Naturschutzgenetik - FORUM für Wissen - DORA 4RI

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Naturschutzgenetik - FORUM für Wissen - DORA 4RI
Heft 60, 2017
WSL Berichte                                   FORUM
ISSN 2296-3588                                 für Wissen
                                                      2017

Naturschutzgenetik
Redaktion
Daniela Csencsics
Felix Gugerli

           Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL
           CH-8903 Birmensdorf
Naturschutzgenetik - FORUM für Wissen - DORA 4RI
Naturschutzgenetik - FORUM für Wissen - DORA 4RI
Heft 60, 2017
WSL Berichte                                        FORUM
ISSN 2296-3456                                      für Wissen
                                                           2017

Naturschutzgenetik
Redaktion
Daniela Csencsics
Felix Gugerli

         Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL
         CH-8903 Birmensdorf
Naturschutzgenetik - FORUM für Wissen - DORA 4RI
2                                                                                            Forum für Wissen 2017

Das Forum für Wissen ist eine Veranstaltung, die von der Eidg. Forschungsanstalt für Wald,
Schnee und Landschaft WSL durchgeführt wird. Aktuelle Themen aus den Arbeitsgebie-
ten der Forschungsanstalt werden vorgestellt und diskutiert. Neben Referenten von der
WSL können auswärtige Fachleute beigezogen werden. Gleichzeitig zu jeder Veranstaltung
«Forum für Wissen» erscheint eine auf das Thema bezogene Publikation in der Reihe WSL
Berichte. Alle Beiträge wurden von zwei Fachpersonen begutachtet.

Verantwortlich für die Herausgabe der Schriftenreihe
Prof. Dr. Konrad Steffen, Direktor WSL

Verantwortlich für dieses Heft
Prof. Dr. Rolf Holderegger, Leiter Forschungseinheit Biodiversität und Naturschutzbiologie
Daniela Csencsics, Stv. Gruppenleiterin Ökologische Genetik
Dr. Felix Gugerli, Gruppenleiter Ökologische Genetik

Schriftleitung
Sandra Gurzeler

Wir danken folgenden Personen, welche sich als Reviewer zur Verfügung stellten, für die
kritische Durchsicht der Beiträge und die hilfreichen Kommentare:
Kurt Bollmann, Rolf Holderegger, Christine Huovinen, Sabine Fink, Martin Fischer, Martin
Moritzi, Martina Peter, Jérôme Prunier, Maik Rehnus, Christian Sailer, Max Schmid, Bene-
dikt Schmidt, Gernot Segelbacher, Josef Senn, Christoph Sperisen und Ivo Widmer.

Zitierung
Csencsics, D.; Gugerli, F. (Red.) 2017: Forum für Wissen 2017. Naturschutzgenetik.
WSL Ber. 60: 82 S.

Layout
Jacqueline Annen, WSL
Sandra Gurzeler, WSL

Fotos Umschlag
1, 3: Martin C. Fischer, ETH
2, 5: Felix Gugerli, WSL
4: Nicolas Martinez, Hintermann & Weber
6: Sylvain Dubey, Hintermann & Weber

Bezugsadresse
WSL Shop
Zürcherstrasse 111
CH-8903 Birmensdorf
e-shop@wsl.ch
PDF Download: www.wsl.ch/berichte

ISSN 2296-3448 (Print)
ISSN 2296-3456 (Online)

© Eidgenössische Forschungsanstalt WSL
  Birmensdorf 2017
Naturschutzgenetik - FORUM für Wissen - DORA 4RI
Forum für Wissen 2017                                                                                  3

                        Vorwort

                        Genetische Vielfalt ist ein grundlegender Bestandteil der Biodiversität und muss
                        als solcher beachtet, beschrieben und erhalten werden. Dafür kommen moderne
                        genetische Methoden zum Einsatz, die als Werkzeug auch im praktischen Natur-
                        schutz zunehmend Anwendung finden. Die neuesten Technologien ermöglichen
                        es, genetische Muster und die ihnen zugrundeliegenden biologischen Prozesse
                        auf vielfältige Art und Weise zu beschreiben. Dennoch ist die Thematik in breiten
                        Kreisen der Praxis noch wenig bekannt und hohe Erwartungen stehen grundle-
                        gendem Misstrauen gegenüber. Damit Fachleute aus der Praxis das Potenzial ge-
                        netischer Methoden im Naturschutz besser einschätzen und dadurch zielgerichtet
                        anwenden können, ist der fortwährende Austausch zwischen Wissenschaft und
                        Praxis eminent wichtig. Dabei geht es auch darum, gegenseitiges Verständnis zu
                        entwickeln und gemeinsam spannende Fragen aus der Praxis mit Ansätzen aus der
                        Werkzeugkiste der Naturschutzgenetik gemeinsam zu klären.
                           Die Beiträge des diesjährigen WSL Forums für Wissen zum Thema Naturschutz-
                        genetik gliedern sich in einführende Beispiele aus der Forschung einerseits und
                        in konkrete Anwendung der genetischen Methoden oder der Forschungsresul-
                        tate in der Praxis andererseits. Es kommen verschiedenste methodische Ansätze
                        zur Sprache, und die räumliche, zeitliche wie auch taxonomische Auflösung ist in
                        den vorgestellten Beispielen ebenso unterschiedlich wie die dafür gesammelten
                        und analysierten Proben, die zur Beantwortung der gestellten Fragen verwendet
                        werden. Zudem wird ausgeführt, wie der Bund, insbesondere das Bundesamt für
                        Umwelt (BAFU), die Erfassung und Erhaltung genetischer Ressourcen in die lau-
                        fenden und zukünftigen Erhebungen und Monitorings einbinden wird. Letzteres
                        ist im Zusammenhang mit dem kürzlich verabschiedeten Aktionsplan zur Biodi-
                        versitätsstrategie Schweiz des Bundes besonders aktuell.
                           Für die sehr vielfältige Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Forums be-
                        danken wir uns bei Rolf Holderegger. Die Organisation des Forums und die Re-
                        daktion des Tagungsbandes wurde von folgenden Personen sehr umsichtig und
                        kompetent durchgeführt: Susanne Senn-Raschle, Sandra Gurzeler, Jacqueline
                        Annen, Lisa Bose, Christine Huovinen und Martin Moritzi. Ebenso war der WSL-
                        Hausdienst jederzeit ein unterstützender und hilfreicher Ansprechpartner. Ihnen
                        allen danken wir sehr herzlich.

                                                                        Birmensdorf, 28. November 2017

                                                                     Daniela Csencsics und Felix Gugerli
                                                                         Konrad Steffen, Direktor WSL
Naturschutzgenetik - FORUM für Wissen - DORA 4RI
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Forum für Wissen 2017                                                                                 5

                        Inhalt                                                                     Seite

                        Vorwort                                                                       3

                        Genetik im Naturschutz: eine Übersicht                                        7
                        Rolf Holderegger

                        Inzucht und ihre Bedeutung für den Naturschutz                               15
                        Iris Biebach und Lukas Keller

                        Isoliert oder vernetzt? Auswirkungen der Landschaft auf den Genfluss         23
                        Janine Bolliger und Felix Gugerli

                        Bedeutung der lokalen Anpassung in der Naturschutz­genetik                   31
                        Christian Rellstab, Martin C. Fischer, Daniela Csencsics, Felix Gugerli
                        und Rolf Holderegger

                        Der Boden – eine wertvolle Ressource für die genetische Vielfalt             39
                        Martin Hartmann und Christoph Sperisen

                        Werkzeugkasten für genetische Methoden in der Biodiversitätsförderung        49
                        Robert Meier und André Stapfer

                        Einsatz von eDNA im Amphibien-Monitoring                                     57
                        Benedikt R. Schmidt und Christoph R. Grünig

                        Bedeutung der Naturschutzgenetik für den Bund                                63
                        Francis Cordillot

                        Naturschutzgenetik aus Ökobürosicht – Chancen und Erfahrungen                71
                        Conny Thiel-Egenter

                        Application de la génétique de la conservation dans les bureaux d’études     77
                        en écologie
                        Christoph Bühler et Sylvain Dubey
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Forum für Wissen 2017: 7–13                                                                                                     7

Genetik im Naturschutz: eine Übersicht
Rolf Holderegger

Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL, Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf
rolf.holderegger@wsl.ch

Naturschutzgenetik stellt einerseits Grundlagen für die Argumentation im Natur-         menten des Bundes: zum Beispiel Stra-
schutz bereit. Andererseits wird sie bei Einzelstudien eingesetzt, bei denen es um      tegie zur Anpassung an den Klimawan-
die Beantwortung spezifischer Fragen aus der Praxis geht, zum Beispiel bei Er-          del (UVEK und BAFU 2013), Waldpo-
folgskontrollen. Anwendungsmöglichkeiten der Naturschutzgenetik reichen von             litik 2020 (BAFU 2013), Vollzugshilfe
der Erfassung ökologischer Prozesse wie Verbund oder Zerschneidung von Le-              zur Biodiversität im Wald (Imesch
bensräumen, über Arterkennung bis zur genetischen Fitness betreffend Inzucht,           et al. 2015), Waldbericht (Rigling
Angepasstheit und Anpassungsfähigkeit. Ein neues Thema ist genetisches Moni-            und Schaffner 2015) oder Umwelt-
toring, wo Veränderungen der genetischen Vielfalt in Raum und Zeit verfolgt wer-        ziele Landwirtschaft (BAFU und BLW
den. Der vorliegende Artikel gibt eine Übersicht über Möglichkeiten und Bedeu-          2008). Folgerichtig spielt Genetik im
tung von Naturschutzgenetik in der Praxis.                                              Bereich Biodiversität im Forschungs-
                                                                                        konzept des Bundesamts für Umwelt
                                                                                        BAFU für die Jahre 2017 bis 2020 eine
1 Genetik im Naturschutz:                   2 Genetik: Wie wichtig ist sie              wichtige Rolle (Pesch et al. 2016). Dort
  Mehr als eine Mode­strömung                 im Schweizer Naturschutz?                 werden Untersuchungen zur geneti-
                                                                                        schen Vielfalt von Arten, zum Evolu-
Genetische Methoden im Naturschutz          Bekanntlich umfasst die Biodiversität       tionspotenzial von (Meta-)Populatio-
sind in vieler Munde. In der P­ raxis be-   als Ganzes vier Ebenen: die genetische      nen und zur Vernetzung bzw. ökologi-
sonders beliebt ist es, Arten mit gene-     Vielfalt innerhalb von Arten sowie          schen Infrastruktur verlangt. Also: von
tischen Methoden zu bestimmen, also         die Vielfalt der Arten, Lebensräume         der genetischen Diversität bis zur ge-
eine Antwort auf die Frage zu ­finden,      und Wechselwirkungen. Will man den          netischen Untersuchung einer einzel-
welche Arten in einem Gebiet vorkom-        Rückgang der Biodiversität und das          nen Art – Genetik in allen Papieren!
men. Mittels einer Teichwasserprobe         Aussterben von Arten oder Populati-            Und in der Realität? Genetische
können zum Beispiel Amphibien be-           onen aufhalten, so müssen auch geneti-      Überlegungen oder Zielsetzungen spie-
stimmt werden – mit bekannterweise          sche Aspekte in die Planung und Mass-       len in der Praxis noch eine beschei-
grossem medialem Echo. Aber geneti-         nahmen einfliessen. Welche Vorgaben         dene Rolle, obwohl sie oft zur Argu-
sche Methoden im Naturschutz können         zum Schutz der genetischen Vielfalt als     mentation im Naturschutz herange-
viel mehr.                                  grundlegender Ebene der Biodiversität       zogen werden. Genetische Methoden
   Die einen in Wissenschaft, Behör-        und welche Konzepte zur Verwendung          werden selten in Einzelstudien einge-
den, Praxis und Öffentlichkeit sind fas-    genetischer Methoden im Naturschutz         setzt. Dabei haben genetische Metho-
ziniert von den Möglichkeiten der Ge-       gibt es in der Schweiz?                     den inzwischen Praxistauglichkeit er-
netik: Letztere erscheinen (fast) un-         In der Strategie Biodiversität Schweiz    reicht. Sie können routinemässig ein-
begrenzt und neue Perspecktiven im          (Schweizerische       Eidgenossenschaft     gesetzt werden, und ihre Kosten sind
Naturschutz öffnen sich. Andere sind        2012) spielt genetische Vielfalt eine       wegen des grossen technischen Fort-
gegenüber der Genetik im Naturschutz        grosse Rolle: Die Biodiversitätsstrate-     schritts stark gesunken.
eher skeptisch eingestellt. Wie aber        gie fordert, dass die genetische Vielfalt
sind die Möglichkeiten für Genetik im       von wildlebenden Tieren, Pflanzen, Pil-
Naturschutz tatsächlich einzuordnen?        zen und Bodenorganismen, aber auch
Wie, wann und warum sollen geneti-          von Nutztieren und -pflanzen für die        3 Einige grundlegende
sche Methoden im praktischen Natur-         Zukunft erhalten, die genetische Ver-         ­Gedanken
schutz angewandt werden? Werden ge-         armung bis 2020 gestoppt und ein Kon-
netische Methoden im Naturschutz nur        zept für die Überwachung der geneti-        Viele ökologische Faktoren und Pro-
deshalb verwendet, weil sie Mode und        schen Vielfalt eingeführt werden. Auch      zesse beeinflussen die genetische Viel-
technisch machbar sind oder bieten sie      soll die Anpassungsfähigkeit der Arten      falt einer Population. Dies ist darum
einen wirklichen Mehrwert? Das Ziel         an den Klimawandel sichergestellt wer-      der Fall, weil die Populationsgrösse mit
des vorliegenden Artikels ist es, eine      den, wobei der Vernetzung zwischen          der genetischen Vielfalt zusammen-
kurze Übersicht zu den Möglichkeiten,       Populationen für den Austausch von          hängt. Es gilt die Faustregel: Je grösser
der Bedeutung und den Grenzen von           Erbgut eine wichtige Rolle zukommt.         die Population, desto grösser ist ihre ge-
Genetik und genetischen Methoden im         Dies mündet in die Forderung einer          netische Vielfalt. Damit wirken sich alle
Naturschutz zu geben.                       funktionierenden ökologischen Infra­        Faktoren und Prozesse, die die Popula-
                                            struktur für die Schweiz. Eine ähnlich      tionsgrösse bestimmen, auch auf die ge-
                                            starke Gewichtung der genetischen           netische Vielfalt aus (Abb. 1). Es sind
                                            Vielfalt findet man in weiteren Doku-       dies zum Beispiel Lebensraumverän-

WSL Berichte, Heft 60, 2017
Naturschutzgenetik - FORUM für Wissen - DORA 4RI
8                                                                                                                 Forum für Wissen 2017

    Lebensraumänderung
    Lebensraumverlust                                                                                            Inzucht
    Landnutzungsänderung                Populations-              Genetische             Genetische
                                        grösse                    Vielfalt               Fitness                 Angepasstheit
    Zerschneidung                                                                                                Anpassungsfähigkeit
    Klimawandel

                                                         Individuenbestimmung
                                                         Raumnutzung
                                                         Artbestimmung

Abb. 1. Eine zentrale Grösse im Naturschutz ist die lokale Populationsgrösse (bzw. die Grösse der Metapopulation). Wegen der Abhängigkeit
der genetischen Vielfalt einer Population (Mitte) von ihrer Grösse lassen sich via Genetik Rückschlüsse auf ökologische Prozesse ziehen, die
die Populationsgrösse beeinflussen. Dies gilt etwa für den Austausch von Individuen und Genen (Genfluss) zwischen Populationen (linke
Seite). Die genetische Vielfalt beeinflusst hingegen, wie überlebensfähig eine Population kurz- und langfristig ist (genetische Fitness). Mit
genetischen Methoden können Inzucht, Angepasstheit oder Anpassungsfähigkeit untersucht werden (rechte Seite). Da die Individuen und
Arten der Wirbeltiere und Gefässpflanzen sowie vieler Insekten, Moose und Flechten eine einzigartige genetische Zusammensetzung auf-
weisen, kann man mit genetischen Methoden auch Individuen (sowie deren Raumnutzung) und Arten bestimmen (blau unten).

derungen und -verlust, Landnutzungs-            4 Was lässt sich mit Natur­                     dere in Teilbereichen des Naturschut-
änderungen, Zerschneidung oder Kli-               schutzgenetik untersuchen?                    zes wichtige genetische Anwendungen
mawandel. Der obige Zusammenhang                                                                wie bei der Hybridisierung (etwa zwi-
zwischen Populationsgrösse und geneti-          Drei grössere Themenkreise können               schen einheimischen und nicht-einhei-
scher Vielfalt ermöglicht es umgekehrt,         mit Genetik im Naturschutz angegan-             mischen Arten oder zwischen Haus-
anhand der genetischen Vielfalt Rück-           gen werden: 1. Genetische Methoden              und Wildtieren, wie zum Beispiel bei
schlüsse auf diese Prozesse zu ziehen,          können für die Beschreibung von öko-            der Wildkatze; Nussberger et al. 2014),
also zum Beispiel von der genetischen           logischen Prozessen verwendet werden;           die hier aber nicht weiter behandelt
Zusammensetzung von Populationen                2. Genetische Methoden erlauben die             werden.
auf deren Zerschneidung zu schliessen.          Bestimmung von Individuen und Ar-
   Des Weiteren hat die genetische              ten; 3. Mit Genetik kann die genetische
Vielfalt direkten Einfluss auf Indivi-          Fitness geschätzt werden. Es gibt also          4.1 Untersuchung ökologischer
duen und Populationen. Man spricht              vielfältige Anwendungsmöglichkeiten                 Prozesse
von genetischer Fitness (Abb. 1). Im            von genetischen Methoden im Natur-
Fokus stehen hier die von der geneti-           schutz (Holderegger und Segelba-                Wenn es um ökologische Prozesse wie
schen Vielfalt massgeblich beeinflusste         cher 2016). Aus dieser Palette von An-          Zerschneidung oder Verbund von Po-
Angepasstheit und Anpassungsfähig-              wendungen betrachte ich die in Tabelle          pulationen geht, können genetische
keit sowie die Inzucht und ihre nega-           1 gegebenen als für die Naturschutz-            Methoden einen grossen Beitrag zum
tiven Folgen (Abb. 1) – Themen, die im          Praxis, für die überkommunale Pla-              Naturschutz leisten. Wieso ist dies Fall?
Naturschutz bei Wiederansiedlungen              nung im Naturschutz und auch für die            Betrachtet man die derzeit gängige
oder bei den Auswirkungen des Klima-            Argumentation im Naturschutz gegen-             ­Praxis der Planung von Vernetzung im
wandels diskutiert werden. Wiederum             über Politik und Öffentlichkeit als be-          praktischen Naturschutz, so zeigt sich
gilt allgemein, je höher die genetische         sonders wichtig. Daneben gäbe es an-             ungefähr folgendes Bild. Entlang der in
Vielfalt, desto besser.
   Schliesslich besitzen (fast) alle höhe-
ren Organismen eine einzigartige ge-
netische Zusammensetzung (Geno-                 Tab. 1. Wichtige Anwendungen von Genetik und genetischen Methoden im Naturschutz.
typ). Bekannt ist uns das vom Men-
schen, wo jedes Individuum genetisch            Ökologische Prozesse       Verbund und Zerschneidung (Wanderung und        Abb. 2a–d
einzigartig ist (genetischer Fingerab-                                     Austausch von Individuen und Genen zwischen Po-
                                                                           pulationen)
druck; ausser bei eineiigen Zwillingen).
Auch Arten unterscheiden sich gene-                                        Veränderung der Populationsgrösse                      Abb. 2e
tisch vonein­ander, ist es doch die ge-         Individuen- und            Bestimmung der Populationsgrösse                       Abb. 2f
netische Zusammensetzung, die Arten             Artbestimmung              Raumnutzung von Individuen                             Abb. 2g
ausmacht. Somit kann man genetische                                        Artbestimmung (Barcoding oder Metabarcoding)           Abb. 2h
Methoden verwenden, um Individuen               Genetische Fitness         Inzucht                                                Abb. 2i
innerhalb einer Art zu bestimmen bzw.
                                                                           Angepasstheit                                          Abb. 2k
man kann mit ihnen Arten unterschei-
                                                                           Anpassungsfähigkeit                                    Abb. 2l
den (Abb. 1).

                                                                                                            WSL Berichte, Heft 60, 2017
Forum für Wissen 2017                                                                                                                  9

den kantonalen Richtplänen vorgege-                  (a)                              (b)                                  (c)
benen Vernetzungskorridore werden
verschiedenste Massnahmen ergriffen
und bestehende Schutzgebiete, natur-
nahe und renaturierte Flächen oder
verschiedenste strukturelle Einzelele-
mente zu einem Vernetzungskorridor          Aktuelle Wanderer                   Austauschrate                 Austauschrate während
zusammengefasst. Andere Möglichkei-                                           innerhalb weniger             vieler Generationen (gene-
                                                                                Generationen                  tische Differenzierung)
ten sind punktuelle Verbesserungen
wie Grünbrücken, um die Durchgängig-                                                                                       (f)
                                                     (d)                              (e)
keit für Wildtiere wiederherzustellen.
Schliesslich werden für einzelne Arten
oder Artengruppen Trittsteine erstellt,                                                Zeit
so zum Beispiel neue Teiche zwischen
bereits vorhandenen Amphibien-Laich-
gewässern. Alle diese strukturellen Ver-        Genetische                       Reduktion                      Bestimmung Popula-
netzungsmassnahmen dienen dazu – so              Gruppen                      Populationsgrösse                 tionsgrösse aufgrund
                                                                                                                  genetischer Typen
wird angenommen –, den verschiede-
nen Arten sicheren Zugang zu Teil­                   (g)                            (h)                                    (i)
lebensräumen zu gewährleisten, Wie-                                            AGCAGCATTACG
der- und Neubesiedlungen zuzulassen,                                           AGCAAAAATACG
den Austausch zwischen Populationen                                                   Art?
möglichst über grosse Räume hinweg                                            Referenzdatenbank
zu gewährleisten und so auch den gene-
tischen Austausch sicherzustellen.
   Doch Hand aufs Herz: Wir planen                                                  Art XY
das alles aus Menschensicht nach bes-
                                              Raumnutzung                         Genetische                        Bestimmung von
tem Wissen und Gewissen. Aber was                                               Artbestimmung                  Inzucht mittels genetischer
                                               von Tieren
wissen wir wirklich darüber, über wel-                                            (Barcoding)                      Zusammensetzung
che Distanzen Organismen wandern,
wie häufig sie das tun, welche Land-                       (k)                                                     (l)
schaftselemente für sie dabei Barrieren    Lebensraum            Lebensraum                         Heutiger             Zukünftiger
                                               Rot                  Blau                          Lebensraum             Lebensraum
oder Vernetzungselemente darstellen
und ob unsere Massnahmen grossräu-
mig überhaupt wirken? Mit Ausnahme
einiger gut untersuchter Wirbeltierar-                                                                            Zeit
                                                                                                                                 †
ten wissen wir sehr wenig. Gerade beim
Thema Verbund und Zerschneidung
können genetische Methoden (oder              Gut                 Schlecht
                                           angepasst             angepasst
Besenderungen mit GPS-Sendern) we-
sentlich zu unserem Verständnis dieser             Angepasstheit
                                                                                                        Anpassungsfähigkeit
ökologischen Prozesse beitragen.
   Genetische Methoden erlauben es,        Abb. 2. Anwendungsmöglichkeiten der Naturschutzgenetik.
den Austausch und die Wanderung            (a–e) Kapitel 4.1. (a) Erfassung aktuell gewanderter Individuen. Kreise: Populationen; far-
von Individuen und Genen (Genfluss)        bige Punkte: verschiedene genetische Typen; Pfeile: Wanderungsrichtung. (b) Austauschrate
zu erfassen – und dies auf verschiede-     innerhalb weniger Generationen (Quellen und Senken). Zweifarbige Punkte: Individuen,
nen Zeitskalen. Es lassen sich einer-      die verschiedene Genvarianten von ihren Eltern geerbt haben. Hier, Nachkommen von an-
seits die sich ausbreitenden Individuen    sässigen Individuen und eingewanderten Individuen; Dicke der Pfeile: Ausmass des Aus-
                                           tausches und dessen Richtung. (c) Austauschraten während vieler Generationen. Farbige
selbst bestimmen, indem man sie ih-
                                           Kreise: genetische Zusammensetzung der ganzen Population; schwarze zweiköpfige Pfeile:
ren Ursprungspopulationen zuordnet         Austauschrate (im Verhältnis umgekehrt zur genetischen Differenzierung). (d) Geografisch
(Abb. 2a) und dabei auch Aussagen          strukturierte genetische Gruppen, hier beidseits einer Strasse. (e) Verkleinerung der Popu-
zu ihren Ausbreitungsdistanzen erhält.     lationsgrösse.
Anderseits kann man Austauschraten         (f–h) Kapitel 4.2. (f) Bestimmung der Individuenzahl aufgrund der vorkommenden geneti-
und ihre Richtung zwischen Populatio-      schen Typen in einem Untersuchungsgebiet (Rechteck) zur Abschätzung der Populations-
nen während der letzten paar Genera-       grösse. (g) Raumnutzung von Tieren. Farbige Polygone: genutzter Raum eines Individuums.
                                           (h) Genetische Artbestimmung (Barcoding) aufgrund von DNA-Sequenzen und Vergleich
tionen bestimmen (Abb. 2b) oder man
                                           mit einer Referenzdatenbank.
untersucht wie sich Populationen gene-     (i–l) Kapitel 4.3. (i) Bestimmung der Inzucht aufgrund der genetischen Zusammensetzung
tisch unterscheiden (genetische Diffe-     von Individuen (einfarbig: homozygot; zweifarbig: heterozygot). (k) Angepasstheit. Farbige
renzierung). Letzteres erlaubt Aussa-      Rechtecke: verschiedene Lebensräume. (l) Anpassungsfähigkeit. Im oberen Fall besteht
gen zum längerfristigen Verbund und        keine Anpassungsfähigkeit an einen veränderten Lebensraum.

WSL Berichte, Heft 60, 2017
10                                                                                                      Forum für Wissen 2017

Austausch zwischen Populationen über           Stellen wir uns vor, wir wollen wis-         Aus den obigen Daten lassen sich
viele Generationen hinweg (je weni-         sen, wie viele Baummarder in einem           weitere Information – quasi gratis –
ger verschieden, desto mehr Austausch;      Gebiet leben. Zählen lassen sie sich         ableiten: zum Beispiel die Raumnut-
je verschiedener, desto weniger Aus-        kaum. Mittels Beobachtungen und Fo-          zung von Individuen (Reviergrösse
tausch; Abb. 2c; Bolliger und Gu­           tofallen lassen sich die Einzeltiere nicht   oder home range; Abb. 2g). Verbindet
gerli 2017, in diesem Band). Der Vor-       unterscheiden. Die Anzahl Baummar-           man nämlich die Orte, an denen der
gang fehlenden Austauschs zwischen          der lässt sich aber genetisch bestim-        Kot desselben Individuums gefunden
Populationen oder Gruppen von Po-           men: Wir sammeln im ganzen Gebiet            wurde, miteinander, so ergibt sich ein
pulationen führt zu geografisch struk-      den Kot von Baummardern und analy-           Polygon. Dieses zeigt, welches Gebiet
turierten Gruppen, die sich genetisch       sieren diesen im Labor. Denn der Kot         ein Individuum innerhalb der unter-
nachweisen lassen (Abb. 2d). Welcher        von Tieren enthält Erbgut (DNA) des          suchten Fläche während des Sammel-
Zeitraum betrachtet wird, hängt von         jeweiligen Individuums. Weder haben          zeitraums der Kotproben genutzt hat.
der Generationsdauer der untersuch-         wir dabei einen Baummarder gesehen,          Die gleiche bzw. detailliertere Informa-
ten Arten ab: von unter einem Jahr bei      noch mussten wir einen fangen, um ge-        tion erhält man mit Besenderungen.
Insekten bis zu Jahrzehnten bei Bäu-        netische Proben zu nehmen (nicht-in-            Eine auch in der Schweiz besonders
men.                                        vasives Sammeln). Aufgrund der ver-          populäre Anwendung – die oft als ge­­
   Bei alldem – und das ist der entschei-   schiedenen genetischen Zusammen­             netisches Monitoring bezeichnet wird
dende Punkt – erfassen wir, was tat-        setzung der DNA im Kot finden wir            (siehe aber unten) – ist die Artbestim-
sächlich zwischen Population in gross-      heraus, wie viele Individuen des Baum-       mung mittels genetischer Methoden.
räumigen Landschaften geschieht oder        marders im Gebiet mindestens vor-            Arten sind genetisch voneinander ver-
geschah (funktionale Vernetzung),           kommen. Vermutlich haben wir von             schieden, was sich zu deren Bestim-
unabhängig von unserer Menschen-            manchen Baummarder-Individuen zig-           mung nutzen lässt. In der Regel ver-
sicht. Zerschneidung und Verbund            fach Kot gesammelt und von anderen           wendet man ein kurzes Stück der DNA
werden in den Kapiteln von Bolliger         nur einmal oder sogar keinmal. Was           (DNA-Sequenz), das sich zwischen,
und Gugerli (2017) und Meier und            sich also bestimmen lässt ist die Anzahl     aber nicht innerhalb von Arten unter-
Stapfer (2017) in diesem Band näher         verschiedener genetischer Typen, die         scheidet. Jede Art zeigt gewissermas-
behandelt. Dort finden sich konkrete        der Mindestanzahl des Baummarders            sen einen einzigartigen genetischen
Beispiele.                                  im Gebiet entspricht (Abb. 2f). Natür-       Strichcode; man spricht von geneti-
   Auch ein ganz anderer ökologischer       lich müssen wir sicher sein, dass es Kot     schem Barcoding. Man sammelt eine
Prozess lässt sich mit Genetik erfassen,    vom Baum- und nicht vom Steinmarder          Probe im Feld – das kann eine geneti-
nämlich ob in der Vergangenheit eine        ist. Auch diese Artbestimmung erfolgt        sche Probe direkt vom Organismus
starke Reduktion der Populations-           genetisch (siehe weiter unten). Die Er­­     oder eine nicht-invasive Probe wie Kot,
grösse stattgefunden hat. Eine solche       fah­rung zeigt, dass die genetische Be­­     Haare, Federn usw. sein –, analysiert
Studie lässt Rückschlüsse darauf zu, ob     stimmung der Populationsgrösse meist         diese im Labor und vergleicht die er-
eine Art früher in einem Gebiet deut-       grösser ausfällt als jene, die mit her-      haltene DNA-Sequenz mit einer Refe-
lich häufiger war als heute. Dazu benö-     kömmlichen ökologischen Zähl- oder           renzdatenbank, die die DNA-Sequen-
tigt man entweder altes Museumsmate-        Monitoring-Methoden bestimmt wurde.          zen aller relevanten Arten enthält. So
rial, das man mit heutigen genetischen      Manchmal unterscheiden sich die Er-          kann man feststellen, um welche Art es
Proben genetisch vergleicht, oder man       gebnisse sogar drastisch (Gugerli et  al.    sich handelt (Abb. 2h).
weist eine Reduktion der Populations-       2008).                                          Besonders eindrücklich sind Bei-
grösse mittels statistischer Verfahren         Übrigens ist uns dieser Ansatz der        spiele, bei denen aus einer kleinen
aufgrund der heute vorkommenden ge-         genetischen Bestimmung von Indivi-           Menge Wasser bestimmt wird, welche
netischen Vielfalt nach (Abb. 2e). Bis-     duen anhand von Kot- oder Speichel-          Lebe­ wesen in einem Teich vorkom-
lang wurden solche Tests in Mitteleu-       proben aus den Massenmedien bes-             men. Das Erbgut dieser Lebewesen
ropa selten und nur für spezifische Ziel-   tens bekannt. Er wird gebraucht, wenn        schwimmt natürlich im Teichwasser, da
arten durchgeführt, zum Beispiel beim       es zum Beispiel darum geht festzustel-       es über Kot, über die Haut oder durch
Birkhuhn (Segelbacher et al. 2014).         len, welcher Bär in der Schweiz gese-        das Absterben der Lebewesen ins Was-
                                            hen wurde oder ob ein Schaf von wel-         ser gelangt. Man spricht hierbei von
                                            chem Wolf gerissen wurde.                    Umwelt-DNA (eDNA = environmen-
                                               Genetische Daten können ausser-           tal DNA). So lässt sich genetisch fest-
4.2 Bestimmung von Individuen               dem verwendet werden, um mit statisti-       stellen, ob etwa der seltene Teichmolch
    und Arten                               schen Verfahren die Populationsgrösse        in einem Teich vorkommt. Natürlich
                                            noch genauer zu schätzen (Fang-Wie-          lassen sich auch mit einem Streich alle
Wie oben erwähnt, besitzt jedes Indi-       derfang). Ebenso kann die Anzahl der         Amphibienarten in einem Teich gene-
viduum der Wirbeltiere, aber auch der       Individuen, die sich an der Fortpflan-       tisch nachweisen – also nicht nur der
meisten Insekten, Gefässpflanzen, Pilze     zung beteiligen – also der eigentlich für    Teichmolch. Man spricht dann von Me-
und Flechten eine einzigartige gene-        den Naturschutz relevante Teil einer         tabarcoding.
tische Zusammensetzung (Genotyp).           Population – aufgrund theoretischer             Es ist leicht, sich weitere Anwendun-
Das kann man sich im Naturschutz zu-        Überlegungen berechnet werden. Bei-          gen genetischer Artbestimmung im Na-
nutze machen.                               des wird allerdings selten gemacht.          turschutz vorzustellen, vor allem dort,

                                                                                                    WSL Berichte, Heft 60, 2017
Forum für Wissen 2017                                                                                                        11

wo diese schwierig ist (z. B. bei Totholz-   bei wenigen Arten von besonderem            (Abb.  2l) – sind also Bestandteile der
pilzen und Flechten) oder wo Tiere           Interesse, vor allem bei grossen Wir-       Naturschutz-Argumentation.        Doch
heimlich leben und sich nur schwer be-       beltieren wie etwa dem Bartgeier, an-       was wissen wir zu Anpassung und An-
obachten lassen. Besonders wichtig ist       gewandt. Wie das geht und konkrete          passungsfähigkeit und zur Geschwin-
dabei das Vorhandensein einer voll-          Beispiele dazu, zeigt der Beitrag von       digkeit, mit der diese ablaufen, tat-
ständigen und qualitativ hoch­­­stehen­      Biebach und Keller (in diesem Band).        sächlich? Eigentlich wenig. Der Grund
den Referenzdatenbank (Schmidt und              Der letzte hier vorgestellte Themen-     dafür ist, dass Untersuchungen zu An-
Grünig 2017, in diesem Band). Das ist        kreis umfasst die Angepasstheit und         passung und Anpassungsfähigkeit bis-
leider für viele Artengruppen noch           Anpassungsfähigkeit von Organismen.         lang sehr aufwändig und fast nur im
nicht der Fall. In einigen Projekten und     Menschen verändern Lebensräume in           Rahmen wissenschaftlicher Untersu-
Programmen in der Schweiz wird Ge-           rasantem Tempo. Das können global           chungen bei Nutztieren und -pflan-
netik zur Artbestimmung aber bereits         wirkende Faktoren wie der in Massen-        zen durchgeführt wurden. Das ändert
(fast) routinemässig eingesetzt. Bei-        medien und Politik omnipräsente Kli-        sich derzeit rasant, da neue genetische
spiele zeigen Meier und Stapfer sowie        mawandel oder der flächendeckende           Techniken entwickelt werden, welche
Schmidt und Grünig in diesem Band.           Stickstoffeintrag sein, das können aber     die direkte Untersuchung von Anpas-
Hartmann (in diesem Band) macht zu-          auch lokal wirkende Faktoren wie            sung und auch die Vorhersage von An-
dem deutlich, wie die weitgehend un-         Landnutzungs- und Lebensraumverän-          passungsfähigkeit in die Zukunft erlau-
bekannte Biodiversität der Bodenorga-        derungen oder Schwermetallbelastung         ben (Mimura et al. 2016). Das Thema
nismen mittels genetischer Bestim-           sein. Manche Forscher behaupten so-         Angepasstheit und Anpassungsfähig-
mung zu­­gän­glich gemacht wird.             gar, dass heutige Umweltveränderun-         keit wird von Rellstab et al. (2017, in
                                             gen so grundlegend ablaufen, dass die       diesem Band) genauer vorgestellt. An-
                                             herkömmlichen Instrumente des Na-           gepasstheit spielt schon heute eine
4.3 Genetische Fitness                       turschutzes nicht mehr funktionieren,       wichtige Rolle im Naturschutz, etwa
                                             da ganz neue Ökosysteme mit neuen           dann, wenn es um Spenderflächen für
Die genetische Zusammensetzung ei-           Artenkombinationen entstehen wür-           Direktbegrünungen oder um Quellen-
nes Individuums beziehungsweise einer        den (Stöcklin 2017).                        populationen für (Wieder-)Ansiedlun-
Po­­
   pulation beeinflusst deren Zustand           Wie aber reagieren Arten auf Um-         gen oder Ex-situ-Vermehrungen geht.
massgeblich. Inzucht kann die Überle-        weltveränderungen? Beim Klimawan-
bensfähigkeit einer Population negativ       del ist dies augenfällig: Arten können
beeinflussen (Inzucht-Depression). Sol-      lokal aussterben, sie können an andere,
che Prozesse können sich kurzfristig         noch günstige Orte wandern oder sie         5 Einsatzmöglichkeiten von
auswirken. Die genetische Zusammen-          können sich anpassen. Betreffend Wan-         Genetik im Naturschutz
setzung von Individuen und Populatio-        derungen von Organismen infolge des
nen zeigt auch, wie gut diese an die heu-    Klimawandels sind wir recht gut un-         Wo können genetische Methoden im
tigen Lebensräume angepasst sind und         terrichtet (Essl und Rabitsch 2013).        Naturschutz eingesetzt werden? Aus
wie gut sie sich an zukünftige Änderun-      Die in der Strategie Biodiversität          den oben genannten Anwendungen
gen der Umwelt anpassen können.              Schweiz (Schweizerische Eidgenossen-        können vor allem vier Einsatzmöglich-
   Ob in einer Population Inzucht – also     schaft 2012) postulierte ökologische        keiten der Naturschutzgenetik abgelei-
die Paarung zwischen genetisch nah           Infrastruktur soll dieses Wandern von       tet werden.
verwandten Individuen – vorkommt,            Organismen infolge des Klimawandels            Mit genetischen Methoden können
lässt sich mit genetischen Methoden          begünstigen. Ob Klimawandel kurzfris-       Grundlagen zu Phänomenen und Pro-
bestimmen. Vor allem kleine Popu-            tig zum lokalen Aussterben von Arten        zessen, die für den Naturschutz wichtig
lationen weisen Inzucht auf (Frank-          führt, ist noch unklar. Wie aber steht es   sind, untersucht werden. Diese grund-
ham 2015). Allerdings bedeutet das           mit der Anpassung und Anpassungsfä-         legenden Untersuchungen sind for-
Vorkommen von Inzucht alleine noch           higkeit von Organismen? Oft wird mit        schungsnah. Ihre Ergebnisse fliessen
nicht, dass dies auch negative Folgen        der Erhaltung dieser Anpassungsfähig-       in die allgemeine Argumentation des
für die Anzahl der Nachkommen einer          keit im Naturschutz argumentiert: Eine      Naturschutzes ein. Wie weit wandern
Population und deren Überlebensfä-           hohe genetische Vielfalt sei wichtig, um    Tiere? Was sind Barrieren für die Aus-
higkeit haben muss (aber es kann!).          die Anpassungsfähigkeit von Organis-        breitung? Herrscht Inzucht in kleinen
    Jeder Nachkomme erbt zwei Vari-          men (Darwin 1859) und indirekt von          Populationen? Wie gross ist die Boden-
anten pro Gen, eine Variante von der         Lebensräumen an eine sich ändernde          biodiversität? Wie gross ist die Anpas-
Mutter, eine vom Vater. Sind diese Va-       Umwelt zu gewährleisten. Nur so wür-        sungsfähigkeit von Organismen? Dies
rianten gleich, liegt das Gen homo-          den auch deren Ökosystemleistun-            sind einige der vielen möglichen Fra-
zygot vor. Paaren sich genetisch nah-        gen längerfristig gesichert (Pesch et al.   gen, deren Beantwortung für den Na-
verwandte Individuen, ist die Wahr-          2016).                                      turschutz von allgemeiner Bedeutung
scheinlichkeit für Homozygotie gross.           Genetische Vielfalt, Angepasst-          ist. Was erarbeitet wird, ist Grundla-
Homozygotie gibt somit Auskunft über         heit (Abb. 2k) und Anpassungsfähig-         genwissen, zum Beispiel zur Wirksam-
das Ausmass von Inzucht (Abb. 2i). Ge-       keit – die Möglichkeit von Organis-         keit der ökologischen Infrastruktur.
naue Inzuchtuntersuchungen wurden            men, sich in Zukunft an ändernde Um-           Einzeluntersuchungen werden spe-
im praktischen Naturschutz bislang nur       weltbedingungen genetisch anzupassen        ziell für den praktischen Naturschutz

WSL Berichte, Heft 60, 2017
12                                                                                                           Forum für Wissen 2017

durchgeführt, meist zu wichtigen Ziel-           Genetische Methoden kann man                sich um die Erfassung der Veränderun-
arten des Naturschutzes. Beispielsweise       auch für Erfolgskontrollen einsetzen.          gen der genetischen Vielfalt von Arten
lauten die Fragen, ob die Populationen        In diesem Punkt ist das Potenzial der          in Raum und Zeit. Genetisches Moni-
des Moorbläulings in den zerstückel-          Naturschutzgenetik bislang nicht aus-          toring ist also ähnlich wie das Arten-
ten Mooren eines Mittellandkantons            geschöpft. Gerade im Bereich Verbund           und Lebensraummonitoring des Bun-
mitein­ander verbunden sind oder wie          ist vieles möglich: Führt eine Grünbrü-        des. Zielgrössen des genetischen Moni-
viele Schneehühner in einem Bergmas-          cke über eine Autobahn tatsächlich zu          torings sind dabei die Vernetztheit von
siv der Alpen leben. Solche genetischen       einer grossräumigen Lebensraumver-             Populationen, der Inzuchtgrad oder die
Untersuchungen sind weitgehend Rou-           netzung mit Fernwanderung oder ver-            für die Anpassungsfähigkeit relevante
tine. Es ist offensichtlich, dass hier ein    bindet sie einfach die lokal ansässigen        genetische Vielfalt (genetische Fitness).
grosses Feld für den Einsatz von Na-          Wildtiere rechts und links der Auto-           Wiederum stossen im Moment tech-
turschutzgenetik besteht. Es handelt          bahn, ohne massgebliche Wirkung im             nische Entwicklungen in der Genetik
sich dabei um evidenzbasierten Natur-         Hinterland? Durchmischen sich die              neue Türen auf. Zwar ist genetisches
schutz (Hofer 2016). Sind einmal viele        Arten einer frisch angesäten Wiese mit         Monitoring noch Neuland, aber es sind
genetische Einzelartenstudien durch-          jenen der Nachbarwiesen oder wurde             weltweit Überlegungen und Planun-
geführt, lassen sich daraus wieder all-       nur eine weitere nicht vernetzte Le-           gen dazu im Gang (Mimura et al. 2016);
gemeine Argumente ableiten. Die Bei-          bensrauminsel geschaffen?                      die Schweiz sollte nicht abseits stehen
träge von Thiel-Egenter (2017) sowie             Schliesslich fordert die Strategie Bio-     (Holderegger et al. 2016; Cordillot
Bühler und Dubey (2017) in diesem             diversität Schweiz (Schweizerische Eid-        2017, in diesem Band).
Band zeigen Beispiele für solche Ein-         genossenschaft 2012) ein genetisches
zelstudien aus der Schweiz.                   Monitoring (Abb. 3). Hier handelt es

                                                                                             6 Naturschutzgenetik ist kein
                                                                                               Allerweltsheilmittel

                                                                                             Die Erwartungen und Hoffnungen
                                                                                             an die Naturschutzgenetik sind hoch,
                                                                                             manchmal zu hoch. Nur ein Beispiel:
                                                                                             Zwar kann man genetisch bestimmen,
                                                                                             welche Amphibienarten in einem Ge-
                                                                                             wässer vorkommen, aber (noch) nicht,
                                                                                             wie viele Individuen es pro Art sind.
                                                                                             Wie alle Methoden hat auch die Na-
                                                                                             turschutzgenetik ihre positiven und
                                                                                             negativen Seiten. Einige dieser nega-
                                                                                             tiven Seiten sind methodische De-
                                                                                             tails, genetische Fachbegriffe und sta-
                                                                                             tistische Auswertungen, die nicht ein-
                                                                                             fach zu verstehen sind für diejenigen,
Abb. 3. Genetisches Monitoring muss verschiedene Lebensräume und Arten mit je ver-
schiedener Funktionalität umfassen. Beim genetischen Monitoring von Trockenwiesen            die nicht täglich damit zu tun haben.
(Xero- und Mesobrometum; links) kann beispielsweise das dominante und strukturgebende        Wieviel muss man als Prakti­kerIn bei
Gras dieses Wiesentyps – die häufige Aufrechte Trespe (Bromus erectus) – genetisch unter-    einer Behörde, bei einer Naturschutz-
sucht werden. Zusätzlich können die weniger häufige, aber doch regelmässig vorkommende       organisation oder in einem Planungs-
Spitzorchis (Anacamptis pyramidalis; Mitte) oder der seltene, streng an warm-trockene Le-    büro von Naturschutzgenetik verste-
bensräume gebundene Schmetterlingshaft (Libelloides coccajus; rechts) genetisch analysiert   hen (Abb. 4)? Es empfiehlt sich fol-
werden (Fotos: Rolf Holderegger).
                                                                                             gendes Vorgehen: Wer eine genetische
                                                                                             Untersuchung durchführen will, sollte
                                                                                             zuallererst eine möglichst präzise Frage
                                                                                             stellen. Mit Genetik-Spezialisten zu-
 Frage          Sammel-          Sammeln           Genetische                                sammen wird dann ein Konzept für das
                Konzept                           Laboranalyse
                                                                                             Sammeln der Proben erstellt. Hier ist
                                                                          Statistische
                                                                                             viel Fach- und Feldwissen gefragt, wes-
                                                                         Auswertungen
                                                                                             halb die PraktikerInnen einen mass-
    Umsetzung                  Schluss-            Interpretation                            geblichen Beitrag zu diesem Sammel-
  Implementierung            folgerungen           der Resultate
                                                                                             konzept leisten sollten. Was beim Sam-
                                                                                             meln falsch läuft, lässt sich später kaum
Abb. 4. Ablauf einer naturschutzgenetischen Einzeluntersuchung. Blau: Arbeitsschritte der
Praxis. Rot: Zusammenarbeit von Praxis und Genetik-Experten. Grau: Arbeitsschritte der       mehr korrigieren. Die genetischen
Genetik-Experten. Nur wenn die Frage präzise gestellt wird, kann eine naturschutzgeneti-     Analysen im Labor, die spezialisierten
sche Untersuchung gut auf die Umsetzung und Implementierung der Ergebnisse in der Na-        statistischen Auswertungen und die In-
turschutzpraxis ausgerichtet werden (zweiköpfiger blauer Pfeil).                             terpretation dieser Resultate kann man

                                                                                                        WSL Berichte, Heft 60, 2017
Forum für Wissen 2017                                                                                                                      13

getrost den Genetik-Spezialisten über-           Gugerli, F.; Jacob, G.; Bollmann, K., 2008:       sion in European wildcats in the Swiss
lassen, wobei natürlich von Praxisseite            Molekulare Marker erzählen aus dem Ge-          Jura. Conserv. Genet. 15: 1219–1230.
her Verständnis- und Rückfragen mög-               schichtenbuch: Auerhuhn-Populationsge-        Pesch, M.-L.; Jacquat, O.; Zürcher, D.,
lich sein müssen. Um aus der Interpre-             netik in den Schweizer Alpen. Ornith. Be-       2016: Forschungskonzept Umwelt für die
tation der Resultate Schlussfolgerun-              obachter 105: 77–84.                            Jahre 2017–2020. BAFU, Bern.
gen zu ziehen, müssen die PraktikerIn-           Hartmann, M., 2017: Der Boden – eine            Rellstab, C.; Fischer, M.C.; Csencsics, D.;
nen wieder wesentlich beitragen: Ein               wertvolle Ressource für die genetische          Gugerli, F.; Holderegger, R., 2017: Be-
gewisses Grundverständnis der geneti-              Vielfalt. WSL Ber. 60: 39–47.                   deutung der lokalen Anpassung in der
schen Resultate ist also wichtig (Hol-           Hofer, U., 2016: Evidenzbasierter Natur-          Naturschutzgenetik. WSL Ber. 60: 31–37.
deregger und Segelbacher 2016). Die                schutz. Haupt, Bern.                          Rigling, A.; Schaffer, H.-P. (Eds.), 2015:
Anwendung und Implementierung der                Holderegger, R.; Segelbacher, G. (Hrsg.),         Waldbericht 2015. BAFU, Bern.
Schlussfolgerungen ist dann natürlich              2016: Naturschutzgenetik. Ein Handbuch        Schmidt, B.; Grünig, C., 2017: Einsatz von
Sache der PraktikerInnen. Ein Wech-                für die Praxis. Haupt, Bern.                    eDNA zum Amphibien-Monitoring.
selspiel zwischen Genetik-Spezialis-             Holderegger, R.; Segelbacher, G.; Widmer,         WSL Ber. 60: 57–62.
ten von spezialisierten privaten Firmen            A., 2016: Genetisches Monitoring. In: Hol­    Schweizerische Eidgenossenschaft, 2012:
und Planungsbüros (Meier und Stap-                 der­egger, R.; Segelbacher, G. (Hrsg.).         Strategie Biodiversität Schweiz. BAFU,
fer 2017, in diesem Band) oder der For-            Naturschutzgenetik. Ein Handbuch für            Bern.
schung mit der Praxis ist somit nötig.             die Praxis. Haupt, Bern, 165–182.             Segelbacher, G.; Strand, T.M.; Quintela,
Naturschutz­genetische Methoden bie-             Imesch, N.; Stadler, B.; Bolliger, M.;            M.; Axelsson, T.; Jansman, H.A.H.; Koele­-
ten zwar nicht alles, aber vieles. Nutzen          Schneider, O., 2015: Biodiversität im Wald:     wijn, P.; Höglund, J., 2014: Analysis of
wir sie!                                           Ziele und Massnahmen. BAFU, Bern.               historical and current populations of
                                                 Meier, R.; Stapfer, A., 2017: Werkzeugkas-        Black Grouse in Central Europe reveal
                                                   ten für genetische Methoden in der Bio-         strong effects of genetic drift and genetic
Dank                                               diversitätsförderung. WSL Ber. 60: 49–56.       diversity. Conserv. Genet. 15: 1183–1195.
Ich danke Michèle Büttner, Felix Gu-             Mimura, M.; Yahara, T.; Faith, D.P.; Vazquez-   Stöcklin, S., 2017: Das gestaltete Naturpara-
gerli und einem anonymen Begutachter               Dominguez, E.; Colautti, R.I.; Araki, H.;       dies. Horizonte 113: 42-43.
für die gründliche Durchsicht und vielen           Javadi, F.; Nunez-Farfan, J.; Mori, A.S.;     Thiel-Egenter, C., 2017: Naturschutzgene-
Verbesserungen des Manuskripts sowie               Zhou, S.; Hollingsworth, P.M.; Neaves,          tik aus Ökobürosicht – Chancen und Er-
dem KTI-Projekt Nr. 19204.1 PFLS-LS                L.E.; Fukano, Y.; Smith, G.F.; Sato, Y.-I.;     fahrungen. WSL Ber. 60: 71–76.
für finanzielle Unterstützung.                     Tachida, H.; Hendry, A.P., 2016: Under-       UVEK; BAFU, 2013: Anpassung an den
                                                   standing and monitoring the consequen-          Klimawandel in der Schweiz. UVEK,
                                                                                                   ­
                                                   ces of human impacts on intraspecific va-       BAFU, Bern.
                                                   riation. Evol. Appl. 10: 121–139.
8 Literatur                                      Nussberger, B.; Wandeler, P.; Weber, D.;
                                                   Keller, L.F., 2014: Monitoring introgres-
BAFU, 2013: Waldpolitik 2020. BAFU, Bern.
BAFU; BLW, 2008: Umweltziele Landwirt-
  schaft. BAFU, Bern.                            Abstract
Biebach. I.; Keller, L., 2017: Inzucht und       Genetics in conservation management: an overview
  ihre Bedeutung für den Naturschutz.            Conservation genetics produces basic knowledge that forms part of the catalogue
  WSL Ber. 60: 15–22.                            of arguments for nature conservation. But it is also used in case studies, in which
Bolliger, J.; Gugerli, F., 2017: Isoliert oder   answers to specific questions from conservation management are sought for,
  vernetzt? Auswirkungen der Landschaft          e.g. studies on implementation success. Applications of conservation genetics
  auf den Genfluss. WSL Ber. 60: 23–29.          range from the determination of ecological processes such as connectivity or
Bühler, C.; Dubey, S., 2017: Application de      fragmentation, across species identification – e.g. the detection of species from
  la génétique de la conservation dans les       water samples through environmental DNA and barcoding – to the determination
  bureaux d’études en écologie. WSL Ber.         of genetic fitness encompassing inbreeding, adaptation and adaptability. A new
  60: 77–82.                                     theme is genetic monitoring. Here, changes in the genetic diversity of populations
Cordillot, F., 2017: Bedeutung der Natur-        and species are assessed across space and time. The present article provides an
  schutzgenetik für den Bund. WSL Ber. 60:       overview of the importance and the possibilities of conservation genetics in
  63–69.                                         practical conservation management.
Darwin, C., 1859: On the origin of species.
  John Murray, London.                           Keywords: conservation genetics, barcoding, connectivity, inbreeding, genetic moni­
Essl, F.; Rabitsch, W. (Hrsg.), 2013: Biodi-     toring, adaptability, conservation management
  versität und Klimawandel. Springer, Berlin.
Frankham, R., 2015: Genetic rescue of small
  inbred populations: meta-analysis reveals
  large and consistent benefits of gene flow.
  Mol. Ecol. 24: 2610–2618.

WSL Berichte, Heft 60, 2017
Forum für Wissen 2017: 15–22                                                                                                   15

Inzucht und ihre Bedeutung für den Naturschutz
Iris Biebach und Lukas Keller

Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften, Universität Zürich, Winterthurerstrasse 190, CH-8057 Zürich
iris.biebach@ieu.uzh.ch, lukas.keller@ieu.uzh.ch

Naturschutzrelevante Populationen sind meist klein und isoliert – Eigenschaften,         samte Leben betrachtet weniger fort-
die zu Inzucht führen. Ingezüchtete Individuen leiden häufig unter einer redu-           pflanzungsfähige Nachkommen hat als
zierten Fitness wie zum Beispiel geringere Fruchtbarkeit. Diese Inzuchtproble-           ein weniger ingezüchtetes. Die Ursa-
me wurden in vielen Wildpopulationen nachgewiesen. Ohnehin gefährdete kleine             chen dafür sind mannigfaltig, bei-
Popula­tionen werden also durch Inzucht noch stärker bedroht. Zudem bleiben die          spielsweise kann die Überlebenswahr-
negativen Effekte der Inzucht noch lange bestehen, nachdem eine Population wie-          scheinlichkeit dieses Individuums, sei-
der gewachsen ist. Beispielsweise ist dies bei wiederangesiedelten Steinbockpopu-        ne Abwehrkräfte gegen Krankheiten,
lationen in der Schweiz der Fall. Wenn Inzucht nicht berücksichtigt wird, besteht        die Fruchtbarkeitsrate oder das Über-
die Gefahr, das Aussterberisiko einer Population zu unterschätzen und somit den          leben seiner Nachkommen bis ins Er­­
Schutzstatus falsch einzuordnen. Daher sollte Inzucht und ihre negativen Folgen          wachsenenalter reduziert sein.
in kleinen oder ehemalig kleinen Populationen beachtet und gegebenenfalls mit               Am einfachsten lässt sich Inzuchtde-
geeigneten Massnahmen verringert werden.                                                 pression an einem Stammbaum veran-
                                                                                         schaulichen (Abb. 1). Jedes Individu-
                                                                                         um trägt an jedem Genort zwei Gen-
1    Was ist Inzucht?                       die Anzahl Jahre. So steigt die Inzucht      varianten in sich, wobei eine Variante
                                            während eines bestimmten Zeitraums           von der Mutter und die andere vom
Inzucht entsteht durch die Verpaarung       in Populationen von gleicher Grösse          Vater stammt. Nachkommen erben
von verwandten Individuen und kann          mit kurzer Generationszeit (z. B. ein-       zufällig eine der beiden Genvarian-
in zwei Kategorien eingeteilt werden.       jährige Pflanzen, kleine Singvögel)          ten von jedem Elternteil. Nachkom-
In der ersten Kategorie wählen Indi-        stärker an als bei solchen mit langer        men einer Geschwisterverpaarung kön-
viduen bevorzugt Verwandte als Paa-         Generationszeit (z. B. Steinbock, Ele-       nen – wenn sie die gleiche Genvariante
rungspartner, obwohl auch weniger           fant).                                       von jedem Elternteil vererbt bekom-
verwandte Individuen zur Auswahl              Selbst wenn eine kleine Populati-          men haben – zweimal die gleiche Gen-
stünden. Die ex­   tremste Form dieser      on wieder angewachsen ist, bleibt die        variante in sich tragen, die ursprünglich
Inzucht kommt bei denjenigen Orga-          Inzucht noch lange erhalten. Die ein-        vom Grossvater oder der Grossmut-
nismen vor, die sich selbst befruchten      zigen Möglichkeiten, die Inzucht in          ter stammen. Individuen, die zweimal
können, wie dies häufig bei Pflanzen        Populationen wieder zu reduzieren,           die gleiche Genvariante in sich tragen,
vorkommt. Bei Wirbeltieren kommt            sind die Einwanderung von Individu-          nennt man homozygot. Homozygot
Inzucht in natürlichen Populationen         en aus anderen Populationen oder die         an Genorten zu sein ist dann nachtei-
jedoch nur selten durch bevorzugte          Entstehung von neuen Genvarianten            lig, wenn die homozygote Genvarian-
Partnerwahl von Verwandten vor.             durch Mutationen im Erbgut. Letzte-          te schädlich und rezessiv ist. Rezessiv
   Bei der zweiten Kategorie handelt es     res ist ein langwieriger Prozess, der vie-   bedeutet, dass die Genvarianten nicht
sich um kleine Populationen, in denen       le Generationen dauert und den man           auffällig sind, solange eine der b­ eiden
die Anzahl der Paarungspartner allein       im Naturschutz nicht abwarten kann.          gesund ist. Das ist bei ­  heterozygoten
durch die geringe Grösse der Popula-        Denn nur wenige kleine und isolierte         Individuen der Fall, welche die schäd­
tion limitiert ist. Dadurch kommt es        Populationen werden ohne Eingreifen          liche Genvariante nur von einem El­­
selbst bei zufälliger Partnerwahl zur       eine so lange Zeit überleben.                tern­­­teil geerbt haben. Wenn aber ein
Verpaarung von verwandten Indivi-                                                        Individuum eine schädliche Genva-
duen. In Populationen, die im Natur-                                                     riante zweifach in sich trägt, kommen
schutz von Interesse sind, kommt auf-                                                    die Nachteile zum Vorschein, weil die
grund der oft begrenzten Populations-       2 Inzuchtdepression                          schädliche Genvariante nicht von einer
grösse diese Art der Inzucht häufig                                                      gesunden überdeckt wird. Solch schäd-
vor. Je länger Populationen klein sind,     Inzucht ist für naturschutzrelevan-          liche rezessive Genvarianten kommen
desto mehr Inzucht sammelt sich an.         te Populationen bedeutsam, weil inge-        häufig vor: Jeder Mensch trägt hunder-
Denn solange die Population klein           züchtete Individuen im Vergleich zu          te solcher schädlicher Genvarianten in
ist, kommt mit jeder Generation wei-        Individuen mit weniger Inzucht eine          sich (Agrawal und Whitlock 2012),
tere Inzucht zu der bereits bestehen-       niedrigere Fitness haben. Dies wird          meist aber in Kombination mit einer
den hinzu. Dabei ist zu bedenken, dass      als Inzuchtdepression bezeichnet. Eine       gesunden Genvariante. Beispielsweise
das relevante Zeitmass die Genera­          niedrigere Fitness bedeutet, dass das        ist die Ursache für die Krankheit cys-
tionszeit einer Population ist, und nicht   ingezüchtete Individuum über das ge­­        tische Fibrose eine rezessive Mutati-

WSL Berichte, Heft 60, 2017
16                                                                                                             Forum für Wissen 2017

on des Cystic Fibrosis Transmembrane           sogar nur dann nachweisbar sein. Zu             in Computersimulationen mit 18 Säu-
Conductance Regulator (CFTR) Gens.             den ungünstigen Umweltbedingungen               getier- und 12 Vogelarten die Zeit bis
  Anzahl und Art dieser schädlichen            zählen etwa widrige Kli­   mabedin­ gun­        zum Aussterben um ein Drittel ver-
Genvarianten unterscheiden sich von            gen oder starke Umweltveränderun-               kürzt (O’Grady et al. 2006). Es ist
Population zu Population. Die Unter-           gen. Beispielsweise galten Nacktmulle           jedoch nicht so, dass Inzuchtdepressi-
schiede zwischen Populationen ent­ste­         (Heterocephalus glaber) lange Zeit als          on immer zu einem geringeren Popu-
hen durch Unterschiede in der Ge­­­            Ausnahme unter den Wirbeltieren, da             lationswachstum führt. Das Populati-
schich­­
      te der Populationen, etwa, wie           sie trotz hoher Inzucht keine Anzei-            onswachstum wird zum Beispiel von
gross die Populationen in der Vergan-          chen von Inzuchtdepression aufwiesen.           Inzucht wenig beeinflusst, wenn weni-
genheit waren. Dementsprechend ist             Als ein fremdartiges Virus in einer Ko­­        ger ingezüchtete Tiere die geringe-
auch die Inzuchtdepression zwischen            lonie von Nacktmullen ausbrach, zeigte          re Anzahl an fortpflanzungsfähigen
Populationen verschieden ausgeprägt,           sich die Inzuchtdepression jedoch deut­         Nachkommen der mehr ingezüchte-
                                                                                               ­
da sie davon abhängt, wieviele und             lich: Stark ingezüchtete Tiere hatten           ten Tiere ausgleichen, indem sie selbst
welche schädlichen Genvarianten in­­
­                                              ein 300 Prozent höheres Risiko, an dem          mehr fortpflanzungsfähige Nachkom-
gezüchtete Individuen zweifach in sich         Virus zu sterben, als nicht ingezüchtete        men haben. Die Bedingungen, unter
tragen. Im Durchschnitt jedoch ist die         Tiere (Ross-Gillespie et al. 2007).             denen sich Inzucht auf das Populati-
Inzucht schädlich und die Nachteile der           Für den Naturschutz ist die Inzucht-         onswachstum auswirkt, sind jedoch
Inzucht wurden wiederholt in Wildpo-           depression vor allem dann bedeutsam,            noch wenig erforscht. Ebenso ist wenig
pulationen nachgewiesen. Beispielswei-         wenn sich der Fitnessverlust der inge-          darüber bekannt, wie häufig Wildpo-
se haben Singammern mit steigendem             züchteten Individuen auch im Popula-            pulationen auf Grund von Inzucht im
Inzuchtgrad eine geringere Lebens­             tionswachstum zeigt. Denn dann wird             Populationswachstum gehemmt sind
erwartung und eine geringere Anzahl            eine ohnehin kleine Population noch             (Kardos et al. 2016).
Nachkommen (Nietlisbach et al. 2017).          kleiner oder wächst nur sehr langsam
  In manchen Fällen zeigt sich ein Zu­­        an. Die Inzuchtprobleme verstärken
sammenhang zwischen Inzuchtdepres-             sich noch und tragen gemeinsam mit
sion und Umweltbedingungen: Unter              anderen Faktoren zu einem erhöhten              3 Wie erfasst man Inzucht
ungünstigen Umweltbedingungen kann             Aussterberisiko von kleinen Popula-               und Inzuchtdepression?
Inzuchtdepression ausgeprägter oder            tionen bei. So hat Inzuchtdepression
                                                                                               3.1 Erfassung von Inzucht

                                                                                               Quantitative Erfassungen von Inzucht
                                                                                               beziehen sich immer auf eine bestimm-
                                                                                               te Generation in der Vergangenheit, in
                                                                                               der aus pragmatischen Gründen ange-
                                                                                               nommen wird, dass alle Tiere nicht inge-
                                                                                               züchtet und nicht miteinander verwandt
                                                                                               sind (Inzuchtgrad = 0). Der Inzuchtgrad
                                                                                               ist also ein relatives Mass, was bei der
                                                                                               Inzuchtmessung mit Stammbäumen
                                                                                               anschaulich wird: Der Inzuchtgrad ist
                                                                                               höher, wenn der Inzuchtschätzung ein
                                                                                               Stammbaum über mehrere Genera-
                                                                                               tionen zu Grunde liegt, als wenn die
                                                                                               Schätzung nur über zwei Generationen
                                                                                               erfolgt. Im zweiten Fall fehlt die Infor-
                                                                                               mation, dass zum Beispiel die Grossel-
                                                                                               tern verwandt sind. Dementsprechend
                                                                                               liegen die meisten mit Stammbäumen
                                                                                               berechneten Inzuchtgrade unter dem
                                                                                               tatsächlichen Wert.
                                                                                                  Die Inzucht kann mit Stammbäu-
                                                                                               men oder mit genetischen Methoden
                                                                                               gemessen werden. Die Inzucht mit
                                                                                               Hilfe von Stammbäumen zu messen,
Abb. 1. Illustration zur Entstehung von schädlichen Folgen durch Inzucht. Die farbigen Punk-   galt bis zur Entwicklung neuer geno-
te stellen unterschiedliche Genvarianten an einem Genort dar. Die rote Genvariante ist eine
                                                                                               mischer Methoden als die genaues-
schädliche Genvariante, die anderen nicht. Tiere, die eine schädliche und eine gesunde Gen-
variante tragen, haben keine Einbussen in der Fitness, da die gesunde Genvariante den Effekt
                                                                                               te Methode, solange der Stammbaum
der schädlichen Genvariante überdeckt (=rezessiv). Hat ein Tier jedoch von beiden Eltern die   Informationen über mehrere Genera-
schädliche Genvariante geerbt (hier ursprünglich vom Grossvater), kommt es zu Einbussen in     tionen enthielt. Die Erstellung solcher
der Fitness (gepunktetes Tier; Steinbockzeichnungen von Nadine Colin).                         Stammbäume ist jedoch für die meis-

                                                                                                          WSL Berichte, Heft 60, 2017
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