MEZIS Nachrichten - In dieser Ausgabe befassen wir uns u.a. mit dem Thema "Digitale Transformation des Gesundheitswesens".
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1/2020 MEZIS Nachrichten In dieser Ausgabe befassen wir uns u.a. mit dem Thema „Digitale Transformation des Gesundheitswesens". MEZIS e.V. – Mein Essen zahl‘ ich selbst Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte
Inhaltsverzeichnis Dr. med. Christiane Fischer Editorial..........................................................................................................................................................................3 Dr. med. Niklas Schurig Die digital souveräne Praxis Datensparsamkeit und Datenschutz sind effektiver Patientenschutz..........................................................4 Dr. med. Helmut Jäger Erobern die Digitalkonzerne den Gesundheitsmarkt?....................................................................................... 7 Dr. med. Helmut Jäger Spezifisch wirkende Arzneimittel, die nicht-spezifische Effekte auslösen..................................................9 Peter Grabitz, Zoe Friedmann, Sophie Gepp, Leonard U. Hess, Lisa Specht, Maja Struck, Sophie Tragert AG Interessenkonflikte der Universities Allied for Essential Medicines (UAEM) Wir studieren Medizin – und Pharma studiert mit?........................................................................................... 12 Dr. Wolfgang Wodarg Patientendaten schützen Offener Brief an den Bundespräsidenten zum Gesundheitsdatenschutz................................................... 16 KOLUMNE | Fabian Schubach Wall Street Pharma Newsletter – Krankes von den Finanzmärkten Ausgabe 3: Marktversagen...................................................................................................................................... 18 MEZIS Kompakt ..........................................................................................................................................................21 Interview | Sabine Hensold 5 Fragen an Zoe Friedmann.....................................................................................................................................22
Impressum Editorial Herausgeber: mit diesen MEZIS Nachrichten möchte ich mich MEZIS e.V. – Mein Essen zahl‘ ich selbst von Ihnen verabschieden. Es hat mir viel Freude Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte gemacht, MEZIS von Anfang an als geschäfts- www.mezis.de, info@mezis.de führendes Vorstandsmitglied und später als Ärzt- MEZIS Nachrichten 1/20 liche Geschäftsführerin zu begleiten. Ab 1. April ISSN: 2194-1440 2020 werde ich mich neuen beruflichen Aufgaben Korrespondenzanschrift: widmen. Hohegasse 1, 69181 Leimen Telefon: +49 (0)1575-5575135 Die Arbeitsgruppe zu Interessenkonflikten der E-Mail: info@mezis.de UAEM (Universities Allied for Essential Medicines) Internet: www.mezis.de Bankverbindung: Ethikbank stellt ihre Studie vor (Seite 12). Studierende ha- IBAN: DE36 8309 4495 0003 1467 15 ben regelmäßig Kontakt zur pharmazeutischen BIC: GENODEF1ETK Industrie, wobei die Interaktionen im Laufe des Konzeption und Redaktion: Studiums tendenziell zunehmen. Unser Interview (V.i.S.d.P.) Dr. Christiane Fischer, Sabine Hensold mit Zoé Friedmann (Seite 22) ergänzt die Studie. Grafik und Layout: Maryam Aliakbari, Abid Webdesign Helmut Jäger zeigt auf, wie Digitalkonzerne zu- nehmend den Gesundheitsmarkt erobern (Seite 7), Bilder & Grafiken stock.adobe.de (Sofern nichts anderes angegeben) und Niklas Schurig erklärt, wie eine digital mün- Lektorat: dige Praxis dennoch funktionieren kann (Seite 4). Kai-Uwe Dosch In einem weiteren Artikel beschreibt Helmut Jäger Druck: die Zusammenhänge nicht-spezifischer Effekte Ralph Jacobsen, Printmedien moderner Arzneimittel, die in Zulassungsverfahren Stand: ebenso ernst genommen werden müssen, wie die März 2020 intendierten spezifischen Effekte (Seite 9). Auflage: 1300 Stück In einem offenen Brief an den Bundespräsiden- Erscheinungsweise MEZIS Nachrichten: ten fordert Wolfgang Wodarg, die Geheimnisse dreimal im Jahr unserer Patientinnen und Patienten zu schützen Der Bezugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag (Seite 16). Dieser Forderung schließen wir uns an! enthalten. Abgerundet wird diese Ausgabe durch die regel- Die Wiedergabe oder der Nachdruck von Artikeln aus den MEZIS Nachrichten ist nur nach Rücksprache und mit mäßige Kolumne von Fabian Schubach, dieses Genehmigung der Redaktion möglich. Diese wird in der Mal zu „Marktversagen“ (Seite 18). Regel erteilt. Wir wünschen viel Vergnügen beim Lesen! Vorstand Prof. Dr. med. Dominikus Bönsch, Lohr am Main Herzliche Grüße Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe, boensch@mezis.de Christiane Fischer Manja Dannenberg, Wismar Allgemeinmedizinerin, dannenberg@mezis.de Dr. med. Helmut Jäger, Rotenburg/Wümme Gynäkologe, jaeger@mezis.de Hanna Neumann, Berlin, Orthopädin und Unfallchirurgin, neumann@mezis.de Dr. med. Jan Salzmann, Aachen, Internist, salzmann@mezis.de Dr. Niklas Schurig, Bietigheim, Allgemeinmediziner, schurig@mezis.de Interessenkonflikte Alle Autor*innen füllen den für die MN überarbeiteten Fragebogen der AG „Interessenkonflikte in der Medizin“ (Dtsch Arztebl 2011; 108(6)) aus. Dr. med. Christiane Fischer, MPH MEZIS Nachrichten 1/2020 3
USER-EDIT NIKLAS SCHURIG Die digital souveräne Praxis Datensparsamkeit und Datenschutz sind effektiver Patientenschutz Als Ärztinnen und Ärzte und Beschäftigte im oder Google mit seinem Projekt Nightingale. 3 Gesundheitswesen haben wir gelernt, die Geheim- Aber auch Allround-Datensammler wie das US- nisse unserer Patienten zu schützen. Nur deswe- Unternehmen Acxiom geben Jahr für Jahr Ver- gen können sich diese uns anvertrauen. Zurecht! haltensdaten zu rund 1,2 Milliarden E-Mail-Ad- Wenn wir unsere Schweigepflicht brechen würden, ressen weiter. Laut der „ZEIT“ ist bereits mehr als könnten wir dafür ins Gefängnis kommen. Denn die Hälfte der Deutschen unwissentlich in deren wer sich hilfesuchend an uns wendet, der braucht Datenbanken fein säuberlich identifiziert und den besonderen Schutz seiner Privatsphäre. 1 kategorisiert, mit bis zu 1.500 „Datenpunkten“ zu allen noch so intimen Lebensbereichen, der Leider stehen immer schon Patientendaten ganz Vergangenheit und der Zukunft.4 Und zuneh- oben auf der Wunschliste von Pharmafirmen oder mend missbrauchen auch Krankenkassen und Medizin-Datenkraken wie IMSHealth/Cegedim 2 1 Die Einleitungssätze sind übernommen aus Herrn Wodargs offenem Brief unter https://www.wodarg.com 2 https://www.abida.de/sites/default/files/ABIDA %20Gutachten-Gesundheitsbereich.pdf 3 https://www.heise.de/tp/features/Project-Nightingale-Google-geht-auf-Patientenjagd-4584792.html 4 https://www.zeit.de/2013/28/acxiom 4 MEZIS Nachrichten 1/2020
Versicherungsunternehmen diese Datenquellen Die folgenden (adaptierten) Empfehlungen von abseits berechtigter Interessen, um ihre wirt- Digitalcourage 4 sollen Kolleginnen und Kollegen schaftliche Position im Wettbewerb zu optimieren in Praxen dabei praktisch unterstützen: und mittels Scoring-Verfahren Krankheits- und 1) Hinterfragen Sie Ihre digitalen Handlungen damit Kosten-Risiken zu minimieren. Gleichzeitig (ICD-Kodierung, Internet in der Arztpraxis, geben Patientinnen und Patienten bewusst und Kommunikationskanäle für Patientinnen und unbewusst über „Bonus“-Programme wie Payback, Patienten, ...). heimlich datensammelnde Apps, Fitnesstracker und soziale Medien unter anderem medizinische Stellen Sie sich immer die Frage: Wenn ich das jetzt (Meta-)Daten an Unternehmen weiter, die durch mache, wer hat außer mir einen Nutzen davon? Weiterverkaufen, Aggregieren, personalisierte Könnte mein Team, können meine Patientinnen Werbung etc. riesige Gewinne machen. Es in- und Patienten Schaden nehmen? teressiert Payback sehr wohl, ob jemand lieber Beispiel Krankschreibung: Wenn eine kurzzeitige Zigaretten und Bier oder die Diabetikerprodukte, Krankschreibung wegen einer Überlastungssi- neuerdings Schwangerschaftstests oder Baby- tuation am Arbeitsplatz ausgestellt wird, wird windeln statt Kondome kauft. Die Algorithmen dies häufig über eine ICD-Diagnose aus dem erkennen die Risiken und die Krankheit hinter dem psychiatrischen Bereich erfolgen (z. B. „akute Konsumverhalten frühzeitig. Sie erkennen schon Überlastungsreaktion" = F.43.0). Der Arzt wird lange eine Schwangerschaft am Kaufverhalten für diese psychiatrische Diagnose sogar noch be- bevor die Frau selbst merkt, dass sie schwanger lohnt, darf er doch nun zusätzlich die Leistungen sein könnte.1 Wer an diesen aussagekräftigen aus der psychosomatischen Grundversorgung „Offline“-Daten zu Gesundheit und Krankheit im mit abrechnen. Alternativ und datensparsam Konsumverhalten von Millionen von Deutschen wäre aber auch eine unspezifische Diagnose interessiert ist, bekommt sie - solange er dafür „Unstimmigkeiten mit dem Arbeitgeber", = Z.63 bezahlen kann. Google und Facebook machen oder eine reine Symptombeschreibung „Müdigkeit“ mit dieser zielgerichtet-individuellen Werbung = R.53 (für maximal 7 Tage) möglich. Die Folgen schon heute Milliardenumsätze und können die dieser unterschiedlichen Kodierungen können nun real existierenden gläsernen Verbraucher weitreichend sein: Ergibt sich zum Beispiel zwei immer besser in ihrem Konsumverhalten steuern. 2 Jahre später eine manifeste Depression, könnte Kunden und Patienten bekommen von dem Handel die Versicherung den Krankengeldanspruch auf- mit ihren Daten meist nichts mit – oder wer weiß grund einer weiteren psychiatrischen Diagnose schon, dass alleine Acxiom still und heimlich 8,4 zeitlich begrenzen, da sie die erste psychiatrische Millionen Hintergrundprüfungen zu Kriminalität Verlegenheitsdiagnose „Überlastungsreaktion" und Kreditwürdigkeit pro Jahr durchführt.3 Erst nun mit der „echten" psychiatrischen Diagnose wenn zum Beispiel plötzlich die Berufsunfähigkeits- zeitlich zusammenrechnet. Auch führen psych- versicherung Preisaufschläge wegen gestiegener iatrische „Verlegenheitsdiagnosen" wie „akute Risiken verlangt oder der Einstieg in die private Überlastungsreaktion" oder "Anpassungsstörun- Krankenversicherung unbezahlbar wird, ist die gen" insbesondere bei privaten Versicherungen zu fehlende Privatsphäre evident. Doch dann ist Nachteilen oder sogar Ausschlüssen. Diese Liste es zu spät. lässt sich mit Suchtkrankheiten (beginnend bei der „Nikotinsucht"), chronischen Erkrankungen, Aktuell scheint Privatsphäre obsolet – das „Ich- chronischen Infektionen (Hepatitis, HIV) etc. habe-doch-nichts-zu-verbergen“-Mantra frisst fortführen. sich auch in den sensiblen Gesundheitsbereich. 2) Geben Sie Daten von sich, von Ihrem Team Wir von MEZIS setzen uns ein für eine digital oder von Ihren Patientinnen und Patienten nicht souveräne und datensparsame Arztpraxis. Denn ungefragt heraus. sie ist Voraussetzung für bestmöglichen Daten- schutz und Datensicherheit. Das mache ich nicht, sagen Sie jetzt vielleicht, 1 https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2014-04/big-data-schwangerschaft-verheimlichen 2 Amnesty international: Surveillance Giants: How the Business model of Google and Facebook threatens human rights. 11/2019, https:// www.amnesty.org/download/Documents/POL3014042019ENGLISH.PDF 3 https://www.zeit.de/2013/28/acxiom 4 https://digitalcourage.de/digitale-selbstverteidigung/digitale-muendigkeit MEZIS Nachrichten 1/2020 5
denn ich bin ja an die Schweigepflicht gebunden. Ausblick: Digitale Selbstverteidigung Überprüfen Sie, ob Sie dies nicht unbewusst durch ihr Arztinformationssystem, durch Googeln, und „werbefreie Praxis“ Adress-Suchen, Terminplanung mit externen An- Aktuell versuche ich im Selbstversuch, die Ver- bietern, Patientenkommunikation (z. B. per Mail) teilung meiner Datensätze bei Adresshändlern oder die Registrierungen von Medizinprodukten zu erfassen und gleichzeitig die Flut von perso- doch tun. nalisierter Werbung durch Zeitschriften, Medika- 3) Nutzen Sie möglichst wenige kostenlose mentenwerbung, Mailings und anderem Marketing Dienste. einzudämmen. Da das Zurückschicken per Post nicht funktioniert, habe ich mir eine Standardmail Machen Sie sich stets bewusst, dass Sie hier gebastelt mit dem sperrigen Titel „Auskunfts- meist in einer anderen Währung bezahlen: mit ersuchen/Widerspruch gegen Direktmarketing Ihren Daten und noch schlimmer, den Daten Ihrer und Einschränkung der Verarbeitung personen- Patientinnen und Patienten. bezogener Daten gemäß Art.21 Abs.2 und 3 4) Behalten Sie die Kontrolle über Ihre Daten. Datenschutz-Grundverordnung“ und Dutzende von Unternehmen angeschrieben. Das Interes- Speichern Sie (verschlüsselt außerhalb der Praxis) sante ist, dass man dadurch auch manchmal die auf eigenen Datenträgern oder Ihrem Praxisserver Herkunft der Daten zurückverfolgen kann, somit statt in der „Cloud“, externe Dienstleister müssen kommt man an die großen Datenkraken. Aktuell deutsche Datenschutzbestimmungen erfüllen korrespondiere ich, wie könnte es anders sein, mit (z. B. Serverstandort Deutschland). datenschutz@acxiom.com – ein Widerspruch in sich selbst. Aber dazu werde ich noch ausführ- Ein Wort zur Datensparsamkeit von lich berichten… Arztinformationssystemen Weitere Tipps, Tools und die digitale Selbstver- Nach der Installationsstatistik der KV 1 be- teidigungsmail zur Datensparsamkeit haben wir herrschen die Compugroup und Medatixx den auf unserer Webseite zusammengestellt: deutschen Markt der Arztinformationssysteme. https://mezis.de/digital-souveraene-praxis Beide Firmen missbrauchen ihre Schlüsselposi- tion zwischen Arzt und Patient mit Zugriff auf sensibelste Informationen aus Anamnese, Dia- gnostik und Medikamentenhistorie für subtile Gewinnmaximierung durch Vermarktung an die (Pharma-)Industrie. Die Compugroup formuliert AUTOR das selbst so: „Wir begleiten den Arzt den gan- zen Tag durch alle Arbeitsschritte – mit unserer Software. Im perfekten Augenblick zeigt sie dem Arzt Ihre Botschaft: Während der Patient vor ihm sitzt; genau dann, wenn er seine Entscheidung trifft. Sie sind den entscheidenden Schritt näher an Ihrem Kunden – mit CompuGroup Medical." 2 NIKLAS SCHURIG Dr. med. Niklas Schurig ist Facharzt für Bei Medatixx ist subtil lancierte Werbung immer Allgemeinmedizin. Er ist Mitglied im schon tief integrierter Standard, immerhin haben MEZIS-Vorstand. Ärztinnen und Ärzte eine interessante, kosten- Interessenskonflikte: Keine pflichtige Zusatzoption „Für monatlich 25,00 € zzgl. 19 % MwSt. wird Medatixx Praxissoftware werbefrei." 3 1 https://www.kbv.de/media/sp/Gesamt_Systeme_Installationen.pdf 2 https://www.cgm.com/corp/produkte___leistungen/industrie/wicom/Doctor.de.jsp 3 https://shop.medatixx.de/bestellung/medatixx-xl/config 6 MEZIS Nachrichten 1/2020
USER-EDIT HELMUT JÄGER Erobern die Digitalkonzerne den Gesundheitsmarkt? Amazon baut eine Gesundheitssparte auf (https://aws.amazon.com/de/health). Dazu kaufte der Konzern für 1 Mrd. US$ das Unter- nehmen PillPack, und schloss mit einer der weltweit größten Banken (JPMorgan) eine strategische Partnerschaft. Ziel sei es, das „Gesundheitswesen in jeder Haushaltssituation“ im Sinne der Konzerninteressen zu verankern. (Guardian 06.09.2019) Die Vision von Amazon könnte man „Home based Care“ nennen: die medikamentös-therapeutische Rundumversorgung durch den Paketboten am Krankenbett. Amazon selbst stellt es auf seiner Gesundheits-Website so dar: „Die digitale Transformation des Gesundheits- wesens und der Biowissenschaften zielt darauf ab, den gesundheitlichen Weg des Patienten zu personalisieren, die datengesteuerte Ent- scheidungsfindung zu verbessern und die Prä- zisionsmedizin zu beschleunigen. Amazon Web Services (AWS) macht dies mit der umfassendsten Cloud-Plattform möglich, auf der Unternehmen im Gesundheitswesen und in den Biowissenschaften innovativ agieren können.“ Google verfolgt eine andere Strategie. Der Digital- riese besorgte sich dazu die Software „DeepMind“ (https://deepmind.com). Dem innovativen Algo- rithmus „DeepMind“ war es zuvor gelungen, zwei der weltweit besten Go-Spieler zu besiegen. Ab jetzt aber soll das erfolgreiche Rechenprogramm für den Einsatz im Gesundheitswesen weiter- entwickelt werden. Um seine Kompetenzen auszutesten, schloss Google 2017 einen Vertrag mit drei Londoner Krankenhäusern. „DeepMind“ wurden die Daten von 1,6 Millionen Patienten und Patientinnen über- lassen, um sie auf Anzeichen von Nierenschäden zu durchforsten. Die englische Datenschutzbehörde wurde erst durch investigativen Journalismus auf diesen Test an Menschen aufmerksam und urteilte im Juli 2017, dass die Gesundheitsinstitutionen mit ihrer Datenweitergabe ohne Patienten-Einwilligungen MEZIS Nachrichten 1/2020 7
gegen geltendes Recht verstoßen hatten. Das Vorgehen von „DeepMind“ dagegen kritisierten sie nicht.1 Unbeeindruckt wurden die Ergebnisse in Ruhe wissenschaftlich ausgewertet, im August 2017 auch publiziert 2 und auch gleich in neuen Anwendungsbereichen ausprobiert.3,4,5 Google versucht für den Aufbau seines Krankheits- Algorithmus, möglichst viele Gesundheitsakten zu durchleuchten, ohne Wissen der Patientinnen und Patienten. So berichtete das Wall Street Journal am 11.11.2019, dass Google Zugriff zu Millionen von Patientenakten in einundzwanzig amerikanischen Bundesstaaten erhalten habe. Im Rahmen des Projekts "Nightingale" sammele Google detaillierte Gesundheitsinformationen des Unternehmens Ascension (größter Krankenhaus- betreiber in den USA mit 2.600 Krankenhäusern, Arztpraxen und anderen medizinischen Einrich- tungen). Weder Patienten und Patientinnen noch Ärzte und Ärztinnen sollen über die Verwertung der vertraulichen Daten durch Google informiert eigentlich tun sollte (aber nicht tut): Gesundheits- worden sein. ziele setzen und rationale Strategien verfolgen, um sie zu erreichen. Googles Vision könnte man beschreiben als Ver- such, Ärztinnen und Ärzte durch „intelligente“ Aufgrund der Analyse riesiger Datensammlungen Software (und deren menschlichen Anwender) im deutschen Gesundheitswesen (www.weisse-lis- zu ersetzen: te.de, https://faktencheck-gesundheit.de) kommt Bertelsmann zur Schlussfolgerung, dass jedes „We aimed to evaluate the diagnostic accuracy zweite Krankenhaus in Deutschland geschlossen of deep learning algorithms versus health-care werden könnte, dass die Digitalisierung ausgebaut professionals in classifying diseases using werden und dass Überversorgung und Verschwen- medical imaging. ... Our review found the dung drastisch reduziert werden müssten (www. diagnostic performance of deep learning mo- bertelsmann-stiftung./de/themen/gesundheit). dels to be equivalent to that of health-care professionals.“ 6 Während das Gesundheitsministerium den Markt nur noch zu regulieren oder besser zu deregulie- Der Medienkonzern Bertelsmann bietet sich für ein ren versucht, bietet Bertelsmann ein gesteuertes umfassendes Gesundheits-Management an (www. Gesundheitswesen an, das den Wildwuchs der bertelsmann.de/strategie, https://bertelsmann- Medikalisierung begrenzen und so Kosten ein- health.de/unsere-strategie/health-community). sparen könne. Die digitale Transformation als Gesundheitswe- sen soll verbunden werden mit einer klaren und Das „Digitale-Versorgung-Gesetz“ des Bundes- zentralen Steuerungskompetenz, die zu Effizienz, ministeriums für Gesundheit (https://www. Rationalisierung und Konzentrierung führt (https:// bundesgesundheitsministerium.de/digitale-ver- bertelsmannhealth.de). Bertelsmann würde gerne sorgung-gesetz.html) wird den Trend zur al- das übernehmen, was das Gesundheitsministerium gorithmengesteuerten Medikalisierung weiter 1 Shah, H. et al. (2017): The Deep Mind debacle demands dialogue on data. Nature, 547, p25 2 Connell, A. et al. (2017): Service evaluation of the implementation of a digitally-enabled care pathway for the recognition and management of acute kidney injury. F1000-Research, Study protikoll F1000Research, 6, p 1033 3 Lee, SI. et al. (2018): A machine learning approach to integrate big data for precision medicine in acute myeloid leukemia. Nat Commun. 9(1) p 42 4 Lee, Y. et al. (2018): Deep Learning in the Medical Domain: Predicting Cardiac Arrest Using Deep Learning. Acute Crit Care., 33(3) p 17-120 5 Williams, BM. et al. (2019): An artificial intelligence-based deep learning algorithm for the diagnosis of diabetic neuropathy using corneal confocal microscopy: a development and validation study. Diabetologia. 12.11.2019, Epub before print 6 Xiaoxuan, L. (2019): A comparison of deep learning performance against health-care professionals in detecting diseases from medical imaging: a systematic review and meta-analysis. The Lancet Digital Health, 1(6), Pe271-e297 8 MEZIS Nachrichten 1/2020
beschleunigen. Es werden riesige Datenmengen USER-EDIT HELMUT JÄGER generiert werden, die nur durch „intelligent- neuartige“ Rechenleistung im Wesentlichen zur Markt-Beobachtung in der Gesundheitswirtschaft Spezifisch wirkende genutzt werden. Dafür wird der Datenschutz weiter gelockert werden. Es wird eine Flut von Arzneimittel, die Apps in den Markt schwappen, deren Qualität in der überwiegenden Mehrzahl nicht belegt ist nicht-spezifische und die mit erheblichen Sicherheitslücken be- lastet sein können, wenn sie mit verschiedenen Effekte auslösen Tracking- und Analysedienstleistern und Social Media verbunden sind. Einführung Ärztinnen und Ärzte werden sich angesichts die- Die meisten modernen Arzneimittel wirken spezi- ser Markttrends darauf einstellen müssen, dass fisch und häufig, wie ß- oder H2-Blocker, rezeptor- Algorithmen vieles schneller und besser erledigen genau. Der Goldstandard der Untersuchung dieser werden, was früher zu den klassischen ärztlichen pharmakologischen Produkte sind prospektive, Tätigkeiten gehörte: randomisierte, kontrollierte Studien (RCT). Dabei ĉ komplexe Zusammenhänge auf das Ent- werden Gruppen von Personen beobachtet, die scheidende reduzieren (eine Diagnose sich nur hinsichtlich der Medikamenteneinnahme finden), unterscheiden sollen. Auswirkungen außerhalb des intendierten spezifischen Effektes sind un- ĉ Wissen aus Büchern, Studien, Leitlinien und erwünscht und sollten möglichst gering ausge- Datenbanken abrufen, prägt sein. ĉ ein Standard-Vorgehen finden, dass sich In der Medizin werden jedoch zunehmend auch bei vielen anderen Personen bereits be- biologisch aktive Substanzen eingesetzt, die sys- währt hat. temische Effekte auslösen sollen. Dabei handelt Es macht daher in der Medizinerausbildung wenig es sich um Substanzen, die manchmal nicht-spe- Sinn, wie bisher Fähigkeiten zu trainieren und zifisch oder auch hoch-spezifisch wirken können. durch Multiple Choice abzufragen, die Laptops Sie sollen wesentlich flotter erledigen können. Stattdes- ĉ generelle Immunaktivierungen auslösen, sen müssten typisch menschliche Kompetenzen trainiert werden, wo es an Algorithmen fehlt: ĉ eine angepasste Immunantwort auf ein Kommunizieren und Beziehungen eingehen, Zu- Impfstoffantigen oder Chemotherapeuti- sammenhänge verstehen und kreativ, innovativ kum verstärken, und empathisch handeln. ĉ Immunantworten modulieren. Die Durchführung eines RCT für diese Pharma- produkte ist aus methodischen und ethischen Gründen schwierig. Daher erfolgt ihre Zulassung in der Regel im Rahmen von Studien, bei denen AUTOR sie einer spezifisch wirkenden Substanz bereits zugefügt worden sind. Was sind Adjuvantien? HELMUT JÄGER Adjuvantien werden Impfstoffen beigegeben, aber Dr. Helmut Jäger, MEZIS-Mitglied seit etwa auch Medikamenten der Krebstherapie.1 Sie sollen 2014. Seit 2018 im erweiterten Vorstand von den Transport und die Präsentation des Antigens MEZIS. Facharzt für Frauenheilkunde und erleichtern, die Menge des verabreichten Anti- Geburtshilfe, seit 2018 in Rente. Weitere gens einsparen und die Immunantwort effektiver Tätigkeitsfelder: Coach und Bewegungslehrer. Web: www.medizinisches-coaching.net Interessenkonflikte: Keine 1 Mortezaee, K. et al. (2019): Boosting immune system against cancer by melatonin: A mechanistic viewpoint, Life Sciences, 238, p 116960, www.sciencedirect.com MEZIS Nachrichten 1/2020 9
gestalten. Adjuvantien können u. a. Aluminium- Salze sein oder eine Lipid-Aluminium-Kombination (AS04) oder ein Öl-Wasser-Gemisch (MF59) oder Liposomen (Fett-Protein-Nucleinsäure-Gemische) oder synthetische DNA (CpG 1018) oder andere Moleküle oder Nanopartikel, an deren Oberflä- chen Antigen-Partikel absorbiert werden.1,2,3,4,5 Neuere gentechnologisch hergestellte Adjuvantien passen punktgenau zu spezifischen Rezeptoren immunologischer Zielzellen, die eine immunolo- gische Kaskade auslösen können (u. a. Toll-like Receptor).6 Die durch Adjuvantien ausgelösten systemischen Alarmierungen des Immunsystems sollen die spezifische Reaktion auf das präsen- tierte Antigen verbessern.7,8,9,10,11 Funktionell wirken Adjuvantien direkt oder indi- rekt auf Zellen, die anderen Zellen des Immun- systems eingefangene Antigene präsentieren (Beispiel: dendritische Zellen). Dort werden Ad- juvantien als molekulare Muster wahrgenommen, die üblicherweise entweder mit einer Invasion von Krankheitserregern oder einer Schädigung körpereigener Zellen einhergehen (engl. PAMP (erreger-assoziierte molekulare Muster) und DAMP (schad-assoziierte molekulare Muster). PAMP-ar- tige Adjuvantien wirken auf Toll-like-Rezeptoren und beeinflussen damit die antigenpräsentieren- den Zellen direkt. Sie beeinflussen Stärke, Potenz, den Materialwissenschaften. Die Anforderungen Geschwindigkeit, Dauer, Verzerrung, Breite und an Qualität, Standardisierung und Sicherheit sind Umfang der adaptiven Immunität. bei den industriell betriebenen Adjuvantien-Ent- wicklungen nicht einfach. Denn die Unternehmen Adjuvantien vom Typ DAMP fördern eine lokale publizieren nur das, von dem sie glauben, dass Entzündung: Infiltration von Immunzellen, Präsen- es die Öffentlichkeit wissen dürfe, ohne dass tation von Antigenen und die Reifung von Effek- Konkurrenten daraus einen Vorteil ziehen könnten. torzellen. Diese Klasse von Hilfsstoffen umfasst Metallsalze, Ölemulsionen, Nanopartikel 5 oder Noch unübersichtlicher wird es, wenn sich die Kolloide mit komplexen, vielgestaltigen Strukturen. Wirkungen zweier Adjuvantien (bei zwei gleich- zeitig verabreichten Impfungen) aufschaukeln oder Die Innovation adjuvanter Technologien entwi- wenn zeitgleich andere, die Immunfunktion beein- ckelt sich rasant, durch das schnell wachsende trächtigende, Medikamente verabreicht wurden. Wissen in der Immunologie, Systembiologie und 1 Mortezaee, K. et al. (2019): Boosting immune system against cancer by melatonin: A mechanistic viewpoint, Life Sciences, 238, p 116960, www.sciencedirect.com 2 Wen, Y. et al.: Alum (2016): an old dog with new tricks. Emerging Microbes and Infections 5, p e25 3 Lee, M. (2016): Current status of synthetic hemozoin adjuvant: A preliminary safety evaluation. Vaccine 34, p 2055–2061 4 Schmidt S.T. et al. (2016): Liposome-Based Adjuvants for Subunit Vaccines (2016) Formulation Strategies for Subunit Antigens and Immunostimulators. Pharmaceutics, 8, p 7 5 Zheng, J. et al. (2019): Adjuvants and delivery systems based on polymeric nanoparticles for mucosal vaccines, International Journal of Pharmaceutics, 572, p 118731, www.sciencedirect.com 6 Rammensee, H. G. (2019): A new synthetic toll-like receptor 1/2 ligand is an efficient adjuvant for peptide vaccination in a human volunteer. Journal for Immuno-Therapy of Cancer, 7, p 307, https://jitc.biomedcentral.com/articles/10.1186/s40425-019-0796-5 7 Leroux-Roels, G. (2010): Unmet needs in modern vaccinology adjuvants to improve the immune response, Vaccine, 28, p C25-C36 8 Reed SG (2013): Key roles of adjuvants in modern vaccines, Nature Medicine, 19(2) p 1597-1608 9 Bradford et al. (2015): Polyionic vaccine adjuvants: another look at aluminum salts and polyelectrolytes Clin Exp Vaccine Res, 4, p 23-45 10 Lei, Y. et al. (2019): Application of built-in adjuvants for epitope-based vaccines. PeerJ., 6, p e6185 11 Hayat, G. et al. (2019): Nanovaccine: A novel approach in immunizationJournal of cellular physiology, doi 10.1102 / jcp.28120 10 MEZIS Nachrichten 1/2020
Etwa 5-10 % der Menschen in Europa leiden an Autoimmunkrankheiten. Die Gabe von Adjuvantien, die ein vielleicht ohnehin über-erregtes Immunsys- tem „wachrütteln“ sollen, erhöht zwangsläufig auch das Risiko für das Auftreten von Fehlreaktionen des Immunsystems.3,4,5 Treten solche Störungen auf, werden sie oft verkannt, weil sie nur selten massiv sind, sich meist zeitverzögert und zudem meist im Rahmen komplexer, eigendynamischer Wechselwirkungen mit unüberschaubar vielen anderen Faktoren ereignen.6 Sicherheitskontrollen bei Zusatzstoffen Adjuvantien, die einen Immunsystemalarm aus- lösen, werden meist nicht (für sich alleine) in RCT‘s getestet. Das wäre aus ethischen Gründen schwierig, denn sie würden für die Probanden nur Risiken mit sich bringen, aber gegenüber einem Placebo keine Vorteile bieten. Der Nutzen des Zusatzstoffes wird daher üb- licherweise in Studien, die zu einer Zulassung führen sollen, in Kombination mit dem spezifisch wirkenden Agens beurteilt. Adjuvantien sind daher die einzige Substanzklasse spezifisch-wirkender Medikamente, zu denen keine „placebo-kontrol- Risiko einer nicht-spezifischen lierten” Studien vorliegen. Der Einfachheit halber Immun-Stimulation werden sie manchmal auch in Zulassungsstudien den „Placebo“-Kontrollen beigemengt. Allerdings Prinzipiell ist jede nicht-spezifische Anregung enthält dieser „Placebo“, dann nicht „Nichts“, des Immunsystems (durch Infektionen, Arznei- sondern ein „Etwas“, das meist für die Neben- mittel, Stress, Schadstoffe u.v.a.) mit schwer wirkungen verantwortlich ist.7,8,9 Bei solchen nur kalkulierbaren Risiken verbunden. Häufig kehrt scheinbar placebo-kontrollierten Studien wundert das einmal angestoßene System anschließend in es nicht, dass die Impfstoffdosen nicht mehr seinen Normalzustand zurück. Selten aber können Nebenwirkungen verursachen als die Kontroll- sich auch schwere unerwünschte Zwischenfälle injektionen.10 ereignen. Wie u. a. ein chronisches Erschöpfungs- syndrom (CFS).1,2 1 Sharif, K. et al. (2018): On chronic fatigue syndrome and nosological categories Clinical Rheumatology, 37(5) p 1161-1170 2 Sharif, K. et al.(2018): The role of stress in the mosaic of autoimmunity: An overlooked association. Autoimmun Rev. 17(10) p 967-983 3 Tervaert, J. W.(2018): Autoimmunity Reviews 2018, 17(12) p 1259-1264, www.sciencedirect.com 4 Batista-Duharte , A. et al. (2014): Systemic immunotoxicity reactions induced by adjuvanted vaccines, Int Immunopharmacology 20, p 170-180 5 Watad, A. (2018): The autoimmune/inflammatory syndrome induced by adjuvants (ASIA)/Shoenfeld’s syndrome: descriptive analysis of 300 patients from the international ASIA syndrome registry. Clinical rheumatology, 37(2), p 483-493 6 Frattarelli, D. (2005): Adverse drug reactions and avalanches: Life at the edge of chaos. J Clin Pharmacol 45, p 866-871 7 Villa, L. L. et al. (2005): Prophylactic quadrivalent human papillomavirus (types 6, 11, 16, and 18) L1 virus-like particle vaccine in young women: a randomised double-blind placebo-controlled multicentre phase II efficacy trial, Lancet Oncol, 6(5), p 271-278 8 Villa, L. L. et al. (2006): High sustained efficacy of a prophylactic quadrivalent human papillomavirus types 6/11/16/18 L1 virus-like particle vaccine through 5 years of follow-up, Br J Cancer, 95(11), p 1459–1466 9 FUTURE II Study Group (2007): Quadrivalent Vaccine against Human Papillomavirus to Prevent High-Grade Cervical Lesions, NEJM, 356, p 1915-1927 10 Jørgensen. L. et al. (Cochrane Nordic) (2018): The Cochrane HPV vaccine review was incomplete and ignored important evidence of bias. BMJ Evidence based medicine, 10.1136/bmjebm-2018-111012 MEZIS Nachrichten 1/2020 11
Fazit USER-EDIT PETER GRABITZ, ZOE FRIEDMANN, SOPHIE GEPP, LEONARD U. HESS, Nicht-spezifische Wirkungen, wie sie von Adjuvan- LISA SPECHT, MAJA STRUCK, tien ausgelöst werden, können nur systematisch in SOPHIE TRAGERT Langzeit-Studien (Phase-IV-Studien) beobachtet werden.1 Auf die wird aber im Rahmen der Pro- duktvermarktung meist verzichtet. Wir studieren Die nicht spezifischen Folgen des Impfens müssen aber systematisch erforscht werden. Dazu wäre Medizin – und es erforderlich, dass Pharmaunternehmen ihre internen Studien offenlegen.2 Nach Markteinfüh- Pharma studiert mit? rung neuer Impfungen wären dann systematische Langzeitbeobachtungen nötig (Phase-IV-Studien), Medizinstudierende haben regelmäßig Kontakt die allgemeine Morbiditäts-Indikatoren erfassen zur pharmazeutischen Industrie, wobei die Inter- würden. Diese sollten mindestens zwölf Monate aktionen im Laufe des Studiums tendenziell sogar andauern.3 Die üblichen Studien-Verfahren (RCT) zunehmen. Eine Umfrage von Lieb et al. an acht sind dazu kaum geeignet, da sie spezifische Effekte deutschen Medizinischen Fakultäten ergab bereits beobachten wollen und daher nicht-spezifische 2014, dass nur 12 % der Studierenden noch nie Effekte als Störfaktoren aussondern. Studiende- ein Geschenk der Industrie erhalten oder eine signs müssten also so angepasst werden, dass gesponserte Veranstaltung besucht hatten. Ge- alle gesundheitlichen Einflüsse auf eine zu unter- schenke sind beispielsweise Kugelschreiber oder suchende Zielgruppe erfasst werden.4 Kongressstipendien.1 Wenn der Kontakt mit der Pharmaindustrie für die Studierenden unumgänglich ist: Welche Maß- nahmen werden derzeit von den Medizinischen Fakultäten ergriffen, um die Studierenden vor unzulässiger Einflussnahme zu schützen und eine unvoreingenommene Lehrqualität zu ge- AUTOR währleisten? Im Lernprozess, wie mit solchen Interaktionen umgegangen wird, haben Dozierende an medi- zinischen Einrichtungen eine entscheidende Vor- bildfunktion. Wie viele Dozierende Beziehungen HELMUT JÄGER zur Industrie unterhalten, ist für die Öffentlich- Dr. Helmut Jäger, MEZIS-Mitglied seit etwa keit nicht bekannt. Jedoch legen die zahlreichen 2014. Seit 2018 im erweiterten Vorstand von Kooperationen zwischen Universitäten und der MEZIS. Facharzt für Frauenheilkunde und Industrie sowie eine ausführliche Recherche von Geburtshilfe, seit 2018 in Rente. Weitere CORRECTIV 2 nahe, dass Dozierende oft eng mit Tätigkeitsfelder: Coach und Bewegungslehrer. pharmazeutischen Firmen in Kontakt stehen. Die Web: www.medizinisches-coaching.net Kontakte von Fakultätsmitgliedern zur Industrie Interessenkonflikte: Keine sind vielseitig und beinhalten beispielsweise Be- ratungsbeziehungen oder auch Stiftungsprofessu- ren. Verschiedene internationale Studien zeigten bereits, dass diese Beziehungen die akademischen 1 Aaby, P. et al. (2018): Evidence of Increase in Mortality After the und publizistischen Interessen sowie die Inhal- Introduction of Diphtheria-Tetanus-Pertussis Vaccine to Children Aged 6-35 Months in Guinea-Bissau: A Time for Reflection? Frontiers in public health 6, p 79 2 Doshi, P. et al. (2012): Clinical study reports of randomised controlled trials: an exploratory review of previously confidential 1 Lieb K, Koch C. (2013) Medical students’ attitudes to and industry reports. BMJ Open 2, 3(2) p e002496 https://bmjopen. contact with the pharmaceutical industry: a survey at eight bmj.com/content/3/2/e002496 German university hospitals. Dtsch Arzteblatt Int.;110(35– 3 Nolte, S. H.(2018): Impfen im Spannungsfeld zwischen 36):584–90 Zielerkrankungen und den spezifischen Auswirkungen auf die 2 correctiv.org. (2017) Nur jeder vierte Arzt legt Zahlungen offen, allgemeine Gesundheit., Päd Praxis, 90, p1-7 die er von Pharmafirmen erhält. correctiv.org/aktuelles/euros- 4 Relton, C. (2010): Rethinking pragmatic randomised controlled fuer-aerzte/2017/07/14/nur-jeder-vierte-arzt-legt-zahlungen- trials: introducing the “cohort multiple randomised controlled offen-die-er-von-pharmafirmen-erhaelt/ trial” design BMJ, 340, p 963-967 [cited 2019 Sep 21] 12 MEZIS Nachrichten 1/2020
te, die ProfessorInnen an Medizinstudierende weitergeben, beeinflussen können.1,2 Während die Offenlegung von Interessenkonflikten heute auf Fachkonferenzen und bei der Publikation wissenschaftlicher Forschungsergebnisse üblich INFOBOX info-circle oder sogar verpflichtend ist, wurde bisher ver- säumt, dies auch auf die Lehre zu übertragen. USA: Ein geregelter und transparenter Umgang mit Bereits seit 2007 setzen sich Studierende in den Interessenkonflikten gegenüber Studierenden USA für klare Richtlinien zu Interessenkonflikten existiert in Deutschland nicht. an ihren Fakultäten ein. Die American Medical Students Association (AMSA) befragt in regel- Studierende werden durch ihre Universitäten mäßigen Abständen Universitäten, ob und welche zudem unzureichend oder gar nicht auf den Richtlinien zu Interessenkonflikten an ihren Me- Kontakt mit der Industrie vorbereitet. In einer dizinischen Fakultäten bestehen. Alle vorhande- Studie gaben 90 % der befragten Studierenden in nen Regelungen werden schließlich transparent Deutschland an, dass der angemessene Umgang bezüglich ihres Geltungsbereiches bewertet und mit und ein angemessenes Verhalten gegenüber in ein Ranking überführt (www.amsascorecard. Arzneimittelwerbung in ihren Vorlesungen nie an- com). Seit der ersten Veröffentlichung wurde gesprochen wurde.3 Dabei zeigen Studien, dass das Ranking bereits zehnmal überarbeitet und Lehre über pharmazeutische Werbung sowie aktualisiert. Es hatte eine große Resonanz in restriktive Regelungen von Interessenkonflikten den amerikanischen Medien und hat einen gro- auf der Ebene der Medizinischen Fakultät wirken. ßen Einfluss darauf, wie Interessenkonflikte an Medizinischen Fakultäten in den USA sowohl in Sie erhöhen nachweislich die kritische Reflexion der Öffentlichkeit als auch an den Fakultäten der Studierenden gegenüber der Angemessenheit wahrgenommen und behandelt werden. Seitdem von Marketingpraktiken in der Lernumgebung haben die Universitäten begonnen, zahlreiche und haben Einfluss auf die spätere ärztliche Ver- Richtlinien zu verabschieden und durchzuset- schreibungspraktik der Studierenden.4,5,6,7 zen. Das Ranking ist öffentlich zugänglich und Was kann man also tun, um diese unterstützt Medizinische Fakultäten darin, klare Situation zu ändern? Richtlinien in Kraft zu setzen. Frankreich: Zunächst einmal muss das Thema auf die Tages- ordnung der Fakultäten gesetzt werden. Wie das In Frankreich veröffentlichte eine Gruppe Stu- funktionieren kann, haben bereits Initiativen aus dierender im Januar 2017 eine Studie, die die den USA und Frankreich gezeigt (siehe INFOBOX). Interessenkonflikt-Regelungen und Lehrpläne medizinischer Fakultäten analysierte und be- Diese Beispiele haben uns inspiriert, ein ähnliches wertete. (Scheffer et al, 2017). Auch in Frank- Projekt in Deutschland durchzuführen: Angelehnt reich regelte nahezu keine Medizinische Fakultät an die Bewertungskriterien der französischen Interessenkonflikte. Dieses Ergebnis sowie eine und amerikanischen Studierenden haben wir ein hohe mediale Aufmerksamkeit führten dazu, dass eigenes Punktesystem zur Bewertung der Medizi- die französischen Medizinischen und Odontologi- nischen Fakultäten erstellt. Anschließend haben schen Fakultäten im November desselben Jahres wir die Dekanate aller Medizinischen Fakultäten eine landesweit geltende Charter einführten, die kontaktiert und bezüglich ihrer Regelungen und viele Forderungen der Studierenden aufgreift. Lehrinhalte zu Interessenkonflikten befragt. Außer- dem haben wir die Websites aller 38 deutschen 1 Ehringhaus, S. H. et al. (2008): Responses of Medical Schools to Institutional Conflicts of Interest. JAMA, 299(6), p 665–71 2 Cho, M. K. et al. (2000): Policies on Faculty Conflicts of Interest at US Universities. JAMA, 284(17) p 2203–8 3 Jahnke, K. et al. (2008): German medical students’ exposure and attitudes toward pharmaceutical promotion: a cross-sectional survey. GMS Z Med Ausbild, 31(3), Doc32 4 Kao, A. C. et al. (2011): Effect of educational interventions and medical school policies on medical students’ attitudes toward pharmaceutical marketing practices: a multi-institutional study. Acad Med J Assoc Am Med Coll, 86(11), p 1454–62 5 Larkin, I. et al. (2014): Restrictions On Pharmaceutical Detailing Reduced Off-Label Prescribing Of Antidepressants And Antipsychotics In Children. Health Aff (Millwood), 33(6), p 1014–23 6 King, M. et al. (2013): Medical school gift restriction policies and physician prescribing of newly marketed psychotropic medications: difference-in-differences analysis. BMJ. 31;346:f264 7Epstein, A. J. et al. (2013): Does exposure to conflict of interest policies in psychiatry residency affect antidepressant prescribing? Med Care, 51(2), p 199–203 MEZIS Nachrichten 1/2020 13
Medizinischen Fakultäten nach standardisierten sich sowohl national als auch lokal an ihren Uni- Stichworten für ihre Regelungen und Lehrinhal- versitäten für den professionellen Umgang mit te untersucht. Nachfolgend haben wir auf der Interessenkonflikten einsetzen. Grundlage unserer Ergebnisse und des von uns Dafür haben wir drei zentrale Forderungen for- angepassten Punktesystems ein Ranking der muliert: Medizinischen Fakultäten erstellt. 1. ein erweitertes fächerübergreifendes Lehran- Durch unsere Studie konnten wir zeigen, dass an gebot zu Interessenkonflikten in der Medizin. den deutschen Medizinischen Fakultäten nur sehr wenige Maßnahmen zur Regelung von Interessen- 2. eine konsequente Offenlegung von Interes- konflikten ergriffen werden und das Thema auch in senkonflikten von Dozierenden gegenüber den Lehrplänen weitgehend vernachlässigt wird: Studierenden. Nur 2 der 38 deutschen Medizinischen Fakultäten 3. einen regulierten Rahmen für den Kontakt mit konnten relevante Regelungen vorweisen. Keine der Industrie auch für Studierende. der beiden adressierte alle Kategorien, die nach unserem standardisierten Bewertungssystem für Viele Lösungsansätze aus Deutschland und Europa eine ausreichende Maßnahme erfüllt sein mussten. geben uns hier Hoffnung für die Zukunft: In Frank- Zudem wurden von keiner Fakultät auf unsere reich wurde mit einer nationalen Aufforderung Nachfrage Lehrangebote zum Thema Interessen- an alle Fakultäten auf die Studie reagiert. In den konflikte zurückgemeldet. USA konnten bei jeder Wiederholung des AMSA- Rankings Verbesserungen an den Universitäten Aber den Status quo aufzuzeigen und einen Hand- nachgewiesen werden. lungsbedarf durch unsere Studie zu belegen, ist nicht das einzige Ziel unserer Arbeit: Und auch in Deutschland gibt es einige Uni- versitäten, die mit gutem Beispiel voran gehen: Im Oktober 2019 haben wir eine Konferenz für So hat zum Beispiel die Fakultät in Mainz einen und mit Studierenden aus ganz Deutschland speziellen Lehrplan zum Umgang mit der Industrie veranstaltet. Neben der intensiven Auseinan- erarbeitet. Hier durchlaufen alle Studierenden ein dersetzung mit Interessenkonflikten haben wir Curriculum, dass für Interessenkonflikte sensibi- ein Netzwerk aus Studierenden gegründet, die lisiert und auf den professionellen Umgang mit 14 MEZIS Nachrichten 1/2020
der Industrie vorbereitet. Die wissenschaftliche Auch in Deutschland gibt es also zahlreiche Evaluierung der Lehre zeigt, dass Studierende motivierte Akteure und Lösungsansätze. Jetzt danach mehr Wissen, eine kritischere Einstellung müssen wir dafür sorgen, dass diese auch an und in simulierten Situationen mehr Professiona- den Medizinischen Fakultäten umgesetzt werden. lität im Umgang mit Industrieinteraktion haben. Seit Beginn unseres Projekts im Jahr 2017 arbeiten wir daran, enge Kontakte zu anderen Gruppen auf- zubauen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. So arbeiten wir zum Beispiel mit verschiedenen Organisationen wie Transparency International und auch eng mit MEZIS zusammen. Von Anfang an war es uns wichtig, auch andere Studierende in unsere Arbeit mit einzubeziehen. So haben wir zum Beispiel einen Workshop entwickelt, den wir sehr erfolgreich mit Studierenden nicht nur aus Deutschland, sondern aus ganz Europa durchge- führt haben. Außerdem haben wir mit der Euro- pean Medical Students Association (EMSA) und der International Federation of Medical Students' Associations (IFMSA) zusammengearbeitet. Die EMSA hat im Mai 2019 ein Positionspapier zum Umgang mit Interessenkonflikten veröffentlicht, die IFMSA folgte mit einem Positionspapier im August 2019. AUTOR*INNEN PETER GRABITZ, ZOE FRIEDMANN, SOPHIE GEPP, LEONARD U. HESS,LISA SPECHT, MAJA STRUCK, SOPHIE TRAGERT Sie sind ein Teil der AG Interessenkonflikte der Universities Allied for Essential Medicines (UAEM) Interessenskonflikte: Keine MEZIS Nachrichten 1/2020 15
USER-EDIT WOLFGANG WODARG Patientendaten schützen Offener Brief an den Bundespräsidenten zum Gesundheitsdatenschutz Wir danken für die Nachdruckgenehmigung: https://www.wodarg.com Sehr geehrter Herr Bundespräsident, als Ärzte und als in Praxen und Kliniken Beschäftigte im Gesundheitswesen haben wir gelernt, die Geheimnisse unserer Patienten zu schützen. Nur deswegen können sich diese uns zu Recht anvertrauen. Wenn wir unsere Schweigepflicht brechen, können wir dafür ins Gefängnis kommen, denn wer sich hilfesuchend an uns wendet, der braucht den besonderen Schutz seiner Privatsphäre. Selten waren Sorgen um unser gemeinsames höchstes Gut - die Würde des Menschen und die grund- gesetzlich garantierten Persönlichkeitsrechte – so berechtigt wie in den letzten Monaten. Seit Amtsantritt des derzeitigen Gesundheitsministers kommen aus seinem Hause in rascher Folge Gesetze zur Abstimmung durch die Legislative, in denen die Persönlichkeitsrechte von Patienten und Versicherten im wahrsten Sinne des Wortes zu Markte getragen werden. Es fällt auf, das unter dem Begriff „Digitalisierung“ in mehreren Gesetzen der Zugriff auf Patienten- daten und Gesundheitsdaten für eine zentralisierte Datenspeicherung und -verarbeitung legitimiert werden soll. Dieses geschieht, obwohl uns international vielfach die starke Lückenhaftigkeit des Datenschutzes einerseits und der erklärte Datenhunger großer Konzerne mit ihren vielfältigen und gigantischen Tech- nologien zur Datenanalyse andererseits immer wieder vor Augen geführt wurden. Die hierdurch bestehenden Risiken für den Schutz der Persönlichkeit (Art. 2 GG), und damit auch für neue Angriffe auf die Menschenwürde, sind unschwer erkennbar. 16 MEZIS Nachrichten 1/2020
Beispielhaft für legitimiertes Datensammeln einen ehemaligen Top-Manager der Pharma- seien genannt: industrie dort zum Chef berufen. Dieser hat als eine der ersten Amtshandlungen der skeptischen ĉ Apps zum Sammeln von Gesundheitsdaten Ärzteschaft per offiziellem Schreiben mitgeteilt, auf Kassenkosten (DVG) dass diese weder zivilrechtliche noch strafrecht- ĉ elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheini- liche Konsequenzen zu befürchten hätten, wenn gung (TSVG) sie sich an die besagten neuen Gesetze halten ĉ Elektronisches Rezept (GSAV) würden. ĉ elektronische Heil- und Hilfsmittelverord- Zur Erinnerung: Auch die Ärzte, die ihre psychisch nung (DVG) kranken Patienten der NS-Vernichtungsmaschine preisgaben, handelten gesetzeskonform! ĉ Vollständige individuelle Krankheitsdaten für den Morbi-RSA (GKV-FKG) Dieser massive gesetzgeberische Angriff auf die Prinzipien des Persönlichkeitsrechts über- ĉ Elektronische Patientenakte (DVG + rumpelt die Öffentlichkeit, die Ärzteschaft und “eigenes Datenschutzgesetz“) die Opposition nahezu vollständig. Die Fristen ĉ Zugriff auf Krankenakten möglicher für Stellungnahmen sind zu kurz. Selbst eine Organspender (GZSO) Normenkontrollklage ist bisher nicht in Aussicht. ĉ Patientendaten bei Implantat- Es geht offenbar im Gesundheitsmarkt schon Anwendungen (EIRD) lange nicht mehr darum, was kranke Menschen wirklich benötigen, sondern um das, was man ĉ Beginn einer zentralisierten Impfdaten- ihnen verkaufen kann. sammlung (Masernschutzgesetz) Spahn versucht durch partikuläre Vorteilsofferten Der Zweck dieser Zugriffe auf persönliche Daten die Ärzteschaft und die gesetzlichen Krankenkas- und der mögliche Nutzen für die Betroffenen sen auf seine Seite zu ziehen. Die Lobby-Gesetze werden durchgehend nicht konkret, sondern nur werden auch deshalb nicht zu mehr Gesundheit, sehr allgemein dargestellt. sondern zu höheren Beiträgen für alle Versicher- Als potenzielle Datennutzer werden im DVG-Ge- ten führen. setzentwurf zum Beispiel Behörden, Einrichtungen In der wachsamen Ärzteschaft wächst der Wi- der Selbstverwaltung, Forschungseinrichtungen derstand gegen diesen Angriff auf Persönlich- oder Universitätskliniken genannt. keitsrechte. Wir hoffen, Sie als Hüter der Ver- Dass die Industrie keinen Zugriff habe, ist eine fassungsmäßigkeit unserer Gesetzgebung für plumpe Schutzbehauptung, sind doch die meis- die anstehenden Konflikte weiter sensibilisiert ten Forschungsvorhaben im Gesundheitsbereich zu haben und werden diesen Prozess weiter industriefinanziert und werden dort ausgewertet. kritisch begleiten. Auch die Krankenkassen verwerten ihre vielfältigen Daten bereits jetzt vor allem, um ihre wirtschaft- liche Position im Kassenwettbewerb zu optimie- ren. Durch direkte Verträge einzelner Kassen mit Pharmaunternehmen und Leistungserbringern ergeben sich weitere für eine bedarfsgerechte Versorgung nachteilige Absprachemöglichkeiten AUTOR zulasten von bestimmten Patientenpopulationen und zulasten des Gemeinwohls. WOLFGANG WODARG Angesichts der bisherigen, streng an der Verfas- Dr. Wolfgang Wodarg ist Internist und setzt sich sung ausgerichteten Praxis im Datenschutzrecht unter anderem bei Transparency Deutschland gleicht diese Gesetzgebung einem Staatsstreich. für Transparenz und gegen den Missbrauch an- Schwerwiegende Interessenkonflikte sind offen- vertrauter Macht zu privaten (wirtschaftlichen, sichtlich: Der amtierende Gesundheitsminister hat politischen oder anderen) Vorteilen ein. Er ist sich im TSVG bereits die Macht über die technische seit sieben Jahren MEZIS-Mitglied. Ausgestaltung der digitalen „Datenautobahn“ Interessenskonflikte: Keine durch seine Stimmenmehrheit in der Gematik gesichert. Er hat sodann mit Herrn Leyck-Dieken MEZIS Nachrichten 1/2020 17
USER-EDIT FABIAN SCHUBACH Wall Street Pharma Newsletter – Krankes von den Finanzmärkten Ausgabe 3: Marktversagen Die Pharmaindustrie konzentriert sich immer einseitiger auf den Bio- tech-Sektor, also auf biotechnologisch hergestellte Arzneimittel gegen onkologische, immunologische und genetische Erkrankungen. Dagegen ziehen sich die Unternehmen aus Bereichen zurück, die zwar hochgradig versorgungsrelevant, aber nicht mehr lukrativ sind. Gleichzeitig nehmen Lieferengpässe zu und die Versorgung mit essenziellen Arzneimitteln wird immer anfälliger. In der Branche mit biotechnologischen Arzneimitteln haben sich einige Phar- KOLUMNE makonzerne bereits seit den 1990er Jahren etabliert, darunter Roche (u. a. Rituximab, Trastuzumab), Novartis (Imatinib) und Pfizer (Etanercept). Novartis profiliert sich neuerdings mit Gentherapien, Roche versucht nachzuziehen.1 Weitere Konzerne, darunter Bristol Myers-Squibb, Johnson & Johnson sowie Takeda, versuchen seit einigen Jahren, sich aggressiv im Biotechnologie-Sektor zu positionieren – mit Mega-Übernahmen im zweistelligen Milliardenbereich. In keiner Weise soll hier die Wichtigkeit einer guten Arzneimittelversorgung etwa von Krebskranken, oder die Relevanz innovativer Forschung in diesem Bereich, in Frage gestellt werden – im Gegenteil. Auch ist anzuerkennen, dass unter den ersten Biologika Substanzen waren, die einen erheblichen medizinischen Fortschritt mit sich gebracht haben. Die neueren sind jedoch 1 Schubach, F. (2019): Wall Street Pharma Newsletter – Krankes von den Finanzmärkten. Ausgabe 1: Biotech und die nächste Stufe des Arzneimittelpreis-Wahnsinns. MEZIS-Nachrichten; 02/2019: 24–6 18 MEZIS Nachrichten 1/2020
mehrheitlich ungenügend geprüft und allenfalls Diabetes-Forschung. Auch die Entwicklung und von geringem Zusatznutzen, bei einigen Arzneien Vermarktung von Mitteln gegen kardiovaskuläre überwiegt sogar der Schaden.1 Zum Nutzen-Ri- Erkrankungen ist offenbar nicht mehr rentabel siko-Profil der Gentherapien können angesichts und soll zukünftig reduziert oder ganz eingestellt des geringen Erprobungsgrades bisher kaum ver- werden. Aktionäre und Aktionärinnen und Börsen- lässliche Aussagen getroffen werden. Dennoch analysten und -analystinnen zeigten sich ange- drängt die Industrie mit Macht in diesen Markt, sichts dieser Verlautbarungen überaus zufrieden, hauptsächlich wegen der exorbitanten Preise, die der Kurs der Sanofi-Aktie zog deutlich an.3 für diese Mittel verlangt werden können. Nun könnte man mit Blick auf Diabetes und Einen weiteren Beweggrund hat 2018 die Invest- kardiovaskuläre Erkrankungen vielleicht noch mentbank Goldman Sachs in ungewöhnlicher argumentieren, dass ein gewisser Rückgang von Offenheit deutlich gemacht. In einem Bericht an Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten verkraf- Anleger und Anlegerinnen empfahl man der Indus- tet werden kann, weil ein etabliertes Therapie- trie, sich auf Märkte zu fokussieren, die gleich- repertoire zur Verfügung steht und neuere Mittel bleibende Nutzerzahlen und somit einen stabilen häufig nur noch von begrenztem Zusatznutzen „Cash Flow“ garantieren, also insbesondere bei sind. Dies gilt jedoch nicht für die Entwicklung Krebs und chronischen Erkrankungen. Heilung neuer Antibiotika, für die angesichts zunehmen- hingegen sei „kein nachhaltiges Geschäftsmodell“ der Resistenzentwicklungen der Bedarf immer und daher gerade nicht anzustreben. Als „Nega- dringlicher wird. Doch auch aus diesem Bereich tivbeispiel“ wird Sofosbuvir angeführt, das bei ziehen sich die Unternehmen reihenweise zu- Hepatitis-C-Kranken mit Heilungsraten von rund rück, nachdem noch 2016 der Industrieverband 90 % dafür sorge, dass der Pool der Behandlungs- IFPMA medienwirksam eine „Allianz“ für Antibio- bedürftigen sukzessiv kleiner werde und in der tikaforschung ausgerufen hatte. Grund auch für Folge auch der „Nachschub an Patientinnen und diese Kehrtwende: Das Fehlen eines lukrativen Patienten“ durch ausbleibende Neuinfektionen Marktes.4,5 wegbreche.2 Das sei gut für Patientinnen und Patienten, aber nicht gut für Goldman. Unterdessen verschärft sich das Problem der Lie- ferengpässe.6 Noch vor einem bis zwei Jahrzehnten Im Netz erhoben sich angesichts dieser zynischen waren sie ein weitgehend unbekanntes Phänomen. Argumentation Stürme der Entrüstung. Aber Ein Grund ist globalisierte Produktion: Pharma- marktwirtschaftlich ist es eben „rational“, insofern unternehmen produzieren zahlreiche Arzneimittel dürfte diese Sichtweise durchaus repräsentativ nicht mehr selbst, sondern beziehen Ausgangs- dafür sein, wie sich die Pharmaindustrie inzwi- und Wirkstoffe von Lohnherstellern oder lagern schen strategisch positionieren muss. sogar die komplette Produktion aus, oft in Länder In jüngster Zeit reiht sich mit Sanofi nun ein mit geringeren Lohnkosten und Umweltauflagen. weiterer großer Player in die Reihe der Pharma- In vielen Fällen kaufen mehrere Unternehmen unternehmen ein, die verstärkt oder ausschließlich ihren Wirkstoff von demselben Lohnhersteller ein. auf Biologika und die „Wachstumsstory“ Krebs Nicht selten existieren für einen Wirkstoff dann setzen. Sanofi kündigte einen entsprechenden nur noch wenige Produktionsanlagen weltweit, Konzernumbau und den Aufkauf geeigneter Unter- im Extremfall sogar nur noch eine einzige. nehmen an.3 Die Folgen werden zunehmend sichtbar: Bei- Zeitgleich mit seiner Ausrichtung auf diesen spielsweise war es 2016/17 zu Lieferengpässen Sektor verabschiedet sich Sanofi offiziell aus der bei Piperacillin/Tazobactam gekommen, einer 1 Prescrire International (2019): Drugs in 2018: a brief review. Prescrire Int; 28: 105–7 2 Jung, B. (2018): Goldman Sachs: Heilung ist schlecht fürs Geschäft. DAZ.online; https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/ artikel/2018/04/16/goldman-sachs-heilung-ist-schlecht-fuers-geschaeft [Zugriff 15.12.2019] 3 finanzen.net (2019): Sanofi-Aktie schießt hoch: Sanofi gibt Diabetes-Forschung auf - Deutschlandgeschäft von Umbau betroffen. finanzen.net; https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/neue-strategie-sanofi-aktie-schiesst-hoch-sanofi-gibt-diabetes-forschung-auf- deutschlandgeschaeft-von-umbau-betroffen-8307218 [Zugriff 15.12.2019] 4 Handelsblatt (2019): Pharmakonzerne steigen aus Antibiotika-Entwicklung aus. https://amp.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ medikamentenforschung-pharmakonzerne-steigen-aus-antibiotika-entwicklung-aus/25009744.html [Zugriff 15.12.2019] 5 faz.net (2019): Medikamente: Pharmakonzerne stoppen Entwicklung von Antibiotika. faz.net; https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ mehr-wirtschaft/medikamente-pharmakonzerne-stoppen-entwicklung-von-antibiotika-16380424.html [Zugriff 18.1.2020] 6 Korzilius, H. (2019): Lieferengpässe bei Arzneimitteln: Ein Missstand, der nicht mehr hinnehmbar ist. Dtsch Arztebl; 116(45): A-2060 / B-1690 / C-1654 MEZIS Nachrichten 1/2020 19
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