Quo Vadis austria? Auswirkungen der Staatsschulden auf die Zukunft Österreichs
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©iStockphoto.com/urbancow Quo Vadis Austria? Auswirkungen der Staatsschulden auf die Zukunft Österreichs www.iv-net.at
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort 4 Auswirkungen der Staatsschulden auf die Zukunft Österreichs: Fakten & Handlungsbedarf auf einen Blick 6 Staatsschulden: Der Status Quo 11 Die Budgetsünden der Vergangenheit 12 Die ganze Wahrheit 14 Österreichs Staatsschulden im internationalen Vergleich 15 Kosten und Nutzen von Staatsschulden 17 Staatsschulden und Finanzmarktkrise 19 Wo gibt es die gröSSte Ausgabendynamik? 21 Ausgaben für „Alterung“ 23 Föderalismus und Staatsschulden 27 Umweltausgaben und Staatsschulden 29 Kosten und Grenzen der Verschuldungsdynamik 31 Die Nachhaltigkeitslücke für Österreich 32 Die Auswirkungen auf das Rating der Bundesanleihen 34 Die Grenzen der Verschuldungsdynamik: Fiscal Space 36 Die Verschuldung der gesamten Volkswirtschaft 38 Wie können die Schulden gesenkt werden? 40 Strukturreformen zur nachhaltigen Konsolidierung 41 Einführung automatischer Fiskalregeln 46 Privatisierungspotenziale 48 Inhalt | 3
Vorwort
Quo Vadis Austria? Die Finanzmarktkrise, die Eurokrise und die weltweiten Ungleichgewichte zwischen Schuldner- und Gläubi- gerstaaten haben uns deutlich vor Augen geführt, dass Überkonsum und Leben auf Pump auf Dauer in eine Sackgasse führen. Wir sehen heute, dass Schulden ohne Rückzahlungsperspektive, Ausgaben ohne realis- tischen Planungshorizont und das Vertreten von unrealistischen Wachstumserwartungen der falsche Weg sind. Ein solcher politischer Weg schmälert den wirtschaftspolitischen Spielraum für Zukunftsausgaben in den Bereichen Bildung, Forschung, Infrastruktur und Umwelt, verhindert die Vorsorge für Mehrausgaben, die aufgrund der Alterung der Bevölkerung noch unweigerlich auf uns zukommen, und beraubt uns der Möglichkeit für notwendige Sofortmaßnahmen im Falle einer neuerlichen Wirtschaftskrise. Diese Broschüre zeigt auf, dass nicht nur Griechenland und die anderen „Peripherieländer“ der Eurozone oder die einstige „Konsumlokomotive“ USA in einer historischen Verschuldungskrise stecken, sondern dass auch Österreich die negativen Auswirkungen einer über Jahrzehnte angehäuften Staatsverschuldung bewäl- tigen muss.. Die Folgen der langjährigen Defizit-Politik sind eine effektive Schuldenquote von nahezu 90% des BIP, eine Nachhaltigkeitslücke von jährlich fast 5% des BIP und eine Ausgabenstruktur, die Großteils auf Verwaltung, Transfers und Bedienung der Staatsschulden statt auf lebenswichtige Investitionen in Zukunftsbereiche aufgebaut ist. „Quo Vadis Austria?“ soll Antworten geben auf die berechtigte Frage vieler Menschen in unserem Land, wohin der Weg der nahezu ungebremsten öffentlichen Verschuldung in den nächsten Jahren und Jahrzehn- ten führt und warum (und wie) die Politik massiv gefordert ist, kraftvoll und entschlossen neue Weichen zu stellen. Wie mit der umfassenden IV-Broschüre zum Thema „Wohlstand, Armut und Umverteilung in Ös- terreich“ soll mit „Quo Vadis Austria?“ ein Beitrag dazu geleistet werden, dass drängende wirtschafts- und gesellschaftspolitische Herausforderungen sachlich und tabufrei diskutiert werden können und dass der Wunsch nach einer dringend notwendigen konsequenten Zukunftsgestaltung von der Politik nicht überhört wird. Dr. Veit Sorger Mag. Christoph Neumayer Dr. Clemens Wallner Präsident Generalsekretär Wirtschaftspolitischer Koordinator der Industriellenvereinigung der Industriellenvereinigung der Industriellenvereinigung Vorwort | 5
Auswirkungen der Staatsschulden auf die Zukunft Österreichs: Fakten & Handlungsbedarf auf einen Blick
FAKTEN & ZAHLEN Die Schuldenquote des Staates ist seit den 70er Jahren um das beinahe Vierfache angestiegen (von 18,8 Prozent des BIP im Jahr 1970 auf 72,3 Prozent des BIP im Jahr 2010). Die Zinszahlungen für die Staatsschuld machen allein für das Bundesbudget heute bereits knapp 7,8 Mrd. Euro (2011) bzw. 11,1 Prozent der gesamten Ausgaben aus. Bis 2015 wird dieser Ausgabenposten laut Finanz- ministerium auf Grund der steigenden Zinsen sogar auf annähernd 10 Mrd. Euro steigen. Die Schuldenquote von aktuell 72,3 Prozent des BIP ist nicht die ganze Wahrheit. Wenn man die gesamten Schulden der ausgegliederten Einheiten wie ÖBB, ASFINAG, BIG und der marktbe- stimmten Gemeindebetriebe (Infrastrukturbetriebe der Gemeinden, Gemeindeverbände, Wiener Wohnen) miteinrechnet, die trotz Revision noch immer nicht in der Staatsschuldenquote aufscheinen, für die jedoch die öffentliche Hand haftet, dann beträgt die Schuldenquote im Jahr 2010 bereits 87 Prozent. Österreich hat die sechsthöchste Schuldenquote der EU. Schlechter als Österreich schneiden nur die Problemfälle Griechenland, Belgien, Irland, Italien und Portu- gal ab. Selbst andere „Problemkandidaten“ wie Spanien und Ungarn liegen deutlich besser als Österreich. Weltweit weisen nur noch Japan, die USA und Island eine höhere Schuldenquote auf. Eine hohe Staatsschuldenquote hat negative Auswirkung auf das Wirtschaftswachstum. Internationale und empirische Vergleiche belegen, dass bei einer Staatsschuldenquote von über 90 Prozent des BIP das Wachstum im Durchschnitt um ein Prozent geringer ausfällt. Inklusive der ausgegliederten Budgeteinheiten wird Österreich diese Schwelle bereits 2012 erreichen. Die realpolitische Anwendung des „Keynesianismus“ hat in Österreich versagt. Die keynesianische Bedingung, dass in „guten Zeiten“ Überschüsse erwirtschaftet werden, um die Schul- den abzubauen, hat in der österreichischen politischen Realität niemals Einzug gefunden. Nach 40 Jahren Schuldenaufbau in Österreich kann man feststellen, dass das zusätzlich angepeilte Wachstum nicht ausge- reicht hat, um die Schulden zu finanzieren. Bereits knapp 80 Prozent der österreichischen Staatsschulden sind in ausländischem Besitz. Damit müssen konsequenterweise jene, die Budgetdefizite als Wachstumsmotor anpreisen, die steigende Verflechtung und die Dynamik der internationalen Finanzmärkte gutheißen. Die Dynamik ist rasant: 1995 waren erst 30 Prozent der heimischen Staatsschulden in ausländischem Besitz. Verglichen mit den anderen EU-Mitgliedstaaten hat nur Finnland einen noch höheren Anteil an Staatsschulden in ausländischem Besitz. Eine höhere Staatsverschuldung geht stets mit einer höheren privaten Sparquote, also einer geringeren Investitions- und Konsumdynamik einher. Nicht mehr, sondern weniger Schulden schaffen dauerhaft Nachfrage und damit einen nachhaltigen Aus- stieg aus der Krise. Zusätzliche Schulden schaffen nur ein kurzfristiges „Strohfeuer“, dessen Löschung noch länger dauern wird. Wachstumsdämpfend hingegen würde ein Auslassen der Konsolidierungsbemühungen wirken. Dann würden die Investoren ihre Unsicherheit für längere Zeit nicht ablegen und wären weniger investitionsfreudig. Die Staatsausgaben haben sich in den vergangenen Jahrzehnten schwerpunktmäßig von Investitionsausga- ben in Richtung Konsumausgaben entwickelt. Die öffentlichen Ausgaben für Investitionen sind in den vergangenen 35 Jahren um über 2 Prozentpunk- te des BIP zurückgegangen und haben sich damit fast halbiert. Im Gegensatz dazu sind die Ausgaben für Zusammenfassung der wichtigsten Fakten | 7
Transfers im gleichen Zeitraum um fast 9 Prozentpunkte des BIP gestiegen. Staatsschulden wurden also weitgehend für konsumptive statt für investive Zwecke aufgenommen. Durch die demographische Entwicklung in Österreich wird das Wirtschaftswachstum in Zukunft stark sin- ken. Die sich verändernden Bevölkerungsstrukturen werden die öffentlichen Finanzen vor große Heraus- forderungen stellen. Laut Projektionen der EU-Kommission wird das potenzielle BIP-Wachstum in Österreich von derzeit 2,2 Prozent auf 1,5 Prozent (real) im Jahr 2060 zurückgehen. Kommt heute noch eine über 65jährige Person auf vier Personen im erwerbsfähigen Alter (15 - 64 Jahre), sind es 2060 nur noch 2 Personen im erwerbsfähigen Alter, die auf eine über 65jährige Person kommen. Insgesamt steigen die öffentlichen Ausgaben für Pensi- onen, Gesundheit und Pflege somit von derzeit 19,6 Prozent des BIP auf insgesamt 29,3 Prozent des BIP im Jahr 2050 um ganze 9,7 Prozentpunkte des BIP bis 2050. Das ergäbe zu heutigen Preisen einen Mehrauf- wand von knapp 27 Mrd. Euro. Mit dem Argument einer angeblich höheren Produktivitätsentwicklung wird versucht, den Reformbedarf der Alterssicherungssysteme zu leugnen. Die Fakten belegen jedoch genau das Gegenteil: In den vergangenen 30 Jahren ist die Arbeitsproduktivi- tät in Österreich durchschnittlich um 1,6 Prozent gewachsen und in den letzten 15 Jahren sogar nur um 1,5 Prozent pro Jahr gestiegen. Die Tendenz ist also klar fallend. Um keinen Reformbedarf anzunehmen, müsste die Arbeitsproduktivität jedoch bis 2060 um mindestens 2,2 Prozent steigen. Die Annahme eines solchen gegenteiligen Trends ist völlig utopisch. Der Föderalismus hat sich als nicht unwesentlicher Treiber der Schuldendynamik herauskristallisiert. Die Dynamik der Schuldenentwicklung der Länder übersteigt seit dem Jahr 2004 jene des Bundes bei wei- tem. Von 2005 bis 2011 steigen die Schulden des Bundes um 28 Prozent, jene der Länder haben sich jedoch im gleichen Zeitraum bereits mehr als verdoppelt. Für die zu erwartenden finanziellen Mehrbelastungen der Klimapolitik sind in den öffentlichen Haushalten bislang noch keine Vorsorgen getroffen worden. Unmittelbar budgetrelevant sind Kosten, die mit der Erfüllung des nationalen Kyoto-Ziels verbunden sind. Diese nachstehenden Kosten entstehen ausschließlich aus Emissionen (über den Zielwerten), die den pri- vaten Haushalten und dem Verkehr zuzurechnen sind, da die Industrie dem Emissionshandel unterliegt und allfällige eigene Mehr-Emissionen selbst bezahlen muss. Den öffentlichen Haushalten droht eine dramatische Lücke zwischen zukünftigen Einnahmen und zukünfti- gen Ausgaben von über 6 Prozent des BIP. Der Mittelwert aller Langfrist-Berechnungen für Österreich ergibt eine „Nachhaltigkeitslücke“ von 6,14 Pro- zent des BIP. Das bedeutet, wir müssen bei ausbleibenden Strukturreformen die Steuern und Abgaben um 6,14 Prozent des BIP erhöhen, um den Staatshaushalt künftig zu konsolidieren. Das wäre eine Erhöhung der gesamten Steuerlast um 14 Prozent oder um aktuell (2010) 17,5 Mrd. Euro. Das sind die wahren Kosten eines Nichtanpackens der notwendigen Strukturreformen. Österreich muss eine Staatsschuldenquote von 338 Prozent des BIP im Jahr 2060 befürchten. Wenn die „Nachhaltigkeitslücke“ nicht geschlossen wird oder wenn keine substanziellen Gegenmaßnah- men ergriffen werden (z.B. rasche Budgetkonsolidierung bzw. Strukturreformen), würde die Schuldenquote in Österreich laut EU-Kommission bis 2060 von derzeit 72 Prozent auf knapp 338 Prozent des BIP steigen. 8 | Zusammenfassung der wichtigsten Fakten
Die österreichischen Staatsanleihen würden ohne Reformen der öffentlichen Haushalte spätestens ab 2050 einen „Junk Bond“ -Status erreichen. Ohne Strukturreformen würde sich das Sovereign-Rating der österreichischen Bundesanleihen laut Stan- dard & Poor‘s vom derzeitigen AAA Rating bereits ab 2020 in Richtung AA verschlechtern und dann allmäh- lich bis 2050 sogar auf ein „Speculative Grade“ (sogenannter „Junk Bond“) der Kategorie „BB+“ oder darun- ter verschlechtern. Damit würde Österreichs Bonität im Jahr 2050 mit jener des heutigen Griechenland oder Portugal gleichgesetzt werden. Ab einer gewissen Verschuldungsgrenze ist die Schuldendynamik nicht mehr aufzuhalten. Ab einer Schuldenquote zwischen 171 und 187 Prozent des BIP wird laut den Berechnungen des IWF die Schuldendynamik in Österreich so instabil, dass sie auch mit großen Politikanstrengungen kaum mehr zurückgefahren werden kann. Aufgrund der dramatischen Schuldenprojektionen durch die demographische Entwicklung hätte Österreich diesen fiskalischen Spielraum („Fiscal Space“) bis zu einem unkontrollierba- ren Staatshaushalt bereits rund um das Jahr 2035 komplett verspielt. Eine niedrige Steuer- und Abgabenquote ist eine wichtige Versicherungsprämie gegen zu erwartende steigende Altersausgaben. Eine niedrige Steuer- und Abgabenquote ist genauso wie eine niedrige Schuldenquote die beste Versi- cherungsprämie des Staates gegen drohende Mehrausgaben in der Zukunft. Sie verleiht dem Staat einen letzten Ausweg („last resort“), die Abgaben maßvoll zu erhöhen, ohne das Wachstumspotenzial bedrohlich zu verringern, wenn jeglicher Spielraum für Ausgabensenkungen bereits genutzt wurde. Leider hat sich Österreich mit der weltweit sechsthöchsten Steuer- und Abgabenquote auch dahingehend nur eine sehr bescheidene Zukunftsversicherung erarbeitet. Auch über Exporte und Leistungsbilanzüberschüsse kann für drohende Altersausgaben vorgesorgt werden. Ein Budgetüberschuss reflektiert den Konsumverzicht des Staates. Bei einem Leistungsbilanzüberschuss übt jedoch die gesamte Volkswirtschaft einen Konsumverzicht aus. Ein Konsumverzicht der Volkswirtschaft kann hilfreich sein, wenn Altlasten (vergangene Leistungsbilanzdefizite) abgebaut werden müssen oder für sinkende Produktionspotenziale in der Zukunft (etwa durch die Alterung der Bevölkerung) vorgesorgt wird. Österreich hat durch die ständigen Leistungsbilanzdefizite in den Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende hier noch eine negative Bilanz („Internationale Vermögensposition“ von -12 Prozent des BIP). Die Leis- tungsbilanzüberschüsse des vergangenen Jahrzehnts müssen also fortgesetzt werden. Zusammenfassung der wichtigsten Fakten | 9
SCHLUSSFOLGERUNGEN & HANDLUNGSBEDARF Effektive Maßnahmen zur Budgetkonsolidierung und Strukturreformen müssen so schnell wie möglich umgesetzt werden, um den öffentlichen Haushalt wieder auf nachhaltige Pfade zu leiten. Je länger Fiskalkonsolidierungsmaßnahmen und Strukturreformen aufgeschoben werden, desto kostspieli- ger werden die Reformen zu einem späteren Zeitpunkt ausfallen. Der Nachhaltigkeitsbericht der Europäischen Kommission geht davon aus, dass jede Verschiebung der Kon- solidierung um 5 Jahre die Nachhaltigkeitslücke um 0,5 Prozentpunkte vergrößert. Strukturreformen erfordern in Österreich vor allem das Pensions-, Gesundheits- und Pflegesystem. Beim Gesundheits- und Pflegesystem fehlen gänzlich längerfristige Strategien zu deren finanzieller Absicherung. Beim Pensionssystem müssen die eingeleiteten Reformen auch gänzlich umgesetzt werden. Die Reformen bei der Verwaltung des Staates und bei den Förderungen und Subventionen müssen rasch angegangen werden. Die europäische Strategie zur Verbesserung der Nachhaltigkeit in den öffentlichen Finanzen verfolgt eine 3-Säulen-Strategie, die auch in Österreich halten muss. 1) Defizit- und Schuldenreduktion, 2) Erhöhung der Beschäftigungsquoten und 3) Reform der Sozialsysteme. Der Föderalismus ist neben den Altersausgaben wesentlicher Treiber der Schuldendynamik. Eine umfas- sende Staatsaufgabenreform wird immer dringender. Neben einer strengeren Ausgestaltung der österreichischen „Schuldenbremse“ (neben der mittelfristigen Fixierung der Ausgabenobergrenzen auf vier Jahre muss auch ein nachhaltiger struktureller Überschuss nach schwedischem Modell als Zielvorgabe gesetzt werden) bedarf es auch der Einbindung der Länder und der Sozialversicherungssysteme in diese Regelung. Für die drohenden Ausgaben der Verfehlung der Klimareduktionsziele sind budgetäre Rückstellungen zu bilden. Hier drohen mittelfristig zusätzliche Budgetausgaben, weil die privaten Haushalte keinem Emissi- onshandel unterliegen. Eine niedrige Steuer- und Abgabenquote ist genauso wie eine niedrige Schuldenquote die beste Versiche- rungsprämie des Staates. Um Spielraum für die steigende Dynamik bei den Staatsausgaben zu gewähren, muss die Steuer- und Abgabenquote gesenkt werden. Die negative internationale Vermögensposition macht deutlich, dass nicht nur der Staat, sondern auch die österreichische Volkswirtschaft als Ganzes einen Überschuss in Form von Leistungsbilanzüberschüssen erzielen muss, um den „Überkonsum“ aus den vergangenen Jahren zu kompensieren und für die Alterung der Bevölkerung vorzusorgen. 10 | Zusammenfassung der wichtigsten Fakten
Ausgaben für die lokale Polizei und das Feuerwehrwesen sAowie verschiedene andere Gemeinde- dienstleistungen. Staatsschulden: Der Status Quo Österreich hat in den vergangen Jahrzehnten den „Keynesianismus“ nur einseitig angewendet. Nachfrageausfälle wurden mit Ausgaben kompensiert. Aber die zweite, zweifellos mühevollere Seite des Keynesianismus, nämlich den Schuldenabbau und Überschüsse in „guten Zeiten“, wurde stets ausgeblendet. Das rächt sich in Zeiten, in denen Österreich kurzfristig starke Kon- junkturimpulse benötigt hatte, um das Wachstum wieder anzustoßen, während wir zugleich mittelfristig für steigende Altersausgaben vorsorgen müssen.
Die Budgetsünden der Vergangenheit Es ist eine bekannte Budgetweisheit, dass die größten Budgetsünden in guten Zeiten gemacht werden. Wenn man die Zahlen für Österreich in den vergangenen 40 Jahren analysiert, erkennt man, dass das als Glättung der Konjunkturzyklen gedachte keynesianische „Defizit-Spending“ nur eindimensional eingesetzt und der zweite Aspekt, der Schuldenabbau in Wachstumszeiten, nie durchgeführt wurde. Seit 1970 konnte in keinem einzigen Jahr (!) ein Budgetüberschuss erwirtschaftet werden. Die Folge war ein dramatischer Anstieg der Schuldenquote des Staates (von 18,8 Prozent des BIP im Jahr 1970 auf 72,3 Prozent des BIP im Jahr 2010) und der Zinszahlungen für die Staatsschuld, die allein für das Bundesbudget heute bereits knapp 7,8 Mrd. Euro (2011) kostet. Bis 2015 wird dieser Ausgabenposten laut Finanzministerium auf Grund der steigenden Zinsen sogar auf annähernd 10 Mrd. Euro steigen. Staatsschuldenquote und Zinszahlungen 80 10 70 8 60 Staatschuldenquote in % des BIP Zinszahlungen in Mrd. Euro 50 6 40 4 30 20 2 10 Quelle: BMF 0 0 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 Zinsen sind Ausgaben für die Vergangenheit. Sie schmälern den Ausgabenspielraum für die BUDGET FÜR VERGANGENHEIT VS. BUDGET FÜR ZUKUNFT Zukunft. Die Finanzierungskosten der Staats- Ohne Zinszahlungen könnten wir die Ausgaben für schuld verschlingen heute einen beträchtlichen Pflichtschulen und Wissenschaft & Forschung verdoppeln: (Budgetausgaben 2011) Teil der Staatsausgaben. Insgesamt gibt der Bund heute bereits 11,1 Prozent seiner gesam- ten Ausgaben für Zinszahlungen und somit für 3,4 Pflichtschulen Budgetsünden und Verpflichtungen der Vergan- Zinsendienst 7,6 für die Schulden 7,8 genheit aus. Das raubt dem Budget im Zeitalter Mrd. Mrd. des Wissens und der Globalisierung einen Wissenschaft 4,2 und Forschung wichtigen Spielraum für dringend notwendige Zukunftsausgaben. So kosten dem Bund heute beispielsweise die Zinszahlungen mehr als die gesamten Ausgaben für das Pflichtschulwesen und für Wissenschaft und Forschung. Der Bund zahlt mehr für die Vergangenheit als für die Quelle: BMF, Budgetbericht 2011 Zukunft. 12 | Die Budgetsünden der Vergangenheit
Die Zinskosten nehmen dem Bundesbud- Ein weiteres anschauliches Beispiel: get aber auch einen wichtigen Spielraum für wachstums- und zukunftsfördernde Steuerentlastungen. So könnten zum Beispiel mit jährlich zusätzlichen 7,3 Mrd. Alle Arbeitnehmer/innen und Euro im Bundeshaushalt alle Arbeitneh- Pensionist/innen, die weniger als Zinszahlungen für mer/innen und Pensionist/innen, die Staatsschulden 7,8 7,3 40.000 Euro brutto pro Jahr Mrd. Mrd. verdienen, von der Lohnsteuer weniger als 40.000 Euro brutto pro Jahr befreien (= 84% aller verdienen, gänzlich von der Lohnsteuer Lohnsteuerpflichtigen!) befreit werden. Das sind stolze 84 Prozent aller Lohnsteuerpflichtigen, die dann von der Lohnsteuer befreit wären. Was das für ein nachhaltiges Wirtschaftswachs- tum bedeuten würde, bedarf wohl keiner näheren Erläuterung. Quelle: BMF, Statistik Austria (Lohnsteuerstatistik 2009) Wie sehr der Zinseszinseffekt der Staatsschulden die Spielräume der Staatsausgaben einengt, ist daran zu erkennen, dass der Staat ohne Zinszahlungen seit 1989 bis zur Finanzmarktkrise (mit Ausnahme der Jahre 1993 - 1996) ständig Überschüsse erzielt hat (sogenannte „Primärüberschüsse“, also Budgetsaldi minus Zinszahlungen) und trotzdem eine Neuverschuldung produzierte. Die Steuerzahler hatten zwar öfters einen ausgeglichenen Haushalt erwirtschaftet, aber trotzdem gab es auf Grund der zusätzlichen Zinslasten aus der Vergangenheit ständig Budgetdefizite. Das ist ein wesentlicher Aspekt der Generationenungerechtig- keit. Primärüberschüsse seit 1970 in % des BIP 4 Quelle: BMF (exkl. ÖBB Kapitalerhöhung und Schuldenreduktion im Jahr 2004 in der Höhe von 7,5 Mrd. Euro) 3 Überschüsse 2 1 -0 -1 -2 Defizite -3 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Die Budgetsünden der Vergangenheit | 13
Die ganze Wahrheit Allerdings ist die Schuldenquote von aktuell 72,3 Prozent des BIP (2010) nicht die ganze Wahrheit. Wenn man die gesamten Schulden der ausgegliederten Einheiten wie ÖBB, ASFINAG, BIG, und der marktbe- stimmten Gemeindebetriebe (Infrastrukturbetriebe der Gemeinden, Gemeindeverbände, Wiener Wohnen) miteinrechnet, die trotz Revision noch immer nicht in der Staatsschuldenquote aufscheinen, für die jedoch die öffentliche Hand haftet, dann beträgt die Schuldenquote im Jahr 2010 bereits 87 Prozent.1 Ausgliederung in zwei Wellen Die erste Ausgliederungswelle erfolgte 1994, als die gesamten Schulden der ÖBB aus den Bundesschulden ausgegliedert wurden. Die zweite Welle erfolgte im Zuge des Euro-Beitritts. Um die Maastricht-Kriterien zum Euro-Beitritt zu erreichen, hat Österreich ab 1997 noch einmal massiv Schulden aus dem Sektor Staat ausgelagert. Das ist besonders gut an dem Vergleich der Wertschöpfungsquoten des Sektors Staat bei den damaligen Euro-Beitrittsländern zu erkennen (Anteil der Wertschöpfung des Sektors Staat an der gesamten Wertschöpfung). Diese Praxis war in Österreich besonders ausgeprägt, wie die folgende Graphik veran- schaulicht. In Österreich ist die Quote im Jahr 1997 drastischer gesunken als bei allen anderen damaligen Euro-Kandidaten, weil die ASFINAG, zahlreiche Gemeindebetriebe (in den Bereichen der Wasser-, Abwas- ser-, und Müllversorgung und Wohnbauten) und die Krankenanstalten-Betriebsgesellschaften vom „Sektor Staat“ und somit von den Staatsschulden ausgegliedert wurden. STAATLICHE BUDGETAUSGLIEDERUNGEN 1995 - 2000 (Wertschöpfungsquote des Sektors Staat) 20 Dänemark 17 Portugal Frankreich Finnland 14 Belgien Niederlande Italien Vereinigtes Königreich Österreich 11 Deutschland Irland 8 Quelle: Eurostat 5 1995 1996 1997 1998 1999 2000 1) Die einzigen ausgegliederten Schulden, die abgebaut werden konnten, waren jene der ÖIAG. Durch die erfolgreichen Privatisierungen seit 1995 konnte der Schuldenstand der ÖIAG von bis zu 7 Mrd. Euro bis 2005 auf Null gesenkt werden. 14 | Die ganze Wahrheit
Exkurs: Revision der Staatsschuldenzahlen durch Eurostat vom März 2011 Die aufgrund der neuen, strengeren Regeln der EU-Statistikbehörde Eurostat notwendig gewordene Anpassung der Staatsschuldenberechnung2 im März 2011 umfasst bei weitem nicht alle ausgegliederten Staatsschulden. Die Schulden der ÖBB werden erst ab dem Jahr 2007 zu 70 Prozent den Staatsschulden zugerechnet, da sich der Staat erst 2007 explizit dazu verpflichtet hat, die aufgenommenen Schulden der ÖBB für Infrastrukturinvestitionen über die gesamte Laufzeit zu zumindest 70 Prozent zu übernehmen. Hier hätte man konsequenterweise auch die gesamten Verbindlichkeiten aus der Zeit vor 2007 dem Staat zurechnen müssen. Mit der gänzlichen Anrechnung von dann rund 24 Mrd. Euro Gesamtschulden der ÖBB ist mit der ESVG-Revision im Jahr 2013 zu rechnen. Weiters wurden im März 2011 die Verbindlichkeiten der Landes-Krankenanstalten dem Staatsschuldenstand zugerechnet. Bisher sind zwar immer schon jene staat- lichen Förderungen, die direkt an die Krankenanstalten gegangen sind, defizitwirksam geworden, nicht aber jene Beträge, die sie selbst als Schulden aufgenommen hatten. Inklusive eines Teils der Schulden der „Bad Bank“ der Kommunalkredit (KA Finanz) und der Wohnbau Burgenland GmbH wurden im März 2011 knapp 9,5 Mrd. Euro an Schulden der ausgegliederten Einheiten des Staates den Staatsschulden zugeführt. Das hat die Staatsschuldenquote im Jahr 2010 von 68,5 Prozent auf 72,3 Prozent des BIP erhöht. Außer in Öster- reich musste EU-weit nur in Portugal und dem Vereinigten Königreich der Schuldenstand durch Eurostat nennenswert neu angepasst werden. Nach der Staatsschulden-Revision sinkt die Schuldenquote der ausgegliederten Einheiten von 17,5 Prozent des BIP im Jahr 2010 auf 14,8 Prozent des BIP.3 FINANZVERBINDLICHKEITEN VON AUSGEGLIEDERTEN ÖFFENTLICHEN UNTERNEHMEN nach Eurostat-Revision im März 2011 (in % des BIP) 18 Gemeindebetriebe* BIG 16 14,8 ÖBB 13,7 14,3 ASFINAG 14 13,2 12 Quelle: Budgetbericht 2011 (Tab.21), Staatsschuldenbericht 2009, Statistik Austria in % des BIP 10 8 6 4 2 0 2007 2008 2009 2010 * für 2010 extrapolierte Werte der Jahre 2007-2009 2) Im Herbst 2010 veröffentlichte Eurostat-Handbuch "Manual on Government Deficit and Debt" 3) Diese 3,4 Prozentpunkte des BIP erhöhen die Staatsschuldenquote um den gleichen Betrag. Die ganze Wahrheit | 15
Somit wurden weniger als ein Viertel (23 Prozent) aller ausgegliederten Einheiten wieder in das Budget zurück überführt. Im Zuge einer kompletten Revision der sogenannten „ESVG-Regeln“ durch Eurostat im Jahr 2014 könnten die gesamten ÖBB-Schulden von derzeit rund 20 Mrd. Euro den Staatsschulden zuge- rechnet werden. Dabei werden diese laut Prognose bis dahin schon auf 24 Mrd. Euro angewachsen sein. Die restlichen „Schattenhaushalte“ umfassen die Schulden der ASFINAG (Straßenbaugesellschaft des Bundes) in der Höhe von derzeit 12 Mrd. Euro, der BIG (Bundesimmobiliengesellschaft) in der Höhe von 3,6 Mrd. Euro und der ausgegliederten Gemeindebetriebe in der Höhe von 12,5 Mrd. Euro (2009). Was die Gemeinden betrifft, kann derzeit die Politik nicht einmal ausschließen, dass es weitere ausgelager- te Verbindlichkeiten gibt, die versteckt die öffentlichen Finanzen belasten.4 Dieses Problem der Intranspa- renz bei Länder- und Gemeindeschulden muss gelöst werden, etwa indem die Aufnahme von Verbindlich- keiten in Länder- und Gemeindebetrieben an die Statistik Austria gemeldet werden muss. Österreichs Staatsschulden im internationalen Vergleich Die Verschuldung vieler Staaten ist seit einigen Jahrzehnten ein schwelender wirtschaftspolitischer Brand- herd, der durch die Wirtschaftskrise, die staatlichen Konjunkturbelebungsmaßnahmen und die steigende Risikoaversion der Finanzmärkte zu einem akuten Feuer ausgebrochen ist. Hohe Staatsverschuldungen sind dunkle Wolken am Konjunkturhimmel und ein Damokles-Schwert über den drohenden Ausgaben für Alter, Pflege und Gesundheit, die uns durch die demographische Entwicklung vor allem in Europa bevorstehen. Inklusive der ausgegliederten Einheiten hat Österreich die sechsthöchste Schuldenquote der EU. Schlech- ter als Österreich schneiden nur die Problemfälle Griechenland, Belgien, Irland, Italien und Portugal ab. Selbst andere „Problemkandidaten“ wie Spanien und Ungarn liegen deutlich besser als Österreich. Welt- weit weisen nur noch Japan, die USA und Island eine höhere Schuldenquote auf. Staatsschuldenquote der EU-Mitgliedstaaten in % des BIP (2010) 150 2010 Vorkrisenniveau (2007) 120 90 inkl. Ausgliederungen 60 30 Quelle: Eurostat 0 Griechenland Italien Belgien Irland Portugal Deutschland Frankreich Ungarn EU 27 UK Österreich Malta Niederlande Zypern Spanien Polen Finnland Lettland Dänemark Slowakei Schweden Tschechien Litauen Slowenien Rumänien Luxemburg Bulgarien Estland 4) So haben zum Beispiel 47 Gemeinden in Vorarlberg Immobilien-Gesellschaften ausgelagert, die in dieser Quote nicht aufscheinen. Im Durchschnitt betragen die Verbindlichkeiten dieser Gesellschaften nach Angaben der Kontrollabteilung des Landes 3,2 Mio. Euro. 16 | Österreichs Staatsschulden im internationalen Vergleich
Eine zu hohe Staatsschuldenquote hat negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum. Der Harvard- Professor und ehemalige Chefökonom des IWF, Kenneth Rogoff, hat in einer ausführlichen Untersuchung über 3.700 jährliche Entwicklungen von 44 Ländern über die Zeitdauer von 200 Jahren untersucht und kommt zu einer klaren Schlussfolgerung5: Solange die Staatsverschuldung noch unter einem Verhältnis von 90 Prozent des BIP liegt, besteht für das Wirtschaftswachstum wenig Gefahr. Liegt die Verschuldung allerdings höher, fällt das Wachstum im Durchschnitt um ein Prozent geringer aus. Dieselbe Beobachtung lässt sich sowohl für entwickelte wie aufstrebende Volkswirtschaften machen.6 Die Wirtschaftskrise hat viele Staaten an diese kritische Schuldengrenze gebracht oder diese sogar überschreiten lassen. Inklusive der ausgegliederten Budgeteinheiten wird Österreich diese Schwelle bereits 2012 erreichen. Kosten und Nutzen von Staatsschulden Ökonomisch betrachtet sind Staatsschulden dann gerechtfertigt, wenn damit entweder eine Konjunktur- stabilisierung (Keynesianischer Ansatz) hervorgerufen wird, oder ein Lastenausgleich zwischen den Ge- nerationen ermöglicht wird. Was kurzfristige Wirkungen anbelangt, so ist die Konjunkturstabilisierung das Hauptargument für eine Defizitfinanzierung des Staates. Eine antizyklische Fiskalpolitik kann durch das Wirkenlassen der „automatischen Stabilisatoren“ (z.B. höhere Arbeitslosenkosten bei Konjunkturab- schwung) Wirtschaftsschwankungen reduzieren.7 Aus längerfristiger Perspektive ist eine Verschuldung des Staates dann gerechtfertigt, wenn die Kredite für investive Zwecke oder wachstumswirksame Ausgaben verwendet werden („Golden Rule“). Da zukünf- tige Generationen von den öffentlichen Investitionen profitieren, sollten sie an den Finanzierungslasten gleichfalls beteiligt werden („intertemporale Äquivalenz“). Das geschieht dann, wenn sie mit ihren zukünf- tigen Steuerleistungen die öffentlichen Investitionen von heute mitfinanzieren („Schulden von heute sind Steuern von morgen“). Dabei wird aber unterstellt, dass Investitionen auch direkte und zumindest indirekte zusätzliche Erträge abwerfen, mit denen die zusätzlichen Schulden finanziert werden können. Die Empirie zeigt, dass die realpolitische Anwendung des Keynesianismus versagt hat. Seine Bedingung, dass in „guten Zeiten“ Überschüsse erwirtschaftet werden, um die Schulden abzubauen, hat in der österrei- chischen politischen Realität niemals Einzug gefunden. Nach 40 Jahren Schuldenaufbau in Österreich kann man getrost feststellen, dass das zusätzlich angepeilte Wachstum nicht ausgereicht hat, um die Schulden zu finanzieren. Die Schulden stiegen seit den 70er Jahren schneller als das Wachstum, was sich in einer steigenden Schuldenquote äußert. Das liegt daran, dass die Wachstumsaussichten zu hoch eingeschätzt, der Zinseszinseffekt nicht mit einberechnet und die Empirie der österreichischen Realpolitik verkannt wurde. Sie bestätigt nämlich, dass „sich eher ein Hund einen Wurstvorrat anlegt als eine demokratische Regierung eine Budgetreserve.“8 5) C. Reinhart; K. Rogoff “Growth in a Time of Debt”; Harvard University, NBER Working Paper No. 15639; 2010 6) Der Grund: Ab einer sehr hohen Verschuldung beginnen die Geldgeber auf den Kapitalmärkten daran zu zweifeln, dass Staaten ihre Schulden problemlos begleichen können. Die Investoren verlangen dann eine deutlich höhere Risikoprämie, was die Zinsen in die Höhe treibt. Das wiederum würgt die Investitionen ab und verteuert die Schuldenlast weiter. Ein Teufelskreislauf beginnt. Selbst wenn die Regierungen dann alles tun, um die Staatsausgaben zu drosseln, bremst dies die Wirtschaft weiter. 7) Diese automatischen Stabilisatoren sollten aber nicht mit einer zusätzlichen bewussten „diskretionären“ Ausgabenpolitik verwechselt werden. Diskretionäre Maßnahmen bei Konjunkturkrisen beeinflussen oft nur die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte negativ und verhindern private Investitionen („Crowding-Out“). Außerdem haben sie beträchtliche Wirkungsverzögerungen („Time-Lags“) weil bei ihrer Implementierung die tatsächlichen konjunkturellen Wendepunkte nicht bestimmbar sind. Außerdem soll eine antizyklische Fiskalpolitik symmetrisch ausgerichtet sein und bei guter Konjunkturlage Budgetüberschüsse generieren. 8) Das Zitat ist angeblich auf Josef Schumpeter als österreichischer Finanzminister zurückzuführen. Kosten und Nutzen von Staatsschulden | 17
Heute kann man die Kreisky-These, mit Staatsschulden die Arbeitslosigkeit nachhaltig senken zu können, als überholt betrachten. Die großzügige Schuldenpolitik konnte, rückblickend betrachtet, die Arbeitslosig- keit keinesfalls verringern (sh. Graphik). Zurückgeblieben ist lediglich ein Schuldenberg, der heute unseren Ausgabenspielraum für die demographische Herausforderung deutlich einschränkt. „Mir bereiten ein paar Milliarden Staatsschulden weniger schlaflose Nächte als ein paar hunderttausend Arbeitslose.“ Bruno Kreisky Die Versprechungen der Schuldenpolitik Schuldenquote in % des BIP Arbeitslosenquote in % der unselbstständig Beschäftigten* 80 8 Arbeitslosenquote 70 7 60 6 Schuldenquote 50 5 40 4 30 3 20 2 10 1 Quelle: WIFO 0 0 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 *nationale Definition Ein weiterer Aspekt, mit dem in der Vergangenheit oft die Begebung von Staatsanleihen gerechtfertigt wurde, ist die Finanzierung der privaten Haushalte mit sicheren Zinserträgen. Noch Anfang der 90er Jahre wurde argumentiert, dass die privaten Haushalte als Gläubiger von den Staatsanleihen profierten. Die Ent- wicklung der Gläubigerstruktur der Staatsschulden spricht jedoch auch hier eine eindeutige Sprache: Waren 1995 erst 30 Prozent der Staatsschulden in ausländischem Besitz, sind es heute bereits knapp 80 Prozent. Verglichen mit den anderen EU-Mitgliedstaaten hat nur Finnland einen noch höheren Anteil an Staats- schulden in ausländischem Besitz. 18 | Eine Kosten / Nutzenanalyse
Das bedeutet zwar, dass die Internationalisierung der Finanzmärkte dem Staat die Möglichkeit gegeben hat, sich effizient und kostengünstiger zu Refinanzierung und Anleihen auf den globalen Finanzmärkten zu platzieren. Es bedeutet aber auch, dass die alte Rechtfertigung für Staatsschulden, die Bürger profi- tieren als Gläubiger von den sicheren Zinsen des Staates, heute nicht mehr zählt. Heute fließen mit den Zinszahlungen der Staatsschulden jährlich bereits über 6 Mrd. Euro an volkswirtschaftlicher Rendite über die Einkommensbilanz (eine Teilbilanz der Leistungsbilanz) ins Ausland. Das bedeutet, die Volkwirtschaft muss um 6 Mrd. Euro mehr exportieren oder um 6 Mrd. Euro an Mehrerträgen aus Auslandsbeteiligungen der Unternehmen erwirtschaften, um diesen Abfluss wieder zu kompensieren.9 Gläubigerstruktur der Staatsverschuldung Staatsschulden in ausländischem Besitz (in % der gesamten Finanzverbindlichkeiten des Staates) 90 80 78% 70 60 50 40 Quelle: Staatsschuldenausschuss 30% 30 20 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Staatsschulden und Finanzmarktkrise Neben den hohen Zinslasten der Staatsschulden, die Ausgabenspielräume des Staates für Zukunftsinvesti- tionen (Wissensgesellschaft) oder Altersausgaben (demographische Entwicklung) deutlich verringern, hat eine steigende Staatsverschuldung besonders in Zeiten der Finanzmarktkrise zusätzliche negative Effekte auf die Volkswirtschaft. Durch die hohe Nachfrage des Staates nach Kapital wird die Kreditklemme bei den Unternehmen weiter verschärft („crowding out“) und Investitionen unterbleiben. Bis in die 1990er-Jahre dominierte in der Wissenschaft die Vermutung, dass Staatsschulden langfristig positive Auswirkungen auf das Wachstum haben, und dass man im Zuge von Konsolidierungen mit negativen gesamtwirtschaftlichen Nachfrageeffekten rechnen muss – den sogenannten „Keynesianischen Effekt“. Aber seit Beginn der 1990er erkennt die moderne Makroökonomie an, dass im Rahmen von Budgetkonsolidierungen Wachstumsver- luste nicht nur vermieden werden, sondern dass sogar expansive Effekte induziert werden könnten – soge- nannte „nicht-keynesianische Effekte“. 9) Eine ähnliche Neubewertung der Kosten-Nutzen-Analyse muss übrigens im Pensionssystem vorgenommen werden. Hier wird ein Problembereich vernachlässigt, der immer mehr an Bedeutung gewinnt: Schon derzeit hat eine nicht unerhebliche Zahl von Pensionisten, nämlich rund 12 Prozent aller Leistungsempfänger der gesetzlichen Pensions- versicherung, einen Wohnsitz im Ausland. Damit fließt ein immer größerer Teil der Pensionsverpflichtungen des Staates ins Ausland (derzeit rund 700 Mio. Euro) und erhöht dort die Nachfrage und nicht mehr in Österreich. Staatsschulden und Finanzmarktkrise | 19
Diese positiven Wachstumseffekte sind sowohl angebotsseitig als auch nachfrageseitig. Eine nachhaltige Konsolidierung stärkt erstens die Wettbewerbsfähigkeit und damit die Dynamik für mehr Wachstum, und zweitens erwarten die Haushalte bei einer glaubwürdigen Konsolidierungspolitik eine geringe zukünftige steuerliche Belastung, was wiederum nachhaltige Nachfrageeffekte schafft. Die EZB hat kürzlich nachge- wiesen, dass eine höhere Staatsverschuldung stets mit einer höheren privaten Sparquote, also einer gerin- geren Investitions- und Konsumdynamik einhergeht.10 Das bedeutet: nicht mehr Schulden, sondern weniger Schulden schaffen dauerhaft Nachfrage und damit einen nachhaltigen Ausstieg aus der Krise. Zusätzliche Schulden schaffen nur ein kurzfristiges „Strohfeuer“, dessen Löschung noch länger dauern wird. Wachs- tumsdämpfend hingegen würde ein Auslassen der Konsolidierungsbemühungen wirken. Dann würden die Investoren ihre Unsicherheit für längere Zeit nicht ablegen und wären damit weniger investitionsfreudig. Die Lehren aus dem „New Deal“ Jene, die einen „New Deal“ für Europa nach dem Vorbild der USA in den 30er Jahren zur Überwindung der „Great Depression“ fordern, vergessen, dass wir uns in Europa bereits seit Mitte der 70er Jahre in einem Dauerzustand des „New Deals“ befinden und ständig unser sinkendes strukturelles Wachstumspotenzial mit einer keynesianischen Schuldenpolitik zu übertünchen versuchen – selbst in Konjunkturhochphasen. Sie vergessen aber auch, dass der damalige „New Deal“ in den USA alles andere als erfolgreich war. Nach einigen Jahren scheinbarer, durch öffentliche Ausgaben getragener, Erholung waren in den 30er Jahren die privaten Investitionen so niedrig wie in keinem anderen Jahrzehnt, seit darüber Statistik geführt wurde und die Wirtschaft 1937 stärker eingebrochen war als jemals zuvor. Der Grund: Die Unternehmen befürch- teten wegen der „New-Deal“-Politik (v.a. Mindestlöhne, Preiskontrollen, Spitzensteuersatz von über 75 Prozent und öffentliche Investitions- und Beschäftigungsprogramme) Steuererhöhungen und Inflation und hielten sich deshalb mit privaten Investitionen zurück. In Umfragen glaubten damals nur mehr 7 Prozent der Amerikaner an eine Rückkehr zur freien Marktwirtschaft und fast 93 Prozent erwarteten eine weitere Einschränkung privatwirtschaftlichen Handelns. Die massiven und dauerhaften öffentlichen Investitionen verhinderten nachhaltige private Investitionen.11 Erst 1946 und in den folgenden Jahren erreichten die pri- vaten Investitionen durch eine glaubwürdige Abkehr der „New-Deal“-Politik ein Niveau, das wieder eine prosperierende Wirtschaft ermöglichte. Die Investitionsrate stieg von 5 Prozent im Jahr 1945 auf 14,7 Prozent in den Jahren 1946 und 1947 und schließlich auf 17,9 Prozent 1948. Anreize für private Investitionen und nicht die Schaffung dauerhafter öffentlicher Nachfrage sind der Schlüssel zur Überwindung von Wirtschaftskrisen. Private Investitionen lassen sich aber nicht durch die Politik verordnen, sondern werden nur dann getätigt, wenn die Politik glaubwürdige und nachhaltig wachs- tumsfreundliche Rahmenbedingungen in Aussicht stellt. Nun gilt es die privaten Investitionen, die im Krisenjahr 2009 real um 12,7 Prozent ausmachten wieder dauerhaft zu steigern, damit sie die Grundlage für einen selbstragenden Aufschwung bilden können. 10) C. Nickel; I. Vansteenkiste: „Fiscal policies, the current account and Ricardian equivalence”; ECB-Working paper 935; September 2008 11) Roosevelt war im übrigen über die geringen privaten Investitionen so erbost, dass er das FBI anwies, nach einer möglichen kriminellen Verschwörung der Unternehmen gegen die Regierung zu ermitteln, was – wenig überraschend – keine Ergebnisse zu Tage förderte. Siehe: Robert Higgs: „Depression, War and Cold War“; Oxford University Press, 2006 20 | Staatsschulden und Finanzmarktkrise
Ausgaben für die lokale Polizei und das Feuerwehrwesen sAowie verschiedene andere Gemeinde- dienstleistungen. Wo gibt es die gröSSte Ausgabendynamik? Die Staatsausgaben haben sich in den vergangenen Jahrzehnten schwerpunktmäßig von Inves- titionsausgaben in Richtung Konsumausgaben entwickelt. Die demographische Entwicklung in Österreich wird die öffentlichen Finanzen vor große Herausforderungen stellen. Der Föde- ralismus hat sich als nicht unwesentlicher Treiber der Schuldendynamik herauskristallisiert. Zusätzliche Herausforderungen bringen auch Umweltausgaben.
Die Ausgaben des Staates (Bund, Länder und Gemeinden) haben sich in den vergangen Jahrzehnten stark zugunsten der Sozialtransfers und zuungunsten der Investitionen entwickelt. Die öffentlichen Ausgaben für Investitionen sind inklusive der Beiträge der ausgegliederten Einheiten wie ÖBB, ASFINAG, BIG und Gemeindebetriebe in den vergangenen 35 Jahren um über 2 Prozentpunkte des BIP zurückgegangen (von 4,8 Prozent im Jahr 1976 auf 2,7 Prozent im Jahr 2009) und haben sich damit fast halbiert. Im Gegensatz dazu sind die Ausgaben für Transfers im gleichen Zeitraum um fast 9 Prozentpunkte des BIP (von 24,8 Prozent im Jahr 1976 auf 33,6 Prozent im Jahr 2009) gestiegen. Die Staatsausgaben haben sich also schrittweise von investiven, produktiven Ausgaben (sogenannten „Zukunftsausgaben“) schwerpunktmäßig in Richtung unproduktiver Umverteilungsausgaben entwickelt.12 Veränderung der Staatsausgaben (in Prozentpunkten des BIP, indexiert 1976=0) 10 Transfers 5 0 Investitionen Quelle: WIFO, Statistik Austria -5 1976 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2009 KONSUMIEREN ? INVESTIEREN ? oder 12) Dementsprechend besorgniserregend ist das Bild heute: Österreich verfügt heute über den viertniedrigsten Anteil an produktiven Staatsausgaben (Infrastruktur, Bildung, Forschung) von über 30 OECD-Ländern. Nur 14,4 Prozent der gesamten Staatsausgaben gehen heute in diese Zukunftsbereiche. Spitzenreiter Südkorea liegt bei 33 Prozent, die USA bei 23 Prozent (WIFO, Pitlik 2008). 22 | Die dynamische Entwicklung
Eine Trendumkehr ist nicht abzusehen, und die großen Ausgabendynamiken werden sich, ceteris paribus, leider auch in Zukunft in den unproduktiven Bereichen abspielen. Bei den Ausgabenzuwächsen des Staates im Durchschnitt der vergangenen 10 Jahre übertrafen die Bereiche Sachtransfers (v.a. Gesundheitswesen) und Subventionen (v.a. öffentliche Unternehmen wie ÖBB) mit je 5 Prozent sogar das nominelle Trend-BIP- Wachstum von etwa 4 Prozent (2 Prozent reales Potenzialwachstum und 2 Prozent Inflation).13 In Zukunft werden uns zusätzlich dazu noch drei große Ausgabenblöcke vor Herausforderungen stellen: Die Alters- ausgaben („Ageing“), der Föderalismus und die Umweltausgaben. Ausgaben für „ALterung“ Durch sich verändernde Bevölkerungsstrukturen werden die öffentlichen Finanzen vor große Heraus- forderungen gestellt. Eine geringere Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (durch geringeres Arbeits- kräfteangebot) führt einerseits langfristig zu einem geringeren potenziellen Wirtschaftswachstum als heute. Laut Projektionen des Ageing-Reports der EU-Kommission aus dem Jahr 200914 wird das potenzielle BIP-Wachstum in Österreich von 2,2 Prozent im Jahr 2007 auf 1,5 Prozent (real) im Jahr 2060 zurückgehen (derselbe Trend wie in den EU27). Andererseits belastet eine fortschreitende Alterung der Bevölkerung die öffentlichen Finanzen, indem Druck auf altersabhängige Ausgabenkategorien entsteht. Kommt heute noch eine 65+jährige Person auf vier Personen im erwerbsfähigen Alter (15-64 Jahre), sind es 2060 nur noch zwei Personen im erwerbsfähigen Alter, die auf eine 65+jährige Person kommen. Diese Dynamik bringt langfris- tig höhere öffentlichen Ausgaben für Pensionen, Gesundheit und Pflege. Szenario „Null-Migration“ Nachdem die Projektion der Ausgaben bis 2060 Unsicherheiten unterliegt, werden für alle Kategorien (außer Arbeitslosenbeihilfen) neben den Basisszenarien (dies sind die wahrscheinlichsten) zusätzliche Szenarien mit sich ändernden Annahmen gerechnet – so genannte Sensibilitätsanalysen. Bei den Pensions- ausgaben für Österreich bringt beispielsweise die Annahme einer Null-Migration die größte Veränderung im Vergleich zum Basisszenario. Der somit angenommen Wegfall potenzieller Arbeitskräfte belastet die Pensionsausgaben im Jahr 2060 um +5,3 Prozentpunkte des BIP mehr. In ihrem Basisszenario geht der Ageing-Report der EU-Kommission von der optimistischen Annahme aus, dass die Immigration bis 2030 auf dem Niveau von 30.000 bis 35.000 (Netto-)Einwanderern pro Jahr verhar- ren wird. Erst zwischen 2030 und 2035 wird ein Rückgang auf unter 30.000 projiziert. Österreich würde über den gesamten Zeitraum eine deutlich höhere Immigrationsquote verzeichnen als Deutschland, Großbritan- nien, Frankreich, Belgien, die Niederlande oder die skandinavischen Länder. Die Sensitivitätsanalyse des Ageing-Report zeigt, dass Immigration ein ganz wesentlicher Faktor der relativ günstigen Projektion der Pensionskosten in Österreich wäre. 13) Die Europäische Kommission präsentierte 2009 zum dritten Mal (seit 2001) eine Aktualisierung der Langfristprojektionen altersabhängiger öffentlicher Ausgaben in der gesamten EU und Norwegen. Dabei werden auf Basis von neuesten Demographieprojektionen von Eurostat (EUROPOP2008) und gemeinsamer Annahmen und Methodo- logien die langfristigen Effekte der Bevölkerungsalterung auf die Ausgabenkategorien Pensionen, Gesundheit, Pflege, Bildung und Arbeitslosenbeihilfen berechnet (unter no-policy-change Annahmen). Die Projektionen altersabhängiger Ausgaben in der EU sollen die Basis bilden, die wirtschaftlichen und budgetären Herausforderungen durch die Bevölkerungsalterung und dem daraus resultierenden potenziellen Reformbedarf in den Sozialsystemen aufzuzeigen. 14) Die Bevölkerung 0-24 nimmt um 7 Prozent ab. Ausgaben für „Alterung“ | 23
Die höchsten Ausgaben der altersabhängigen Ausgabenkategorien sind im Bereich Pensionen zu verzeich- nen.15 Das Ausgangsniveau der Pensionsausgaben in Prozent des BIP in Österreich ist nach Italien und Frankreich das dritthöchste der EU. Zwar ist die Ausgabendynamik bis 2060 laut EU-Kommission in Öster- reich (+1,3 Prozentpunkte des BIP) viel verhaltener als im EU-Durchschnitt (+2,2 Prozentpunkte des BIP), was insbesondere auf die Pensionsreformen der letzten Jahre in Österreich zurückzuführen ist, doch sind bei den Berechnungen noch nicht die jüngste Verlängerung der „Hacklerregelung“ über das Jahr 2010 hin- aus und auch nicht die Auswirkungen der Krise mit einbezogen. Außerdem wird in dem Ageing-Report die österreichische politische Praxis zum Teil schwer verkannt. Das ist daran zu erkennen, dass mit der Kür- zung der „benefit ratio“ (Höhe der durchschnittlichen Pension gemessen am durchschnittlichen Erwerbs- einkommen) von aktuell 54,2 Prozent auf 38,5 Prozent (2060) eine sehr unrealistische Annahme getroffen wurde. Sie ist signifikant stärker als im Durchschnitt der EU15 und geht davon aus, dass die Pensionen, wie gesetzlich verankert, nur mit dem VPI angepasst werden.16 Nach den jüngsten Erfahrungen mit Nachbesse- rungen ist dies in Zweifel zu ziehen. Ohne diesen „benefit-ratio-effect“ würden die Pensionsausgaben im Jahr 2060 laut Ageing-Report um 4,9 Prozentpunkte des BIP höher liegen und nicht nur um 1,3 Prozentpunk- te. Daher sollte bei der Berechnung der Langfrist-Prognose der Pensionsausgaben der Bericht der Pensions- sicherungskommission vom September 2010 herangezogen werden. Die drei Ageing-Ausgabenbereiche PENSIONEN Laut Bericht der Pensionssicherungskommission vom September 2010 steigen die gesamten Pensionsausga- ben (inkl. Beamtenpensionen und Ausgleichszulagen) um ganze 3,4 Prozentpunkte des BIP von 11,4 Prozent des BIP im Jahr 2010 auf 14,8 Prozent im Jahr 2050. GESUNDHEIT Bei den öffentlichen Ausgaben für Gesundheit hat die Rating-Agentur Standard & Poor’s17 zusätzlich zu den demographiebedingten Mehrausgaben der EU-Kommission noch die nicht-demographischen Elemente der Kostensteigerungen berücksichtigt (technischer Fortschritt, medizinische Versorgung), die Hauptmotor der Kostenentwicklung in der Vergangenheit waren. Dadurch ergibt sich ein wesentlich realitätsnäheres Bild als im EU-Kommissionsbericht, und die öffentlichen Gesundheitsausgaben steigen um über 80 Prozent von 6,9 Prozent des BIP im Jahr 2010 auf 12,6 Prozent des BIP im Jahr 2050. PFLEGE Bei der Pflege (Long-Term-Care) steigen die öffentlichen Ausgaben laut EU-Kommission bis 2050 sogar um über 85 Prozent (oder um 1,1 Prozentpunkte) von derzeit 1,4 Prozent des BIP auf 2,4 Prozent des BIP im Jahr 2050. Das WIFO rechnet alleine bei den öffentlichen Sachleistungen für Pflege mit einer Verdreifachung von 0,5 Prozent auf 1,5 Prozent des BIP bis 2030. Insgesamt steigen die öffentlichen Ausgaben für Pensionen, Gesundheit und Pflege somit von derzeit 19,6 Prozent des BIP auf insgesamt 29,3 Prozent des BIP im Jahr 2050 um ganze 9,7 Prozentpunkte des BIP. Das ergäbe zu heutigen Preisen einen Mehraufwand von knapp 27 Mrd. Euro (!). 15) Dieser Bereich reagiert durch das in Österreich vorherrschende Umlageverfahren (die heutigen Beiträge der Pflichtversicherten werden für die heutigen Pensionsansprüche der Leistungsbezieher verwendet) besonders sensibel auf die Alterung der Bevölkerung. 16) Dies war die Absicht der Pensionsreform 2005, die für die Pensionen sinnvoller Weise nur den Teuerungsausgleich sicherstellen wollte, nicht aber einen Anteil der Pensionisten an Produktivitäts- und Realeinkommenssteigerungen der Volkswirtschaft. 17) Global Ageing Report 2010 24 | Ausgaben für „Alterung“
Langfristprojektionen der staatlichen Altersausgaben in Österreich (% des BIP) 35 29,3% 30 Pflege 25 Quelle: EU-Kommission 2009 (Pflege); Standard & Poor's 2010 (Gesundheit); 19,6% Gesundheit 20 15 Pensionssicherungskommission 2010 (Pensionen) 10 Investitionen Pensionen 5 0 2010 2015 2020 2025 2030 2040 2050 Pensionen und Staatsschulden Zwar ist in der ursprünglichen Konzeption des ASVG vorgesehen, dass die Ausgaben der Sozialversicherung gemäß Versicherungsprinzip durch die Prämien, also die Beiträge der Beschäftigten gedeckt sein sollten18, aber die gelebte österreichischen Praxis sieht anders aus. Die Einnahmen wachsen proportional mit dem Wachstum der Lohnsumme, aber die Ausgaben entwickeln sich mit einer zusätzlichen dramatischen Dyna- mik. Der Fehlbetrag muss mit Steuergeldern gefüllt werden. Die aktuellen Projektionen der Pensionssiche- rungsreformkommission bestätigen dieses Bild für die Zukunft: Die Beitragseinnahmen der Pensionsversicherung (Einnahmen ohne Bundesmittel und Bundesbeitrag – also ohne Quersubventionen des Budgets) steigen minimal von aktuell 8,5 Prozent des BIP auf 8,7 Pro- zent des BIP im Jahr 2050. Bei der Krankenversicherung ist die Einnahmendynamik ident und bleibt damit bei rund 2,6 Prozent des BIP bis 2050. Bei den Pflegeausgaben gibt es derzeit überhaupt keine Versicherungseinnahmen, da es bis jetzt von der Politik verabsäumt wurde, eine nachhaltige Pflegeversicherung zu etablieren. Damit sind sämtliche Aus- gaben sofort budgetwirksam. Gekoppelt mit der oben beschriebenen dramatischen Ausgabendynamik ergibt das folgendes Bild: Die Dif- ferenz aus Ausgaben und Einnahmen der staatlichen Pensions- und Krankenversicherung, die mit Steuer- geldern abgedeckt werden muss, explodiert damit von aktuell 8,5 Prozent des BIP auf 18 Prozent des BIP im Jahr 2050. Das ergibt budgetäre Mehrkosten von 27 Mrd. Euro nach heutigen Wert. Alleine die 18) Mit der Ausnahme der volkswirtschaftlichen wichtigen Ersatzzeiten für z.B. Kindererziehung oder Wehrdienst Ausgaben für „Alterung“ | 25
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