PRESS REVIEW Thursday, June 10, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal

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PRESS REVIEW Thursday, June 10, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal
PRESS REVIEW

         Daniel Barenboim Stiftung
Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal

         Thursday, June 10, 2021
PRESS REVIEW Thursday, June 10, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal
PRESS REVIEW                                                       Thursday, June 10, 2021

Süddeutsche Zeitung, BSA
Ein Besuch bei Halal-Metzgern, Konditoren und Schülern, die der Israel-Gaza-Konflikt umtreibt

Berliner Morgenpost
Sir Simon Rattle gastiert mit seinem Londoner Orchester

Der Tagesspiegel
Musikfest Berlin stellt Strawinsky in den Fokus

Die Welt
Nora Schmid wird neue Intendantin von Dresdens Semperoper. Im Interview spricht die Schweizerin
über die Modernisierung einer Legende, die Last der Tradition und den scheidenden Dirigenten
Christian Thielemann

Berliner Morgenpost
Theater nach dem Lockdown: Ersan Mondtag inszeniert „It’s going to get worse“ am Gorki

Die Zeit
Berichte über Gewalt, Ausbeutung und sexuellen Missbrauch an deutschen Kultureinrichtungen
häufen sich

Süddeutsche Zeitung
Digitale Experimente gehören für die Freie Theaterszene schon lang dazu, wie das „Impulse“-Festival
zeigt

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Welche Regeln brauchen wir, um Probenarbeit sicherer zu machen, ohne Möglichkeitsräume der Kunst
abzuschaffen?
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10.6.2021 Palästinenser in Berlin: Was ist meine Geschichte? - Kultur - SZ.de

                           Home > Kultur > Israel > Palästinenser in Berlin: Was ist meine Geschichte?

                            22. Mai 2021, 12:20 Uhr Berlin und der Nahostkonflikt

                            Straße in Aufruhr

                            Zwei Männer auf dem Hermannplatz. Statue mit der Palästina-Fahne. (Foto: Achille Abboud/imago
                            images)

                            Die Sonnenallee heißt in Berlin auch Scharia al-Arab, Straße der Araber. Ein
                            Besuch bei Halal-Metzgern, Konditoren und Schülern, die der Israel-Gaza-
                            Konflikt umtreibt.

                            Von Sonja Zekri, Berlin

                            Sie nennen sie Scharia al-Arab, die Straße der Araber, und manche kennen nicht
                            mal ihren richtigen Namen. Die Sonnenallee sei die "primitivste Straße" der
                            Stadt, sagt einer kühl, "aber hier wird das Geschäft gemacht" - beim Juwelier Al-
                            Sham, im Café Fairuz und im Telefonladen Al-Aqsa, in Schischa-Geschäften mit
                            dickwanstigen Glaskolben und in Parfümerien mit Fake-Chanel.

                            Wie Besucher einer anderen Welt flanieren dazwischen junge Hipster-Familien,
                            begleitet von Großeltern, die tapfer versuchen, ihre Verstörung zu verbergen.
                            Aus Fenstern hängen palästinensische Flaggen, keine grünen, das wäre die
                            Farbe der Hamas.

https://www.sueddeutsche.de/kultur/israel-gaza-berlin-antisemitismus-araber-1.5301041
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10.6.2021                                           Palästinenser in Berlin: Was ist meine Geschichte? - Kultur - SZ.de

                            Schon lange hat die Sonnenallee nicht so viele Schlagzeilen gemacht wie jetzt,
                            als Demonstrationen zum Nahostkonflikt entgleisten. Physisch, denn Jugendli-
                            che warfen Steine und Flaschen auf Polizisten, die daraufhin Teenager in Hand-
                            schellen abführten. Programmatisch, weil einige Teilnehmer antisemitische
                            Parolen riefen.

                            In deutschen Städten wurden jüdische Einrichtungen angegriffen, Israelfahnen
                            verbrannt. Die Öffentlichkeit, nicht nur die rechte, diskutiert über den "impor-
                            tierten" Antisemitismus in einem "muslimisch-arabischen Milieu" oder gleich
                            über den "antisemitischen Mob". Gemeint ist auch die Sonnenallee.

                            In der palastartigen "King Konditorei" von Mohammed Hassoun hängen die
                            Reste der Ramadan-Deko über Blätterteigtürmen, von einem Poster leuchtet die
                            Kuppel der Omaijjaden-Moschee in Damaskus. Hassoun ist Syrer und erfolgrei-
                            cher Geschäftsmann, die Krawalle gehen ihm schwer gegen den Strich: "Was ge-
                            ben wir für ein Bild ab? Das gehört sich nicht."

                            "Was geben wir für ein Bild ab? Das gehört sich nicht." Baklawa-Konditor Mohammed Hassoun. (Foto:
                            Sonja Zekri)

                            Er kann das alles nicht ernst nehmen, nicht die Jungen, für die die Proteste eine
                            Selfie-Gelegenheit sind, und auch nicht die Älteren. Auf der Sonnenallee hört
                            man: "Al-Quds ist die rote Linie!" Al-Quds ist das arabische Wort für Jerusalem,
                            die drittheiligste Stadt der Muslime. Israel schoss Tränengas und Blendgranaten
                            in die Al-Aksa-Moschee, was den Konflikt mit auslöste. "Was wissen diese Leute
                            von Al-Quds?", fragt Hassoun: "Was haben sie je für die Palästinenser getan?
                            Keinen Euro würden sie geben, wenn man sie fragt." Heimat sei, wo man lebt,
                            nicht wo der Vater geboren ist. Und Hassoun lebt jetzt in Berlin.

https://www.sueddeutsche.de/kultur/israel-gaza-berlin-antisemitismus-araber-1.5301041
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10.6.2021                                         Palästinenser in Berlin: Was ist meine Geschichte? - Kultur - SZ.de

                            So abgeklärt sind nicht viele, nicht mal in seiner eigenen Familie. Seinem Sohn
                            Nadir, 13, hatte Hassoun die Teilnahme am Protest verboten, aber er ging trotz-
                            dem hin, um zu sehen, "was da los ist", wie er jetzt etwas verlegen sagt. Und was
                            war los? "War nicht schön."

                            Auf der Sonnenalle hört man Sätze wie: "Die Deutschen sind schuld. Sie haben
                            die Juden umgebracht, deshalb entstand Israel, und die Palästinenser verloren
                            ihr Land." Oder: "Was können die Araber dafür, dass sie gerade von Juden
                            besetzt wurden?"

                            Nach einigem Suchen entdeckt man im Schaufenster eines Copy-Shops einen
                            Anhänger mit den Palästinenserfarben in den Umrissen des Staates Israels.
                            Nach einstündigem Gespräch gibt ein Palästinenser zu, es habe lange gedauert,
                            bis er begriffen habe, dass man das Existenzrecht Israels nicht infrage stellen
                            dürfe. "Diese Erkenntnis war ein Schock für mich."

                            Ein Metzger schneidet Halal-Wurst unter einem Poster des Felsendoms. Er
                            kommt aus Aleppo, spricht kein Wort Deutsch und fragt: "Bist du verheiratet?"
                            Er versteht nicht, was es da zu lachen gibt.

                            Der Friseur ein paar Häuser weiter ist Palästinenser aus dem Flüchtlingslager
                            Ain Al-Helweh in Libanon, so wie viele Palästinenser in Berlin aus libanesischen
                            Lagern kommen. Die meisten Deutschen wissen nichts von der Enge dieser
                            Camps, von einem Leben ohne Arbeit, ohne Rechte, ohne Zukunft. Das müssen
                            sie auch nicht, die Mehrheitsgesellschaft genießt das Privileg des Nicht-Wis-
                            sens. Nur der Friseur kann die Lager nicht vergessen, nicht Ain al-Helweh, nicht
                            Sabra und Schatila, wo die israelische Armee Massaker von phalangistischen
                            Milizen an Hunderten Palästinensern zuließ. So aberwitzig es klingt, womöglich
                            ist es großzügig gemeint, wenn er sagt: "Die Israelis können in Palästina bleiben.
                            Aber sie dürfen keine palästinensischen Kinder umbringen."

                            Ein Mann zeigt Fotos verstümmelter Leichen. Seine Familie in Gaza,
                            behauptet er. Aber warum lächelt er?

                            Ist das zu wenig? Muss er die Erfahrungen seiner eigenen Geschichte durch die
                            Erfahrungen aus der deutschen Geschichte ersetzen? Und welche gilt, wenn sich
                            beide widersprechen? Selbst bei allerbestem Schulunterricht über die NS-Zeit
                            ist es gerade für junge Migranten gar nicht so einfach festzustellen, was das ist:
                            meine Geschichte. Eine junge Frau denkt nach und sagt: "Die Geschichte meiner
                            Eltern ist nicht meine eigene, die deutsche Geschichte ist es auch nicht. Ich habe
                            keine Geschichte."

                            Die Berliner Polizei, dies am Rande, kann den Eindruck eines präzedenzlosen
                            Antisemitismus auf den Demonstrationen nicht bestätigen. Frühere Proteste
                            zum Nahostkonflikt seien von schlimmeren Ausschreitungen begleitet gewesen,
                            sagt ein Sprecher.

                            Auf Höhe des Parfümladens drängt sich ein junger Mann mit Wollmütze ins Ge-
                            spräch. Ah, es gehe um Gaza, da komme er her. Er sei schon lange fort, habe aber
                            noch immer Familie dort, oder genauer: hatte. Kurze Suche auf dem Telefon,
                            dann zeigt er lächelnd ein Video mit verstümmelten Leichen. Es seien Mitglieder
                            seiner Familie, der Al-Masri, sieben Verwandte seien vor Tagen durch eine israe-
                            lische Bombe ums Leben gekommen. Das Handy klingelt. "Wo bist du, Bruder?"
                            Weg ist er.

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10.6.2021                                         Palästinenser in Berlin: Was ist meine Geschichte? - Kultur - SZ.de

                            Warum dieses Lächeln? Zu den klassischen Propagandatricks des Nahen Ostens
                            gehören Lügen, Fotomontagen, auch falsche Leichen. Das Internet hat sie ver-
                            vielfacht, und dass viele junge Deutsch-Araber nicht richtig Arabisch sprechen,
                            macht sie noch anfälliger für Täuschungen. Waren diese Toten echt? Waren es
                            Verwandte? Vielleicht hatte er eine große Familie, sagt ein Zuhörer, vielleicht
                            fühlt er sich den Verstorbenen auf andere Weise verbunden: "Es waren Men-
                            schen, und sie sind tot. Das zählt."

                            In einer Nebenstraße sitzen Nidan und Mina, wie sie sich hier nennen, nach
                            Schulschluss in der Sonne und essen libanesische Pizza. Nidan ist 18, trägt Kopf-
                            tuch, ihre Eltern sind Schiiten aus Libanon. Mina ist 20, und trägt keins, ihre
                            Wurzeln sind türkisch-kurdisch-libanesisch. Beide sind in Deutschland gebo-
                            ren, beide machen gerade Abitur, beide können sich vorstellen, Politikerin zu
                            werden. Die Stimme erheben, etwas tun für Neukölln. Wer, wenn nicht sie.

                            "Eine israelische Flagge zu verbrennen ist richtig respektlos."
                            Der Nahostkonflikt wühlt sie auf, die Trauer über die Toten, die Angst, dass es
                            niemals aufhört, die Möglichkeit, dass die israelische Regierung die Palästinen-
                            ser vernichtet. Vernichtet? Wenn man eines der gängigen Antisemitismus-Krite-
                            rien anlegt, müsste man das Gespräch an dieser Stelle abbrechen. Wird Israel
                            hier nicht dämonisiert? Wird ihm nicht Völkermordabsicht unterstellt? In letzter
                            Konsequenz: der Holocaust relativiert?

                            Man kann aber auch nachfragen.

                            Wie würde sie die Vernichtung denn genau anstellen, die israelische Regierung?
                            Na, Siedlungen bauen und so den Palästinensern Land wegnehmen, ihre Häuser
                            zerstören, "bis die Palästinenser nicht mehr können". Dies nun trägt eher den
                            Charakter von UN-Berichten, und dann wird es richtig interessant. Nidan for-
                            dert eine Zwei-Staaten-Lösung. Mina ergänzt, das Land müsse allerdings ge-
                            recht geteilt sein, Berge und Meerzugang für beide Seiten. Dann wieder Nidan:
                            "Und Jerusalem gehört allen Religionen. Es ist für alle eine heilige Stadt."

                            Sie haben volles Verständnis für die Wut, aber nicht für die Hetze. Viele Israelis
                            und Juden lehnten den Krieg ab, wie sollten sie ihre Solidarität ausdrücken,
                            wenn sie beschimpft werden? "Eine israelische Flagge zu verbrennen ist richtig
                            respektlos", sagt Nadine. Sie jedenfalls gehe auf keine Demo, solange nicht ga-
                            rantiert sei, dass niemand "Scheiß-Israel" rufe: "Ich habe eine sehr enge Freun-
                            din, die Jüdin ist. Wie soll ich ihr unter die Augen treten?"

                            Fadi Abdelnour hat mit Juden für den Frieden in Nahost protestiert, gar nicht
                            weit entfernt in Kreuzberg. Jung, alt, queer, sogar ein Mann mit Kippa sei dabei
                            gewesen. Aber wurde darüber viel berichtet? In Zeiten wie diesen meidet er die
                            deutsche Presse, die Stereotypen vom Palästinenser, der erfüllt ist von ewigem
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10.6.2021                               Palästinenser in Berlin: Was ist meine Geschichte? - Kultur - SZ.de

            Hass, er erträgt sie nicht. "Im Radio heißt es dann: ,Zwei Israelis wurden getötet,
            und 100 Palästinenser sind gestorben.' Als wären sie Opfer eines Erdbebens",
            sagt er. Tote Palästinenser blieben oft eine Zahl, eine anonyme Gruppe, israeli-
            sche Tote aber bekämen meist Namen: "Sie werden zu Menschen."

            Meidet die deutsche Presse: Buchhändler Fadi Abdelnour. (Foto: Sonja Zekri)

            Fadi Abdelnour ist Palästinenser, in Ramallah aufgewachsen, und er liest sonst
            viel. Im September hat er einen arabischen Buchladen eröffnet. "Khan Aljanub",
            Herberge des Südens, liegt in einem Hinterhof der Potsdamer Straße, ein Fach-
            werkhaus unter Feigenbäumen und Wein. Es ist ein verträumter, ein märchen-
            hafter Ort, aber kein Schutz vor den Hilferufen aus Gaza auf Facebook.

            Mit 24 Jahren kam Abdelnour zum Designstudium nach Deutschland, er arbei-
            tet als freier Grafiker, hat ein arabisches Filmfestival geleitet, hält in der Berliner
            Barenboim-Said-Akademie demnächst einen Vortrag über Eurozentrismus im
            Kunstbetrieb. Dass in Deutschland selbst Juden vorgeschrieben werde, wie sie
            über Israel zu reden haben, das sei nicht Ausdruck von Sensibilität gegenüber
            den anderen, sondern deutsche Selbstfixierung.

            So sehr er als Säkularer die Politik der Hamas ablehnt - in seinem Buchladen
            verkauft er nichts Religiöses -, so sehr ihn der Antisemitismus auf den anderen
            Protesten abgestoßen hat, so sehr erbittert ihn die deutsche Empathielosigkeit
            gegenüber den arabischen Traumata. "Jetzt stehen wieder alle Araber unter Ge-
            neralverdacht", sagt er: "Als wollte man Antisemitismus mit
            Rassismus bekämpfen."

            Für Samstag, einen Tag nach dem Waffenstillstand, sind in Berlin weitere
            Demonstrationen angemeldet.
            © SZ/alex/frdu   Feedback

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10.6.2021                                                                Berliner Morgenpost

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            Sir Simon Rattle gastiert mit seinem Londoner Orchester
            Musikfest Berlin setzt wieder auf internationale Künstler

            Simon Rattle kommt mit seinem Londoner Orchester. Foto: I. Infantes AFP

            Von Volker Blech

            Es ist ein beachtliches wie optimistisches Paket, das vom Musikfest Berlin am Mitt-
            woch auf den Tisch gelegt wurde. Vom 28. August bis 20. September sollen 34 Ver-
            anstaltungen mit Musik aus fünf Jahrhunderten in der Philharmonie, im Konzerthaus
            am Gendarmenmarkt und im rbb Sendesaal stattfinden. Aufgeführt werden von 29
            Instrumental- und Vokalensembles mehr als 100 Werke von 52 Komponisten und
            Komponistinnen.
            „Ich freue mich sehr über die Zusammenarbeit der Partner-Institutionen. Wir haben
            den Strawinsky-Schwerpunkt hinbekommen“, sagt Winrich Hopp, der Leiter des
            Musikfestes: „Und auch die Heiner-Goebbels-Tournee konnten wir als gesamtes Pa-
            ket mit vereinten Kräften in dieses Jahr hinüberziehen.“
            Strawinsky in 1960er-Jahren ein gefeierter Gast
            Eröffnet wird das Musikfest am 30. August in der Philharmonie mit der ­Urauffüh-
            rung von Heiner Goebbels’ „A House of Call. My imaginary Notebook“. Im rbb
            Sendesaal wird sein „Liberté d’action“ als szenisches Konzert am 5. September prä-
            sentiert. Komponist Igor Strawinsky war in den 1960er-Jahren bei den Berliner Fest-
            wochen mehrfach ein gefeierter Gast.

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            Zu den Highlights gehört sicherlich das Gastspiel des London Symphony Orchestra
            unter Leitung von Sir Simon Rattle. Der in Berlin lebende Stardirigent hatte in der
            Pandemie angekündigt, sein Londoner Orchester aufzugeben und in München das
            Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zu übernehmen. Beim Musikfest
            werden sich neben den Berliner Orchestern auch das Concertgebouworkest Amster-
            dam mit Daniel Harding, die English Baroque Soloists mit John Eliot Gardiner, das
            Orchestre des Champs-Élysées und Collegium Vocale Gent mit Philippe Herre-
            weghe, das Orchestre Les Siècles mit François-Xavier Roth und das Lucerne Festi-
            val Contemporary Orchestra präsentieren. „Die Orchester zu bekommen, das ist
            nicht das Problem, alle wollen gerne spielen“, sagt Winrich Hopp. „Wir sind diesmal
            auch nicht transatlantisch unterwegs. Und wir sind dabei auch im Verbund mit ande-
            ren Häusern wie Luzern aktiv. Es gibt natürlich Dinge wie die Reiserestriktionen, die
            wir im Moment noch nicht übersehen können.“

            Berliner Morgenpost: © Berliner Morgenpost 2021 - Alle Rechte vorbehalten.

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10.6.2021                                      https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476565/24-25

       Donnerstag, 10.06.2021, Tagesspiegel / Kultur

       Musikfest Berlin stellt Strawinsky in den
       Fokus
       Es ist nicht übertrieben, Igor Strawinsky als den „Picasso unter den Komponis-
       ten“ zu bezeichnen. Denn ebenso wie der große Spanier war auch der vor 50
       Jahren verstorbene Russe nie zufrieden mit dem Erreichten, blieb unablässig
       auf der Suche nach neuen Inspirationsquellen und hat sich in seinem 88 Jahre
       währenden Leben dabei ästhetisch mehrfach gehäutet. Das Spätwerk des kos-
       mopolitischen Komponisten stellt Winrich Hopp in den Fokus des „Musikfest
       Berlin 2021“. Der für sein vernetztes Denken bekannte künstlerische Leiter des
       Festivals macht Strawinskys Spätwerk zum Dreh- und Angelpunkt der 34 Kon-
       zerte, die vom 28. August bis zum 20. September die neue Saison einleiten. Da-
       bei werden die Künstler:innen Blicke weit zurückwerfen, in die Zeiten von Re-
       naissance und Barock, an denen sich die Fantasie des reifen Strawinsky entzün-
       dete. Aber sie werden auch auf die Gegenwart schauen, neue Werke von George
       Benjamin, Rebecca Saunders und Wolfgang Rihm vorstellen, von Clara Iannotta,
       Ondrej Adámek, Olga Neuwirth und Lisa Streich. Am 30. August wird in der
       Philharmonie Heiner Goebbels‘ „A House of Call“ uraufgeführt, es gibt ein Parti-
       zipationsprojekt von Cathy Milliken und im Konzerthaus wird der Stummfilm
       „Hoffmanns Erzählungen“ von Max Neufeld aus dem Jahr 1923 mit neu geschaf-
       fener Musik von Johannes Kalitzke gezeigt.

       Das „Musikfest Berlin 2021“ will aber auch die Rückkehr des hauptstädtischen
       Konzertbetriebs zur Normalität markieren – wenn die Inzidenzzahlen dies zu-
       lassen: Neben den Berliner Orchestern werden viele auswärtige Gäste erwartet,
       darunter das Concertgebouworkest Amsterdam, die English Baroque Soloists,
       das Orchestre des Champs-Élysées und das Collegium Vocale Gent, das London
       Symphony Orchestra mit Simon Rattle, das Orchestre Les Siècles und das Lu-
       cerne Festival Contemporary Orchestra. Am 28. August wird zudem die Grün-
       dung des Bundesjugendchores gefeiert (der Vorverkauf startet am 3. 8., weitere
       Infos: www.berlinerfestspiele.de). F. H.

https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476565/24-25                                                  1/1
FEUILLETON
                                                                                                                                                                                                                                                                                              Murnaus Bibel
                                                                                                                                                                                                                                                                                              Geschichte eines legendären
                                                                                                                                                                                                                                                                                              Buchs über den „Faust“-Film Seite 22

                                                                 DIE WELT      DONNERSTAG, 10. JUNI 2021                                   SEITE 21

          KOMMENTAR

  Shaming und                                                                                                                                                                                                                                                                                 „Ich liebe dieses Haus, dieses
                                                                                                                                                                                                                                                                                              Orchester, dieses Ballett“:
                                                                                                                                                                                                                                                                                              Nora Schmid über die
  Gegenshaming                                                                                                                                                                                                                                                                                Semperoper in Dresden

W
        MARIE-LUISE GOLDMANN

            er am Mittwoch Twitter öff-
            nete, konnte eine unge-
            wöhnlich große Solidari-
tätswelle mit der Grünen-Politikerin
Ricarda Lang beobachten, „gerade über
Parteigrenzen hinweg“, wie Lang selbst
später in einem Dankes-Tweet an ihre
Unterstützer formulierte. Was war pas-
siert, was einer solch breiten Verteidi-
gungsfront bedurfte?
   Während die 27-Jährige in der Talk-
show „Hart, aber fair“ auftrat, um dort
über die Wahlen zu sprechen, lenkten
bei Twitter einige schnell das Ge-
spräch weg von ihren Argumenten hin
auf ihr Aussehen. Ein Nutzer etwa
schreibt „Wenn #RicardaLang beim
Studium genauso reinhauen würde wie
beim Kuchenbuffet, hätte sie längst
den Abschluss“.
   Wenig subtil wird hier auf ihr Kör-
pergewicht angespielt und mit diesem
ihr vermeintliches Langzeitstudium
begründet. Ein Fall von Fatshaming wie
aus dem Bilderbuch. Wer es lieber in
„ism“-Form mag: Sizeism nennt man
das, was sich fast automatisch einstellt,
wenn Frauen wie Ricarda Lang oder
auch die Autorin Giulia Becker ihre
Stimme in der Öffentlichkeit erheben.
   Denn anstatt „nur“ die vermeintli-
che Unattraktivität eines Körpers zu
konstatieren, der vom standardisierten
Schönheitsideal abweicht, schließt der
Verfasser des Tweets von der Oberflä-
                                            DPA/ROBERT MICHAEL

che auf tieferliegende Charaktereigen-
schaften. Damit ist er nicht allein: Dic-
ke werden Studien zufolge häufiger mit
Faulheit, fehlender Disziplin, Willens-
schwäche, Gemütlichkeit und Unge-
pflegtheit assoziiert.

                                                                                          „Ich habe ja bisher
   Von Diskriminierung gegen meist

                                                                                   immer nur ALS FRAU gearbeitet“
angeborene Identitäten wie Ge-
schlecht, Religion und Ethnie grenzt

                                            I
sich die immer häufiger diskutierte
Form des Shamings, deren prominen-
teste Form das Body Shaming mit den
Unterkategorien Fat Shaming, Skinny
Shaming, Acne Shaming, Sweat Sha-
ming unter anderem ist, insofern ab,
als es suggeriert, die Betroffenen trü-
gen selbst die Verantwortung für ihr
Aussehen und ihr Handeln.                        rgendwie muss Sachsen eine At-          fruchtbare, damals auch schon den                                                                                                                                                     freue, hat dann gerade ihr 475. Jubilä-         Die      Kulturministerin       Barbara
   Wer unter Akne leidet, wasche sich            traktivität   auf     opernaffine       frisch berufenen Christian Thiele-                                                                                                                                                    um gefeiert. Da muss ich also auch auf-         Klepsch hat bei der Nichtverlänge-
das Gesicht nicht richtig, wer zu dünn           Schweizer ausüben. Nach dem Ba-         mann einbeziehende, zu den Oster-                                                                                                                                                     passen, dass wir vorwärts und nicht             rung der alten Verträge von der
ist, esse zu wenig, wer zu dick ist, esse        seler Peter Theiler, der im Som-        festspielen Salzburg ausgeweitete Pla-                                                                                                                                                nur rückwärts blicken.                          „Perspektive Semperoper 2030“ und
zu viel – in diesem Fall Kuchen. Im              mer 2024 im Alter von 68 Jahren         nung nach noch nicht einmal zwei                                                                                                                                                                                                      anderen Marketingfloskeln gespro-
Vergleich zu Rassismus steckt hinter        vertragsgerecht aus dem Amt als In-          Jahren durch den tragischen Tod von                                                                                                                                                   Ein altes Dresdner Problem.                     chen. Machen Sie sich mit denen ge-
Body Shaming also der Gedanke, keine        tendant der Semperoper scheiden              Ulrike Hessler beendet worden, die –                                                                                                                                                  Eine lokale Bestimmtheit, mit der ich           mein?

                                                                                                                                                                                                                Nora Schmid wird
auf Stereotypen beruhenden, verallge-       wird, folgt ihm die dann immer noch          nach einer Übergangs- und Interims-                                                                                                                                                   zu leben gelernt habe und die ich hof-          Im Gespräch wurden die Perspektiven
meinernden Aussagen über eine Grup-         erst 45 Jahre alte Bernerin Nora             zeit – auch für mich die Weichen an-                                                                                                                                                  fentlich kreativ zu nutzen wissen wer-          und Erwartungen bereits anders und

                                                                                                                                                                                                                 neue Intendantin
pe von Menschen zu treffen, sondern         Schmid. Das wurde von Kulturministe-         ders gestellt hat.                                                                                                                                                                    de. Auch in Graz habe ich stets mit ei-         tiefer ausgelotet als in der Presseerklä-
von körperlichen Merkmalen direkt           rin Barbara Klepsch (CDU) verkündet.                                                                                                                                                                                               nem bedeutenden, die Besucher be-               rung. Und natürlich bemühe ich mich

                                                                                                                                                                                                                   von Dresdens
und kausal auf individuelle Lebensent-      Noch nicht mal einem Monat, nach-            Was haben Sie anschließend in Graz                                                                                                                                                    geisternden historistischen Theater-            jetzt erst mal um die Semperoper

                                                                                                                                                                                                                   Semperoper.
scheidungen und Charaktermerkmale           dem sie die Verträge des gegenwärti-         gelernt?                                                                                                                                                                              bau von Fellner & Helmer zu konkur-             2024. Was 2030 kommen wird, das mag
zu schließen.                               gen Führungsduos – neben Theiler vor         Eigentlich alles. Komplette Verant-                                                                                                                                                   rieren. Und es gibt ja auch eine gewisse        man sehen. Zuerst werde ich mich sehr

                                                                                                                                                                                                               Im Interview spricht
   Doch immer stärker setzt sich heute      allem Christian Thielemann als Chef          wortung vor allem. Ich war und bin ja                                                                                                                                                 Dresdner Verbundenheit mit Graz:                intensiv um meine Generation, die
die Auffassung durch, dass der Beschaf-     der Dresdner Staatskapellenchef –            hier auch geschäftsführend in der                                                                                                                                                     Der legendäre Semperopernintendant              Mittelalten, kümmern, die wieder ver-

                                                                                                                                                                                                               die Schweizerin über
fenheit des eigenen Körpers nicht im-       nicht verlängert hatte.                      Pflicht, bin für Oper, Ballett und die                                                                                                                                                Ernst von Schuch war ebenso Grazer              stärkt zur Faszination des Musikthea-
mer eine freie Wahl zugrunde liege.                                                      Finanzen verantwortlich. Da hat mir                                                                                                                                                   wie der hier lange Jahre als Strauss-In-        ters geführt werden sollen, an die ich

                                                                                                                                                                                                                die Modernisierung
Der Konsens ist breit, dass nicht jeder                          VON MANUEL BRUG         meine Dresden-Erfahrung geholfen,                                                                                                                                                     timus wirkende Dirigent Karl Böhm.              fest glaube.
Mensch etwas für sein Gewicht könne.                                                     und jetzt nehme ich Graz-Erkenntnis-                                                                                                                                                  Und sogar die Zweitaufführung der

                                                                                                                                                                                                                  einer Legende,
Genetische, psychische und gesell-             Nora Schmid war eine naheliegen-          se mit auf diese neue, bedeutende Po-                                                                                                                                                 skandalösen, in Dresden uraufgeführ-            Ihre bedeutendste Personalie wird

                                                                                                                                                                                                                    die Last der
schaftliche Faktoren werden als deter-      de, von manchem Insider sofort ge-           sition. Für die ich in Dresden freilich                                                                                                                                               ten „Salome“ fand 1906 in Graz statt –          aber erst einmal ein Musikchef oder
minierend angeführt.                        mutmaßte Wahl. Schließlich hatte sie         weiterhin Wolfgang Roth als Ge-                                                                                                                                                       in der Anwesenheit von Strauss, Mah-            eine Musikchefin sein?

                                                                                                                                                                                                                   Tradition und
   Neben den zwei Strategien einer Af-      bereits von 2010 bis 2014 an der Sem-        schäftsführer an meiner Seite habe,                                                                                                                                                   ler, Puccini, Schönberg, Alban Berg,            Natürlich. Ich liebe dieses Haus, die-
firmation der Freiheit, auszusehen wie      peroper als Chefdramaturgin, persön-         den ich ja schon von früher kenne und                                                                                                                                                 Alexander Zemlinsky und womöglich               ses Orchester, dieses Ballett, die ich

                                                                                                                                                                                                                 den scheidenden
man will, und dem Eingeständnis, dass       liche Referentin der allzu früh verstor-     dem ich voll vertraue.                                                                                                                                                                auch des 16-jährigen Adolf Hitlers.             alle in so vielen, exzellenten Auffüh-
es mit der Freiheit zum eigenen Körper      benen Intendantin Ulrike Hessler und                                                                                                                                                                                                                                               rungen erleben durfte. Für den Chef-

                                                                                                                                                                                                                    Dirigenten
gar nicht so weit her ist, lässt sich       interimistischen Opernleiterin gear-         Waren Sie eigentlich die einzige                                                                                                                                                      So kommen Sie jetzt also gern zu-               posten ist jetzt erst einmal die Kapelle
allerdings derzeit auch ein dritter         beitet. Dem sich – ab 2015 und noch bis      Kandidatin?                                                                                                                                                                           rück?

                                                                                                                                                                                                               Christian Thielemann
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               am Zug, sie muss eruieren, an wen sie
Trend, dem Shaming entgegenzuwir-           2023 – acht erfolgreiche Jahre als ge-       Nein, ich wurde zwar von der Kultur-                                                                                                                                                  Unbedingt! Ich habe schon lauter be-            sich binden will. Natürlich werden wir
ken, beobachten: Das Gegenshaming,          schäftsführende und auch für das Bal-        behörde direkt angesprochen, aber es                                                                                                                                                  kannte Gesichter wiedergesehen, als             auch diskutieren, ob nicht ein gemein-
also die Entwicklung zu einer spiralför-    lett zuständige Intendantin der Oper         gab noch Mitbewerber und -bewerbe-                                                                                                                                                    ich heute im Haus war. Und viele                samer Opern- wie Kapellenmusikdi-
migen Schamkultur, begünstigt durch         Graz anschlossen. Wir sprachen mit           rinnen. Ich hatte ja schon andere Job-                                                                                                                                                Glückwünsche aus Dresden zu meiner              rektor optimal wäre und wer das sein
die digitalen Pranger, ist auf beiden       Nora Schmid über die Modernisierung          anfragen, aber das war bisher die ein-                                                                                                                                                Berufung erhalten. Aber ich werde               könnte. Gleichzeitig würde ich mir
Seiten zur prominenten Form avan-           einer Legende, die Rückgewinnung             zige, die mich, nach nur kurzer Überle-                                                                                                                                               mich hier in jedem Fall neu aufstellen.         wünschen, dass Christian Thielemann
ciert, dem Gegner mit den Mitteln der       der mittleren Generation und Christi-        genszeit, sofort interessiert hat.                                                                                                                                                    Auch wenn nicht alle Projekte der               mit all seinen unbestreitbaren Fähig-
Entwürdigung statt mit inhaltlichen         an Thielemann.                                                                                                                                                                                                                     Hessler-Zeit verwirklicht werden                keiten der Staatskapelle als Gast er-
Argumenten beizukommen.                                                                  Warum?                                                                                                                                                                                konnten, Theater ist schnelllebig und           halten bleiben würde. Und auch Bal-
   Die Autorin Judith Sevinç Basad          WELT: Lieben Sie die Sächsische              Dresden und die Semperoper sind na-                                                                                                                                                   zehn Jahre sind eine lange Bühnenzeit.          lettdirektor Aaron Watkin, mit dem
nimmt in ihrem kürzlich erschiene-          Schweiz?                                     türlich schon allein durch die hier sehr                                                                                                                                              Es freut mich aber, wenn damals gebo-           ich schon früher sehr gut zusammen-
nen Buch „Schäm dich!“ die politisch        NORA SCHMID: Unbedingt! Ich bin na-          leidenschaftlich gelebte Tradition ver-                                                                                                                                               rene Ideen, wie etwa die Zweite Szene           gearbeitet habe, ist ja seit 2006 hier in
korrekten Woken unter die Lupe, die         türlich qua Geburt eine leidenschaftli-      führerisch. Der man sich stellen muss,                                                                                                                                                als Nebenspielstätte, die wir einer Pro-        Dresden. Das sind 2024 bereits 18 sehr
sich der Beschämungsstrategie – wie-        che Bergsteigerin – und man soll das         die eine Bürde sein kann, die aber sich                                                                                                                                               benbühne abgetrotzt haben, inzwi-               gute Jahre …
deraneignend? rächend? – bedienen,          Elbsandsteingebirge ja nicht unter-          auch wunderbar weiterspinnen lässt,                                                                                                                                                   schen etabliert sind.
also umgekehrt diejenigen shamen,           schätzen. Das ist zwar nicht sehr hoch,      wenn man es richtig macht. Das habe                                                                                                                                                                                                   Wird der, gelinde gesagt, lächerliche
die ihrer Meinung nach rückständigen        aber pittoresk, und hat einige schweiß-      ich ja schließlich schon selbst erlebt.                                                                                                                                               Frau, mit dann 45 Jahren immer                  Semperopernball mit seinen Fa-
Denkweisen aufsitzen. Dieser Trend          treibende Klippen aufzuweisen.               Und nach zehn Jahren gereift wieder-                                                                                                                                                  noch jung für diesen Job, Dresden-              schingsordenverleihungen an zwei-
zum Gegenshaming kann kein Sieges-                                                       zukommen, das ist doch perfekt. Es be-                                                                                                                                                erfahren, eigentlich die perfekte, na-          felhafte Potentaten in der gegenwär-
zug des Fortschritts sein. Um es mit        Wie die Semperoper.                          rührt mich, dass ich in einer Spielzeit                                                                                                                                               heliegende Wahl?                                tigen Form weitergeführt?
Ricarda Lang zu halten: „So, und jetzt      Ich habe hier immer sehr gern gear-          anfange, in der es gleichzeitig den 40.                                                                                                                                               Das müssen Sie andere fragen. Für               Das muss erst mal noch mein Vorgän-
lasst uns darüber sprechen, wie wir         beitet. Auch wenn die gloriose Ge-           Jahrestag der Wiedereröffnung des                                                                                                                                                     mich fühlt es sich gut an, schließlich          ger, mit dem ich in gut schweizeri-
die Zukunft gestalten.“ Am besten mit       schichte einen bisweilen zu erdrücken        Hauses wie den 80. der Zerstörung zu                                                                                                                                                  hatte ich ja nie mit so einer Rückkehr          schem Austausch stehe, entscheiden.
Argumenten.                                 droht. Damit muss man kreativ umge-          begehen gilt. Und die grandiose Staats-                                                                                                                                               gerechnet. Und ich habe ja bisher im-           Aber natürlich werde ich da perspekti-
          feuilleton@welt.de                hen. Leider ist eine eigentlich sehr         kapelle, auf die ich mich besonders                                                                                                                                                   mer nur als Frau gearbeitet.                    visch involviert sein.

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            Die Befehle erteilt eine sanfte Stimme
            Theater nach dem Lockdown: Ersan Mondtag inszeniert „It’s going to get worse“ am Gorki

            Audienz vor dem Pfauenthron: Melanie Jame Wolf (links) und Benny Claessens. Armin Smailovic/Agentur Focus

            Von Felix Müller

            „Endlich wieder Theater“: Als einer von vielen hat der Rezensent den Satz erst kürz-
            lich selbst geschrieben, es ging um einen Abend im Hof des Berliner Ensembles, den
            ersten nach vielen Monaten. Nun, ein paar Tage und Premieren später, steht Benny
            Claessens im roten Rüschenkleid und mit hellblauer Bizarrperücke auf dem verzerr-
            ten Schachbrettmusterbühnenboden des Gorki und würgt den Satz mehrfach so an-
            gewidert heraus, als bestehe er aus reinstem Gift.
            Es ist in seiner hemmungslos ausgestellten Ablehnung von einfach allem einer der
            lustigsten Momente des Abends, und nicht weniger komisch nölt Claessens nun ins
            Publikum, er höre es da doch schon wieder, das Kratzen des Stiftes auf Papier im
            dunklen Theatersaal! Da sei wohl wieder ein Kritiker dabei, seine Rezension vorzu-
            bereiten! Seine Tonlage und sein Augenrollen lassen keinen Zweifel daran, was er
            davon hält.
            Kann man so tun, als wäre nichts gewesen?

https://emag.morgenpost.de/titles/bmberlinermorgenpost/10120/publications/952/articles/1367322/10/1                                         1/3
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            Worum geht es hier? Regisseur Ersan Mondtag präsentiert, soviel ist klar, die zweite
            seiner insgesamt drei Uraufführungen, die kurz hintereinander auf Berliner Bühnen
            zu sehen sind, ein Zufall im pandemiegebeutelten Terminkalender. Am Donnerstag
            war es mit dem „Ring des Nibelungen“ in der viereinhalbstündigen Neufassung von
            Thomas Köck im Großen Haus des Berliner Ensembles losgegangen. Der heutige,
            neu entwickelte Abend unter der interessant fatalistischen Überschrift „It’s going to
            get worse“ braucht nur etwa die Hälfte der Zeit, am 19. Juni schließlich werden neun
            Tänzerinnen und Tänzer am HAU die Choreographie „Joy of life“ vorführen.
            Aber zunächst ist das Gorki dran, wo dem derzeit kursierenden Optimismus – „End-
            lich wieder Theater!“ – eine düstere Prophezeiung entgegengestellt wird. Der Blick
            auf die Bühne von Nina Peller wird zuerst durch einen Nachbau der Glasfassade des
            Palastes der Republik verstellt, darüber prangt in Stadtschlosskuppel-Typographie
            und mit preußischblauem Untergrund der Schriftzug „Knie nieder vor dem Herrn,
            Bitch!“, der auf der oberen Seite in Flammen steht. Dann geht es los, die National-
            hymne der DDR ist zu hören. „Auferstanden aus Ruinen“: Kommentar zum Post-
            Lockdown-Befreiungspathos oder Hinweis auf den historisch hyperkomplexen
            Stadtraum rund ums Gorki, wo am Tag nach der Premiere der Schlüterhof des Hum-
            boldt Forums öffentlich zugänglich gemacht wird? Wohl beides zugleich und noch
            viel mehr: Es geht an diesem über weite Strecken von der Improvisation lebenden
            Abend gerade nicht um Eindeutigkeiten und Positionierungen, eher um ein Spiel mit
            der Frage, wie es denn jetzt weitergehen soll nach all den Monaten erzwungener Ab-
            stinenz und ob man denn einfach so tun kann, als sei nichts gewesen.
            Und am Gorki ist ja noch mehr gewesen als Pandemie. Die Inszenierung übersetzt
            die in den letzten Monaten diskutierten Führungsstrukturen an Theatern in eine
            sanfte, weibliche Stimme aus dem Off, die von den Schauspielern streng die seeli-
            sche Selbstentblößung verlangt. Kate Strong erzählt von ihren Anfängen an der Lon-
            doner Ballett School, von einem schweren Sturz in der Abschlussprüfung. Danach
            steigert sie sich in eine blutrünstige Schauergeschichte, die in der Ermordung ihrer
            Mutter gipfelt – aber die Stimme bleibt davon ganz unberührt, sie möchte nur vom
            Scheitern hören, vom Sturz in der Abschlussprüfung. Manchmal muss man dabei an
            HAL 9000 denken, den totalitären Supercomputer aus Stanley Kubricks Weltraum-
            film „2001“, der seinen Schrecken mit vergleichbarer Milde verbreitete – auch
            Çiğdem Teke und Orit Nahmias müssen sich dieser Art tiefenentspannter Gängelung
            aussetzen. Später wird die Stimme sich dann als Melanie Jame Wolf im absolutisti-
            schen Herrscherkostüm entpuppen.
            Ein armer Bühnenmitarbeiter namens Oleg

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            Es ist an Benny Claessens, in seinem Monolog den „Elefanten im Raum“ anzuspre-
            chen – den im „Spiegel“ erschienenen Artikel über Gorki-Intendantin Shermin
            Langhoff und ihren Führungsstil, den Claessens als taktisches Manöver von Rassis-
            ten deutet, um vom eigenen Verhalten abzulenken. Sein zwischen übellauniger Diva
            und affektiertem Dandy schillernder Auftritt, mit dem der Abend ins Finale geht, ist
            zweifellos ein Erlebnis. Claessens schimpft, singt, spielt Klavier, posiert, geht auf
            das Publikum los und schreit dauernd einen unsichtbaren Bühnenmitarbeiter namens
            Oleg an, dass es eine große Freude ist – und doch fragt man sich auch bei ihm, auf
            welches Ziel diese Collage aus Meta-Theater, Diskursveralberung, Tanzeinlagen und
            Kostümpräsentationen zusteuert – und falls die Pointe darin liegt, entschlossen an
            jedem Ziel vorbeizusegeln: warum es hier dann nicht lustiger, erschreckender, inten-
            siver und packender zugeht. Ein Abend mit Glanzpunkten, der aber immer wieder
            stolpert.
            Gorki, Am Festungsgraben 2, Mitte. Spielplan unter gorki.de

            Berliner Morgenpost: © Berliner Morgenpost 2021 - Alle Rechte vorbehalten.

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        Feuil­le­ton · Tho­mas E. Schmidt                                                                          Lesezeit: 6 Min.

        Was ist das für eine Kunst, die unter Angst
        zustande kommt?
        Be­rich­te über Ge­walt, Aus­beu­tung und se­xu­el­len Miss­brauch an deut­schen Kul­tur­ein­rich­tun­-
        gen häu­fen sich. Wenn die Frei­heit der Künst­ler Gren­zen der­art über­schrei­tet, schwächt es
        das Sys­tem der öf­fent­li­chen Kul­tur VON THO­MAS E. SCHMIDT

        Am Ende der pan­de­mischen Ver­einsa­mung, so klingt und schwingt es überall in der Öffent­-
        lich­keit, scheint es kaum ei­ne größere Sehn­sucht zu geben als je­ne nach Kul­tur. Und zwar
        nach der echten, gegen­wär­ti­gen, der nicht gestream­ten und nicht ir­gend­wie si­mu­lier­ten
        Kul­tur, al­so nach Thea­tern, Mu­se­en, Kon­zer­ten, nach der Oper und dem Ki­no­saal. Aus
        Usern soll wie­der ein Pu­bli­kum wer­den. Als man zusam­men nicht mehr kom­men konn­te,
        zeigte sich, dass nicht nur die Demos aus­fielen, son­dern dass es weni­ger spek­ta­ku­lä­re, aber
        kei­nes­wegs un­wichti­gere An­läs­se gegeben hat­te, sich zu ver­sam­meln und eine Ge­sell­schaft
        zu bil­den, wie klein, wie epi­so­disch auch immer: kultu­rel­le An­läs­se. Sie waren so selbst­ver-
        ständ­lich – und als sie fehlten, wurden sie zu Recht ver­misst.

        Nun öffnen die Kul­tur­ein­richtun­gen wieder, es kom­men die Hinein­strö­men­den ins Stol­-
        pern. Die Zeit der Schließun­gen war kei­nes­wegs ei­ne Zeit der Ru­he, vielmehr wurden Vor­-
        stel­lungen der ei­ge­nen Art aufgeführt. Sie hat­ten eher mit dem inne­ren Zu­stand der In­stitu-
        tio­nen zu tun, irritie­ren­de Sze­nen, Skan­dale und richtig Wi­der­wärtiges. Manches hat­te sich
        schon zu­vor, an den Rän­dern der Wahr­neh­mung, er­eig­net, aber im ver­gan­genen Jahr er-
        goss es sich in die Öf­fent­lichkeit: Miss­brauch oder se­xu­el­le Über­griffe in Staats­thea­tern und
        Aus­bil­dungs­stät­ten, Mob­bing und Ras­sismus, MeToo-Fäl­le beim Film, die Mu­se­en vol­ler
        geraub­tem Zeug, das ei­gent­lich gar nicht be­staunt wer­den darf.

        Aus den In­stitutio­nen selbst drin­gen die­se Zu­stands­berich­te her­vor, oft sind es Hilferu­fe,
        dann wieder spie­len auch undurch­schau­ba­re Hin­ter­gedan­ken ei­ne Rol­le. Nach einer Rei­ni-
        gung oh­ne Ka­thar­sis sieht das aus, manchmal auch nach blo­ßer Selbst­zerstörung. Das Pu­-
        bli­kum ver­steht das nicht. Es ver­steht den Zu­stand sei­ner Kul­tureinrich­tungen nicht mehr,
        muss zu­se­hen, wie sie von ihm fern­rücken, denn das Gan­ze wird sich fort­setzen, oh­ne dass
        es ei­nen Weg gä­be, wie man aus dem Zwiespalt des gleich­zei­ti­gen Zu- und Miss­trauens
        wieder ent­kommt.

        Im Hum­boldt Forum in Ber­lin, einst im Geist der kultu­rellen Ver­stän­di­gung gestar­tet, heu­te
        nur noch ein über­di­men­siona­les Mahnmal des deutschen Kolo­nialismus, scheint die

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        Dienst­leistungs­gesell­schaft HFS ihre Be­schäf­tigten übel zu ku­jo­nie­ren; an der Leipzi­ger
        Hochschu­le für Grafik und Buch­kunst wur­de ein Pro­fes­sor wegen seines unangemes­se­nen
        und über­grif­fi­gen Betragens ent­las­sen; am Düssel­dor­fer Schau­spiel­haus eskalieren die Ras­-
        sis­mus­vor­wür­fe; der In­ten­dant der Volks­bühne in Ber­lin musste wegen seines se­xistischen
        Ver­hal­tens gehen; der Prä­si­dent der Münchner Musikhochschu­le wurde in zwei Fäl­len der
        se­xu­el­len Nöti­gung für schuldig befun­den und rechtskräf­tig ver­ur­teilt; der In­ten­dan­tin des
        Ber­li­ner Gor­ki-Thea­ters, Sher­min Lang­hoff, wer­den Mob­bing und Dis­kri­mi­nierung vor­ge-
        wor­fen, un­er­träg­li­che Ar­beitsbedin­gun­gen ha­be sie zu ver­ant­wor­ten; Ähn­li­ches hat sich
        vor Jah­ren schon am Burgthea­ter in Wien ab­ge­spielt; an der Staat­li­chen Bal­lett­schu­le Ber­lin
        ist von Miss­hand­lun­gen von Schutz­befoh­le­nen und sexu­el­len Übergrif­fen die Rede, ihr Di-
        rek­tor, der an­geb­lich nicht ein­griff, wird aufs Schwerste bedrängt, mög­li­cherwei­se ein Fall,
        der schon wie­der ein an­ders gela­ger­tes Stirn­run­zeln her­vor­ruft. Die Auf­zählung erhebt kei­-
        nen An­spruch auf Voll­stän­dig­keit. Die wieder­keh­ren­de For­mel lau­tet: »Kli­ma der Angst«.
        Und das in der Kul­tur!

        Wer bis­her ins Thea­ter ging und sich ver­nünf­ti­ger­wei­se einrede­te, dass dort Menschen ar-
        bei­ten, die auch nicht bes­ser sind als die Ge­sell­schaft im Gan­zen, stellt inzwi­schen fest,
        dass es dort of­fen­bar doch kras­ser zugeht als in sei­nem Be­trieb oder in seiner Agentur. Was
        ist das für ei­ne Kunst, die unter Angst zustan­de kommt? Selbst­ver­ständ­lich ist je­der Fall zu
        ver­fol­gen. Wahr­schein­lich hat es in der Ver­gan­gen­heit zu wenig Acht­samkeit diesen rela­tiv
        selbst­stän­dig han­deln­den Ein­richtun­gen gegen­über gegeben, zu viel Respekt vor Geis­tes­-
        größen und nur ei­nen gerin­gen Willen zum Durchgrei­fen. Es ist voll­kom­men richtig, dass
        sich Betrof­fe­ne heu­te an die Öf­fent­lich­keit wen­den. Einen de­mo­rali­sie­renden Einfluss auf
        das Pu­bli­kum hat es gleichwohl. Die Fol­gen sind wei­ter­gehend, und hier steu­ert der Kul­tur­-
        be­trieb auf ein tief­grei­fen­des Di­lem­ma zu.

        Die Ge­sell­schaft för­dert Kul­tur mit großen Sum­men. Da­für richtete sie Apparate ein, die von
        bü­rokrati­scher Gän­gelung und von den Zwän­gen der Marktwirt­schaft, so­weit es geht, ent­-
        las­tet sind. In ihnen sol­len sich an­dere Cha­rak­tere tum­meln, ex­pres­si­ve­re, gefüh­li­gere,
        krea­ti­ve­re. Stell­ver­tretend dür­fen die ihre Autono­mie nutzen, um so etwas wie eine schö­ne
        Form der Frei­heit zu rea­li­sieren. Das ist der Deal. In der Kul­tur der Kul­tur­gesell­schaft geht
        es nicht um Kunst­wer­ke, die nur für sich voll­kom­men sind, oh­ne Rücksicht auf ihr Zu­stan­-
        de­kom­men. Der so­ziale Hin­ter­grund fließt in sie ein, ist ihr Be­stand­teil, wird im­mer mit­ge­-
        dacht. Er bil­det die Vor­aus­set­zung für Ak­zep­tanz und für Iden­tifikation. Ist die­ser subtile
        Me­cha­nismus gestört, weil die Autono­mie zweckent­frem­det oder miss­braucht wurde, ver­-
        än­dert sich das Kul­tu­rel­le und die Stel­lung des Kul­tur­be­triebs am En­de insgesamt.

        Es spielt sehr wohl ei­ne Rol­le, wie die Kunst entsteht
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        Doch geht es eben auch um Kunst, um Quali­tät, Brillanz, Ver­zau­berung. Das In­ter­es­se des
        Publi­kums wird ja nicht durch Vor­füh­rungen geweckt, wel­che die gän­gigen Auf­fassungen
        von Mo­ral bloß noch einmal wi­der­spie­geln. Im geschützten Raum der Kul­tur soll sich auch
        Über­schrei­tung, ja so­gar Non-Mo­ral er­eignen kön­nen. Ver­stoßen Kul­tur­leu­te aber auf ganz
        nicht­fik­tio­na­le Wei­se gegen morali­sche Nor­men, fällt die Span­nung zu­sammen, wel­che
        Kunst und Ap­parat ausein­an­der­hält: Die Kunst bleibt ei­ner sachbezo­genen Kri­tik ver­ant­-
        wortlich, wäh­rend sich die Einrichtung an­gemes­sen selbst regu­lieren darf. Als Fol­ge des
        Skan­dals wird dann in der In­stitu­tion al­les mo­ralisch emp­find­lich, auch das künst­le­ri­sche
        Ergeb­nis. Der Argwohn dringt in al­le Fal­ten.

        Die Skan­dale der ver­gan­genen Mo­na­te führten noch ein­mal vor Augen, dass in den Kul­tur­-
        einrichtun­gen gerade­zu ar­chai­sche Unter­drü­ckungs- und Aus­beu­tungsver­hält­nisse fort­be­-
        stehen, und zwar sol­che, die in den »ka­pi­ta­listischen« Sek­toren der Ge­sell­schaft nicht län-
        ger gedul­det wür­den. Der Wunsch ist ver­ständ­lich, auch an die­ser Stelle Ver­än­de­run­gen
        einzu­lei­ten, ein Kli­ma der Angst durch bes­se­re Or­ga­ni­sa­ti­on zu ver­hin­dern.

        Al­ler­dings führt nichts so direkt aufs der­zei­ti­ge Di­lem­ma der Kul­tur, wie diesen Ge­dan­ken
        ei­ner schnel­len Ab­hilfe fortzu­spin­nen: Mag das In­ten­dan­ten­prinzip ein bi­zar­res Überbleib­-
        sel der oh­ne­hin bi­zar­ren deutschen Genie­reli­gi­on sein, so haben sich Selbst­verwal­tungs-
        model­le nie und nirgend­wo bewährt, und zwar seit den Sieb­zi­ger­jahren nicht. Noch im­mer
        ist der Name ei­nes In­ten­dan­ten ein Gü­te­sie­gel für sein Haus, auch wenn dieses ganz ba­sis-
        de­mokratisch tut. Man­che Thea­ter ex­pe­rimen­tie­ren in­zwi­schen mit einem spezi­el­len Be-
        auftrag­ten, der Pro­ben beauf­sichtigt und ein­grei­fen soll, wenn es dort zu hoch her­geht
        (»Mo­ral­poli­zei«). An ei­nem toxi­schen Ar­beits­kli­ma wird auch er nichts ändern, nichts an
        den schänd­li­chen Ver­trags­bedin­gungen für Nachwuchs­schau­spie­ler.

        Als Kon­se­quenz liefe das in den öf­fent­lich unter­hal­tenen Ein­richtun­gen auf eine stär­kere
        und dau­er­haft Auf­sicht füh­ren­de Prä­senz des Staa­tes hinaus, al­so auf ri­gi­de Kon­trol­le. Um
        auf Loya­li­tät und Regeln zu po­chen, müsste man ein En­sem­ble dann auch in so etwas wie
        Thea­ter- oder Opernbe­am­te ver­wan­deln. Per­so­nal­räte würden je­den Tag si­gnali­sieren, wie
        sehr es ihnen egal ist, wer un­ter ih­nen als Prinzipal ar­bei­tet. Kul­tur wäre am En­de Ver­wal­-
        tungs­sa­che, die Quali­tät der Kunst im Grunde nicht mehr von Be­lang, man be­nö­tig­te kei­ne
        Kritik mehr, aber auch kei­ne Kul­turpoli­tik.

        Hei­ßt das, die al­te Ver­schwei­ge­decke lieber wie­der aus­brei­ten und um der Kunst willen
        doch dis­kret über Miss­brauch und Ge­walt hinweg­se­hen? Das wäre ein schlimmer Rück-
        schritt. In der von der Ge­sell­schaft gewähr­ten Autono­mie für die Kul­tur­ein­richtun­gen ste-
        cken auch ein Kooperations­an­gebot und ei­ne Auf­for­de­rung zur Trans­parenz. Die­sen Kon­-

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        takt mit Ge­sell­schaft und Öf­fent­lich­keit mit Le­ben zu fül­len, soll die Sache der In­stitutio­nen
        blei­ben, was auch hei­ßt, sie müssen über­zeu­gen­de Strategien ent­wi­ckeln, wie sie Ver­feh­-
        lungen Ein­zel­ner ahn­den oder de­ren Größen­wahn brem­sen. Und sie müs­sen faire Arbeits-
        be­din­gungen für al­le ga­ran­tie­ren. Kul­tur­chefs sind auch Vor­gesetzte, sie kön­nen nicht auf
        ihre künst­le­rischen Me­riten ver­wei­sen, wo ihre Füh­rungsqua­li­tä­ten infrage stehen.

        Im Kon­flikt­fall muss die Kom­mu­ni­kation ehr­lich sein. Das gilt genauso für die invol­vier­ten
        Kul­tur­be­hör­den. Die Öf­fent­lichkeit hat ein Recht, über die wirk­li­chen Mo­tiv­la­gen im Streit
        infor­miert zu wer­den. Sher­min Lang­hoff am Gor­ki ist ein sym­ptomatischer Fall: Sie, die ein
        sehr neu­ar­tiges und sehr morali­sches mi­gran­tisches Thea­ter er­fand – hochgelobt –, rea­li­-
        sier­te in der Ver­gan­gen­heit auch Pro­jek­te mit be­hördli­chen Ex­tragel­dern. Man könn­te sa­-
        gen: woke Staatskunst. Das war so am Ran­de ei­ner un­ab­hän­gigen Kunst, und diese Praxis
        wird sich nicht fortfüh­ren las­sen. Eigent­lich müss­te der Schim­mer des Ver­dachtes genü­gen,
        Lang­hoff demen­tie­re durch ihr Ver­hal­ten je­ne Wer­te, deren Pro­pa­gie­rung wegen sich der
        Staat di­rekt in die Kul­tur eingemischt hat­te, damit sich der staat­li­che Akteur wie­der zu­-
        rückzieht. Doch die In­ten­dan­tin scheint sich poli­ti­scher Rü­cken­de­ckung si­cher zu sein,
        egal, was im Haus vor sich geht. Zur Trans­pa­renz gehör­te, dass auch mit­ge­teilt wird, in wel­-
        chem par­tei­po­li­ti­schen Spiel Shermin Lang­hoff genau mit­spielt und was das mit Kul­tur zu
        tun hat.

        Fäl­le wie die­ser stär­ken die Kul­tur nicht. Die Corona-Gel­der sind aus­gegeben, und die Etats
        der Kul­tur­einrichtun­gen wer­den irgend­wann schrump­fen, im bes­ten Fall bei stei­genden
        Kos­ten nicht wei­ter stei­gen. Das Vi­rus wird blei­ben, so dicht wie frü­her wer­den sich die Zu­-
        schau­er­räu­me auf ab­seh­bare Zeit nicht mehr fül­len. Weni­ger Ti­ckets hei­ßt, der Refi­nanzie­-
        rungs­an­teil sinkt. Im kom­men­den Jahr wird ein gerade be­schlos­se­ner Son­der­fonds mit 2,5
        Mil­li­ar­den Euro das Kul­tur­le­ben in Deutschland in gewohnter Form auf­recht­erhalten. Da-
        nach wird (wie­der) über Kür­zun­gen gestritten wer­den. Eine De­bat­te über die Bedeu­tung
        von öf­fent­li­cher Kul­tur und deren fi­nan­zi­el­le Aus­gestal­tung wird jetzt noch ein­mal ver­zö­-
        gert, aber sie kommt. Dann wird es auch wichtig sein, in wel­chem inne­ren Zu­stand sich ih­-
        re Ein­richtun­gen be­fin­den.

        www.​zeit.de/​audio Il­lustration: Lydia Or­tiz für DIE ZEIT

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       Fle­xi­bel blei­ben

       Di­g i­t a­l e Ex­p e­r i­m en­t e ge­h ö­r en für die Freie Thea­t er­s ze­n e schon lang da­z u, wie das „Im­p ul­-
       se“-Fes­t i­v al zeigt

       VON A L E X ­A N ­D E R M E N ­D E N

       Im Win­t er, als An­n e Schulz mit­t en in der Vor­b e­rei­t ung für das „Aka­d e­m ie 2“-Pro­g ramm des „Im­p ul­-
       se“-Fes­t i­vals steck­t e, war die Co­ro­n a-La­g e in In­d i­e n noch recht viel­ver­s pre­c hend. Das Attak­k a­l a­r i
       Cent­re for Mo­vement Art in Ben­g alu­r u war fest ein­g e­p lant als ei­n er der vier in­t er­n a­t io­n a­l en Part­n er
       für das am­b i­t io­n ier­t e, drei­t ä­g i­g e Pro­j ekt mit On­l ine-Ver­a n­s tal­t un­g en am Vor­m it­t ag und Prä­s enz-
       Work­s hops am Nach­m it­t ag. „Kurz vor Be­g inn des Fes­t i­vals schrieb uns der Lei­t er des Zen­t rums und
       er­k lär­t e, die Co­ro­n a-Si­t ua­t i­o n sei mitt­l er­wei­l e so ka­t a­s tro­p hal, dass er al­l e Work­s hops ab­s a­g en müs­-
       se“, sagt Schulz. Aber im­m er­h in kann das ge­p lan­t e Hy­b rid-For­m at un­t er dem fra­g en­d en Mot­t o „Lost
       in Space?“ von die­s em Don­n ers­t ag an in Düs­s el­d orf und Köln, Bern, Jo­h an­n es­b urg und Minsk statt­-
       fin­d en.

       Die The­m en, die in Zoom-Vor­t rä­g en und -Dis­k us­s io­n en ver­h an­d elt wer­d en sol­l en, sind je­n e, mit de­-
       nen „Im­p ul­s e“, das wich­t igs­t e Show­c a­s e-Fes­t i­val der frei­e n Thea­t er­s ze­n e im deutsch­s pra­c hi­g en
       Raum, sich noch bis ein­s chlie­ß ­l ich kom­m en­d en Sonn­t ag be­f as­s en wird: die Rol­l e des Kör­p ers für Ge­-
       mein­s chafts­b il­d ung, po­l i­t i­s cher Pro­t est, die Mög­l ich­keit von Ge­g en­wart trotz Pan­d e­m ie. Und, mit
       Blick auf die Si­t ua­t i­o n in an­d e­ren Län­d ern, viel­l eicht auch die Er­kennt­n is, dass die La­g e für das
       Thea­t er in Deutsch­l and trotz der un­b e­s treit­b a­ren ho­h en Be­l as­t un­g en durch Co­ro­n a noch im­m er ver­-
       gleichs­wei­s e kom­for­t a­b el ist.

       Im ver­g an­g e­n en Jahr fand das ge­s am­t e „Im­p ul­s e“-Fes­t i­val noch on­l ine statt. „Ich ha­b e den Ein­d ruck,
       dass die freie Sze­n e oft viel fle­x i­b ler ist als die Stadt­t hea­t er“, sagt An­n e Schulz, die un­t er an­d e­rem
       fünf Jah­re lang in der Thea­t er­ver­m itt­l ung an den Münch­n er Kam­m er­s pie­l en mit Mat­t hi­a s Li­l i­e n­t hal
       ar­b ei­t e­t e. „Vie­l e freie Künst­l er, die schon vor­h er Di­g i­t al­for­m a­t en nicht ab­g e­n eigt ge­we­s en wa­ren, wa­-
       ren jetzt bes­s er vor­b e­rei­t et.“ Auch 2021 stand es auf der Kip­p e, ob an den Ver­a n­s tal­t ungs­o r­t en Düs­-
       sel­d orf, Köln und Mül­h eim an der Ruhr ir­g end­e t­was wür­d e vor Pu­b li­k um statt­f in­d en kön­n en. „Wir
       ha­b en von vorn­h er­e in die Si­t ua­t i­o n the­m a­t i­s iert – wie kön­n en wir zu­s am­m en­kom­m en und Ge­m ein­-
       schaft schaf­fen?“, sagt Fes­t i­val­l ei­t er Hai­ko Pfost. „Aber wir bil­d en nun ein­m al ab, was die freie Sze­n e
       macht, und die hat eben 2020 vor al­l em al­t er­n a­t i­ve For­m a­t e be­d ient.“ So sind vie­l e Ver­a n­s tal­t un­g en
       auch in die­s em Jahr on­l ine, vie­l es da­von „Vi­d eo on De­m and“. Die Kon­z ert-Per­for­m ance „Mit Ech­t en
       sin­g en“ von Tan­j a Kro­n e und Fried­r ich Grei­l ing et­wa, ein mu­s i­k a­l isch un­t er­m al­t er Rück­b lick auf die
       Wen­d e­j ah­re 1989/90. Oder der „He­t eraclub“ der Ham­b ur­g er Per­for­m ance-Künst­l e­r in Si­byl­l e Pe­t ers,
       in dem es um weib­l i­c hes Be­g eh­ren geht und in dem phy­s i­s che Be­r üh­r ung zen­t ra­l er Teil des Kon­z epts
       ist. Das ist in Zei­t en des So­c i­a l Di­s ­t an­c ing un­d enk­b ar.

       Die In­z i­d enz-Ach­t er­b ahn­f ahrt mach­t e die Pla­n ung ins­g e­s amt schwie­r ig, aber die „Im­p ul­s e“ be­wei­-
       sen, dass Fle­x i­b i­l i­t ät tat­s äch­l ich ei­n e Stär­ke der frei­e n Sze­n e ist. „In­d oor, Out­d oor und Di­g i­t al blie­-
       ben für 2021 par­a l­l e­l e Op­t io­n en“, er­k lärt Pfost. „Wir ha­b en auf al­l en Ebe­n en ge­p lant. Was dann um­-
       setz­b ar war, hing von der kon­k re­t en La­g e ab.“ An­f ang Ju­n i konn­t e nach nur vier Ta­g en Vor­l auf­z eit im
       Düs­s el­d or­fer Ar­c hiv des Fes­t i­vals ei­n e Aus­s tel­l ung er­ö ff­n et wer­d en, die auf die äs­t he­t i­s chen, in­h alt­l i­-
       chen und struk­t u­rel­l en Ver­ä n­d e­r un­g en des frei­e n Thea­t ers im Lau­fe der 31-jäh­r i­g en Im­p ul­s e-Ge­-
       schich­t e blickt.

       Auch die Schwei­z er Tän­z e­r in und Cho­reo­g ra­f in Te­re­s a Vit­t uc­c i kann an die­s em Don­n ers­t ag und
       Sams­t ag mit ih­rer One-Wo­m an-Cho­reo­g ra­f ie „Ha­t e me, ten­d er“ im Köl­n er Kul­t ur­z en­t rum Tanz­f ak­-

https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/808681/10                                                                                 1/2
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