Primary and Hospital Care

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Primary and Hospital Care
Primary and
                 Hospital Care
                  Die Zeitschrift für Allgemeine Innere Medizin in Hausarztpraxis und Spital

                  183 Mariesol Abbühl,                                              188 Heidi Kaspar,                                               194 Joanna Sonderegger,
                  Martin Risch,                                                     Katharina Pelzelmayer,                                          Urs Karrer, Benedikt Huber,
6 2. 6. 2021

                  Andreas Kronenberg                                                Anita Schürch, et al.                                           et al.
                  COVID-19-Seroprävalenz-                                           Können sorgende Gemein-                                         Infektiöse Mononukleose
                  Studie bei Mitarbeitenden                                         schaften die häusliche Lang-
                  einer ­s tädtischen Hausarzt-                                     zeitversorgung verbessern?
                  praxis

                                                                                                     191 Katharina E. Hofer, Stefan Weiler
                                                                                                     Benzodiazepin-Intoxikation:
                                                                                                     Ein Hypnotikum-Toxidrom

                                                                                    Offizielles Organ
                                                                                    Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin
                                                                                    Haus- und Kinderärzte Schweiz
                                                                                    www.primary-hospital-care.ch
               Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.       See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
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INHALTSVERZEICHNIS                                                                                                                                                                        177

Verlag: Jasmin Borer (Verantwortliche Redaktorin); Eveline Maegli (Redaktionsassistentin)
Redaktion: Prof. Dr. Stefan Neuner-Jehle, Zürich (Chefredaktor); Prof. Dr. Thomas Dieterle, Arlesheim; Prof. Dr. Jacques Donzé, Neuchâtel;
Dr. Roman Hari, Bern; Dr. Alexandra Röllin Odermatt, Bern; Dr. Manuel Schaub, Bern; Dr. Daniel Widmer, Lausanne
Redaktionelle Zuständigkeit für das standespolitische Ressort «Aktuelles»: Sandra Hügli-Jost (mfe), Claudia Schade (SGAIM),
Claudia Baeriswyl (SGP), François Héritier (KHM), Alexander Minzer (SAPPM), Manuel Schaub (JHaS), Lasse Marck (SYI)
Peer reviewed journal: Alle Beiträge werden durch die wissenschaftliche Redaktion des PHC geprüft; die meisten Fachartikel werden
zudem externen Gutachtern vorgelegt (Peer reviewing).

Editorial
        Daniel Widmer
  179 Mission impossible?

Aktuelles
        Vincent Mooser
 180 Genomik: Von der Forschung in die Praxis

        Laura Zwaan
  181 Uncertainty and error in medicine

Forschung
        Mariesol Abbühl, Martin Risch, Andreas Kronenberg
  183 COVID-19-Seroprävalenz-Studie bei Mitarbeitenden einer s­ tädtischen Hausarztpraxis

        Heidi Kaspar, Katharina Pelzelmayer, Anita Schürch, Fabian Bäumer, Tanja Ertl, Shkumbin Gashi, ­
        Claudia Müller, Timur Sereflioglu, Karin van Holten
 188 Können sorgende Gemeinschaften die häusliche Langzeitversorgung verbessern?

Fortbildung
                                                       Katharina E. Hofer, Stefan Weiler
  191                                                  Benzodiazepin-Intoxikation: Ein Hypnotikum-Toxidrom

        Joanna Sonderegger, Urs Karrer, Benedikt Huber, Gisela Etter, Bernhard Wingeier, Peter Carp,
        Thanh Doco Lecompte, Martin Iff, Alexandra Calmy, Klara Posfay-Barbe, Katia Boggian, Philip Tarr
 194 Infektiöse Mononukleose

        Offizielles Organ von:

                                                mfe Haus- und Kinderärzte                                  Schweizerische Gesellschaft für
                                                Schweiz                                                    Allgemeine Innere Medizin SGAIM

                                                                                 Schweize­rische Akademie für
        Die Fachorganisation der                Kollegium für                    Psychosoma­tische und Psychosoziale                 Junge Hausärztinnen und -ärzte            Swiss Young
        Kinder- und Jugendmedizin               Hausarztmedizin KHM              Medizin SAPPM                                       Schweiz JHaS                              Internists SYI
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Primary and Hospital Care
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       Fortbildung
               Nico M. Frei, Robert Escher
         201 Anämie: praktische Aspekte für die Hausarztpraxis

                                                              Céline Désirée Fäh
        206                                                  Pitfalls – Tücken der A
                                                                                    ­ utoimmunerkrankungen

       Online only
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               SGAIM
          ➙    Auf diese Behandlungen und Tests sollten Hausärztinnen und Hausärzte verzichten

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20_02019_PHC_Banner_OnlineMagazin_210x64.indd 1                                                                                                                                             02.12.20 10:43
       Impressum
       Primary and Hospital Care                       Verlag: EMH Schweizerischer Ärzte-                © EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG      tion von Primary and Hospital Care
       Offizielles Organ von mfe Haus- und             verlag AG, Farnsburgerstrasse 8,                  (EMH), 2021. «Primary and Hospital        wieder. Die angegebenen Dosierun-
       Kinderärzte Schweiz, der Schweizeri-            4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 55,           Care» ist eine Open-­Access-Publika-      gen, Indikationen und Applikations­
       schen Gesellschaft für Allgemeine               Fax +41 (0)61 467 85 56, www.emh.ch               tion von EMH. Entsprechend gewährt        formen, vor allem von Neuzulassun-
       Innere Medizin SGAIM, von pädiatrie                                                               EMH allen Nutzern auf der Basis der       gen, sollten in jedem Fall mit den
       schweiz, des Kollegiums für Hausarzt-           Anzeigen:                                         Creative-Commons-Lizenz «Namens-          ­Fachinformationen der verwendeten
       medizin KHM, der Schweize­rischen               Philipp Lutzer,                                   nennung – Nicht kommerziell – Keine        Medikamente verglichen werden.
       Akademie für Psychosoma­tische und              Key Account Manager EMH                           Bearbeitungen 4.0 International» das
       Psychosoziale Medizin SAPPM, Jungen             Tel. +41 (0)61 467 85 05,                         zeitlich unbeschränkte Recht, das Werk    Herstellung: Vogt-Schild Druck AG,
       Hausärztinnen und -ärzte Schweiz JHaS           Fax +41 (0)61 467 85 56                           zu vervielfältigen, zu verbreiten und     www.vsdruck.ch
       sowie der Swiss Young Internists SYI.           philipp.lutzer@emh.ch                             öffentlich zugänglich zu machen unter
                                                                                                         den Bedingungen, dass (1) der Name
       Peer reviewed journal                           Abonnemente:                                      des Autors genannt wird, (2) das Werk
       Primary and Hospital Care ist im                EMH Kundenservice, Postfach,                      nicht für kommerzielle Zwecke ver-
       ­«Directory of Open Access Journals»            4601 Olten, Tel. +41 (0)44 305 82 38,             wendet wird und (3) das Werk in keiner
        (DOAJ) gelistet und erfüllt damit die          emh@asmiq.ch                                      Weise bearbeitet oder in anderer
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       Redaktionsadresse:                              unter www.primary-hospital-care.ch/               und auf der Basis einer schriftlichen
       Eveline Maegli, Redaktions­assistentin,         fuer-leser/abonnement/ zu finden sind.            Vereinbarung zulässig.
       EMH Schweizerischer ­Ä rzteverlag AG,           Abonnemente für Nichtmitglieder:
       Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz,             CHF 125.–, Studentenabonnement                    Hinweis: Alle in dieser Zeitschrift
       Tel. +41 (0)61 467 85 52,                       CHF 75.–, jeweils zuzüglich Porto.                publizierten Angaben wurden mit der
       office@primary-hospital-care.ch,                                                                  grössten Sorgfalt überprüft. Die mit      Titelbild und S. 177:
       www.primary-hospital-care.ch                    ISSN: Printversion: 2297-7155 /                   Verfassernamen gezeichneten Veröf-        © Tibor Ďuriš | Dreamstime.com
       Manuskripteinreichung online:                   elektronische Ausgabe: 2297-7163                  fentlichungen geben in erster Linie
       http://www.edmgr.com/primary                    Erscheinungsweise: 12 Ausgaben                    die Auffassung der Autoren und nicht      S. 178:
       hospitalcare                                    pro Jahr.                                         zwangsläufig die Meinung der Redak-       © Peshkova | Dreamstime.com
       Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.         See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Primary and Hospital Care
EDITORIAL                                                                                                                                    PEER REVIEW ED ARTICLE | 179

From the swampy lowlands* of general practice to the radiant sky of the future

Mission impossible?
Daniel Widmer
Swiss delegate to UEMO, past-UEMO vice-president, chair of the UEMO WG competencies and complexity.

                                Since 2017, the European Union of General Practitioners                            clinical practice, the social and the ethical aspects “will al-
                                (UEMO) has participated as “health provider” in the                                ways overshadow the economic.”
                                Health Technologies Assessment (HTA) stakeholder pool                              At the end of the HTA network collaboration for the Euro-
                                of the European Commission [1, 2] and in the EUnetHTA                              pean Regulation Project and before the implementation
                                annual forum [3]. The project, the European Regulation on                          of the law, we can conclude that the mission is not impos-
                                HTA, is currently going through the process of trilogue, a                         sible for us, if we can separate the two levels: “the core of
                                meeting between the European Parliament, the European                              HTA, which strives to maximize scientific rationality” and
                                Commission and the European Council. EUnetHTA has                                  the shared decision process, the key element of HTA in
                                produced methodological work on the life cycle of new                              real life, when GPs who are the main prescribers, discuss
                                technologies to be assessed, from their emergence (hori-                           with their patients the best choice, including important
Daniel Widmer                   zon scanning), through discussion with developers (early                           dimensions such as bio-psycho-social aspects, continuity
                                dialogue), pre-market assessment, monitoring effects in                            of care and coordination, multimorbidity and quaternary
                                real life after implementation (post launch evidence gen-                          prevention (first do no harm). For this, GPs need confi-
                                eration) and finally product re-assessment. This work is                           dence in the HTA scientific process, with its methodology
* The phrase “swampy
  lowlands” is taken from:      now completed, leading to publication of a White Paper. If                         being rooted in evidence-based medicine, while remain-
  Schön DA. The Reflective      negotiations are successful, we will have a European law                           ing free from conflicts of interest and being transparent
  Practitioner: How
                                in effect within 3 years.                                                          in its process. GPs need good information in plain lan-
  Professionals Think in
  Action. New York: Basic       I have regularly attended, with some colleagues, meetings                          guage that is understandable for patients, allowing an
  Books; 1983.                  in Brussels, Amsterdam or Köln, leaving my “swampy low-                            honest discussion. We have to recognise that the Euro-
                                lands of general practice”, as Iona Heath said in an ex-
                                cellent article on HTA dating from 2004 [4]. It empha-
                                                                                               The idea that industry can have a link directly
                                sises the big gap between the daily practice of
                                                                                               to the consumer without any mediation is a
                                medicine centred on the patient where decisions are
                                                                                               commodification Utopia.
                                shared, and takes into account multiple dimensions (a
                                practical living HTA) and the rational aim of European
                                HTA, which must produce recommendations shared by                 pean work is taking us on this route. GPs have to show at
                                politicians, payers, manufacturers, patients and clini-           the European level the importance of their profession.
                                cians. Iona Heath wrote: “From the point of view of the clini-    ­According a recent study [5] on personalised medicine,
                                cian, HTA delivers considerably less than it promises. The         90% of patients would want to discuss these matters with
                                problems center on the inevitability of judgment by both pol-      their GPs if such a technology were implemented. The idea
                                iticians and clinicians and the conflicting foundations of         that industry can have a link directly to the consumer
                                these judgments. Within political decision making, the needs       without any mediation is a commodification Utopia. Gen-
                                of the population inevitably outweigh the needs of the indi-                       eral medicine will have to maintain this important role in
                                vidual; within clinical decision making, the opposite is the                       the future and will need sustainable development to be
                                case. Attempting a scientific rationality, HTA struggles with                      recognised as a speciality.
Correspondence:                 the impossibility of holding the balance between the two.”
Dr. med. Daniel Widmer          I am in agreement with my colleague, as I think that the
                                                                                                                   Acknowledgement
Swiss delegate to UEMO,
                                ambitions of HTA must be limited to a rationality that can                         Thank you to Mary McCarthy UEMO vice-president for the last
past-UEMO vice-president
Chair of the UEMO WG com-       be shared internationally, and this is how the European                            ­corrections of the text.
petencies and complexity        Commission also understands it, having focused its Pro-
2, avenue Juste-Olivier
                                ject of Regulation on scientific evidence, leaving the so-
CH-1006 Lausanne                                                                                                   References
drwidmer[at]belgo-suisse.       cial, economic and ethical dimensions to local decision                            The full list of references is included in the online version of the
com                             makers. It is true that for the general practitioner (GP) in                       ­article at www.primary-hospital-care.ch.

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN                     2021;21(6):179
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.              See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Primary and Hospital Care
AK TUELLES                                                                                                                                                                           180

Genommedizin

Genomik: Von der Forschung
in die Praxis
Vincent Mooser
Institut für Humangenetik, Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften, McGill University, Montréal, Kanada

                                Heutzutage kann man Millionen Varianten des menschlichen Genoms für einige
                                Dutzend Franken analysieren lassen. Mithilfe dieser Analysen konnten bereits
                                Hunderte Assoziationen mit seltenen und verbreiteten Krankheiten entdeckt wer-
                                den.

                                Was bedeutet das für die Behandlung unserer Patien-
                                tinnen und Patienten? Kann die Genomik die Unge-                                   Zur Person
                                nauigkeit verringern und die Qualität der Versorgung                                                        Vincent Mooser ist Internist und For-
                                verbessern? Welche Probleme sind mit der Genomme-                                                           scher. Seit 2019 hat er den «Canada Ex-
                                                                                                                                            cellence Research Chair in Genomic
                                dizin verbunden?
                                                                                                                                            Medicine» an der McGill University in
                                                                                                                                            Montréal inne. Er ist zudem Direktor
                                Diesen Fragen widmet sich Prof. Vincent Mooser von der McGill                                               der COVID-19-Biobank der Provinz Qué-
                                University in Montréal in einem Vortrag im Rahmen des                                                       bec, die er gegründet hat. Zuvor leitete
                                SGAIM-Frühjahrskongresses. Im Primary and Hospital Care gibt                                                er das Institut für Labormedizin des
                                er einen Überblick über das Thema.                                                                          CHUV, war Vizedekan der Medi-
                                                                                                                   zinischen Fakultät der UNIL und Mitglied des Vorstands der
                                                                                                                   SAMW. Weitere Informationen: www.genomic-medicine-cerc.
                                                                                                                   online oder https://bqc19.ca
                                Die Chancen der Genommedizin
                                                                                                                   Ein aktuelles Beispiel: COVID-19
                                Über den Nutzen der Sequenzierung des menschlichen                                 Durch die internationale Bündelung von Genomdaten
                                Genoms im Zusammenhang mit seltenen Krankheiten                                    konnten zahlreiche Regionen des menschlichen Genoms
                                besteht kein Zweifel mehr: Dadurch konnte die Diag-                                identifiziert werden, die mit der Empfänglichkeit für CO-
                                nose-Odyssee verkürzt und die Versorgung bestimm-                                  VID-19 und dem Schweregrad der Erkrankung verbunden
                                ter Patientinnen und Patienten verbessert werden.                                  sind. Insbesondere ist ein Marker auf Chromosom 3, der
                                Hinsichtlich verbreiteter Krankheit bleibt die Frage der                           bei 14% der eurasiatischen Bevölkerung vorliegt, mit ei-
                                Erstellung von Genomprofilen offen. Heutzutage kann                                nem zwei- bis viermal höheren Risiko eines schweren
                                man für einen Betrag, der den Kosten einer Vita-                                   oder tödlichen COVID-19-Verlaufs assoziiert. Sollten wir
                                min-D-Messung entspricht, Millionen Genvarianten                                   bei unseren Patientinnen und Patienten ein Genomprofil
                                einer Person mittels Genotypisierung analysieren.                                  erstellen und diese Variante analysieren, um das Risiko
                                Mithilfe der Erstellung derartiger Genomprofile konn-                              einer schweren Erkrankung besser vorherzusagen?
Redaktionelle                   ten bereits Hunderte Assoziationen zwischen Genom-
­Verantwortung:                 regionen und verbreiteten Krankheiten, spezifischen                                Im Rahmen der Raths-Steiger-Vorlesung auf dem SGAIM-Früh-
Claudia Schade, SGAIM                                                                                              jahrskongress vom 19. bis 21. Mai 2021 gab Prof. Mooser einen
                                Personenmerkmalen, Laborwerten und dem Anspre-
                                                                                                                   genaueren Einblick in das Thema. Teilnehmende können den Vor-
Korrespondenz:
                                chen auf Arzneistoffe identifiziert werden. Durch die                              trag online nachschauen.
Claudia Schade                  Zusammenfassung dieser Varianten zu einem poly­
Kommunikationsverant-
                                genen Risikoscore ist es möglich, das Auftreten                                    Sie haben eine Session am SGAIM-Frühjahrskongress ver­
wortliche und stellvertre-
tende Generalsekretärin         bestimmter Krankheiten über die herkömmlichen
                                ­                                                                                  säumt? Kein Problem mit der «On Demand»-Funktion.
Schweizerische Gesellschaft     ­k linischen Vorhersagefaktoren hinaus vorauszusehen.                              Alle Sessions stehen den Teilnehmenden bis zum 30. Tag nach
für Allgemeine Innere                                                                                              dem virtuellen 5. Frühjahrskongress der SGAIM in der «On De-
­Medizin (SGAIM)                Es stellt sich darum die Frage, inwieweit derartige Pro-
                                                                                                                   mand Gallery» zur Verfügung. Sie können also unkompliziert in-
Monbijoustrasse 43              file Teil des Patientendossiers sein sollten und die                               teressante Sitzungen nachschauen, die Sie versäumt haben
Postfach
CH-3001 Bern
                                ­Versorgung unserer Patientinnen und Patienten ver-                                oder die für Ihre Tätigkeit besonders relevant sind!
claudia.schade[at]sgaim.ch      bessern könnten.                                                                   Weitere Informationen: www.sgaim.ch/fk21

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN                     2021;21(6):180
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.          See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Primary and Hospital Care
AK TUELLES                                                                                                                                                                            181

Diagnostic quality and safety

Uncertainty and error in medicine
Laura Zwaan
Institute of Medical Education Research Rotterdam (iMERR), Erasmus MC, Rotterdam, Niederlande.

                                Die Komplexität des Diagnoseprozesses und die schwierigen Entscheidungen, die
                                unter Druck getroffen werden müssen, machen den Diagnoseprozess anfällig für
                                Fehler. Die Folgen dieser Fehler können schwerwiegend sein. Was sind die Hauptur-
                                sachen für Diagnosefehler, und welche Rolle spielt dabei die Unsicherheit? Und vor
                                allem: Welche kognitiven und systemischen Lösungen können eingesetzt werden,
                                um Diagnosefehler zu vermeiden?

                                Prof. Dr. med. Laura Zwaan ging diesen Fragen am SGAIM-Früh-
                                jahrskongress vom 19. bis 21. Mai in einer Keynote Lecture nach.                   Zur Person
                                Im Folgenden gibt sie einen Einblick in die Antworten auf die
                                oben genannten Fragen. Teilnehmende können das Referat auf                                                             Prof. Dr. med. Laura Zwaan,
                                der Kongress-Plattform ganz einfach nachschauen.                                                                       PhD, ist eine Assistenz­­pro­
                                                                                                                                                       fessorin am Institute of Medi-
                                                                                                                                                       cal Education R­ esearch Rotter-
                                                                                                                                                       dam (iMERR) des Erasmus MC
                                Die Komplexität des diagnostischen                                                                                     in Rotterdam, Niederlande.
                                Prozesses                                                                                                              Frau Zwaan hat einen Hinter-
                                                                                                                                                       grund in kognitiver Psycholo-
                                Diagnosefehler haben im Bereich der Patientensicher-                                                                   gie und Epidemiologie und er-
                                heit wenig Beachtung gefunden, obwohl sie für einen                                                                    warb einen Doktortitel am VU
                                Grossteil der vermeidbaren Schäden, die Patientinnen                                                                   University Medical Center in
                                                                                                                                                       Amsterdam. Prof. Dr. med.
                                und Patienten im Gesundheitswesen erleiden, verant-
                                                                                                                                                       Zwaan ist fasziniert davon, wie
                                wortlich sind. Einer der Gründe dafür sind die Komplexi-                                                               Kliniker komplexe Entschei-
                                tät des diagnostischen Prozesses und die Herausforde-                                                                  dungen unter Unsicherheit tref-
                                rungen bei der Messung diagnostischer Fehler. Der                                  fen. Ihre Forschung konzentriert sich auf den klinischen Argumen-
                                                                                                                   tationsprozess und die kognitiven Ursachen von Diagnosefehlern.
                                diagnostische Prozess ist ein sich entwickelnder Prozess;
                                                                                                                   Frau Zwaan erhielt mehrere Stipendien und Auszeichnungen für
                                Krankheiten manifestieren sich oft im Laufe der Zeit.
                                                                                                                   ihre Forschung, darunter das prestigeträchtige persönliche VENI-
                                Ausserdem müssen Kliniker das Risiko einer Unterdiag-                              Stipendium der Niederländischen Wissenschaftsorganisation.
                                nose (Übersehen einer Krankheit) und einer Überdiag-
                                nose (Diagnose einer Krankheit, die niemals Symptome
                                verursachen würde) abwägen und dabei die Wahrschein-                               angemessenen Diagnose und einem Behandlungsplan
                                lichkeit und den Schweregrad einer Krankheit berück-                               zu kommen. Dennoch bleibt die Unsicherheit bestehen
                                sichtigen. Letztendlich sind diagnostische Entscheidun-                            und die Ärztin oder der Arzt muss mit dem Risiko um-
                                gen aber dies: Entscheidungen unter Unsicherheit.                                  gehen, eine Diagnose zu übersehen oder unnötige
                                                                                                                   Tests durchzuführen.

                                Entscheidungsfindung unter Unsicherheit
                                                                                                                   Diagnostische Fehler
                                Entscheidungen unter Unsicherheit sind die schwie-
                                rigste Art von Entscheidungen, weil wir nicht alle mög-                            Wenn ein Diagnosefehler auftritt, wird oft angenom-
                                lichen Ergebnisse und ihre jeweiligen Wahrscheinlich-                              men, dass sowohl systemische als auch kognitive Fak-
                                keiten kennen. Während des diagnostischen Prozesses                                toren eine Rolle spielen. Der allgemeine Konsens ist je-
                                versuchen Ärztinnen und Ärzte, die Unsicherheit zu                                 doch, dass kognitive Faktoren die häufigsten sind.
                                reduzieren, indem sie während der Anamneseerhe-                                    Konkret führen Fehler im Denkprozess oder mangeln-
Redaktionelle
­Verantwortung:
                                bung, der körperlichen Untersuchung und der diag-                                  des Wissen dazu, dass nicht zwischen zwei ähnlichen
Claudia Schade, SGAIM           nostischen Tests Informationen einholen, um zu einer                               Krankheitsbildern unterschieden werden kann. Mögli-

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN                     2021;21(6):181–182
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.           See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Primary and Hospital Care
AK TUELLES                                                                                                                                                                        182

                                che Lösungen umfassen systematischeres Feedback                                    Save the date: 5. SGAIM-Herbstkongress
                                und Training zur Unterscheidung zwischen ähnlichen                                 vom 16. und 17. September 2021 in
                                Krankheiten.                                                                       I­nterlaken

                                                                                                                   Wir freuen uns, Sie auf den 5. Herbstkongress der
Korrespondenz:
                                                                                                                   SGAIM zum Thema «Medicine on Fire» hinzuweisen,
Claudia Schade                  Session verpasst? Kein Problem dank der                                            der am 16. und 17. September 2021 in Interlaken stattfin-
Kommunikationsverant-
wortliche und stellvertre-
                                «On Demand»-Funktion                                                               den wird. Die Online-Registrierung ist seit Mitte Mai
tende Generalsekretärin         Alle Sessions stehen den Teilnehmenden bis zu 30 Tagen nach                        2021 unter www.sgaim.ch/hk21 möglich.
Schweizerische Gesellschaft     dem virtuellen 5. Frühjahrskongress der SGAIM auf der Kon-                         SGAIM-Mitglieder profitieren bei der Kongressregist-
für Allgemeine Innere           gress-Plattform zur Verfügung. So können Sie
­Medizin (SGAIM)                                                                                                   rierung von einer vorteilhaften Teilnahmegebühr.
                                interessante Sessions, die Sie verpasst haben
Monbijoustrasse 43                                                                                                 Noch heute Mitglied unter www.sgaim.ch/mitglied
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claudia.schade[at]sgaim.ch      Mehr Informationen unter www.sgaim.ch/fk21

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN                     2021;21(6):181–182
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FORSCHUNG                                                                                                                                    PEER REVIEW ED ARTICLE | 183

Bedeutung von Schutzmassnahmen während der Pandemie

COVID-19-Seroprävalenz-Studie
bei Mitarbeitenden einer
­städtischen Hausarztpraxis
Mariesol Abbühl a , Martin Risch b , Andreas Kronenberg c,d
a
  Universität Bern
b
  labormedizinisches Zentrum Dr. Risch, Bern
c
  Ärztenetzwerk medix, Bern
d
  Institut für Infektionskrankheiten, Universität Bern

                                Das neue Coronavirus SARS-CoV-2 hat sich rasch über die ganze Welt ausgebreitet
                                und die Schweiz gehörte im April 2020 zu den am stärksten betroffenen Ländern
                                weltweit. Beschäftigte im Gesundheitswesen sind einem erhöhten Infektionsrisiko
                                ausgesetzt, doch bisher gibt es kaum Daten über das Risiko für Hausärzte und Pra­
                                xismitarbeitende. Wir führten in unserer Grundversorgerpraxis eine prospektive
                                Seroprävalenz-Studie zur berufsassoziierten Übertragung von SARS-CoV-2 auf das
                                Praxispersonal durch.

                                Hintergrund                                                                        ­tatsächliche Ansteckungsrisiko für Fachleute in Haus­
                                                                                                                   arztpraxen. Die Risiken in der allgemeinärztlichen
                                In weniger als vier Monaten hat sich das neue Corona­                              Versorgung können sich aus verschiedenen Gründen
                                virus SARS-CoV-2, welches zuerst auf dem chinesischen                              wesentlich von denen im Krankenhaus unterscheiden:
                                Festland in Wuhan entdeckt wurde [1], global ausgebrei­                            1. Die Zahl der Patientenkontakte ist höher, wenn
                                tet. Der erste Fall in der Schweiz wurde am 25. Februar                                auch in vielen Fällen weniger eng.
                                2020 gemeldet [2], nur vier Tage nachdem in Italien der                            2. Die Patienten sind weniger krank, sodass die Einhal­
                                erste Verdachtsfall bestätigt wurde. Seither hat sich die                              tung von Hygienemassnahmen möglicherweise als
                                Schweiz rasch zu einem der weltweit am stärksten                                       weniger dringlich wahrgenommen wird, womit das
                                ­betroffenen Länder entwickelt [3].                                                    Risiko für ungeschützte Kontakte mit asymptoma­
                                Aufgrund ihrer beruflichen Exposition scheinen                                         tischen Trägern (die WHO nennt einen Anteil von
                                Beschäftigte des Gesundheitswesens ein erhöhtes
                                ­                                                                                      80% aller Infizierten [5]) steigt.
                                ­Risiko zu haben, an COVID-19 zu erkranken. So hat man                             3. Zumindest zu Beginn der Epidemie war das Schutz­
                                in einem Spital in Wuhan festgestellt, dass Gesund­                                    material möglicherweise begrenzter (z.B. Hygiene­
                                heitsfachleute für Intensivpflege von COVID-19-Patien­                                 masken) oder fehlte sogar (z.B. Isolierkittel) [6].
                                ten häufiger COVID-19-bedingte respiratorische Symp­                               4. Die Mitarbeitenden sind schlechter geschult und
                                tome erleiden als Angestellte in anderen Spitalab­                                     verfügen über ein geringeres Erfahrungswissen im
                                teilungen [4]. Hingegen weiss man wenig über das                                       Umgang mit Isolationsmassnahmen.

                                Tabelle 1: Population.

                                Gruppen                                                         Ärzte (n = 21)                  MPA (n = 25)                  Alle (n = 46)
                                Beschäftigung in % (Mittelwert, Bereich)                        60 (40–100)                     92 (40–100)                   78 (40–100)
                                Alter (Mittelwert, Bereich)                                     45 (30–61)                      23 (16–33)                    33 (16–61)
                                Weibliche Mitarbeitende (n, %)                                  10 (48)                         25 (100)                      35 (76)
                                Einsatz im Abstrichzentrum (n, %)                               13 (62)                         18 (72)                       31(67)
                                Alle Studienteilnehmenden sind Mitarbeitende der Praxis Bubenberg 8+11 in Bern.
                                MPA = Medizinische Praxisassistentin

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN                     2021;21(6):183–187
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.             See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Primary and Hospital Care
Forschung                                                                                                                                                                       184

                                Umgekehrt haben infizierte Beschäftigte im Gesund­                                 Probennahme und Fragebogen
                                heitswesen das Potential, die Krankheit auf Patienten                              In unserer Praxis wurde der erste Abstrich bei einem
                                zu übertragen, von denen viele ein erhöhtes Risiko für                             Teammitglied am 16.3.2020 auf einem Balkon der Arzt­
                                einen schwereren Verlauf haben [7].                                                praxis durchgeführt. Die Nachfrage nach Abstrichen
                                Mit der Verfügbarkeit der ersten serologischen Teste                               stieg rasch an. Da sich die Zusammenarbeit mit Ab­
                                haben wir deshalb in unserer Praxis eine longitudinale                             strich-Zentren als kompliziert erwies, entschieden wir
                                Studie zur Seroprävalenz von Antikörpern gegen SARS-                               Mitte März, für unsere Patienten ein eigenes, räumlich
                                CoV-2 aufgegleist. Darüber hinaus bewerteten wir                                   getrenntes Testzentrum in einem nahegelegenen
                                mögliche private und berufliche Risikofaktoren für                                 Kino-Entrée aufzubauen (Abb. 1).
                                Kontakte mit SARS-CoV-2-infizierten Personen.                                      Ab dem 20.3.2020 wurden alle Patienten mit Atem­
                                                                                                                   wegs­symptomen in diesen Testbereich triagiert. Alle
                                                                                                                   ­Abstriche wurden unter vollständigem Schutz durch­
                                Methodik und Setting                                                               geführt (Hygienemasken, Handschuhe, sowie Schutz­
                                                                                                                   brille und Einwegkittel, die mehrfach verwendet wur­
                                Setting                                                                            den). Die Abstriche erfolgten jeweils gebündelt wäh­
                                Die Studie wurde am 2.4.2020 von der Ethikkommis­                                  rend maximal einer Stunde. Zwischen den einzelnen
                                sion bewilligt, ein schriftlicher Consent wurde von allen                          Konsultationen wurden die Handschuhe gewechselt
                                Probanden eingeholt. Die Studie wurde in der Praxis                                und die Hände desinfiziert, eine Flächendesinfektion
                                Bubenberg, einer Gemeinschaftspraxis mit 21 Allge­                                 erfolgte nur nach sichtbarer Kontamination. Nach ei­
                                meinärzten (darunter zwei Assistenzärzte) und 25 MPAs                              nem Block wurde der Raum für mindestens 15 Minuten
                                durchgeführt (Tab. 1). Das Team ist auf zwei nahegele­                             gut durchgelüftet, alle potentiell kontaminierten Flä­
                                gene Standorte aufgeteilt (Bubenbergplatz 8 und 11),                               chen wischdesinfiziert und der Untersuchungstisch
                                beide in der Nähe des Hauptbahnhofs. Die Patienten                                 mit den gebrauchten Utensilien zusätzlich während
                                sind eher jünger und mobiler als das Patientengut einer                            mindestens 10 Minuten mit einer UV-C-Lampe be­
                                peripheren Praxis.                                                                 strahlt. Die PCR erfolgte auf der Hochdurchsatz-Platt­
                                In der Schweiz durften Hausärzte ab dem 27. Februar                                form cobas 6800 im labormedizinischen zentrum
                                2020 in streng definierten Fällen Nasen-Rachen-­ Dr Risch (lmz Dr Risch) [9].
                                Abstriche für SARS-CoV-2 selbst durchführen, nämlich                               Im Zeitraum zwischen dem 3.4.2020 und dem 11.11.2020
                                bei Patienten mit Atemwegssymptomen (z.B. Husten/                                  wurden bei allen Mitarbeitenden insgesamt fünf Blut­
                                Atemnot) oder Fieber, bei Reisenden aus China, Südko­                              entnahmen durchgeführt (Abb. 2a). Vor jeder Blutent­
                                rea, Singapur, Iran oder Norditalien oder bei Personen,                            nahme füllten die Teammitglieder einen Fragebogen
                                die Kontakt zu bestätigten COVID-19-Fällen hatten [8].                             aus, der die vier Wochen vor der ersten Blutabnahme

Abbildung 1: Das COVID-19-Abstrichzentrum der Praxis Bubenberg im Entrée des Kino Gotthard. a Foto, b Situationsplan.

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Forschung                                                                                                                                                                           185

                                                                                                                   chemilumineszenz-Immunoassay (ECLIA) detektiert Ge­
                                                                                                                   samtimmunglobulin-Antikörper im getesteten Serum
                                                                                                                   mittels rekombinantem Nukleokapsidprotein und
                                                                                                                   weist laut FDA (Food and Drug Administration) eine Sen­
                                                                                                                   sitivität von 99,5% und einer Spezifität von 99,8% auf
                                                                                                                   [10, 11]. Die ersten beiden Blutentnahmen wurden kon­
                                                                                                                   serviert und nachträglich am 2.7.2020 getestet. Positive
                                                                                                                   Resultate wurden mittels ELISA von Diasorin Diag-
                                                                                                                   nostics und Euroimmun bestätigt. Beide Tests detektie­
                                                                                                                   ren Antikörper gegen das Spikeprotein [12].

                                                                                                                   Resultate
                                                                                                                   Kohorte
                                                                                                                   Alle in der Praxis Bubenberg tätigen Ärzte und MPAs
                                                                                                                   nahmen an dieser Studie teil. 76% der Mitarbeitenden
                                                                                                                   sind weiblich, das durchschnittliche Arbeitspensum lag
                                                                                                                   bei Ärzten bei 60% und bei MPAs bei 92% (Tab. 1).
                                                                                                                   Die Mitarbeit im Testzentrum war freiwillig. 62%
                                                                                                                   (13/21) der Ärzte und 72% (18/25) der MPAs haben sich
                                                                                                                   beteiligt und bis zur letzten Blutentnahme Anfang
                                                                                                                   ­November 2020 total 1811 kombinierte Nasopharynx-
Abbildung 2: Blutentnahmen und Abstrich-Aktivität im Verlauf der Studienperiode
                                                                                                                   und Rachenabstriche durchgeführt; 79 (4,4%) wurden
a: Zeitpunkt der Blutentnahmen (BE) der Seroprävalenz-Studie. Die Blutentnahmen
­erfolgten innerhalb von maximal 10 Tagen, aufgrund von Abwesenheiten variiert die                                 positiv auf SARS-CoV-2 getestet (Abb. 2b). Während der
 ­Anzahl der Blutentnahmen leicht.                                                                                 gesamten Studiendauer wurden fünf ungeschützte
  b: Anzahl Abstriche pro Kalenderwoche im Kino Gotthard; in orange die positiven                                  Kontakte zu nachgewiesenen COVID-Fällen beschrie­
  ­Resultate (PCR auf COVID-19).
                                                                                                                   ben, wobei nur einer dieser Kontakte beruflich bedingt
   c: Anzahl bestätigte COVID-19-Fälle in der Schweiz pro Tag, gemäss BAG­
   (www.bag.admin.ch, zuletzt abgerufen am 24.11.2020).                                                            war. Ein (nicht beruflicher) Kontakt führte zu einer
                                                                                                                   ­Infektion (vgl. unten).

                                bzw. den Zeitraum seit dem letzten Fragebogen ab­
                                                                                                                   Selbsteinschätzung von «social distancing» und
                                deckte. Es wurde gefragt nach:
                                                                                                                   Symptomen
                                – Fehlenden Arbeitstagen aufgrund von Krankheit;
                                                                                                                   Die Selbsteinschätzung der Compliance bezüglich
                                – Ungeschützten Kontakten zu bekannten COVID-
                                                                                                                   ­«social distancing» war in beiden Berufsgruppen ver­
                                    19-positiven Personen (Ja/Nein);
                                                                                                                   gleichbar und nahm bis Mitte August leicht ab (Abb. 3).
                                – Der Selbsteinschätzung der Einhaltung von «social
                                                                                                                   MPAs beklagten v.a. initial mehr Krankheitssymptome
                                    distancing»-Regeln in 5 Kategorien (0 = überhaupt
                                                                                                                   und hatten über die ganze Studiendauer mehr Abwe­
                                    nicht, 1 = gering, 2 = mittel, 3 = gut, 4 = sehr gut);
                                                                                                                   senheiten als Ärzte (20 Tage vs. 8 Tage). Sowohl Sym­
                                – Möglichen Krankheitssymptomen (Husten, Hals­
                                                                                                                   ptome als auch Krankheitstage nahmen bis Mitte
                                    schmerzen, Kurzatmigkeit, Fieber >38 Grad, Fieber­
                                                                                                                   ­August ab (Abb. 3).
                                    gefühl/Frösteln, Myalgien, Müdigkeit/Leistungs­
                                    schwäche, Kopfschmerzen, Schnupfen/Rhinitis, Ge­
                                    ruchs-/Geschmacksstörungen, Bindehautentzün­                                   Schnelltest SGTI-Flex von ­Sugentech
                                    dung, Durchfall). Jedes Symptom wurde auf einer                                 Da unsere Studie bereits vor der Zulassung des Elecsys Anti-
                                    Likert-Skala von 0 = fehlend bis 4 = sehr stark einge­                          SARS-CoV-2 Immunoassay von Roche startete, verwendeten wir
                                    stuft (total maximal 12 × 4 = 48 Punkte).                                       initial für die Testung der ersten beiden Blutentnahmen den
                                                                                                                   ­Antikörper-Schnelltest SGTI-Flex von Sugentech. Wir haben auf
                                Die Anzahl der Patienten im Testzentrum und der
                                                                                                                    eine detaillierte Beschreibung dieser Resultate verzichtet und
                                ­Anteil der dort arbeitenden Mitarbeiter wurden konti­                              alle Proben nachgetestet, da dieser Test sich im Verlauf als
                                nuierlich erfasst.                                                                  ­unzuverlässiger bezüglich Sensitivität und Spezifität erwies.
                                                                                                                     Auch in unserer kleinen Studie detektierte der SGTI-Flex den
                                Verwendete Teste                                                                     von Beginn weg positiven Elecsys-Antikörpertest nicht und
                                                                                                                     schnitt auch in der Studie von Philipp Kohler [13] deutlich
                                Alle Proben wurden im lmz Dr Risch mittels Elecsys
                                                                                                                     schlechter ab (von 13 positiven IgG-Nachweisen konnten hier
                                Anti-SARS-CoV-2 Immunoassay (Roche Diagnostics) ana­                                 nur 6, von 45 positiven IgM-Nachweisen kein einziger in ande-
                                lysiert. Dieser im Mai von der FDA zertifizierte Elektro-                            ren Testverfahren bestätigt werden).

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN                     2021;21(6):183–187
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.         See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Forschung                                                                                                                                                                         186

                                                                                                                   Vergleichsstudien
                                                                                                                   Andere Studien im Hausarzt-Setting fehlen, die Resul­
                                                                                                                   tate werden aber durch eine kürzliche Studie am Kan­
                                                                                                                   tonsspital St. Gallen untermauert, welche bei dessen
                                                                                                                   Spitalpersonal mittels des gleichen serologischen Tests
                                                                                                                   ebenfalls eine sehr niedrige Seroprävalenz von knapp
                                                                                                                   1% (10/1022) beschrieb [13]. Allerdings ist zu berücksich­
                                                                                                                   tigen, dass beide Studien in Kantonen mit relativ nied­
                                                                                                                   rigen Infektionsraten stattfanden und diese Seroprä­
                                                                                                                   valenz-Raten mit Daten aus dem Kanton Genf kontras­
                                                                                                                   tieren, wo nach dem raschen Anstieg der Infektions­
                                                                                                                   raten ein Anstieg der Seroprävalenz in der städtischen
                                                                                                                   Bevölkerung von 5 auf 11% verzeichnet wurde [14].

                                                                                                                   Serokonversionen

Abbildung 3: Symptomscore (links) und Compliance bezüglich «social distancing»                                     In unserer Studie erfolgte die SARS-CoV-2-Infektion
(rechts) getrennt nach Berufsgruppen über die Studiendauer.                                                        von beiden im Verlauf positiv getesteten Mitarbeite­
Boxplot der jeweiligen Punktezahl mit Median (rote Linie) und Mittelwert (x). möglicher                            rinnen nachweislich ausserhalb des beruflichen Set­
Wertebereich Symptomscore 0–42, Compliance 0–4. BE = Blutentnahme-Zeitpunkt
                                                                                                                   tings. Auch 4/5 der beschriebenen möglichen Expositi­
(vgl. Abb. 2).
                                                                                                                   onen erfolgten ausserhalb des beruflichen Settings.
                                                                                                                   Dies korreliert gut mit einer Studie aus dem Kantons­
                                Nachgewiesene Serokonversionen                                                     spital Aarau, bei welcher in 43% der 95 SARS-CoV-2-­
                                Während der ganzen Studiendauer kam es zu einer                                    positiven Mitarbeiter eine Infektion ausserhalb des
                                einzigen Serokonversion bei einer ärztlichen Mitarbei­                             ­beruflichen Settings erfolgte. Von den 50 berufsassozi­
                                terin, welche nachweislich auf einen privaten Kontakt                              ierten Infektionen erfolgten 13 durch Kontakte unter
                                mit einer nachträglich positiv getesteten Person zu­                               Mitarbeitern und 37 durch infizierte Patienten oder
                                rückzuführen war. Die Mitarbeiterin hatte vorgängig                                ­andere wahrscheinlich nosokomiale Quellen [15]. Die
                                leichte Symptome, der PCR-Test aus dem Nasopharyn­                                 meisten nosokomialen Fälle in dieser Studie konnten
                                geal-Sekret war positiv und sie wurde total 10 Tage iso­                           durch ungeschützte Kontakte während der Mittags­
                                liert. Eine MPA war seit der ersten Blutentnahme und                               pausen, spät erkannte COVID-Fälle unter den Patienten
                                dann konsistent seropositiv. Die Ansteckung erfolgte                               und schlechte Einhaltung der Isolationsvorschriften
                                wahrscheinlich während eines Mailandaufenthaltes                                   erklärt werden.
                                Mitte Januar mit darauffolgender leichter Rhinitis mit
                                vermindertem Geschmacks- und Geruchssinn wäh­
                                                                                                                   Symptome und krankheitsbedingte
                                rend der folgenden drei Wochen. Die Mutter dieser
                                                                                                                   Abwesenheiten
                                MPA erkrankte im Anschluss ebenfalls an einem Atem­
                                wegsinfekt und war auch serologisch positiv. Beide                                 Während der Studiendauer nahmen sowohl respirato­
                                ­positiven Serologien wurden mittels ELISA von Diaso-                              rische Krankheitssymptome als auch krankheits­
                                rin Diagnostics und Euroimmun bestätigt.                                           bedingte Abwesenheiten in beiden Berufsgruppen ab,
                                                                                                                   wobei ärztliches Personal durchgehend weniger Symp­
                                                                                                                   tome angab. Wir vermuten, dass diese Abnahme v.a.
                                Diskussion                                                                         saisonal erklärbar ist, können aber eine vermehrte
                                                                                                                   Aufmerksamkeit bezüglich respiratorischer Symp­
                                Trotz der pandemischen Ausbreitung von COVID-19
                                                                                                                   tome während der ersten Pandemie-Welle nicht aus­
                                und regelmässigen Patientenkontakten kam es in
                                                                                                                   schliessen, da wir die Symptome nicht objektivierten.
                                unserer städtischen Gruppenpraxis in Bern bei 46
                                ­
                                Fachpersonen zu keiner berufsassoziierten Serokon­
                                version. Die Anzahl der Probanden und die relativ
                                                                                                                   Einhalten der «social distancing»-Regeln
                                niedrige SARS-CoV-2-Prävalenz im Kanton Bern erlau­
                                ben keine definitive Aussage über das Infektionsrisiko                             Auch die selbstrapportierte Compliance mit den «so-
                                in einer Grundversorgerpraxis, adäquate Schutzmass­                                cial distancing»-Regeln nahm im Verlauf der Studie in
                                nahmen scheinen jedoch effektiv.                                                   beiden Berufsgruppen leicht ab und unterschied sich

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN                     2021;21(6):183–187
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.       See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Forschung                                                                                                                                                                                 187

                                nicht zwischen den beiden Berufsgruppen. Aus einzel­                                     isolation. Swiss Med Wkly [Internet] 2020 [cited 2020 Sep 3].
                                                                                                                         ­Available from: https://doi.emh.ch/smw.2020.20225
                                nen Kommentaren geht hervor, dass die Compliance                                     4    Ran L, Chen X, Wang Y, Wu W, Zhang L, Tan X. Risk Factors of
                                im beruflichen Umfeld oft als besser eingestuft wurde                                     Healthcare Workers With Coronavirus Disease 2019: A Retrospec­
                                                                                                                          tive Cohort Study in a Designated Hospital of Wuhan in China.
                                als im privaten Umfeld. Wir vermuten, dass dieses
                                                                                                                          Clin Infect Dis 2020;ciaa287.
                                ­Verhalten auf den Rückgang der Fallzahlen zurück­                                   5    WHO. Q&A: Influenza and COVID-19 similarities and differences
                                zuführen ist, was sich in der erneut leichten Zunahme                                     [Internet]. WHO; 2020. Available from: https://www.who.int/
                                                                                                                          emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-
                                in der letzten Blutentnahme zu bestätigen scheint.                                        answers-hub/q-a-detail/q-a-similarities-and-differences-covid-
                                                                                                                          19-and-influenza
                                                                                                                     6    Huber X, Kilian L. Die Coronakrise aus hausärztlicher Sicht.
                                Testqualität                                                                              Schweiz Ärzteztg 2020;101(1516):546–8.
                                                                                                                     7    McMichael TM, Currie DW, Clark S, et al. Epidemiology of Covid-19
                                                                                                                          in a Long-Term Care Facility in King County, Washington. N Engl J
                                Die Qualität der serologischen Tests wird in der Litera­
                                                                                                                          Med 2020;NEJMoa2005412.
                                tur nach wie vor diskutiert. Gemäss FDA verfügt der                                  8    Kantonsarztamt Bern. Newsletter Kantonsarzamt COVID-19
                                von uns verwendete Elecsys Anti-SARS-CoV-2 Immuno-                                        03/2020 [Internet]. Available from: https://www.gef.be.ch/gef/de/
                                                                                                                          index/direktion/organisation/kaza/aktuell/archiv_newsletter/
                                assay über eine Sensitivität von 99,5% und eine Spezifi­                                  newsletter-kantonsarzamt-covid-19-3-2019.html
                                tät von 99,8% [10], was sich bei einer kumulativen                                   9    Pfefferle S, Reucher S, Nörz D, Lütgehetmann M. Evaluation of
                                                                                                                          a quantitative RT-PCR assay for the detection of the emerging
                                ­Prävalenz von 124 Fällen pro 10 000 Einwohner (Daten                                     coronavirus SARS-CoV-2 using a high throughput system.
                                Kanton Bern vom 30.10.2020 [16]) übersetzt in einen                                       Eurosurveillance [Internet] 2020 [cited 2020 Apr 25];25(9).
                                                                                                                          Available from: https://www.eurosurveillance.org/con­
                                positiven, respektive negativen prädiktiven Wert von
                                                                                                                          tent/10.2807/1560-7917.ES.2020.25.9.2000152
                                80% respektive 97%. Daten von verlässlichen, unab­                                 10     FDA. EUA Authorized Serology Test Performance [Internet].
                                hängigen Studien fehlen nach wie vor weitgehend [17].                                     Available from: https://www.fda.gov/medical-devices/coronavi­
                                                                                                                          rus-disease-2019-covid-19-emergency-use-authorizations-me­
                                Die positiven Testresultate in unserer Studie waren                                       dical-devices/eua-authorized-serology-test-performance
                                plausibel (klinisch-epidemiologisch oder durch voran­                              11     Muench P, Jochum S, Wenderoth V, et al. Development and
                                                                                                                          validation of the Elecsys Anti-SARS-CoV-2 immunoassay as a
                                gehenden PCR-Nachweis im Rachenabstrich) und kon­                                         highly specific tool for determining past exposure to SARS-CoV-2
                                sistent. Kreuzreaktionen auf das gleiche Epitop wären                                     [Internet]. Infectious Diseases (except HIV/AIDS); 2020 [cited 2020
                                                                                                                          Sep 3]. Available from: http://medrxiv.org/lookup/
                                v.a. bei durchgemachten Infektionen von SARS und/
                                                                                                                          doi/10.1101/2020.06.16.20132803
                                oder MERS zu erwarten, was in unserem Setting                                      12    Jääskeläinen A, Kuivanen S, Kekäläinen E, et al. Performance of six
                                ­unwahrscheinlich ist.                                                                    SARS-CoV-2 immunoassays in comparison with microneutralisa­
                                                                                                                          tion. J Clin Virol 2020;129:104512.
                                Zusammenfassend sind wir überzeugt, dass sich Über­                                13.    Kohler P, Kahlert C. Prevalence of SARS-CoV-2 Antibodies among
                                tragungen in der Praxis weitgehend verhindern lassen                                      Swiss Health Care Workers Results of a Prospective Cohort Study.
                                                                                                                          In: Joint session 2 Posterflashes SSI-SSHH. Geneva: 2020.
                                durch eine gute, frühe Patienten-Triage sowie eine                                 14     Stringhini S, Wisniak A, Piumatti G, et al. Seroprevalence of
                                konsequente Einhaltung der Hygienemassnahmen.                                             anti-SARS-CoV-2 IgG antibodies in Geneva, Switzerland (SEROCoV-
                                                                                                                          POP): a population-based study. The Lancet 2020;396(10247):313–9.
                                                                                                                   15     Putrak M, Bartlome Wyss N, Gloor S, et al. COVID-19 infections
                                Literatur                                                                                 among healthcare workers: Epidemiology, potential modes of
                                  1 Zhu H, Wei L, Niu P. The novel coronavirus outbreak in Wuhan,                         transmission and cluster analyses. In: Joint session 2 Posterflashes
Korrespondenz:                      China. Glob Health Res Policy 2020;5(1):6.                                            SSI-SSHH. 2020.
Mariesol Abbühl, cand. med.       2 Neues Coronavirus COVID-19: Erster bestätigter Fall in der Schweiz             16     Bestätigte Fälle im Kanton Bern [Internet, cited 2020 december 21].
Medizinische Fakultät               [Internet]. BAG; 2020. Available from: https://www.bag.admin.ch/                      Available from: https://www.besondere-lage.sites.be.ch/
Murtenstrasse 11                    bag/de/home/das-bag/aktuell/medienmitteilungen.msg-id-78233.                          besondere-lage_sites/de/index/corona/index.html
CH-3008 Bern                        html                                                                           17     Lisboa Bastos M, Tavaziva G, Abidi SK, et al. Diagnostic accuracy of
mariesol.abbuehl[at]              3 Salath M, Althaus CL, Neher R, et al. COVID-19 epidemic in                            serological tests for covid-19: systematic review and meta-analysis.
students.unibe.ch                   Switzerland: on the importance of testing, contact tracing and                        BMJ 2020;m2516.

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN                     2021;21(6):183–187
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.               See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
FORSCHUNG                                                                                                                                   PEER REVIEW ED ARTICLE | 188

Projekt 31 des Nationalen Forschungsprogramms 74 «Smarter Health Care»

Können sorgende Gemeinschaf-
ten die häusliche Langzeitversor-
gung verbessern?
 Heidi Kaspar a , Katharina Pelzelmayer b , Anita Schürch a , Fabian Bäumer c , Tanja Ertl c , Shkumbin Gashi a ,
­C laudia Müller c , Timur Sereflioglu c , Karin van Holten a
 a
   Kompetenzzentrum Partizipative Gesundheitsversorgung, Departement Gesundheit, Berner Fachhochschule; b Careum Hochschule Gesundheit,
­K alaidos Fachhochschule; c Wirtschaftsinformatik, insbesondere IT für die alternde Gesellschaft, Universität Siegen

Vorstellung Forschungsprojekt                                    fern können. Sorgende Gemeinschaften                                im Sommer/Herbst 2020 Gespräche auf
                                                                 ­r ücken Sorgearbeit ins Zentrum der Gesell-                        der Basis eines gemeinsam erstellten Leit-
Problemstellung                                                  schaft und machen sie zur Gemeinschafts-                            fadens. Die Analyse der Interviewdaten
Im Bereich der Betreuung können in der                           aufgabe von Professionellen, Behörden und                           wurde vom Forschungsteam vorbereitet
Schweiz ambulante Dienste die häusliche                          der Zivilgesellschaft [1].                                          und anschliessend mit der ganzen Gruppe
Langzeitversorgung oftmals nicht in genü-                                                                                            vertieft. Dass sich soziale Beziehungen po-
gendem Mass gewährleisten. Haushalte                             Vorgehen                                                            sitiv auf die Gesundheit auswirken, ist in-
müssen Betreuungsleistungen trotz Kran-                          Wir haben uns in den Regionen Bern und                              zwischen hinlänglich bekannt [5]. Unsere
kenversicherung privat organisieren und                          Zürich gemeinsam mit lokalen Spitex-Or-                             Interviews zeigten allerdings, wie viel-
bezahlen. Denn im Gegensatz zur Pflege ist                       ganisationen sowie weiteren Beteiligten                             schichtig und anforderungsreich der Pro-
Betreuungsarbeit kaum gedeckt. Diese                             der politischen Gemeinde, der Zivilbevöl-                           zess des Hilfeannehmens und -gebens ist.
Lücke wird oft von Frauen durch unter-
­                                                                kerung und von NGOs an drei Standorten                              Die informelle gegenseitige Unterstützung,
oder unbezahlte Arbeit überbrückt. Das                           zum Ziel gesetzt, sorgende Gemeinschaften                           die in sorgenden Gemeinschaften im Zent-
Projekt «CareComLabs» untersucht, inwie-                         aufzubauen. Diese Gemeinschaften vollzie-                           rum steht, basiert aber genau darauf. Die
fern sorgende Gemeinschaften (Caring                             hen jeweils folgende drei Arbeitsschritte:                          Gruppe identifizierte deshalb das Hilfe ge-
Communities) einen Beitrag zur Verbesse-                         1. Sie erkunden und dokumentieren den                               ben und empfangen als Schlüsselprozess
rung der Langzeitbetreuung zuhause lie-                              ­lokalen Unterstützungsbedarf sowie be-                         und einigte sich, die aktive Auseinander-
                                                                     stehende Angebote;                                              setzung hierzu mit eigenen Aktionen zu
                                                                 2. sie entwickeln und implementieren Initia-                        unterstützen. Doch wie konkret vorgehen?
                                                                     tiven und Aktivitäten;
                                                                 3. und evaluieren und verbessern diese.                             Entwickeln und implementieren: Im Spät-
                                                                 Wir verbinden dabei innovative Ansätze                              herbst 2020 fanden in einem Pilotquartier
                                                                 aus den Bereichen Gesundheitsversorgung                             drei Begegnungsnachmittage statt. Das ge-
                                                                 und Technikentwicklung: Caring Communi-                             meindeeigene Spielmobil und ein Zeltdach
                                                                 ties [2] und Living Labs [3]. In der konse-                         lockten Personen dreier Generationen auf
                                                                 quent partizipativen Vorgehensweise ori-                            einen öffentlichen Platz. Obwohl Karten
                                                                 entieren        wir      uns       am      Ansatz        der        mit prägnanten Zitaten aus den Interviews
                                                                 Community-Based Participatory Research                              bereitlagen, entpuppte es sich als schwie-
                                                                 (CBPR) [4].                                                         rig, mit den Anwesenden genau hierzu ins
                                                                                                                                     Gespräch zu kommen. Irgendwie entspra-
                                                                 Praxisbeispiel                                                      chen sich Absicht und Form noch nicht op-
                                                                 Erkunden und dokumentieren: Um Genaue-                              timal. Da die Anlässe aber als Aktionen der
                                                                 res über die Unterstützungsbedürfnisse                              «Sorgenden Gemeinde» erkennbar waren,
                                                                 und -netzwerke von Menschen in unter-                               fühlten sich einige der anwesenden Quar-
                                                                 schiedlichen Lebenssituation zu erfahren,                           tierbewohnerinnen und -bewohner von
                                                                 suchten wir in einer Praxisgemeinde Inter-                          sich aus dazu angeregt, von positiven Be-
                                                                 viewerinnen und Interviewer. Nach einer                             ziehungen und erlebter Unterstützung im
                                                                 kurzen Schulung führten diese Personen                              eigenen Quartier zu erzählen.

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN                     2021;21(6):188–190
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Forschung                                                                                                                                                                                189

Evaluieren und verbessern: Einige der bei                            che Langzeitversorgung nachhaltig zu                            genden und einem Einbezug von betreuen-
diesen Begegnungsnachmittagen entstan-                               verbessern sowie                                                den     Angehörigen             sowie         weiteren
denen Kontakte werden nun im Frühjahr                            b) Erkenntnisse zum Prozess der Initiie-                            zivil­­gesellschaftlichen Kräften einhergehen.
2021 für zwei öffentliche Spaziergänge im                            rung, Entwicklung und Etablierung sor-                          Hier bietet die Vision von Caring Communi-
Pilotquartier aktiviert: Es ist vorgesehen,                          gender Gemeinschaften sowohl theore-                            ties einen möglichen Lösungsansatz. Da
dass Quartierbewohnerinnen und -bewoh-                               tischer wie auch praktischer Art.                               das Konzept aber sehr offen ist, muss es für
ner an verschiedenen Stationen erzählen,                         Mit Fokus auf Letzteres bereiten wir Grund-                         spezifische Situationen definiert werden,
wie sie das Miteinander im Quartier erle-                        lagenwissen sowie Erkenntnisse und Pra­                             damit keine falschen Hoffnungen in Bezug
ben und was sie dazu beitragen. Die Rund-                        xis­tipps aus diesem und anderen Projekten                          auf die Leistung von Freiwilligen geweckt
gänge ermöglichen also Anregung und                              als Materialsammlung auf. Sie soll
Auseinandersetzung, fördern aber auch die                        weitere Interessierte (Gemeinden,                          Menschen im sozialen Nahraum zu
niederschwellige           Begegnung           zwischen          Einzelpersonen, Vereine) darin unter-                      kennen, ist ein wichtiger Förderfaktor
Nachbarinnen und Nachbarn.                                       stützen, sorgende G
                                                                                   ­emeinschaften                           für spontane Nachbarschaftshilfe.
Die Initiative schafft damit einen kleinen                       aufzubauen. Bereits während der Pro-
Schritt in Richtung bessere Gesundheits-                         jektlaufzeit sind aus den anfänglich drei                           werden. Ich bin einerseits gespannt zu er-
versorgung im Quartier. Denn das haben                           geplanten
                                                                 ­                 sorgenden           Gemeinschaften                fahren, welche Rahmenbedingungen und
unsere Interviews deutlich gezeigt: Men-                         fünf geworden; Interesse hierzu besteht                             Prozesse die Bildung von sorgenden Ge-
schen im sozialen Nahraum zu kennen, ist                         also.                                                               meinschaften begünstigen. Anderseits in-
ein wichtiger Förderfaktor für spontane                                                                                              teressiert es mich zu sehen, welche ver-
Nachbarschaftshilfe. Und dank dem Rah-                                                                                               schiedene Arten von Caring Communities
                                                                 Kommentar von Dr. Antonia
menprogramm der sorgenden Gemeinde                                                                                                   entstehen und wie universell sie ihre Auf-
                                                                 Jann, Geschäftsführerin Age-­
folgen weitere Schritte wie ein «Hilfe-Ko-                                                                                           gaben definieren. Denn nimmt man die
                                                                 Stiftung
dex» oder eine Plakat-Aktion im öffentli-                                                                                            ­Bedürfnisse der Freiwilligen, wie sie im ak-
chen Raum. Wenn die Aktionen erfolgreich                         Angesichts der Herausforderungen, die der                           tuellen Freiwilligen-Monitor Schweiz [6]
sind, wird das Annehmen von Hilfe nach-                          demografische Wandel mitbringt, müssen                              beschrieben sind, ernst, müssten Caring
haltig enttabuisiert und vereinfacht.                            wir unsere Versorgungskonzepte neu den-                             Communities nicht nur Möglichkeiten für
                                                                 ken. Momentan basieren diese weitgehend                             ein langfristiges Engagement in der formel-
Erwartete Resultate und Implikatio-                              auf der Dichotomie «private Pflege zu                               len Freiwilligenarbeit bieten, sondern auch
nen für die Gesundheitsversorgung                                Hause» oder «professionelle Betreuung und                           Einsätze ermöglichen, die zeitlich begrenzt
Das Projekt liefert zweierlei Resultate:                         Pflege im Heim». Es braucht aber vermehrt                           und auf ein konkretes Problem bezogen
a) eine erste Einschätzung zum Potenzial                         durchlässige Lösungen, die mit einer besse-                         sind. Das wären dann kleine Caring Com-
   sorgender Gemeinschaften, die häusli-                         ren Koordination zwischen Leistungserbrin-                          munities als eine Art temporäre Task-

Zwei Fragen an Adrienne Schumacher, Pflegefachfrau bei der Spitex AareGürbetal. Sie engagiert sich im
Rahmen des NFP74-Projekts in der «Sorgenden Gemeinde Belp».
Wo liegt aus Ihrer Sicht das Potenzial von sorgen-               nen Umgebung. Wenn Nachbarinnen oder Nach-                          Mir scheint es sehr wünschenswert, dass wir das
den Gemeinschaften für die häusliche Versorgung?                 barn zum Beispiel mitbekommen, dass jemand im                       soziale Netzwerk der Klientin oder des Klienten
Wenn es gelingt, das Zusammengehörigkeitsge-                     Haus die Spitex braucht, fragen nur die wenigsten                   früh kennenlernen, am besten schon beim Erst-­
fühl bei der Bevölkerung wieder ins Bewusstsein                  nach, ob auch sie irgendwie unterstützen könnten.                   Assessment. Nur so können wir dieses aktiv einbe-
zu rufen, dann gewinnen wir viel. Ich erlebe immer               In einer sorgenden Gemeinschaft geht es aber ge-                    ziehen. Eine Erfahrung aus dem Projekt hat mich
wieder Klientinnen und Klienten, die sehr zurück-                nau um kleine Hilfeleistungen und ums «Zueinan-                     hierzu persönlich sehr weitergebracht: Als ich In-
gezogen leben. Dabei ist der Mensch ein soziales                 der-Schauen».                                                       terviews führte, merkte ich, wie gut es in kurzer
Wesen: Hat er ein Netzwerk und eine gute Nach-                                                                                       Zeit gelingen kann, eine Vertrauensbasis zur Klien-
barschaft, spürt er sich als Teil eines Ganzen und                                                                                   tin oder zum Klienten zu schaffen, wenn ich genau
bekommt Sicherheit und Vertrauen. Erlebt er, dass                Wie gelingt es Ihnen konkret, das Thema sorgende                    umgekehrt einsteige als sonst. Also nicht frage:
ihn andere unterstützen, fühlt er sich beachtet.                 Gemeinschaft in die Spitex einzubringen?                            «Welche Tabletten nehmen Sie? Wie viele Operati-
Kann er selber helfen, fühlt er sich gebraucht. Und              Ich persönlich brenne für dieses Projekt, für mich                  onen hatten Sie schon?», sondern mich von der
ich bin sicher: das wirkt sich positiv auf die Ge-               ist das soziale Umfeld etwas Zentrales. Durch                       ersten Minute an für den Menschen und sein sozi-
sundheit aus.                                                    meine Mitarbeit im Projekt erhalte ich den Anstoss,                 ales Netz interessiere. Dann entsteht ein anderes
Jeder Mensch hat eine Nachbarschaft. Das ist eine                dieses Thema immer wieder im Team anzuspre-                         Bild von dieser Person, eine andere Aufmerksam-
Ressource, die sich noch besser einbeziehen liesse.              chen. Wenig förderlich ist dabei der komplexe Pfle-                 keit – und auch Vertrauen.
Es gibt so viele Dinge, die Laiinnen und Laien zum               gealltag, manchmal steht und fällt alles mit dem                    Hoffentlich können wir irgendwann sagen: Sor-
Gesundheitswesen beitragen könnten, schon allein                 Arbeitsanfall, der hohen Arbeitsbelastung – dann                    gende Gemeinschaft ist aus dem Alltag nicht mehr
durch mehr Präsenz und Anteilnahme an der eige-                  hat nichts anderes mehr Platz.                                      wegzudenken!

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN                     2021;21(6):188–190
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