Beethoven gehörte zu den ersten Musikern, die mit Metronom arbeiteten, seit 1817 (mit dessen Erfinder Johann Nepomuk Mälzel war er befreundet). Hat er das Ding einfach nicht richtig bedient, waren die mechanischen Apparate, die man aufziehen musste wie eine Uhr, per se unzuverlässig, oder lag es an seiner Taubheit? Bei einem Komponisten, der Kla- viere zertrümmerte und sich eimerweise mit kaltem Wasser übergoss, um seinen inneren Furor zu bändigen, waren und sind der Spekulation naturgemäß keine Grenzen gesetzt. https://epaper.zeit.de/webreader-v3/index.html#/940345/43 1/2
28.1.2021 https://epaper.zeit.de/webreader-v3/index.html#/940345/43 Eine junge spanische Mathematikerin und ihr Kollege (beide ausübende Musiker) wollen das Rätsel nun gelöst haben. Beethoven, so das Ergebnis ihrer streng wissenschaftlichen Studie, habe das Metronom falsch herum abgelesen. Nämlich nicht, wie es sich gehört, oberhalb des kleinen verschiebbaren dreieckigen Gewichts am Pendel und seiner Zahlen- leiste, sondern unterhalb des Gewichts; nicht am Schenkel des Dreieckchens, sondern an dessen Spitze. Den Beweis führen Almudena Martín-Castro und Iñaki Ucar mittels kompli- ziertester Modellberechnungen durch, die unter anderem das Mälzelsche Patent, die Foto- grafie eines Metronoms aus Beethovens Besitz (das nach einer Wiener Ausstellung anno 1921 fatalerweise verloren ging) sowie 36 verschiedene Aufnahmen aller neun Beethoven- Sinfonien berücksichtigen – von Claudio Abbado bis Günter Wand, von Willem Mengel- berg bis Nikolaus Harnoncourt. Grob gesagt entspricht die mutmaßliche Größe des Pendelgewichts an Beethovens Metro- nom ziemlich genau der Differenz zwischen den als notorisch »zu schnell« und den weithin als »angemessen« empfundenen Tempovorgaben. Hätte der Komponist also korrekt abge- lesen, wären der Musikgeschichte wenigstens in dieser Frage etliche Weltanschauungsge- fechte erspart geblieben. Am Ende, so das aus der Studie zu ziehende Fazit, ist die gängige musikalische Praxis so dumm offenbar nicht. Das bedeutet zwar keineswegs, dass sämtli- che Debatten gerade der jüngeren Vergangenheit um Aufführungspraxis, Biografieschrei- bung oder historisch-kritisches Edieren wie Kartenhäuschen in sich zusammenfallen; aber es bedeutet durchaus, dass sich das künstlerische Heil nicht per se aus Buchstabentreue speist. Wie sagt Christine Siegert, die weise Leiterin des Bonner Beethoven-Archivs? »Der Interpret entscheidet.« CHRISTINE LEMKE-MATWEY https://epaper.zeit.de/webreader-v3/index.html#/940345/43 2/2
28.1.2021 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/474373/1 Donnerstag, 28.01.2021, Tagesspiegel / Titel Migrantenquote Schlechter Weg, gutes Ziel Von Julius Betschka Politik ist, wie die Liebe, oft ein seltsames Spiel. Als erste deutsche Landesregierung diskutiert der rot-rot-grüne Senat in diesen Tagen über eine sogenannte Migrantenquote in der Verwaltung. Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst soll genauso hoch sein wie in der Stadt. Das wären 35 Prozent. So eine massive Erhöhung der Vielfalt im Staatsapparat wäre, egal wie, historisch. Das politische Vermächtnis einer Regierung. Jede Berliner Schulklasse, jedes Unternehmen ist heute diverser aufgestellt als weite Teile des öffentlichen Dienstes. Weil sich das seit Jahren – außer bei der Polizei – kaum ändert, holte Integrationssenatorin Elke Breitenbach (Linke) Mitte Januar die Brechstange raus. Die Quote soll es bringen. Verfassungsrechtlich ist das zwar umstritten, das ist das Paritätsgesetz aber auch: Natürlich ist es politisch legitim, den Versuch zu wagen. Doch die Debatte ist heikel. Kritiker beschwören fälschlich den Abschied von der Bestenauslese. Rechte verbreiten obskure Verschwörungserzählungen über eine Unterwanderung des Staatsapparats. Migrantenverbände dagegen wollen nicht länger bitten, nicht mehr vertröstet werden. Menschen, die seit Generationen in Berlin leben, fühlen sich nicht repräsentiert. Eine Art Staatsversagen. Umso unverständlicher erscheint der heftige Streit, der um die Quote in der rot-rot- grünen Koalition entbrannt ist. Erst ein halbes Jahr vor dem Wahltag legte die Integrationsverwaltung das Papier vor. Ungewöhnlich spät für ein solches Vorhaben. Ungewöhnlich auch, dass rechtliche Bedenken der Innenverwaltung mehrfach ignoriert worden sein sollen. So wird nun ein integrativ gedachtes Gesetz ins Gegenteil verkehrt: zum identitätspolitischen Marker im Wahlkampf. Denn im Ziel ist sich die Koalition zwar weitgehend einig, der Kampf um den richtigen Weg dorthin wird aber erbittert geführt. Die Linken wollen die Migrantenquote unbedingt. Die Grünen wollen sie auch, nennen sie aber lieber nicht so. Die SPD lehnt die 35-Prozent-Regel geschlossen ab, will aber andere verbindliche Maßnahmen festschreiben. https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/474373/1 1/2
28.1.2021 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/474373/1 Die Linkspartei wirft den Sozialdemokraten deshalb Ideenlosigkeit und Meckerei vor. Die Grünen erklären sogar, die SPD würde vom gemeinsamen Ziel abrücken, die Vielfalt in der Verwaltung zu erhöhen. Ein politischer Affront, wo Fingerspitzengefühl gefragt wäre. Der Streit um die Quote mag auch juristischer Natur sein – und letztlich von Verfassungsrechtlern entschieden werden. Er legt aber vor allem eine Sollbruchstelle der rot-rot-grünen Koalition frei: Grüne und Linke legen größten Wert auf identitätspolitische Fragen. Auch Sprachregelungen wie der Verzicht auf das Wort Integration oder das Gendern sind für beide Parteien zentral. Lebensweltlich unterscheiden sie sich damit gewaltig von vielen SPD-Parlamentariern, die über den Alles-oder-nichts- Kurs mit den Schultern zucken. Wenn die SPD die gefühlte Mehrheitsgesellschaft noch sanft in Richtung Vielfalt führen mag, hauen Grüne und Linke schon auf den Tisch. Die Sozialdemokraten werden deshalb oft genau dort als ideenlos beschimpft, wo sie ihre Stärke als integrative Kraft entfalten könnten. Oft steht es in dieser Koalition aber 2:1. Zu gewinnen gibt es in der Rolle als Bremser wenig. Eine Liebesheirat, das zeigt der Streit um die Migrantenquote, ist diese Koalition längst nicht mehr. Aber die Liebe ist ja auch ein seltsames Spiel. https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/474373/1 2/2
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