MEZIS Nachrichten - In dieser Ausgabe befassen wir uns u.a. mit dem Thema "Digitale Transformation des Gesundheitswesens".

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MEZIS Nachrichten - In dieser Ausgabe befassen wir uns u.a. mit dem Thema "Digitale Transformation des Gesundheitswesens".
1/2020
         MEZIS                              Nachrichten

  In dieser Ausgabe befassen wir uns u.a. mit dem Thema
  „Digitale Transformation des Gesundheitswesens".

                             MEZIS e.V. – Mein Essen zahl‘ ich selbst
                     Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte
MEZIS Nachrichten - In dieser Ausgabe befassen wir uns u.a. mit dem Thema "Digitale Transformation des Gesundheitswesens".
Inhaltsverzeichnis
Dr. med. Christiane Fischer
Editorial..........................................................................................................................................................................3
Dr. med. Niklas Schurig
Die digital souveräne Praxis
Datensparsamkeit und Datenschutz sind effektiver Patientenschutz..........................................................4
Dr. med. Helmut Jäger
Erobern die Digitalkonzerne den Gesundheitsmarkt?....................................................................................... 7
Dr. med. Helmut Jäger
Spezifisch wirkende Arzneimittel, die nicht-spezifische Effekte auslösen..................................................9
Peter Grabitz, Zoe Friedmann, Sophie Gepp, Leonard U. Hess, Lisa Specht, Maja Struck, Sophie Tragert
AG Interessenkonflikte der Universities Allied for Essential Medicines (UAEM)
Wir studieren Medizin – und Pharma studiert mit?........................................................................................... 12
Dr. Wolfgang Wodarg
Patientendaten schützen
Offener Brief an den Bundespräsidenten zum Gesundheitsdatenschutz................................................... 16
KOLUMNE | Fabian Schubach
Wall Street Pharma Newsletter – Krankes von den Finanzmärkten
Ausgabe 3: Marktversagen...................................................................................................................................... 18
MEZIS Kompakt ..........................................................................................................................................................21
Interview | Sabine Hensold
5 Fragen an Zoe Friedmann.....................................................................................................................................22
MEZIS Nachrichten - In dieser Ausgabe befassen wir uns u.a. mit dem Thema "Digitale Transformation des Gesundheitswesens".
Impressum                                                Editorial
Herausgeber:                                             mit diesen MEZIS Nachrichten möchte ich mich
MEZIS e.V. – Mein Essen zahl‘ ich selbst                 von Ihnen verabschieden. Es hat mir viel Freude
Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte
                                                         gemacht, MEZIS von Anfang an als geschäfts-
www.mezis.de, info@mezis.de
                                                         führendes Vorstandsmitglied und später als Ärzt-
MEZIS Nachrichten 1/20                                   liche Geschäftsführerin zu begleiten. Ab 1. April
ISSN: 2194-1440                                          2020 werde ich mich neuen beruflichen Aufgaben
Korrespondenzanschrift:                                  widmen.
Hohegasse 1, 69181 Leimen
Telefon: +49 (0)1575-5575135                             Die Arbeitsgruppe zu Interessenkonflikten der
E-Mail: info@mezis.de                                    UAEM (Universities Allied for Essential Medicines)
Internet: www.mezis.de
Bankverbindung: Ethikbank
                                                         stellt ihre Studie vor (Seite 12). Studierende ha-
IBAN: DE36 8309 4495 0003 1467 15                        ben regelmäßig Kontakt zur pharmazeutischen
BIC: GENODEF1ETK                                         Industrie, wobei die Interaktionen im Laufe des
Konzeption und Redaktion:                                Studiums tendenziell zunehmen. Unser Interview
(V.i.S.d.P.) Dr. Christiane Fischer, Sabine Hensold      mit Zoé Friedmann (Seite 22) ergänzt die Studie.
Grafik und Layout:
Maryam Aliakbari, Abid Webdesign                         Helmut Jäger zeigt auf, wie Digitalkonzerne zu-
                                                         nehmend den Gesundheitsmarkt erobern (Seite 7),
Bilder & Grafiken
stock.adobe.de (Sofern nichts anderes angegeben)         und Niklas Schurig erklärt, wie eine digital mün-
Lektorat:                                                dige Praxis dennoch funktionieren kann (Seite 4).
Kai-Uwe Dosch
                                                         In einem weiteren Artikel beschreibt Helmut Jäger
Druck:                                                   die Zusammenhänge nicht-spezifischer Effekte
Ralph Jacobsen, Printmedien
                                                         moderner Arzneimittel, die in Zulassungsverfahren
Stand:                                                   ebenso ernst genommen werden müssen, wie die
März 2020
                                                         intendierten spezifischen Effekte (Seite 9).
Auflage:
1300 Stück                                               In einem offenen Brief an den Bundespräsiden-
Erscheinungsweise MEZIS Nachrichten:                     ten fordert Wolfgang Wodarg, die Geheimnisse
dreimal im Jahr                                          unserer Patientinnen und Patienten zu schützen
Der Bezugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag   (Seite 16). Dieser Forderung schließen wir uns an!
enthalten.
                                                         Abgerundet wird diese Ausgabe durch die regel-
Die Wiedergabe oder der Nachdruck von Artikeln aus
den MEZIS Nachrichten ist nur nach Rücksprache und mit   mäßige Kolumne von Fabian Schubach, dieses
Genehmigung der Redaktion möglich. Diese wird in der     Mal zu „Marktversagen“ (Seite 18).
Regel erteilt.
                                                         Wir wünschen viel Vergnügen beim Lesen!
Vorstand
Prof. Dr. med. Dominikus Bönsch, Lohr am Main            Herzliche Grüße
Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe,
boensch@mezis.de                                         Christiane Fischer
Manja Dannenberg, Wismar
Allgemeinmedizinerin, dannenberg@mezis.de
Dr. med. Helmut Jäger, Rotenburg/Wümme
Gynäkologe, jaeger@mezis.de
Hanna Neumann, Berlin, Orthopädin
und Unfallchirurgin, neumann@mezis.de
Dr. med. Jan Salzmann, Aachen,
Internist, salzmann@mezis.de
Dr. Niklas Schurig, Bietigheim,
Allgemeinmediziner, schurig@mezis.de
Interessenkonflikte
Alle Autor*innen füllen den für die MN überarbeiteten
Fragebogen der AG „Interessenkonflikte in der Medizin“
(Dtsch Arztebl 2011; 108(6)) aus.
                                                              Dr. med. Christiane Fischer, MPH

                                                                                    MEZIS Nachrichten 1/2020   3
MEZIS Nachrichten - In dieser Ausgabe befassen wir uns u.a. mit dem Thema "Digitale Transformation des Gesundheitswesens".
USER-EDIT NIKLAS SCHURIG

Die digital souveräne Praxis
Datensparsamkeit und Datenschutz sind effektiver
Patientenschutz
Als Ärztinnen und Ärzte und Beschäftigte im                        oder Google mit seinem Projekt Nightingale. 3
Gesundheitswesen haben wir gelernt, die Geheim-                    Aber auch Allround-Datensammler wie das US-
nisse unserer Patienten zu schützen. Nur deswe-                    Unternehmen Acxiom geben Jahr für Jahr Ver-
gen können sich diese uns anvertrauen. Zurecht!                    haltensdaten zu rund 1,2 Milliarden E-Mail-Ad-
Wenn wir unsere Schweigepflicht brechen würden,                    ressen weiter. Laut der „ZEIT“ ist bereits mehr als
könnten wir dafür ins Gefängnis kommen. Denn                       die Hälfte der Deutschen unwissentlich in deren
wer sich hilfesuchend an uns wendet, der braucht                   Datenbanken fein säuberlich identifiziert und
den besonderen Schutz seiner Privatsphäre. 1                       kategorisiert, mit bis zu 1.500 „Datenpunkten“
                                                                   zu allen noch so intimen Lebensbereichen, der
Leider stehen immer schon Patientendaten ganz
                                                                   Vergangenheit und der Zukunft.4 Und zuneh-
oben auf der Wunschliste von Pharmafirmen oder
                                                                   mend missbrauchen auch Krankenkassen und
Medizin-Datenkraken wie IMSHealth/Cegedim 2

1 Die Einleitungssätze sind übernommen aus Herrn Wodargs offenem Brief unter https://www.wodarg.com
2 https://www.abida.de/sites/default/files/ABIDA %20Gutachten-Gesundheitsbereich.pdf
3 https://www.heise.de/tp/features/Project-Nightingale-Google-geht-auf-Patientenjagd-4584792.html
4 https://www.zeit.de/2013/28/acxiom

4   MEZIS Nachrichten 1/2020
MEZIS Nachrichten - In dieser Ausgabe befassen wir uns u.a. mit dem Thema "Digitale Transformation des Gesundheitswesens".
Versicherungsunternehmen diese Datenquellen                            Die folgenden (adaptierten) Empfehlungen von
abseits berechtigter Interessen, um ihre wirt-                         Digitalcourage 4 sollen Kolleginnen und Kollegen
schaftliche Position im Wettbewerb zu optimieren                       in Praxen dabei praktisch unterstützen:
und mittels Scoring-Verfahren Krankheits- und
                                                                       1) Hinterfragen Sie Ihre digitalen Handlungen
damit Kosten-Risiken zu minimieren. Gleichzeitig
                                                                       (ICD-Kodierung, Internet in der Arztpraxis,
geben Patientinnen und Patienten bewusst und
                                                                       Kommunikationskanäle für Patientinnen und
unbewusst über „Bonus“-Programme wie Payback,
                                                                       Patienten, ...).
heimlich datensammelnde Apps, Fitnesstracker
und soziale Medien unter anderem medizinische                          Stellen Sie sich immer die Frage: Wenn ich das jetzt
(Meta-)Daten an Unternehmen weiter, die durch                          mache, wer hat außer mir einen Nutzen davon?
Weiterverkaufen, Aggregieren, personalisierte                          Könnte mein Team, können meine Patientinnen
Werbung etc. riesige Gewinne machen. Es in-                            und Patienten Schaden nehmen?
teressiert Payback sehr wohl, ob jemand lieber                         Beispiel Krankschreibung: Wenn eine kurzzeitige
Zigaretten und Bier oder die Diabetikerprodukte,                       Krankschreibung wegen einer Überlastungssi-
neuerdings Schwangerschaftstests oder Baby-                            tuation am Arbeitsplatz ausgestellt wird, wird
windeln statt Kondome kauft. Die Algorithmen                           dies häufig über eine ICD-Diagnose aus dem
erkennen die Risiken und die Krankheit hinter dem                      psychiatrischen Bereich erfolgen (z. B. „akute
Konsumverhalten frühzeitig. Sie erkennen schon                         Überlastungsreaktion" = F.43.0). Der Arzt wird
lange eine Schwangerschaft am Kaufverhalten                            für diese psychiatrische Diagnose sogar noch be-
bevor die Frau selbst merkt, dass sie schwanger                        lohnt, darf er doch nun zusätzlich die Leistungen
sein könnte.1 Wer an diesen aussagekräftigen                           aus der psychosomatischen Grundversorgung
„Offline“-Daten zu Gesundheit und Krankheit im                         mit abrechnen. Alternativ und datensparsam
Konsumverhalten von Millionen von Deutschen                            wäre aber auch eine unspezifische Diagnose
interessiert ist, bekommt sie - solange er dafür                       „Unstimmigkeiten mit dem Arbeitgeber", = Z.63
bezahlen kann. Google und Facebook machen                              oder eine reine Symptombeschreibung „Müdigkeit“
mit dieser zielgerichtet-individuellen Werbung                         = R.53 (für maximal 7 Tage) möglich. Die Folgen
schon heute Milliardenumsätze und können die                           dieser unterschiedlichen Kodierungen können
nun real existierenden gläsernen Verbraucher                           weitreichend sein: Ergibt sich zum Beispiel zwei
immer besser in ihrem Konsumverhalten steuern. 2                       Jahre später eine manifeste Depression, könnte
Kunden und Patienten bekommen von dem Handel                           die Versicherung den Krankengeldanspruch auf-
mit ihren Daten meist nichts mit – oder wer weiß                       grund einer weiteren psychiatrischen Diagnose
schon, dass alleine Acxiom still und heimlich 8,4                      zeitlich begrenzen, da sie die erste psychiatrische
Millionen Hintergrundprüfungen zu Kriminalität                         Verlegenheitsdiagnose „Überlastungsreaktion"
und Kreditwürdigkeit pro Jahr durchführt.3 Erst                        nun mit der „echten" psychiatrischen Diagnose
wenn zum Beispiel plötzlich die Berufsunfähigkeits-                    zeitlich zusammenrechnet. Auch führen psych-
versicherung Preisaufschläge wegen gestiegener                         iatrische „Verlegenheitsdiagnosen" wie „akute
Risiken verlangt oder der Einstieg in die private                      Überlastungsreaktion" oder "Anpassungsstörun-
Krankenversicherung unbezahlbar wird, ist die                          gen" insbesondere bei privaten Versicherungen zu
fehlende Privatsphäre evident. Doch dann ist                           Nachteilen oder sogar Ausschlüssen. Diese Liste
es zu spät.                                                            lässt sich mit Suchtkrankheiten (beginnend bei
                                                                       der „Nikotinsucht"), chronischen Erkrankungen,
Aktuell scheint Privatsphäre obsolet – das „Ich-
                                                                       chronischen Infektionen (Hepatitis, HIV) etc.
habe-doch-nichts-zu-verbergen“-Mantra frisst
                                                                       fortführen.
sich auch in den sensiblen Gesundheitsbereich.
                                                                       2) Geben Sie Daten von sich, von Ihrem Team
Wir von MEZIS setzen uns ein für eine digital
                                                                       oder von Ihren Patientinnen und Patienten nicht
souveräne und datensparsame Arztpraxis. Denn
                                                                       ungefragt heraus.
sie ist Voraussetzung für bestmöglichen Daten-
schutz und Datensicherheit.                                            Das mache ich nicht, sagen Sie jetzt vielleicht,

1 https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2014-04/big-data-schwangerschaft-verheimlichen
2 Amnesty international: Surveillance Giants: How the Business model of Google and Facebook threatens human rights. 11/2019, https://
www.amnesty.org/download/Documents/POL3014042019ENGLISH.PDF
3 https://www.zeit.de/2013/28/acxiom
4 https://digitalcourage.de/digitale-selbstverteidigung/digitale-muendigkeit

                                                                                                         MEZIS Nachrichten 1/2020       5
MEZIS Nachrichten - In dieser Ausgabe befassen wir uns u.a. mit dem Thema "Digitale Transformation des Gesundheitswesens".
denn ich bin ja an die Schweigepflicht gebunden.                    Ausblick: Digitale Selbstverteidigung
Überprüfen Sie, ob Sie dies nicht unbewusst
durch ihr Arztinformationssystem, durch Googeln,
                                                                    und „werbefreie Praxis“
Adress-Suchen, Terminplanung mit externen An-                       Aktuell versuche ich im Selbstversuch, die Ver-
bietern, Patientenkommunikation (z. B. per Mail)                    teilung meiner Datensätze bei Adresshändlern
oder die Registrierungen von Medizinprodukten                       zu erfassen und gleichzeitig die Flut von perso-
doch tun.                                                           nalisierter Werbung durch Zeitschriften, Medika-
3) Nutzen Sie möglichst wenige kostenlose                           mentenwerbung, Mailings und anderem Marketing
Dienste.                                                            einzudämmen. Da das Zurückschicken per Post
                                                                    nicht funktioniert, habe ich mir eine Standardmail
Machen Sie sich stets bewusst, dass Sie hier                        gebastelt mit dem sperrigen Titel „Auskunfts-
meist in einer anderen Währung bezahlen: mit                        ersuchen/Widerspruch gegen Direktmarketing
Ihren Daten und noch schlimmer, den Daten Ihrer                     und Einschränkung der Verarbeitung personen-
Patientinnen und Patienten.                                         bezogener Daten gemäß Art.21 Abs.2 und 3
4) Behalten Sie die Kontrolle über Ihre Daten.                      Datenschutz-Grundverordnung“ und Dutzende
                                                                    von Unternehmen angeschrieben. Das Interes-
Speichern Sie (verschlüsselt außerhalb der Praxis)                  sante ist, dass man dadurch auch manchmal die
auf eigenen Datenträgern oder Ihrem Praxisserver                    Herkunft der Daten zurückverfolgen kann, somit
statt in der „Cloud“, externe Dienstleister müssen                  kommt man an die großen Datenkraken. Aktuell
deutsche Datenschutzbestimmungen erfüllen                           korrespondiere ich, wie könnte es anders sein, mit
(z. B. Serverstandort Deutschland).                                 datenschutz@acxiom.com – ein Widerspruch in
                                                                    sich selbst. Aber dazu werde ich noch ausführ-
Ein Wort zur Datensparsamkeit von                                   lich berichten…
Arztinformationssystemen                                            Weitere Tipps, Tools und die digitale Selbstver-
Nach der Installationsstatistik der KV 1 be-                        teidigungsmail zur Datensparsamkeit haben wir
herrschen die Compugroup und Medatixx den                           auf unserer Webseite zusammengestellt:
deutschen Markt der Arztinformationssysteme.                        https://mezis.de/digital-souveraene-praxis
Beide Firmen missbrauchen ihre Schlüsselposi-
tion zwischen Arzt und Patient mit Zugriff auf
sensibelste Informationen aus Anamnese, Dia-
gnostik und Medikamentenhistorie für subtile
Gewinnmaximierung durch Vermarktung an die
(Pharma-)Industrie. Die Compugroup formuliert

                                                                    AUTOR
das selbst so: „Wir begleiten den Arzt den gan-
zen Tag durch alle Arbeitsschritte – mit unserer
Software. Im perfekten Augenblick zeigt sie dem
Arzt Ihre Botschaft: Während der Patient vor ihm
sitzt; genau dann, wenn er seine Entscheidung
trifft. Sie sind den entscheidenden Schritt näher
an Ihrem Kunden – mit CompuGroup Medical." 2                                                       NIKLAS SCHURIG
                                                                                 Dr. med. Niklas Schurig ist Facharzt für
Bei Medatixx ist subtil lancierte Werbung immer
                                                                                     Allgemeinmedizin. Er ist Mitglied im
schon tief integrierter Standard, immerhin haben
                                                                                                        MEZIS-Vorstand.
Ärztinnen und Ärzte eine interessante, kosten-
                                                                                              Interessenskonflikte: Keine
pflichtige Zusatzoption „Für monatlich 25,00 €
zzgl. 19 % MwSt. wird Medatixx Praxissoftware
werbefrei." 3

1 https://www.kbv.de/media/sp/Gesamt_Systeme_Installationen.pdf
2 https://www.cgm.com/corp/produkte___leistungen/industrie/wicom/Doctor.de.jsp
3 https://shop.medatixx.de/bestellung/medatixx-xl/config

6   MEZIS Nachrichten 1/2020
MEZIS Nachrichten - In dieser Ausgabe befassen wir uns u.a. mit dem Thema "Digitale Transformation des Gesundheitswesens".
USER-EDIT HELMUT JÄGER

Erobern die
Digitalkonzerne den
Gesundheitsmarkt?
 Amazon baut eine Gesundheitssparte auf
 (https://aws.amazon.com/de/health). Dazu
 kaufte der Konzern für 1 Mrd. US$ das Unter-
 nehmen PillPack, und schloss mit einer der
 weltweit größten Banken (JPMorgan) eine
 strategische Partnerschaft. Ziel sei es, das
 „Gesundheitswesen in jeder Haushaltssituation“
 im Sinne der Konzerninteressen zu verankern.
 (Guardian 06.09.2019)
Die Vision von Amazon könnte man „Home based
Care“ nennen: die medikamentös-therapeutische
Rundumversorgung durch den Paketboten am
Krankenbett. Amazon selbst stellt es auf seiner
Gesundheits-Website so dar:
„Die digitale Transformation des Gesundheits-
wesens und der Biowissenschaften zielt darauf
ab, den gesundheitlichen Weg des Patienten
zu personalisieren, die datengesteuerte Ent-
scheidungsfindung zu verbessern und die Prä-
zisionsmedizin zu beschleunigen. Amazon Web
Services (AWS) macht dies mit der umfassendsten
Cloud-Plattform möglich, auf der Unternehmen im
Gesundheitswesen und in den Biowissenschaften
innovativ agieren können.“
Google verfolgt eine andere Strategie. Der Digital-
riese besorgte sich dazu die Software „DeepMind“
(https://deepmind.com). Dem innovativen Algo-
rithmus „DeepMind“ war es zuvor gelungen, zwei
der weltweit besten Go-Spieler zu besiegen. Ab
jetzt aber soll das erfolgreiche Rechenprogramm
für den Einsatz im Gesundheitswesen weiter-
entwickelt werden.
Um seine Kompetenzen auszutesten, schloss
Google 2017 einen Vertrag mit drei Londoner
Krankenhäusern. „DeepMind“ wurden die Daten
von 1,6 Millionen Patienten und Patientinnen über-
lassen, um sie auf Anzeichen von Nierenschäden
zu durchforsten.
Die englische Datenschutzbehörde wurde erst
durch investigativen Journalismus auf diesen Test
an Menschen aufmerksam und urteilte im Juli
2017, dass die Gesundheitsinstitutionen mit ihrer
Datenweitergabe ohne Patienten-Einwilligungen

                                                      MEZIS Nachrichten 1/2020   7
MEZIS Nachrichten - In dieser Ausgabe befassen wir uns u.a. mit dem Thema "Digitale Transformation des Gesundheitswesens".
gegen geltendes Recht verstoßen hatten. Das
Vorgehen von „DeepMind“ dagegen kritisierten
sie nicht.1 Unbeeindruckt wurden die Ergebnisse
in Ruhe wissenschaftlich ausgewertet, im August
2017 auch publiziert 2 und auch gleich in neuen
Anwendungsbereichen ausprobiert.3,4,5
Google versucht für den Aufbau seines Krankheits-
Algorithmus, möglichst viele Gesundheitsakten
zu durchleuchten, ohne Wissen der Patientinnen
und Patienten. So berichtete das Wall Street
Journal am 11.11.2019, dass Google Zugriff zu
Millionen von Patientenakten in einundzwanzig
amerikanischen Bundesstaaten erhalten habe.
Im Rahmen des Projekts "Nightingale" sammele
Google detaillierte Gesundheitsinformationen des
Unternehmens Ascension (größter Krankenhaus-
betreiber in den USA mit 2.600 Krankenhäusern,
Arztpraxen und anderen medizinischen Einrich-
tungen). Weder Patienten und Patientinnen noch
Ärzte und Ärztinnen sollen über die Verwertung
der vertraulichen Daten durch Google informiert                            eigentlich tun sollte (aber nicht tut): Gesundheits-
worden sein.                                                               ziele setzen und rationale Strategien verfolgen,
                                                                           um sie zu erreichen.
Googles Vision könnte man beschreiben als Ver-
such, Ärztinnen und Ärzte durch „intelligente“                             Aufgrund der Analyse riesiger Datensammlungen
Software (und deren menschlichen Anwender)                                 im deutschen Gesundheitswesen (www.weisse-lis-
zu ersetzen:                                                               te.de, https://faktencheck-gesundheit.de) kommt
                                                                           Bertelsmann zur Schlussfolgerung, dass jedes
    „We aimed to evaluate the diagnostic accuracy                          zweite Krankenhaus in Deutschland geschlossen
    of deep learning algorithms versus health-care                         werden könnte, dass die Digitalisierung ausgebaut
    professionals in classifying diseases using                            werden und dass Überversorgung und Verschwen-
    medical imaging. ... Our review found the                              dung drastisch reduziert werden müssten (www.
    diagnostic performance of deep learning mo-                            bertelsmann-stiftung./de/themen/gesundheit).
    dels to be equivalent to that of health-care
    professionals.“ 6                                                      Während das Gesundheitsministerium den Markt
                                                                           nur noch zu regulieren oder besser zu deregulie-
Der Medienkonzern Bertelsmann bietet sich für ein                          ren versucht, bietet Bertelsmann ein gesteuertes
umfassendes Gesundheits-Management an (www.                                Gesundheitswesen an, das den Wildwuchs der
bertelsmann.de/strategie, https://bertelsmann-                             Medikalisierung begrenzen und so Kosten ein-
health.de/unsere-strategie/health-community).                              sparen könne.
Die digitale Transformation als Gesundheitswe-
sen soll verbunden werden mit einer klaren und                             Das „Digitale-Versorgung-Gesetz“ des Bundes-
zentralen Steuerungskompetenz, die zu Effizienz,                           ministeriums für Gesundheit (https://www.
Rationalisierung und Konzentrierung führt (https://                        bundesgesundheitsministerium.de/digitale-ver-
bertelsmannhealth.de). Bertelsmann würde gerne                             sorgung-gesetz.html) wird den Trend zur al-
das übernehmen, was das Gesundheitsministerium                             gorithmengesteuerten Medikalisierung weiter

1 Shah, H. et al. (2017): The Deep Mind debacle demands dialogue on data. Nature, 547, p25
2 Connell, A. et al. (2017): Service evaluation of the implementation of a digitally-enabled care pathway for the recognition and
management of acute kidney injury. F1000-Research, Study protikoll F1000Research, 6, p 1033
3 Lee, SI. et al. (2018): A machine learning approach to integrate big data for precision medicine in acute myeloid leukemia. Nat Commun.
9(1) p 42
4 Lee, Y. et al. (2018): Deep Learning in the Medical Domain: Predicting Cardiac Arrest Using Deep Learning. Acute Crit Care., 33(3) p 17-120
5 Williams, BM. et al. (2019): An artificial intelligence-based deep learning algorithm for the diagnosis of diabetic neuropathy using corneal
confocal microscopy: a development and validation study. Diabetologia. 12.11.2019, Epub before print
6 Xiaoxuan, L. (2019): A comparison of deep learning performance against health-care professionals in detecting diseases from medical
imaging: a systematic review and meta-analysis. The Lancet Digital Health, 1(6), Pe271-e297

8    MEZIS Nachrichten 1/2020
MEZIS Nachrichten - In dieser Ausgabe befassen wir uns u.a. mit dem Thema "Digitale Transformation des Gesundheitswesens".
beschleunigen. Es werden riesige Datenmengen        USER-EDIT HELMUT JÄGER
generiert werden, die nur durch „intelligent-
neuartige“ Rechenleistung im Wesentlichen zur
Markt-Beobachtung in der Gesundheitswirtschaft      Spezifisch wirkende
genutzt werden. Dafür wird der Datenschutz
weiter gelockert werden. Es wird eine Flut von      Arzneimittel, die
Apps in den Markt schwappen, deren Qualität
in der überwiegenden Mehrzahl nicht belegt ist      nicht-spezifische
und die mit erheblichen Sicherheitslücken be-
lastet sein können, wenn sie mit verschiedenen      Effekte auslösen
Tracking- und Analysedienstleistern und Social
Media verbunden sind.                               Einführung
Ärztinnen und Ärzte werden sich angesichts die-     Die meisten modernen Arzneimittel wirken spezi-
ser Markttrends darauf einstellen müssen, dass      fisch und häufig, wie ß- oder H2-Blocker, rezeptor-
Algorithmen vieles schneller und besser erledigen   genau. Der Goldstandard der Untersuchung dieser
werden, was früher zu den klassischen ärztlichen    pharmakologischen Produkte sind prospektive,
Tätigkeiten gehörte:                                randomisierte, kontrollierte Studien (RCT). Dabei
  ĉ komplexe Zusammenhänge auf das Ent-             werden Gruppen von Personen beobachtet, die
    scheidende reduzieren (eine Diagnose            sich nur hinsichtlich der Medikamenteneinnahme
    finden),                                        unterscheiden sollen. Auswirkungen außerhalb
                                                    des intendierten spezifischen Effektes sind un-
  ĉ Wissen aus Büchern, Studien, Leitlinien und     erwünscht und sollten möglichst gering ausge-
    Datenbanken abrufen,                            prägt sein.
  ĉ ein Standard-Vorgehen finden, dass sich         In der Medizin werden jedoch zunehmend auch
    bei vielen anderen Personen bereits be-         biologisch aktive Substanzen eingesetzt, die sys-
    währt hat.                                      temische Effekte auslösen sollen. Dabei handelt
Es macht daher in der Medizinerausbildung wenig     es sich um Substanzen, die manchmal nicht-spe-
Sinn, wie bisher Fähigkeiten zu trainieren und      zifisch oder auch hoch-spezifisch wirken können.
durch Multiple Choice abzufragen, die Laptops       Sie sollen
wesentlich flotter erledigen können. Stattdes-        ĉ generelle Immunaktivierungen auslösen,
sen müssten typisch menschliche Kompetenzen
trainiert werden, wo es an Algorithmen fehlt:         ĉ eine angepasste Immunantwort auf ein
Kommunizieren und Beziehungen eingehen, Zu-             Impfstoffantigen oder Chemotherapeuti-
sammenhänge verstehen und kreativ, innovativ            kum verstärken,
und empathisch handeln.                               ĉ Immunantworten modulieren.
                                                    Die Durchführung eines RCT für diese Pharma-
                                                    produkte ist aus methodischen und ethischen
                                                    Gründen schwierig. Daher erfolgt ihre Zulassung
                                                    in der Regel im Rahmen von Studien, bei denen
                                AUTOR               sie einer spezifisch wirkenden Substanz bereits
                                                    zugefügt worden sind.

                                                    Was sind Adjuvantien?
HELMUT JÄGER                                        Adjuvantien werden Impfstoffen beigegeben, aber
Dr. Helmut Jäger, MEZIS-Mitglied seit etwa          auch Medikamenten der Krebstherapie.1 Sie sollen
2014. Seit 2018 im erweiterten Vorstand von         den Transport und die Präsentation des Antigens
MEZIS. Facharzt für Frauenheilkunde und             erleichtern, die Menge des verabreichten Anti-
Geburtshilfe, seit 2018 in Rente. Weitere           gens einsparen und die Immunantwort effektiver
Tätigkeitsfelder: Coach und Bewegungslehrer.
Web: www.medizinisches-coaching.net
Interessenkonflikte: Keine                          1 Mortezaee, K. et al. (2019): Boosting immune system against
                                                    cancer by melatonin: A mechanistic viewpoint, Life Sciences,
                                                    238, p 116960, www.sciencedirect.com

                                                                                      MEZIS Nachrichten 1/2020      9
MEZIS Nachrichten - In dieser Ausgabe befassen wir uns u.a. mit dem Thema "Digitale Transformation des Gesundheitswesens".
gestalten. Adjuvantien können u. a. Aluminium-
 Salze sein oder eine Lipid-Aluminium-Kombination
 (AS04) oder ein Öl-Wasser-Gemisch (MF59) oder
 Liposomen (Fett-Protein-Nucleinsäure-Gemische)
 oder synthetische DNA (CpG 1018) oder andere
 Moleküle oder Nanopartikel, an deren Oberflä-
 chen Antigen-Partikel absorbiert werden.1,2,3,4,5
 Neuere gentechnologisch hergestellte Adjuvantien
 passen punktgenau zu spezifischen Rezeptoren
 immunologischer Zielzellen, die eine immunolo-
 gische Kaskade auslösen können (u. a. Toll-like
 Receptor).6 Die durch Adjuvantien ausgelösten
 systemischen Alarmierungen des Immunsystems
 sollen die spezifische Reaktion auf das präsen-
 tierte Antigen verbessern.7,8,9,10,11
 Funktionell wirken Adjuvantien direkt oder indi-
 rekt auf Zellen, die anderen Zellen des Immun-
 systems eingefangene Antigene präsentieren
 (Beispiel: dendritische Zellen). Dort werden Ad-
 juvantien als molekulare Muster wahrgenommen,
 die üblicherweise entweder mit einer Invasion
 von Krankheitserregern oder einer Schädigung
 körpereigener Zellen einhergehen (engl. PAMP
 (erreger-assoziierte molekulare Muster) und DAMP
 (schad-assoziierte molekulare Muster). PAMP-ar-
 tige Adjuvantien wirken auf Toll-like-Rezeptoren
 und beeinflussen damit die antigenpräsentieren-
 den Zellen direkt. Sie beeinflussen Stärke, Potenz,                       den Materialwissenschaften. Die Anforderungen
 Geschwindigkeit, Dauer, Verzerrung, Breite und                            an Qualität, Standardisierung und Sicherheit sind
 Umfang der adaptiven Immunität.                                           bei den industriell betriebenen Adjuvantien-Ent-
                                                                           wicklungen nicht einfach. Denn die Unternehmen
 Adjuvantien vom Typ DAMP fördern eine lokale                              publizieren nur das, von dem sie glauben, dass
 Entzündung: Infiltration von Immunzellen, Präsen-                         es die Öffentlichkeit wissen dürfe, ohne dass
 tation von Antigenen und die Reifung von Effek-                           Konkurrenten daraus einen Vorteil ziehen könnten.
 torzellen. Diese Klasse von Hilfsstoffen umfasst
 Metallsalze, Ölemulsionen, Nanopartikel 5 oder                            Noch unübersichtlicher wird es, wenn sich die
 Kolloide mit komplexen, vielgestaltigen Strukturen.                       Wirkungen zweier Adjuvantien (bei zwei gleich-
                                                                           zeitig verabreichten Impfungen) aufschaukeln oder
 Die Innovation adjuvanter Technologien entwi-                             wenn zeitgleich andere, die Immunfunktion beein-
 ckelt sich rasant, durch das schnell wachsende                            trächtigende, Medikamente verabreicht wurden.
 Wissen in der Immunologie, Systembiologie und

 1 Mortezaee, K. et al. (2019): Boosting immune system against cancer by melatonin: A mechanistic viewpoint, Life Sciences, 238, p
 116960, www.sciencedirect.com
 2 Wen, Y. et al.: Alum (2016): an old dog with new tricks. Emerging Microbes and Infections 5, p e25
 3 Lee, M. (2016): Current status of synthetic hemozoin adjuvant: A preliminary safety evaluation. Vaccine 34, p 2055–2061
 4 Schmidt S.T. et al. (2016): Liposome-Based Adjuvants for Subunit Vaccines (2016) Formulation Strategies for Subunit Antigens and
 Immunostimulators. Pharmaceutics, 8, p 7
 5 Zheng, J. et al. (2019): Adjuvants and delivery systems based on polymeric nanoparticles for mucosal vaccines, International Journal of
 Pharmaceutics, 572, p 118731, www.sciencedirect.com
 6 Rammensee, H. G. (2019): A new synthetic toll-like receptor 1/2 ligand is an efficient adjuvant for peptide vaccination in a human
 volunteer. Journal for Immuno-Therapy of Cancer, 7, p 307, https://jitc.biomedcentral.com/articles/10.1186/s40425-019-0796-5
 7 Leroux-Roels, G. (2010): Unmet needs in modern vaccinology adjuvants to improve the immune response, Vaccine, 28, p C25-C36
 8 Reed SG (2013): Key roles of adjuvants in modern vaccines, Nature Medicine, 19(2) p 1597-1608
 9 Bradford et al. (2015): Polyionic vaccine adjuvants: another look at aluminum salts and polyelectrolytes Clin Exp Vaccine Res, 4, p 23-45
 10 Lei, Y. et al. (2019): Application of built-in adjuvants for epitope-based vaccines. PeerJ., 6, p e6185
 11 Hayat, G. et al. (2019): Nanovaccine: A novel approach in immunizationJournal of cellular physiology, doi 10.1102 / jcp.28120

10   MEZIS Nachrichten 1/2020
Etwa 5-10 % der Menschen in Europa leiden an
                                                                           Autoimmunkrankheiten. Die Gabe von Adjuvantien,
                                                                           die ein vielleicht ohnehin über-erregtes Immunsys-
                                                                           tem „wachrütteln“ sollen, erhöht zwangsläufig auch
                                                                           das Risiko für das Auftreten von Fehlreaktionen
                                                                           des Immunsystems.3,4,5 Treten solche Störungen
                                                                           auf, werden sie oft verkannt, weil sie nur selten
                                                                           massiv sind, sich meist zeitverzögert und zudem
                                                                           meist im Rahmen komplexer, eigendynamischer
                                                                           Wechselwirkungen mit unüberschaubar vielen
                                                                           anderen Faktoren ereignen.6

                                                                           Sicherheitskontrollen bei
                                                                           Zusatzstoffen
                                                                           Adjuvantien, die einen Immunsystemalarm aus-
                                                                           lösen, werden meist nicht (für sich alleine) in
                                                                           RCT‘s getestet. Das wäre aus ethischen Gründen
                                                                           schwierig, denn sie würden für die Probanden nur
                                                                           Risiken mit sich bringen, aber gegenüber einem
                                                                           Placebo keine Vorteile bieten.
                                                                           Der Nutzen des Zusatzstoffes wird daher üb-
                                                                           licherweise in Studien, die zu einer Zulassung
                                                                           führen sollen, in Kombination mit dem spezifisch
                                                                           wirkenden Agens beurteilt. Adjuvantien sind daher
                                                                           die einzige Substanzklasse spezifisch-wirkender
                                                                           Medikamente, zu denen keine „placebo-kontrol-
Risiko einer nicht-spezifischen                                            lierten” Studien vorliegen. Der Einfachheit halber
Immun-Stimulation                                                          werden sie manchmal auch in Zulassungsstudien
                                                                           den „Placebo“-Kontrollen beigemengt. Allerdings
Prinzipiell ist jede nicht-spezifische Anregung                            enthält dieser „Placebo“, dann nicht „Nichts“,
des Immunsystems (durch Infektionen, Arznei-                               sondern ein „Etwas“, das meist für die Neben-
mittel, Stress, Schadstoffe u.v.a.) mit schwer                             wirkungen verantwortlich ist.7,8,9 Bei solchen nur
kalkulierbaren Risiken verbunden. Häufig kehrt                             scheinbar placebo-kontrollierten Studien wundert
das einmal angestoßene System anschließend in                              es nicht, dass die Impfstoffdosen nicht mehr
seinen Normalzustand zurück. Selten aber können                            Nebenwirkungen verursachen als die Kontroll-
sich auch schwere unerwünschte Zwischenfälle                               injektionen.10
ereignen. Wie u. a. ein chronisches Erschöpfungs-
syndrom (CFS).1,2

1 Sharif, K. et al. (2018): On chronic fatigue syndrome and nosological categories Clinical Rheumatology, 37(5) p 1161-1170
2 Sharif, K. et al.(2018): The role of stress in the mosaic of autoimmunity: An overlooked association. Autoimmun Rev. 17(10) p 967-983
3 Tervaert, J. W.(2018): Autoimmunity Reviews 2018, 17(12) p 1259-1264, www.sciencedirect.com
4 Batista-Duharte , A. et al. (2014): Systemic immunotoxicity reactions induced by adjuvanted vaccines, Int Immunopharmacology 20, p
170-180
5 Watad, A. (2018): The autoimmune/inflammatory syndrome induced by adjuvants (ASIA)/Shoenfeld’s syndrome: descriptive analysis of
300 patients from the international ASIA syndrome registry. Clinical rheumatology, 37(2), p 483-493
6 Frattarelli, D. (2005): Adverse drug reactions and avalanches: Life at the edge of chaos. J Clin Pharmacol 45, p 866-871
7 Villa, L. L. et al. (2005): Prophylactic quadrivalent human papillomavirus (types 6, 11, 16, and 18) L1 virus-like particle vaccine in young
women: a randomised double-blind placebo-controlled multicentre phase II efficacy trial, Lancet Oncol, 6(5), p 271-278
8 Villa, L. L. et al. (2006): High sustained efficacy of a prophylactic quadrivalent human papillomavirus types 6/11/16/18 L1 virus-like
particle vaccine through 5 years of follow-up, Br J Cancer, 95(11), p 1459–1466
9 FUTURE II Study Group (2007): Quadrivalent Vaccine against Human Papillomavirus to Prevent High-Grade Cervical Lesions, NEJM, 356,
p 1915-1927
10 Jørgensen. L. et al. (Cochrane Nordic) (2018): The Cochrane HPV vaccine review was incomplete and ignored important evidence of
bias. BMJ Evidence based medicine, 10.1136/bmjebm-2018-111012

                                                                                                                MEZIS Nachrichten 1/2020         11
Fazit                                                                   USER-EDIT PETER GRABITZ, ZOE FRIEDMANN,
                                                                         SOPHIE GEPP, LEONARD U. HESS,
 Nicht-spezifische Wirkungen, wie sie von Adjuvan-                       LISA SPECHT, MAJA STRUCK,
 tien ausgelöst werden, können nur systematisch in                       SOPHIE TRAGERT
 Langzeit-Studien (Phase-IV-Studien) beobachtet
 werden.1 Auf die wird aber im Rahmen der Pro-
 duktvermarktung meist verzichtet.                                       Wir studieren
 Die nicht spezifischen Folgen des Impfens müssen
 aber systematisch erforscht werden. Dazu wäre
                                                                         Medizin – und
 es erforderlich, dass Pharmaunternehmen ihre
 internen Studien offenlegen.2 Nach Markteinfüh-
                                                                         Pharma studiert mit?
 rung neuer Impfungen wären dann systematische
 Langzeitbeobachtungen nötig (Phase-IV-Studien),                         Medizinstudierende haben regelmäßig Kontakt
 die allgemeine Morbiditäts-Indikatoren erfassen                         zur pharmazeutischen Industrie, wobei die Inter-
 würden. Diese sollten mindestens zwölf Monate                           aktionen im Laufe des Studiums tendenziell sogar
 andauern.3 Die üblichen Studien-Verfahren (RCT)                         zunehmen. Eine Umfrage von Lieb et al. an acht
 sind dazu kaum geeignet, da sie spezifische Effekte                     deutschen Medizinischen Fakultäten ergab bereits
 beobachten wollen und daher nicht-spezifische                           2014, dass nur 12 % der Studierenden noch nie
 Effekte als Störfaktoren aussondern. Studiende-                         ein Geschenk der Industrie erhalten oder eine
 signs müssten also so angepasst werden, dass                            gesponserte Veranstaltung besucht hatten. Ge-
 alle gesundheitlichen Einflüsse auf eine zu unter-                      schenke sind beispielsweise Kugelschreiber oder
 suchende Zielgruppe erfasst werden.4                                    Kongressstipendien.1
                                                                         Wenn der Kontakt mit der Pharmaindustrie für
                                                                         die Studierenden unumgänglich ist: Welche Maß-
                                                                         nahmen werden derzeit von den Medizinischen
                                                                         Fakultäten ergriffen, um die Studierenden vor
                                                                         unzulässiger Einflussnahme zu schützen und
                                                                         eine unvoreingenommene Lehrqualität zu ge-

                                             AUTOR                       währleisten?
                                                                         Im Lernprozess, wie mit solchen Interaktionen
                                                                         umgegangen wird, haben Dozierende an medi-
                                                                         zinischen Einrichtungen eine entscheidende Vor-
                                                                         bildfunktion. Wie viele Dozierende Beziehungen
HELMUT JÄGER                                                             zur Industrie unterhalten, ist für die Öffentlich-
Dr. Helmut Jäger, MEZIS-Mitglied seit etwa                               keit nicht bekannt. Jedoch legen die zahlreichen
2014. Seit 2018 im erweiterten Vorstand von                              Kooperationen zwischen Universitäten und der
MEZIS. Facharzt für Frauenheilkunde und                                  Industrie sowie eine ausführliche Recherche von
Geburtshilfe, seit 2018 in Rente. Weitere                                CORRECTIV 2 nahe, dass Dozierende oft eng mit
Tätigkeitsfelder: Coach und Bewegungslehrer.                             pharmazeutischen Firmen in Kontakt stehen. Die
Web: www.medizinisches-coaching.net                                      Kontakte von Fakultätsmitgliedern zur Industrie
Interessenkonflikte: Keine                                               sind vielseitig und beinhalten beispielsweise Be-
                                                                         ratungsbeziehungen oder auch Stiftungsprofessu-
                                                                         ren. Verschiedene internationale Studien zeigten
                                                                         bereits, dass diese Beziehungen die akademischen
 1 Aaby, P. et al. (2018): Evidence of Increase in Mortality After the   und publizistischen Interessen sowie die Inhal-
 Introduction of Diphtheria-Tetanus-Pertussis Vaccine to Children
 Aged 6-35 Months in Guinea-Bissau: A Time for Reflection?
 Frontiers in public health 6, p 79
 2 Doshi, P. et al. (2012): Clinical study reports of randomised
 controlled trials: an exploratory review of previously confidential     1 Lieb K, Koch C. (2013) Medical students’ attitudes to and
 industry reports. BMJ Open 2, 3(2) p e002496 https://bmjopen.           contact with the pharmaceutical industry: a survey at eight
 bmj.com/content/3/2/e002496                                             German university hospitals. Dtsch Arzteblatt Int.;110(35–
 3 Nolte, S. H.(2018): Impfen im Spannungsfeld zwischen                  36):584–90
 Zielerkrankungen und den spezifischen Auswirkungen auf die              2 correctiv.org. (2017) Nur jeder vierte Arzt legt Zahlungen offen,
 allgemeine Gesundheit., Päd Praxis, 90, p1-7                            die er von Pharmafirmen erhält. correctiv.org/aktuelles/euros-
 4 Relton, C. (2010): Rethinking pragmatic randomised controlled         fuer-aerzte/2017/07/14/nur-jeder-vierte-arzt-legt-zahlungen-
 trials: introducing the “cohort multiple randomised controlled          offen-die-er-von-pharmafirmen-erhaelt/
 trial” design BMJ, 340, p 963-967                                       [cited 2019 Sep 21]

12   MEZIS Nachrichten 1/2020
te, die ProfessorInnen an Medizinstudierende
weitergeben, beeinflussen können.1,2 Während
die Offenlegung von Interessenkonflikten heute
auf Fachkonferenzen und bei der Publikation
wissenschaftlicher Forschungsergebnisse üblich
                                                                                                 INFOBOX                      info-circle
oder sogar verpflichtend ist, wurde bisher ver-
säumt, dies auch auf die Lehre zu übertragen.                                 USA:
Ein geregelter und transparenter Umgang mit                                   Bereits seit 2007 setzen sich Studierende in den
Interessenkonflikten gegenüber Studierenden                                   USA für klare Richtlinien zu Interessenkonflikten
existiert in Deutschland nicht.                                               an ihren Fakultäten ein. Die American Medical
                                                                              Students Association (AMSA) befragt in regel-
Studierende werden durch ihre Universitäten
                                                                              mäßigen Abständen Universitäten, ob und welche
zudem unzureichend oder gar nicht auf den                                     Richtlinien zu Interessenkonflikten an ihren Me-
Kontakt mit der Industrie vorbereitet. In einer                               dizinischen Fakultäten bestehen. Alle vorhande-
Studie gaben 90 % der befragten Studierenden in                               nen Regelungen werden schließlich transparent
Deutschland an, dass der angemessene Umgang                                   bezüglich ihres Geltungsbereiches bewertet und
mit und ein angemessenes Verhalten gegenüber                                  in ein Ranking überführt (www.amsascorecard.
Arzneimittelwerbung in ihren Vorlesungen nie an-                              com). Seit der ersten Veröffentlichung wurde
gesprochen wurde.3 Dabei zeigen Studien, dass                                 das Ranking bereits zehnmal überarbeitet und
Lehre über pharmazeutische Werbung sowie                                      aktualisiert. Es hatte eine große Resonanz in
restriktive Regelungen von Interessenkonflikten                               den amerikanischen Medien und hat einen gro-
auf der Ebene der Medizinischen Fakultät wirken.                              ßen Einfluss darauf, wie Interessenkonflikte an
                                                                              Medizinischen Fakultäten in den USA sowohl in
Sie erhöhen nachweislich die kritische Reflexion
                                                                              der Öffentlichkeit als auch an den Fakultäten
der Studierenden gegenüber der Angemessenheit
                                                                              wahrgenommen und behandelt werden. Seitdem
von Marketingpraktiken in der Lernumgebung                                    haben die Universitäten begonnen, zahlreiche
und haben Einfluss auf die spätere ärztliche Ver-                             Richtlinien zu verabschieden und durchzuset-
schreibungspraktik der Studierenden.4,5,6,7                                   zen. Das Ranking ist öffentlich zugänglich und
Was kann man also tun, um diese                                               unterstützt Medizinische Fakultäten darin, klare
Situation zu ändern?                                                          Richtlinien in Kraft zu setzen.
                                                                              Frankreich:
Zunächst einmal muss das Thema auf die Tages-
ordnung der Fakultäten gesetzt werden. Wie das                                In Frankreich veröffentlichte eine Gruppe Stu-
funktionieren kann, haben bereits Initiativen aus                             dierender im Januar 2017 eine Studie, die die
den USA und Frankreich gezeigt (siehe INFOBOX).                               Interessenkonflikt-Regelungen und Lehrpläne
                                                                              medizinischer Fakultäten analysierte und be-
Diese Beispiele haben uns inspiriert, ein ähnliches                           wertete. (Scheffer et al, 2017). Auch in Frank-
Projekt in Deutschland durchzuführen: Angelehnt                               reich regelte nahezu keine Medizinische Fakultät
an die Bewertungskriterien der französischen                                  Interessenkonflikte. Dieses Ergebnis sowie eine
und amerikanischen Studierenden haben wir ein                                 hohe mediale Aufmerksamkeit führten dazu, dass
eigenes Punktesystem zur Bewertung der Medizi-                                die französischen Medizinischen und Odontologi-
nischen Fakultäten erstellt. Anschließend haben                               schen Fakultäten im November desselben Jahres
wir die Dekanate aller Medizinischen Fakultäten                               eine landesweit geltende Charter einführten, die
kontaktiert und bezüglich ihrer Regelungen und                                viele Forderungen der Studierenden aufgreift.
Lehrinhalte zu Interessenkonflikten befragt. Außer-
dem haben wir die Websites aller 38 deutschen

1 Ehringhaus, S. H. et al. (2008): Responses of Medical Schools to Institutional Conflicts of Interest. JAMA, 299(6), p 665–71
2 Cho, M. K. et al. (2000): Policies on Faculty Conflicts of Interest at US Universities. JAMA, 284(17) p 2203–8
3 Jahnke, K. et al. (2008): German medical students’ exposure and attitudes toward pharmaceutical promotion: a cross-sectional survey.
GMS Z Med Ausbild, 31(3), Doc32
4 Kao, A. C. et al. (2011): Effect of educational interventions and medical school policies on medical students’ attitudes toward
pharmaceutical marketing practices: a multi-institutional study. Acad Med J Assoc Am Med Coll, 86(11), p 1454–62
5 Larkin, I. et al. (2014): Restrictions On Pharmaceutical Detailing Reduced Off-Label Prescribing Of Antidepressants And Antipsychotics In
Children. Health Aff (Millwood), 33(6), p 1014–23
6 King, M. et al. (2013): Medical school gift restriction policies and physician prescribing of newly marketed psychotropic medications:
difference-in-differences analysis. BMJ. 31;346:f264
7Epstein, A. J. et al. (2013): Does exposure to conflict of interest policies in psychiatry residency affect antidepressant prescribing? Med
Care, 51(2), p 199–203

                                                                                                              MEZIS Nachrichten 1/2020      13
Medizinischen Fakultäten nach standardisierten      sich sowohl national als auch lokal an ihren Uni-
 Stichworten für ihre Regelungen und Lehrinhal-      versitäten für den professionellen Umgang mit
 te untersucht. Nachfolgend haben wir auf der        Interessenkonflikten einsetzen.
 Grundlage unserer Ergebnisse und des von uns
                                                     Dafür haben wir drei zentrale Forderungen for-
 angepassten Punktesystems ein Ranking der
                                                     muliert:
 Medizinischen Fakultäten erstellt.
                                                      1. ein erweitertes fächerübergreifendes Lehran-
 Durch unsere Studie konnten wir zeigen, dass an
                                                         gebot zu Interessenkonflikten in der Medizin.
 den deutschen Medizinischen Fakultäten nur sehr
 wenige Maßnahmen zur Regelung von Interessen-        2. eine konsequente Offenlegung von Interes-
 konflikten ergriffen werden und das Thema auch in       senkonflikten von Dozierenden gegenüber
 den Lehrplänen weitgehend vernachlässigt wird:          Studierenden.
 Nur 2 der 38 deutschen Medizinischen Fakultäten      3. einen regulierten Rahmen für den Kontakt mit
 konnten relevante Regelungen vorweisen. Keine           der Industrie auch für Studierende.
 der beiden adressierte alle Kategorien, die nach
 unserem standardisierten Bewertungssystem für       Viele Lösungsansätze aus Deutschland und Europa
 eine ausreichende Maßnahme erfüllt sein mussten.    geben uns hier Hoffnung für die Zukunft: In Frank-
 Zudem wurden von keiner Fakultät auf unsere         reich wurde mit einer nationalen Aufforderung
 Nachfrage Lehrangebote zum Thema Interessen-        an alle Fakultäten auf die Studie reagiert. In den
 konflikte zurückgemeldet.                           USA konnten bei jeder Wiederholung des AMSA-
                                                     Rankings Verbesserungen an den Universitäten
 Aber den Status quo aufzuzeigen und einen Hand-     nachgewiesen werden.
 lungsbedarf durch unsere Studie zu belegen, ist
 nicht das einzige Ziel unserer Arbeit:              Und auch in Deutschland gibt es einige Uni-
                                                     versitäten, die mit gutem Beispiel voran gehen:
 Im Oktober 2019 haben wir eine Konferenz für        So hat zum Beispiel die Fakultät in Mainz einen
 und mit Studierenden aus ganz Deutschland           speziellen Lehrplan zum Umgang mit der Industrie
 veranstaltet. Neben der intensiven Auseinan-        erarbeitet. Hier durchlaufen alle Studierenden ein
 dersetzung mit Interessenkonflikten haben wir       Curriculum, dass für Interessenkonflikte sensibi-
 ein Netzwerk aus Studierenden gegründet, die        lisiert und auf den professionellen Umgang mit

14   MEZIS Nachrichten 1/2020
der Industrie vorbereitet. Die wissenschaftliche           Auch in Deutschland gibt es also zahlreiche
Evaluierung der Lehre zeigt, dass Studierende              motivierte Akteure und Lösungsansätze. Jetzt
danach mehr Wissen, eine kritischere Einstellung           müssen wir dafür sorgen, dass diese auch an
und in simulierten Situationen mehr Professiona-           den Medizinischen Fakultäten umgesetzt werden.
lität im Umgang mit Industrieinteraktion haben.
Seit Beginn unseres Projekts im Jahr 2017 arbeiten
wir daran, enge Kontakte zu anderen Gruppen auf-
zubauen, die sich mit diesem Thema beschäftigen.
So arbeiten wir zum Beispiel mit verschiedenen
Organisationen wie Transparency International
und auch eng mit MEZIS zusammen. Von Anfang
an war es uns wichtig, auch andere Studierende
in unsere Arbeit mit einzubeziehen. So haben wir
zum Beispiel einen Workshop entwickelt, den wir
sehr erfolgreich mit Studierenden nicht nur aus
Deutschland, sondern aus ganz Europa durchge-
führt haben. Außerdem haben wir mit der Euro-
pean Medical Students Association (EMSA) und
der International Federation of Medical Students'
Associations (IFMSA) zusammengearbeitet. Die
EMSA hat im Mai 2019 ein Positionspapier zum
Umgang mit Interessenkonflikten veröffentlicht,
die IFMSA folgte mit einem Positionspapier im
August 2019.

AUTOR*INNEN

  PETER GRABITZ, ZOE FRIEDMANN, SOPHIE GEPP, LEONARD U. HESS,LISA SPECHT,
  MAJA STRUCK, SOPHIE TRAGERT
  Sie sind ein Teil der AG Interessenkonflikte der Universities Allied for Essential Medicines (UAEM)
  Interessenskonflikte: Keine

                                                                                         MEZIS Nachrichten 1/2020   15
USER-EDIT WOLFGANG WODARG

 Patientendaten schützen
 Offener Brief an den Bundespräsidenten zum
 Gesundheitsdatenschutz
 Wir danken für die Nachdruckgenehmigung: https://www.wodarg.com
 Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
 als Ärzte und als in Praxen und Kliniken Beschäftigte im Gesundheitswesen haben wir gelernt, die
 Geheimnisse unserer Patienten zu schützen.
 Nur deswegen können sich diese uns zu Recht anvertrauen.
 Wenn wir unsere Schweigepflicht brechen, können wir dafür ins Gefängnis kommen, denn wer sich
 hilfesuchend an uns wendet, der braucht den besonderen Schutz seiner Privatsphäre.
 Selten waren Sorgen um unser gemeinsames höchstes Gut - die Würde des Menschen und die grund-
 gesetzlich garantierten Persönlichkeitsrechte – so berechtigt wie in den letzten Monaten.
 Seit Amtsantritt des derzeitigen Gesundheitsministers kommen aus seinem Hause in rascher Folge
 Gesetze zur Abstimmung durch die Legislative, in denen die Persönlichkeitsrechte von Patienten und
 Versicherten im wahrsten Sinne des Wortes zu Markte getragen werden.
 Es fällt auf, das unter dem Begriff „Digitalisierung“ in mehreren Gesetzen der Zugriff auf Patienten-
 daten und Gesundheitsdaten für eine zentralisierte Datenspeicherung und -verarbeitung legitimiert
 werden soll.
 Dieses geschieht, obwohl uns international vielfach die starke Lückenhaftigkeit des Datenschutzes
 einerseits und der erklärte Datenhunger großer Konzerne mit ihren vielfältigen und gigantischen Tech-
 nologien zur Datenanalyse andererseits immer wieder vor Augen geführt wurden.
 Die hierdurch bestehenden Risiken für den Schutz der Persönlichkeit (Art. 2 GG), und damit auch für
 neue Angriffe auf die Menschenwürde, sind unschwer erkennbar.

16   MEZIS Nachrichten 1/2020
Beispielhaft für legitimiertes Datensammeln          einen ehemaligen Top-Manager der Pharma-
seien genannt:                                       industrie dort zum Chef berufen. Dieser hat als
                                                     eine der ersten Amtshandlungen der skeptischen
  ĉ Apps zum Sammeln von Gesundheitsdaten
                                                     Ärzteschaft per offiziellem Schreiben mitgeteilt,
    auf Kassenkosten (DVG)
                                                     dass diese weder zivilrechtliche noch strafrecht-
  ĉ elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheini-      liche Konsequenzen zu befürchten hätten, wenn
    gung (TSVG)                                      sie sich an die besagten neuen Gesetze halten
  ĉ Elektronisches Rezept (GSAV)                     würden.

  ĉ elektronische Heil- und Hilfsmittelverord-       Zur Erinnerung: Auch die Ärzte, die ihre psychisch
    nung (DVG)                                       kranken Patienten der NS-Vernichtungsmaschine
                                                     preisgaben, handelten gesetzeskonform!
  ĉ Vollständige individuelle Krankheitsdaten
    für den Morbi-RSA (GKV-FKG)                      Dieser massive gesetzgeberische Angriff auf
                                                     die Prinzipien des Persönlichkeitsrechts über-
  ĉ Elektronische Patientenakte (DVG +               rumpelt die Öffentlichkeit, die Ärzteschaft und
    “eigenes Datenschutzgesetz“)                     die Opposition nahezu vollständig. Die Fristen
  ĉ Zugriff auf Krankenakten möglicher               für Stellungnahmen sind zu kurz. Selbst eine
    Organspender (GZSO)                              Normenkontrollklage ist bisher nicht in Aussicht.
  ĉ Patientendaten bei Implantat-                    Es geht offenbar im Gesundheitsmarkt schon
    Anwendungen (EIRD)                               lange nicht mehr darum, was kranke Menschen
                                                     wirklich benötigen, sondern um das, was man
  ĉ Beginn einer zentralisierten Impfdaten-          ihnen verkaufen kann.
    sammlung (Masernschutzgesetz)
                                                     Spahn versucht durch partikuläre Vorteilsofferten
Der Zweck dieser Zugriffe auf persönliche Daten      die Ärzteschaft und die gesetzlichen Krankenkas-
und der mögliche Nutzen für die Betroffenen          sen auf seine Seite zu ziehen. Die Lobby-Gesetze
werden durchgehend nicht konkret, sondern nur        werden auch deshalb nicht zu mehr Gesundheit,
sehr allgemein dargestellt.                          sondern zu höheren Beiträgen für alle Versicher-
Als potenzielle Datennutzer werden im DVG-Ge-        ten führen.
setzentwurf zum Beispiel Behörden, Einrichtungen     In der wachsamen Ärzteschaft wächst der Wi-
der Selbstverwaltung, Forschungseinrichtungen        derstand gegen diesen Angriff auf Persönlich-
oder Universitätskliniken genannt.                   keitsrechte. Wir hoffen, Sie als Hüter der Ver-
Dass die Industrie keinen Zugriff habe, ist eine     fassungsmäßigkeit unserer Gesetzgebung für
plumpe Schutzbehauptung, sind doch die meis-         die anstehenden Konflikte weiter sensibilisiert
ten Forschungsvorhaben im Gesundheitsbereich         zu haben und werden diesen Prozess weiter
industriefinanziert und werden dort ausgewertet.     kritisch begleiten.
Auch die Krankenkassen verwerten ihre vielfältigen
Daten bereits jetzt vor allem, um ihre wirtschaft-
liche Position im Kassenwettbewerb zu optimie-
ren. Durch direkte Verträge einzelner Kassen mit
Pharmaunternehmen und Leistungserbringern
ergeben sich weitere für eine bedarfsgerechte
Versorgung nachteilige Absprachemöglichkeiten
                                                      AUTOR
zulasten von bestimmten Patientenpopulationen
und zulasten des Gemeinwohls.
                                                                                WOLFGANG WODARG
Angesichts der bisherigen, streng an der Verfas-
                                                         Dr. Wolfgang Wodarg ist Internist und setzt sich
sung ausgerichteten Praxis im Datenschutzrecht
                                                            unter anderem bei Transparency Deutschland
gleicht diese Gesetzgebung einem Staatsstreich.
                                                          für Transparenz und gegen den Missbrauch an-
Schwerwiegende Interessenkonflikte sind offen-            vertrauter Macht zu privaten (wirtschaftlichen,
sichtlich: Der amtierende Gesundheitsminister hat            politischen oder anderen) Vorteilen ein. Er ist
sich im TSVG bereits die Macht über die technische                      seit sieben Jahren MEZIS-Mitglied.
Ausgestaltung der digitalen „Datenautobahn“                                      Interessenskonflikte: Keine
durch seine Stimmenmehrheit in der Gematik
gesichert. Er hat sodann mit Herrn Leyck-Dieken

                                                                                  MEZIS Nachrichten 1/2020   17
USER-EDIT FABIAN SCHUBACH

                                Wall Street Pharma Newsletter –
                                Krankes von den Finanzmärkten
                                Ausgabe 3: Marktversagen
                                Die Pharmaindustrie konzentriert sich immer einseitiger auf den Bio-
                                tech-Sektor, also auf biotechnologisch hergestellte Arzneimittel gegen
                                onkologische, immunologische und genetische Erkrankungen. Dagegen
                                ziehen sich die Unternehmen aus Bereichen zurück, die zwar hochgradig
                                versorgungsrelevant, aber nicht mehr lukrativ sind. Gleichzeitig nehmen
                                Lieferengpässe zu und die Versorgung mit essenziellen Arzneimitteln
                                wird immer anfälliger.
                                In der Branche mit biotechnologischen Arzneimitteln haben sich einige Phar-
KOLUMNE

                                makonzerne bereits seit den 1990er Jahren etabliert, darunter Roche (u. a.
                                Rituximab, Trastuzumab), Novartis (Imatinib) und Pfizer (Etanercept). Novartis
                                profiliert sich neuerdings mit Gentherapien, Roche versucht nachzuziehen.1
                                Weitere Konzerne, darunter Bristol Myers-Squibb, Johnson & Johnson sowie
                                Takeda, versuchen seit einigen Jahren, sich aggressiv im Biotechnologie-Sektor
                                zu positionieren – mit Mega-Übernahmen im zweistelligen Milliardenbereich.
                                In keiner Weise soll hier die Wichtigkeit einer guten Arzneimittelversorgung
                                etwa von Krebskranken, oder die Relevanz innovativer Forschung in diesem
                                Bereich, in Frage gestellt werden – im Gegenteil. Auch ist anzuerkennen,
                                dass unter den ersten Biologika Substanzen waren, die einen erheblichen
                                medizinischen Fortschritt mit sich gebracht haben. Die neueren sind jedoch

                                1 Schubach, F. (2019): Wall Street Pharma Newsletter – Krankes von den Finanzmärkten. Ausgabe 1:
                                Biotech und die nächste Stufe des Arzneimittelpreis-Wahnsinns. MEZIS-Nachrichten; 02/2019: 24–6

18   MEZIS Nachrichten 1/2020
mehrheitlich ungenügend geprüft und allenfalls                           Diabetes-Forschung. Auch die Entwicklung und
von geringem Zusatznutzen, bei einigen Arzneien                          Vermarktung von Mitteln gegen kardiovaskuläre
überwiegt sogar der Schaden.1 Zum Nutzen-Ri-                             Erkrankungen ist offenbar nicht mehr rentabel
siko-Profil der Gentherapien können angesichts                           und soll zukünftig reduziert oder ganz eingestellt
des geringen Erprobungsgrades bisher kaum ver-                           werden. Aktionäre und Aktionärinnen und Börsen-
lässliche Aussagen getroffen werden. Dennoch                             analysten und -analystinnen zeigten sich ange-
drängt die Industrie mit Macht in diesen Markt,                          sichts dieser Verlautbarungen überaus zufrieden,
hauptsächlich wegen der exorbitanten Preise, die                         der Kurs der Sanofi-Aktie zog deutlich an.3
für diese Mittel verlangt werden können.
                                                                         Nun könnte man mit Blick auf Diabetes und
Einen weiteren Beweggrund hat 2018 die Invest-                           kardiovaskuläre Erkrankungen vielleicht noch
mentbank Goldman Sachs in ungewöhnlicher                                 argumentieren, dass ein gewisser Rückgang von
Offenheit deutlich gemacht. In einem Bericht an                          Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten verkraf-
Anleger und Anlegerinnen empfahl man der Indus-                          tet werden kann, weil ein etabliertes Therapie-
trie, sich auf Märkte zu fokussieren, die gleich-                        repertoire zur Verfügung steht und neuere Mittel
bleibende Nutzerzahlen und somit einen stabilen                          häufig nur noch von begrenztem Zusatznutzen
„Cash Flow“ garantieren, also insbesondere bei                           sind. Dies gilt jedoch nicht für die Entwicklung
Krebs und chronischen Erkrankungen. Heilung                              neuer Antibiotika, für die angesichts zunehmen-
hingegen sei „kein nachhaltiges Geschäftsmodell“                         der Resistenzentwicklungen der Bedarf immer
und daher gerade nicht anzustreben. Als „Nega-                           dringlicher wird. Doch auch aus diesem Bereich
tivbeispiel“ wird Sofosbuvir angeführt, das bei                          ziehen sich die Unternehmen reihenweise zu-
Hepatitis-C-Kranken mit Heilungsraten von rund                           rück, nachdem noch 2016 der Industrieverband
90 % dafür sorge, dass der Pool der Behandlungs-                         IFPMA medienwirksam eine „Allianz“ für Antibio-
bedürftigen sukzessiv kleiner werde und in der                           tikaforschung ausgerufen hatte. Grund auch für
Folge auch der „Nachschub an Patientinnen und                            diese Kehrtwende: Das Fehlen eines lukrativen
Patienten“ durch ausbleibende Neuinfektionen                             Marktes.4,5
wegbreche.2 Das sei gut für Patientinnen und
Patienten, aber nicht gut für Goldman.                                   Unterdessen verschärft sich das Problem der Lie-
                                                                         ferengpässe.6 Noch vor einem bis zwei Jahrzehnten
Im Netz erhoben sich angesichts dieser zynischen                         waren sie ein weitgehend unbekanntes Phänomen.
Argumentation Stürme der Entrüstung. Aber                                Ein Grund ist globalisierte Produktion: Pharma-
marktwirtschaftlich ist es eben „rational“, insofern                     unternehmen produzieren zahlreiche Arzneimittel
dürfte diese Sichtweise durchaus repräsentativ                           nicht mehr selbst, sondern beziehen Ausgangs-
dafür sein, wie sich die Pharmaindustrie inzwi-                          und Wirkstoffe von Lohnherstellern oder lagern
schen strategisch positionieren muss.                                    sogar die komplette Produktion aus, oft in Länder
In jüngster Zeit reiht sich mit Sanofi nun ein                           mit geringeren Lohnkosten und Umweltauflagen.
weiterer großer Player in die Reihe der Pharma-                          In vielen Fällen kaufen mehrere Unternehmen
unternehmen ein, die verstärkt oder ausschließlich                       ihren Wirkstoff von demselben Lohnhersteller ein.
auf Biologika und die „Wachstumsstory“ Krebs                             Nicht selten existieren für einen Wirkstoff dann
setzen. Sanofi kündigte einen entsprechenden                             nur noch wenige Produktionsanlagen weltweit,
Konzernumbau und den Aufkauf geeigneter Unter-                           im Extremfall sogar nur noch eine einzige.
nehmen an.3                                                              Die Folgen werden zunehmend sichtbar: Bei-
Zeitgleich mit seiner Ausrichtung auf diesen                             spielsweise war es 2016/17 zu Lieferengpässen
Sektor verabschiedet sich Sanofi offiziell aus der                       bei Piperacillin/Tazobactam gekommen, einer

1 Prescrire International (2019): Drugs in 2018: a brief review. Prescrire Int; 28: 105–7
2 Jung, B. (2018): Goldman Sachs: Heilung ist schlecht fürs Geschäft. DAZ.online; https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/
artikel/2018/04/16/goldman-sachs-heilung-ist-schlecht-fuers-geschaeft [Zugriff 15.12.2019]
3 finanzen.net (2019): Sanofi-Aktie schießt hoch: Sanofi gibt Diabetes-Forschung auf - Deutschlandgeschäft von Umbau betroffen.
finanzen.net; https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/neue-strategie-sanofi-aktie-schiesst-hoch-sanofi-gibt-diabetes-forschung-auf-
deutschlandgeschaeft-von-umbau-betroffen-8307218 [Zugriff 15.12.2019]
4 Handelsblatt (2019): Pharmakonzerne steigen aus Antibiotika-Entwicklung aus. https://amp.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/
medikamentenforschung-pharmakonzerne-steigen-aus-antibiotika-entwicklung-aus/25009744.html [Zugriff 15.12.2019]
5 faz.net (2019): Medikamente: Pharmakonzerne stoppen Entwicklung von Antibiotika. faz.net; https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/
mehr-wirtschaft/medikamente-pharmakonzerne-stoppen-entwicklung-von-antibiotika-16380424.html [Zugriff 18.1.2020]
6 Korzilius, H. (2019): Lieferengpässe bei Arzneimitteln: Ein Missstand, der nicht mehr hinnehmbar ist. Dtsch Arztebl; 116(45): A-2060 /
B-1690 / C-1654

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