Die Neustart! Zukunftsagenda - für Gesundheit, Partizipation und Gemeinwohl - Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen

 
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Die Neustart! Zukunftsagenda - für Gesundheit, Partizipation und Gemeinwohl - Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen
Reformwerkstatt für
unser Gesundheitswesen

Die Neustart! Zukunftsagenda –
für Gesundheit, Partizipation und Gemeinwohl
Hinweis: Für eine bessere Lesbarkeit verzichten wir meistens auf die gleichzeitige
Nennung weiblicher und männlicher Formen von personenbezogenen Substantiven.
Wenn nicht anders erwähnt, sind beide Geschlechter gemeint.
Die Neustart! Zukunftsagenda –
für Gesundheit, Partizipation und Gemeinwohl
4   DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
    Vorwort

Vorwort
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
                                                                                    Vorwort
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Die Initiative „Neustart! Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen“ der Robert Bosch
Stiftung hat Bürgerinnen und Bürger aus ganz Deutschland in den Mittelpunkt einer mehr
als zweijährigen Reformdebatte über das deutsche Gesundheitswesen gestellt. Auch über
die Corona-Krise hinweg haben wir einen Dialog über Gesundheit und Gesundheitsver-
sorgung ermöglicht und zugehört, was sich die Menschen in Deutschland für die Zukunft
wünschen und vorstellen. Mit ihnen und einer Vielzahl von Fachleuten haben wir uns in
die wesentlichen Züge des Gesundheitssystems hineingedacht und sind dabei vor allem
auf den Wunsch nach einem Gesundheitssystem gestoßen, das tatsächlich die Förderung
und Erhaltung von Gesundheit adressiert, bevor es Krankheiten heilt und lindert, was
selbstverständlich ebenso seine Aufgabe ist. Aus dieser Sichtweise und den vielen frucht-
baren Dialogen mit Bürgern, W ­ issenschaftlern und Praktikern aus dem Gesundheitswesen
beziehen wir den Mut, die „Neustart! Zukunftsagenda – für Gesund­heit, Partizipation
und Gemeinwohl“ vorzulegen. Wir wün­schen uns, dass die darin formulierten Vorschläge für
die dringend erforderliche Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems gehört und
gewogen werden. Wir hoffen darüber hinaus, dass diese Neustart! Zukunftsagenda durch
den dialogischen Prozess ihrer Entstehung auch einen Beitrag zur Weiterentwicklung unserer
Gesellschaft, ihrer demokratischen Verfasstheit und ihres Zusammenhalts leisten kann.

Die Robert Bosch Stiftung bedankt sich bei den Beiratsmitgliedern der Neustart!-Initiative:
Marion Caspers-Merk, Hans-Jürgen Firnkorn, Prof. Dr. Klaus Hurrelmann,
Dr. Zun-Gon Kim, Dr. Wolfgang Klitzsch, Dr. Claudia Maier, Prof. Dr. Gabriele Meyer,
Prof. Dr. Andreas Michalsen, Dr. Dominik Graf von Stillfried und Dr. Matthias Zuchowski.

Unser Dank gilt außerdem den Kooperationspartnern:
Prof. Dr. Mujaheed Shaikh, Dr. Alexander Haarmann, Prof. Dr. Detlev Ganten und
Dr. Britta Rutert sowie allen beteiligten Bürgerinnen und Bürgern und den Fachleuten
aus Wissenschaft und Praxis, die sich im Verlauf der Initiative eingebracht haben.

Robert Bosch Stiftung GmbH
Stuttgart, im Juni 2021
6   DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
    Thesen

Thesen

    1.	Das deutsche Gesundheitssystem braucht einen
        ­Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System.

    	Das deutsche Gesundheitssystem ist zwar leistungsfähig bei der       Die dritte Revolution:
      Behandlung kranker Menschen, aber es erfüllt seine Aufgabe           den Wechsel zu einem
      nicht, sie durch Information, Gesundheitsförderung und Prävention    Gesundheits-System
      vor Krankheiten zu schützen. Es klingt paradox, aber im Mittel­-     vollziehen
    	punkt unseres Gesundheitssystems steht nicht die Gesunder­
      haltung der Menschen. Damit das deutsche Gesundheitswesen
      seinen Namen verdient und endlich den Blick darauf richtet,
      Krankheiten erst gar nicht entstehen zu lassen, braucht es eine
      dritte Revolution.

    2.	Viele Menschen in Deutschland wollen ein solidarisches,
       am Gemeinwohl orientiertes Gesundheitssystem.

    	Der stark ausgeprägte Wunsch der Bürger und Versicherten nach        Ein an Solidarität und
      einem solidarischen und gemeinwohlorientierten Gesundheits­          Gemeinwohl orientiertes
      system muss endlich Eingang in die Politik finden. Dazu gehört       System sichern
      auch die ernsthafte Debatte über die Einführung einer allgemeinen
      ­Krankenversicherung für alle. Ebenso der Wunsch der Menschen
      nach Transparenz, Mitbestimmung und Kommunikation auf Augen-
       höhe mit den im Gesundheitswesen Tätigen.

    3. D
        ie Neuausrichtung des Gesundheitswesens muss bei
       den Menschen ansetzen – bei ihrer Gesundheit und dort,
       wo sie leben.

    	Versorgung muss vor Ort bei den Menschen starten können und          Mit der Gesundheits-
      leicht zugänglich sein. Sie verknüpft Prävention und Gesundheits-    versorgung bei den Menschen
      förderung mit medizinisch-pflegerischer Versorgung. Primärversor-    ansetzen
      gungszentren, die in ihre Region gut eingebunden sind, können dies
      leisten. Regionen übernehmen Verantwortung, stärken die öffent-
      liche Gesundheit und werden darin von einem nationalen Zentrum
      mit Verantwortung für öffentliche Gesundheit unterstützt.
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
                                                                                                  Thesen
                                                                                                              7

4. D
    ie Partizipation der Bürger und Patienten muss auf
   allen Ebenen gestärkt werden

	Gesundheit ist auf die Kooperation und Koproduktion aller Betei-           Partizipation auf allen Ebenen
  ligten angewiesen – in der Interaktion zwischen dem Patienten und          ermöglichen
  seinen Helfern, in der ­Nachbarschaft und im informellen Engage-
  ment vor Ort, in der Gestaltung der regionalen Gesundheitsversor-
  gung und in der Beratung von Entscheidungsträgern. Dazu müssen
  die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden.

5. Investitionen in Menschen und Qualität:
    Bildung ist der große Schlüssel

	Gesundheitskompetenz, auch digital vermittelte Gesundheits­                In Menschen und Qualität
  kompetenz, ist wichtig für alle: für Bürger und Patienten, damit sie       investieren
  ihre Eigenverantwortung wahrnehmen und sich an der Gestal­-
  tung des Gesundheitswesens beteiligen können, ebenso wie für
  alle anderen, damit sie Zusammenhänge (besser) verstehen und
  vermitteln können. Investitionen in die Gesundheitskompetenz
  der Bevölkerung, in höchste Qualifizierungsstandards der
  Gesundheitsberufe und in das Erlernen von Zusammenarbeit
  versprechen große Gewinne für die Gesundheit.

6.	Ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem entsteht nicht
   in Deutschland allein

	Internationale Zusammenarbeit und Vernetzung sind unabdingbar,             International zusammen­
  wenn es darum geht, auf Pandemien und Katastrophen vorbereitet             arbeiten für Gesundheit
  zu sein. Dies gilt nicht nur im Zusammenhang mit der Bereitstellung
  von Materialien und Gütern, sondern auch auf dem Gebiet einer
  sicheren Digitalisierung und bei gemeinsamen Herausforderungen
  wie dem Klimawandel.

7.	Raus aus der Komfortzone:
    den Neustart wagen für eine Politik der langen Linien

	Es muss gehandelt werden – aber nicht wie in der Vergangenheit             Jetzt handeln mit einer
  in kleinteiligen, technokratischen Verbesserungsversuchen hier             Politik der langen Linien
  und dort, sondern mit Mut zu Weichenstellungen für große Ziele.
  Gefragt ist eine Politik der langen Linien, die nicht nur akute Krisen
  bewältigt, sondern für die Zukunft des Gesundheitswesens
  Rahmenbedingungen schafft, die Qualität weiterentwickeln und
  Innovation ermöglichen.
8   DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
    Inhalt

Inhalt
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
                                                                              Inhalt
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10 1     Warum ein Neustart notwendig ist –
		       eine gesellschaftlich-historische Standort­bestimmung
		       des deutschen Gesundheitswesens

13 2     Neustart! – eine Plattform für den Austausch
		       über das Gesundheitssystem von morgen

16   3   Die Botschaften aus der Mitte Deutschlands an die Politik

19  4    Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System –
		       oder die dritte Revolution
20		     4.1 Ein neues Fundament
21		     4.2 Gesundheit für das Individuum
23		     4.3 Gesundheit für die Bevölkerung
24		     4.4 Gesundheit in der vernetzten Welt
25		     4.5 Politik der langen Linien

27  5    Das Gesundheitssystem erneuern –
		       „von unten“ und von Grund auf
28		     5.1 Primärversorgung durch örtliche Gesundheitszentren stärken
29		     5.2 Regionen zur Gestaltung von Gesundheit befähigen
30		     5.3 Nationales Zentrum mit Verantwortung für öffentliche Gesundheit

32   6   Mut fassen für eine gesunde Zukunft

36   Beteiligte Personen
38   Publikationsliste
40   Impressum
10   DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
     Warum ein Neustart notwendig ist – eine gesellschaftlich-historische Standort­bestimmung
     des deutschen Gesundheitswesens

1
Warum ein Neustart
notwendig ist –
eine gesellschaftlich-
historische Standort­
bestimmung des
deutschen Gesund-
heitswesens
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
                                  Warum ein Neustart notwendig ist – eine gesellschaftlich-historische Standort­bestimmung
                                                                                                                             11
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Gesundheit ist ein hohes Gut – für jeden Einzelnen und für        Diese Vernachlässigung der Sozialmedizin und die Veren-
die Gesellschaft. Deutschland kann sich daher glücklich           gung auf naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen ver-
schätzen, ein im internationalen Vergleich leistungsfähiges       stärkten den Trend zu einer arbeitsteiligen Medizin, die den
Gesundheitssystem zu haben. Dennoch gibt es seit Jahren,          Körper vor allem in seinen Einzelbestandteilen in den Blick
gar Jahrzehnten, berechtigte gesundheitspolitische und            nimmt bis hinein in den molekularbiologischen Bereich.
gesundheitsfachliche Debatten über die Zukunftsfähigkeit          Unter der Annahme einer der vermeintlichen Natur der Frau
des Systems. Es steckt im Weiterentwicklungsstau. Dieser          entspringenden Zugewandtheit und Dienstbarkeit wurde
zeigt sich etwa daran, dass intime Kenner des Systems inzwi-      im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierungs­prozesse
schen müde abwinken, wenn es um größere Reformen gehen            zudem versäumt, die im Mittelalter wurzelnde christlich-
soll. Bezeichnend ist auch, dass das Amt des Bundesgesund­-       abendländische Pflege- und Fürsorgearbeit in die säkulari­
heitsministers unter Politikern eher als unbeliebt und riskant    sierte Welt zu überführen. So findet sich das deutsche
gilt – obwohl Gesundheit für die Menschen so wichtig ist.         Gesundheitssystem heute in der eigentümlichen Situation
                                                                  wieder, dass es in der Spitzenmedizin zwar wettbewerbs­
Die aktuelle Corona-Pandemie überschattet viele ange­stau­        fähig ist, gleichzeitig jedoch im Pflegebereich immer wieder
ten Probleme und legt andere umso mehr unter das Ver­             Personalnotstände zu verzeichnen sind.
größerungsglas. Vor allem macht sie spürbar, welch zentrale
Bedeutung individuelle und öffentliche Gesundheit haben:          Das Gesundheitssystem: weitgehend immun gegen
Ohne sie steht plötzlich alles kopf, brechen Lieferketten         Impulse von innen und außen
auseinander, bleiben Schulen und Arbeitsplätze leer, steht
das öffentliche Leben weitgehend still. Die Pandemie gibt         Niemand möchte die Errungenschaften der modernen
also allen Anlass, über die eigentlichen Ziele des Gesund-        Medizin missen, und kaum jemand könnte aufwändige
heitssystems nachzudenken, weshalb eine kurze gesell-             Be­handlungen ohne Weiteres aus eigener Tasche zahlen –
schaftlich-historische Standortbestimmung hilfreich ist.          fast alle erhalten sie dennoch: Anders als in anderen
                                                                  Ländern mit ähnlichem Entwicklungsstand gewährt das
Systematisch vernachlässigt:                                      deutsche Gesundheitssystem nahezu allen Bürgern Zugang
Sozialmedizin und öffentliche Gesundheit                          zu gesundheitlicher Versorgung, weil durch die Sozial­ver­
                                                                  sicherungssysteme ein gewisser Ausgleich zwischen den
Das deutsche Gesundheitswesen ist keineswegs als ent­             verschiedenen Teilen der Bevölkerung (arm /reich, jung /alt,
wickeltes System gestartet, sondern als Zwangsversicherung        gesund /krank) hergestellt wird.
gegen Lohnausfall bei Krankheit. Seine Wurzeln reichen
zurück in die Zeit der industriellen Revolution: Mit der          In seiner Architektur mit solidarischer Gleichbehandlung
Kaiserlichen Botschaft von 1881 wurde die Sozialgesetz-           und einkommensabhängigen Versicherungsbeiträgen
gebung begründet, die nicht nur zum Ziel hatte, die Men-          hat das deutsche Gesundheitssystem Kriege und Krisen
schen vor materiellem Elend im Alter und bei Krankheit zu         überstanden sowie, seine prinzipielle Anpassungsfähigkeit
schützen – sondern auch das junge Reich vor revolutionären        und relativ hohe Resilienz gegenüber verschiedenen Her-
Bewegungen. Zeitgleich und dann massiv im 20. Jahrhun-            ausforderungen bewiesen. Es hat in den letzten etwa fünf
dert begann der Aufstieg der modernen Medizin. Mit ihren          Generationen sein Leistungsniveau halten und ausbauen
erheblichen Reparaturerfolgen vor allem in der Chirurgie          können und ist damit als ein prominenter Teil deutscher
befeuerte sie sowohl die Individualmedizin als auch die           Kultur zu bewerten.
Diktionsmacht der Medizinprofession – und prägte damit
die Entwicklung der modernen Gesundheitsversorgung.               Doch so erfolgreich sich das System gegen unzählige
Diese einseitige Ausrichtung des Systems vollzog sich auch        politische Interventionen gewehrt hat (die der Versorgung
deshalb so erfolgreich, weil Sozialmedizin und öffentliche        häufig wenig Orientierung gaben), so viel Kraft und Zeit
Gesundheit („Public Health“) nach 1945 systematisch               kosten mittlerweile selbst kleinere Veränderungen. Gesund-
vernachlässigt wurden, was einerseits dem Missbrauch              heitspolitik schafft heute weniger Lösungen als dass sie
durch die Naziherrschaft geschuldet war, andererseits             durch ihr technokratisch-kleinschrittiges Handeln Teil des
der Illusion, Penicillin würde die Infektionskrankheiten im       Problems geworden ist: Das Gesundheitssystem scheint
Wesentlichen besiegen.                                            geradezu immun zu sein gegen neue Impulse für seine
12        DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
          Warum ein Neustart notwendig ist – eine gesellschaftlich-historische Standort­bestimmung
          des deutschen Gesundheitswesens

Weiterentwicklung. Manche Kritiker bezeichnen es in seiner         Keine Fortsetzung alter Debatten – raus aus der
gegenwärtigen Verfasstheit als „Krankheitssystem“ – weil           gesundheitspolitischen Komfortzone
es so sehr auf den Kampf gegen Krankheiten fixiert ist und
so wenig Ressourcen für die Erhaltung und Förderung von            Vor diesem Hintergrund ist die Initiative „Neustart! Reform-
Gesundheit bereitstellt.                                           werkstatt für unser Gesundheitswesen“ 2018 auf den Plan
                                                                   getreten. Ihre Absicht ist nicht, Kritik an einem System
Das hat entscheidend mit dem rechtlichen Rahmen des                zu üben, das in der Vergangenheit erstaunliche Leistungs-
Gesundheitssystems zu tun, der durch Grundgesetz,                  fähigkeit bewiesen hat. Auch sollen alte Debatten nicht
Landesgesetze und die einschlägigen Sozialgesetzbücher             fortgesetzt und hier und dort weitere technokratische
definiert ist. Akteure, die Innovationen vorschlagen, kom-         Verbesserungen vorgeschlagen werden (auch wenn am
men daher nicht umhin, sich damit auseinanderzusetzen,             Ende konkretes Handeln gefragt ist). Die Pandemie sollte
ob und wie der gesetzliche Rahmen ihre Reformvorschläge            uns aber aufrütteln, die bisherige gesundheitspolitische
befördert oder behindert. Die Bearbeitung einer Vielzahl           Komfortzone mit den immer gleichen Diskursen und immer
von Einzelfragestellungen und Partikularinteressen hat             gleichen Interessensarenen zu verlassen und die eigentli-
in der Vergangenheit zu fast ausschließlich pfadabhängigen         chen Ziele des Gesundheitswesens in den Blick zu nehmen.
Lösungen und zu kleinteiligen, oft inkohärenten und in
manchen Bereichen selbst für Fachleute zu nicht mehr               Die Initiative fällt in eine Zeit, die allgemein als Umbruch
überschaubaren Regulierungen geführt. Übergreifende                erlebt wird, in der demokratische Ordnungen und so­-
An­strengungen mit dem Anspruch, Weichen neu zu                    zialer Zusammenhalt in Frage gestellt werden, in der sich
stellen, müssen daher fast aussichtlos wirken – eine               technokratisch geprägte Strukturen als immer weniger
Herausfor­derung, die für Neustart! nicht zu übersehen war.        trag­fähig erweisen angesichts einer pluralistischen Gesell-
                                                                   schaft. Die Menschen spüren, dass der Klimawandel,
Weitgehend verschlossen zeigt sich das System auch                 die Digitali­sierung und neue, unser Erbgut verändernde
gegenüber Ansätzen, die seit Jahrzehnten international             Technologien dabei sind, die Welt komplett zu verändern.
auf höchster Ebene proklamiert und teilweise praktiziert
werden. So hat beispielsweise die Erklärung der Welt­              Sollen Demokratie, sozialer Zusammenhalt und Krisen­
gesundheitsorganisation von 1978 zur Stärkung der Primär-          resilienz gestärkt werden, ist mehr Partizipation auf allen
versorgung (Alma Ata) die Gesundheitsversorgung hier­              Ebenen der Gesellschaft unumgänglich. Gerade in der
zulande kaum strukturell prägen können. Auch passt sich            Corona-Krise zeigt sich, wie wirkungsmächtig verschie-
das System veränderten Aufgaben nur sehr zögerlich an.             dene Meinungsbilder sein können und wie sehr belastbare
Da es vor allem auf die Akutversorgung ausgerichtet ist, ver-      Lösungen für ein demokratisches System auf ehrlichen
nachlässigt es die kontinuierliche Begleitung chronisch und        Dialog angewiesen sind.
mehrfach erkrankter Menschen, obwohl diese inzwischen
das Krankheitsspektrum maßgeblich prägen. Auch deshalb               Neustart! ist deshalb der Versuch, aus der Mitte der
ist bis heute keine befriedigende Antwort darauf gefunden,           Gesellschaft heraus Orientierung zu finden, Perspektiven
wie die vielen alten Menschen in einer Gesellschaft gepflegt         für eine Gesundheitspolitik der langen Linien zu entwickeln
werden sollen, die erst am Anfang eines historischen                 und Mut zu machen für tiefgreifende Veränderungen.
Schubs demografischer Alterung steht. Nicht zuletzt ist die          Neustart! will im besten Sinne einen Neustart auslösen
zögerliche Digitalisierung der medizinischen Versorgung              für einen weiteren großen Entwicklungsschritt des Gesund-
ein schlagender Beweis für die mangelnde Flexibilität eines          heitssystems. Für ein System, das auch in Zukunft für
offenbar selbstzufriedenen Systems.                                  alle Menschen in Deutschland eine bedarfsgerechte Ver-
                                                                   ­­sorgung sicherstellt, ihnen zugewandt ist – patienten­
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Debatten                 orientiert, multi­professionell, qualitätsgeprägt und offen
über die ungelösten Probleme der Vergangenheit, über die             für Innovationen. Für ein Gesundheitssystem, das diesen
aktuelle Corona-Krise sowie über die Herausforderungen in            Namen zu Recht trägt.
der Zukunft stellen den Status quo des Systems grundlegend
in Frage.
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
   Neustart! – eine Plattform für den Austausch über das Gesundheitssystem von morgen
                                                                                        13

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Neustart! – eine Platt-
form für den Austausch
über das Gesundheits-
system von morgen
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          Neustart! – eine Plattform für den Austausch über das Gesundheitssystem von morgen

Anspruch der Reformwerkstatt ist es, durch die Beteiligung        Im Juli 2020 beantwortete Bundesgesundheitsminister
von Bürgerinnen und Bürgern Legitimation für Reformvor-           Jens Spahn Fragen der Bürgerinnen und Bürger und
schläge herzustellen. Aus diesem Grund erschien es nicht          signalisierte Offenheit, Ideen für ein zukünftiges Gesund-
sinnvoll, zusätzlich zum „Sachverständigenrat zur Begut-          heitssystem entgegenzunehmen. Im zweiten Bürger-
achtung der Entwicklung im Gesundheitswesen“ einfach              dialog 2020, hinterfragten und verdichteten die Teilnehmer
eine weitere Expertenkommission einzuberufen. Vielmehr            die in den unterschiedlichen Formaten vorgebrachten
drängte sich auf, Perspektiven der Bürger aus der Mitte           Lösungvor­schläge. Mit Expertinnen und Experten disku­
der Gesellschaft zu erfahren. Ihre Ansichten und Einsichten       tier­ten sie im Frühjahr 2021 die Aussichten auf tatsächliche
bilden die wesentliche Grundlage für die Dialoge, denen           Veränderungen.
die Neustart!-Initiative seit 2018 als Plattform diente für
den Austausch mit Expertinnen und Experten, mit Wissen-           Zusätzliche externe Expertise für die Ideen aus
schaftlerinnen und Wissenschaftlern, mit Vertreterinnen           der Reformwerkstatt
und Vertretern der Selbstverwaltung und der Berufsgruppen
sowie mit den parlamentarischen Politikerinnen und                Zwar bilden die vielfältigen Dialogformate das Herzstück
Politikern einschließlich dem Bundesgesundheitsminister.          von Neustart!. Dennoch erschien es angebracht, durch
                                                                  Aktivitäten und Kooperationen mit externen Institutionen
Bei zwei großen Dialogveranstaltungen in den Jahren 2019          zusätzliche Dimensionen in den Blick zu nehmen, um zu
und 2020 versammelten sich annähernd 700 Bürgerinnen              verstehen, warum Veränderungen – gar ein Paradigmen-
und Bürger in fünf Städten Deutschlands – in der Corona-          wechsel – bislang ausgeblieben sind. So erarbeitete das
Krise auf virtuellen Plattformen – und formulierten ihre          Institute of Comparative Politics and Public Policy der
Wünsche und Vorstellungen für das Gesundheitssystem               TU Braunschweig mit Förderung durch die Robert Bosch
von morgen. Ihre Anregungen wurden in parallel stattfinden­       Stiftung eine Synopse zur „Reform- und Innovationsfähigkeit
den Think Labs mit Fachleuten aus Wissenschaft und Praxis         des deutschen Gesundheitswesens“. Die Arbeit legt dar, wie
aufgegriffen und durch Treffen von Bürgern mit Experten           die politische Steuerung des Gesundheitssystems seit den
ergänzt. Die Think Labs wurden in Kooperation mit                 1950er Jahren bis heute verlief. Ihr wesentlicher Befund
der Hertie School veranstaltet und behandelten folgende           lautet, dass grundlegende Reformen nur unter spezifischen
Fragen:                                                           Bedingungen durchsetzbar sind. So gibt es auch in der
                                                                  aktuellen Gesundheitspolitik trotz großer Gesetzesfülle
• Wie kann ein anderes Gesundheitssystem aussehen?                keine Strukturreformen, welche die großen Probleme –
• Welche Entwicklungen auf dem Weg dahin sind zu                  Finanzierung, Solidarität, Qualität, Fachkräftemangel –
  berücksichtigen?                                                wirkungsvoll aufgreifen. Vieles wird aus den Logiken der
• Wer bildet die Zielgruppe: Patienten, Bürger, Konsu­            Teilsysteme heraus geregelt, die untereinander nicht kom-
  menten? Wie vielfältig ist sie? Was versteht sie unter          patibel sind. Mit anderen Worten: Es herrscht Aktionismus,
  Gesundheit und Krankheit? Wie verhält sie sich?                 wo vorausschauendes vernetztes Handeln gefragt ist.
• Wie muss die Leistungserbringung aufgestellt werden,
  um die Ziele zu erfüllen?                                       Weitere Expertise von außen kam vom „Health Governance“-
• Woher kommen die finanziellen Mittel, und wie werden            Lehrstuhl der Hertie School, der sich mit der Frage be-
  sie verteilt?                                                   schäf­tigt, wie die Steuerung des Gesundheitswesens weiter-
• Welche Form der Steuerung eignet sich für die Durch­            entwickelt, flexibler gestaltet und auf zukünftige Heraus­
  setzung der Ziele und für schnellere Anpassungen an             forderungen zugeschnitten werden kann. Auf Einladung der
  neue Herausforderungen?                                         Robert Bosch Stiftung erstellte außerdem ein Arbeitskreis
• Welches sind die Aussichten für ein neues                       ausgewiesener Fachleute einen Handlungskatalog, in
  Gesundheitssystem?                                              dem beschrieben ist, wie die Sozialgesetzgebung und vor
                                                                  allem das fünfte Buch auf der Grundlage wünschens-
Punktuell brachten weitere gesundheitspolitische Podi-            werter Ziele überarbeitet werden müsste. Die Leitgedanken
umsveranstaltungen interessierte Bürger, Fachleute und            dafür entstammten vor allem dem ersten Bürgerdialog:
Politiker miteinander ins Gespräch.                               Wie können die Sektoren aufgelöst werden und eine
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
                                     Neustart! – eine Plattform für den Austausch über das Gesundheitssystem von morgen
                                                                                                                          15

patientenorientiertere Gesundheitsversorgung gelingen?          unterschiedlichster Weise darum bemühen, Krankheiten
Wie erreicht man eine multiprofessionelle Leistungserbrin-      zu heilen oder wenigstens Symptome zu lindern. Gerade
gung und neue verantwortliche Rollen in den Gesundheits-        die Corona-Pandemie zeigt jedoch, dass Umweltaspekte
berufen? Wie kann der Stellenwert der öffentlichen Gesund-      oder Präventionsmaßnahmen für die Gesunderhaltung
heit erhöht werden? Wie können Regionen und Kommunen            möglichst vieler Menschen mindestens ebenso relevant
in ihrem Handeln für Gesundheit gestärkt werden?                sind wie die reine Behandlungsmedizin. Die interdisziplinäre
Welche Grenzen zieht das Grundgesetz? Wie lässt sich die        Arbeitsgruppe „Zukunft der Medizin“ der BBAW beschäftigt
konstruktive Nutzung der Digitalisierung abbilden?              sich deshalb mit den wissenschaftlichen Grundlagen einer
                                                                zukünftigen Medizin – angefangen bei der Molekularbio-
Zusammenarbeit aller Disziplinen für Gesundheit                 logie über die Organsysteme bis zum Zusammenspiel der
und Wohlbefinden                                                Körperfunktionen – und verbindet diese in einem ganzheit-
                                                                lichen Blick mit Umweltfaktoren, Lebensstilen und den
Schließlich ist die Robert Bosch Stiftung im Rahmen von         Konsequenzen für die Krankenversorgung, Prävention und
Neustart! auch eine Kooperation mit der Berlin-Brandenbur-      Gesundheit. Es geht letztlich um die Erfüllung des 3. Nach-
gischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), dem World           haltigkeitsziels der Vereinten Nationen, wonach Gesundheit
Health Summit und Charité Global Health einge­gangen.           und Wohlbefinden für alle Menschen zu ermöglichen sind.
Im Mittelpunkt der Zusammenarbeit steht das Bemühen,            Die Kooperationspartner engagieren sich für den dafür
ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und Krank-        notwendigen kontinuierlichen Dialog zwischen Zivilgesell-
heit zu vermitteln. Denn die moderne Medizin ist heute          schaft, Wissenschaft und Politik.
in eine Vielzahl von Spezialisierungen verästelt, die sich in

                               Neustart! und Corona

                               Die Corona-Pandemie durchkreuzte selbstverständlich auch die Pläne der
                               Neustart!-Initiative und erzwang Online-Konferenzen, wo persönliche Begeg-
                               nungen geplant waren. Im zweiten „Neustart! Think Lab“ im Juni 2019 – also
                               nur wenige Monate vor den ersten bekannten Infektionen in China – wurde auf
                               die Gefahr von Pandemien hingewiesen, die nicht nur durch die Aus­breitung
                               und Mutation von Virenstämme drohen, sondern auch durch die zunehmende
                               Antibiotikaresistenz vieler bakterieller Keime.

                               In einer Serie von sieben „Neustart! Corona Calls“ im Sommer 2020 zogen
                               26 Fachleute aus Gesundheitsversorgung und Wissenschaft eine erste
                               Bilanz der Krise und bereicherten die vorausgegangenen Diskussionen um
                               wichtige Einsichten dahingehend, welche Veränderungen im Gesundheits­
                               system gerade im Lichte der Pandemieerfahrung nicht länger aufgeschoben
                               werden dürfen.
16   DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
     Die Botschaften aus der Mitte Deutschlands an die Politik

3
Die Botschaften aus der
Mitte Deutschlands an
die Politik
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
                                                            Die Botschaften aus der Mitte Deutschlands an die Politik
                                                                                                                        17

Kern der Neustart!-Initiative bildeten Dialogveranstaltungen, • Besonders deutlich sind die Sichtweisen zu den Themen
an denen sich fast 700 zufällig ausgewählte Bürgerinnen         Finanzierung und Vergütung: Das Gesundheitswesen soll
und Bürger aus ganz Deutschland beteiligten. Sie wählten        nach Meinung der Menschen gemeinwohlorientiert
rund 40 Botschafter, welche die Anliegen in weiteren Forma-     statt gewinnorientiert gestaltet werden. Einzelne Teil-
ten wie den Bürger-Experten-Dialogen vertraten. Über die        nehmende wünschen sich sogar ein staatlich gesteuertes
Neustart!-Webseite gingen etwa 270 Kommentare ein, und          Gesundheitssystem. Dies dürfte seinen Ursprung in der
gut 1.000 Personen nahmen 2020 an einer repräsentativen         Sorge haben, dass Gesundheit zunehmend den Kräften
Umfrage zu Reformansätzen für das deutsche Gesundheits-         des freien Marktes ausgesetzt und als „Common Good“
system teil. Die wesentlichen Botschaften, die die Bürger in    in Gefahr ist.
diesen Foren an die Politik richteten, lauten:                • Mit dem Verständnis von Gesundheit als Gegenstand
                                                                des Gemeinwohls ist eine weitere zentrale Botschaft aus
• Im Gesundheitswesen soll der Mensch im Mittelpunkt            den Bürgerdialogen erkennbar: Gesundheit bedarf des
   stehen. Dass eine Selbstverständlichkeit derart betont       verantwortlichen Handelns aller Beteiligten: Die Bürge-
   wird, kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass        rinnen und Bürger sehen klar die Verantwortung für die
   das Gesundheitssystem diese Erwartung oft eben nicht         eigene Gesundheit und sprechen sich für ihre Förde-
   erfüllt und anderen Interessen dient.                        rung aus. Zusätzlich zur Vermittlung von Grundkenntnis-
• Bürgerinnen und Bürger machen sich stark für mehr             sen bereits bei Kindern und Jugendlichen sollten weitere
   Gesundheitsförderung und Prävention. Die Erhaltung           Möglich­keiten angeboten werden, sich gesundheitsför-
   der Gesundheit steht für sie an erster Stelle. Sie wün-      derlich zu verhalten. Transparente Informationsvermitt-
   schen sich, dass die Weichen durch Gesundheitsbildung        lung, verlässliche Gesundheitsportale und Anlaufstellen
   bereits in Kitas und Schulen früh gestellt werden.           sind ebenso wie ein konsequent nutzerfreundlich gestal-
• Sie schlagen eine vermehrte Besteuerung gesund-               tetes Gesundheitssystem insgesamt wichtige Schlüssel.
   heitsschädlicher Nahrungs- und Genussmittel vor.             Auch sollte die Fähigkeit gefördert werden, Informationen
   Alltag und Lebenswelten sollen für alle und in allen         aus verschiedenen Quellen gegeneinander abzuwägen.
   Bereichen so gestaltet sein, dass die Entscheidung           Menschen mit eingeschränkter Gesundheitskompetenz
   für die gesunde und nachhaltige Alternative stets die        sollten gezielt unterstützt werden.
   einfache und normale ist – von der Ernährung über die      • Der Anspruch an Verantwortung soll sich jedoch nicht in
   Mobilität bis zum Stressverhalten.                           einem gesundheitsförderlichen Lebensstil (Ernährung,
• Die Menschen erwarten leicht verständliche und zu­­           Bewegung etc.) erschöpfen. Gefordert werden auch mehr
   gängliche und vor allem verlässliche Informationen.          Partizipation und Mitbestimmung, was Kommunika-
• Bürgerinnen und Bürger haben keineswegs nur ihre              tion auf Augenhöhe mit den professionellen Helfenden
   eigene Gesundheit im Blick. Die Ergebnisse der Dialoge       voraussetzt, aber auch einen einfachen Zugang zu und
   zeigen ein ausgeprägtes Verständnis von Gesundheit           transparenten Austausch mit den administrativen Berei-
   als „Common Good“. Diese Haltung spiegelt sich in            chen des Gesundheitssystems wie zum Beispiel
   einigen richtungsweisenden Vorschlägen für die Weiter-       den Krankenkassen. So wünschen sich die Bürger mehr
   entwicklung des Gesundheitswesens wider. So sprechen         Mitwirkung etwa bei der Planung und Gestaltung
   sich die Teilnehmenden sowohl in den Dialogen als auch       regionaler und kommunaler Versorgungsstrukturen, zum
   in der repräsentativen Umfrage mehrheitlich für ein          Beispiel durch kommunale Gesundheitskonferenzen.
   solidarisches Versicherungssystem aus, zum Beispiel • Mit Blick auf die Gesundheitsversorgung im engeren Sinne
   in Form einer allgemeinen Krankenversicherung,               wünschen sich die Bürger vor allem eine gesicherte
   die die wesentliche Versorgung abdeckt und optional          Erst- und Grundversorgung und einen niedrigschwel-
   Zusatzleistungen anbietet.                                   ligen Zugang zu einer umfassenden und ganzheitlichen
• Dieselbe Haltung kommt im Vorschlag für einen                 Betreuung. Darin und in einem breiten interdisziplinären
   Finanz­ausgleich zwischen ärmeren und wohlhaben-             Angebot sehen sie die Vorteile von Primärversorgungs-
   deren Regionen zum Ausdruck. Auch die Überlegungen           zentren, die zudem im ländlichen Raum Lücken der
   zu „Caring Communities“, also gegenseitiger nach­            ärztlichen Versorgung schließen und Angebote der
   barschaftlicher Hilfe, gehen in diese Richtung.              Gesundheitsförderung und Prävention bündeln könnten.
18        DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
          Die Botschaften aus der Mitte Deutschlands an die Politik

• Die Teilnehmenden der Dialogveranstaltung empfinden
  eine hohe Wertschätzung der Gesundheitsberufe
  und sehen es als wichtig an, professionelles Handeln in
  diesen Berufen nachhaltig zu unterstützen – durch
  angemessene Vergütung und mehr Zeit für die Kom­
  munikation mit den Patienten, durch eine verbesserte
  Situation der Pflege und vor allem durch einfachere
  Prozesse und Entlastung von Bürokratie. Auch soll
  ärztliches, pflegerisches und therapeutisches Personal
  verstärkt in Kommunikations- und Sozialkompetenz
  qualifiziert werden, um Barrieren aufgrund von Sprache,
  kultureller Sozialisation, Bildungsniveau oder körperlicher
  bzw. kognitiver Beeinträchtigung abzubauen.
• Eindeutige Kritik üben die Bürger daran, dass das
  Gesundheitssystem an vielen Stellen intransparent und
  die Interaktion vielfach mühsam sei. Vorschläge zur
  Verbesserung reichen von mehr Transparenz in den
  Abrechnungssystemen über allgemeinverständliche
  Befunde und Berichte bis zu seriösen Online-Rankings
  der Anbieter von Gesundheitsleistungen.
• Bemerkenswert ist schließlich der Befund, dass Bürge-
  rinnen und Bürger weder übertriebene Bedenkenträger
  noch Verhinderer sein wollen – im Gegenteil: Sie
  unterstützen ausdrücklich Investitionen in Innovation
  und Forschung. Sie wünschen einen konstruktiven
  Einsatz der Digitalisierung und verbinden damit die
  Chance, mehr Transparenz herzustellen und Bürokratie
  zu reduzieren. Sie heißen ein sicheres Datensystem
  gut, das ihre Gesundheitsdaten zentral speichert und
  bei dem sie selbst über den Zugriff auf ihre Akte ent-
  scheiden. Vom vermehrten Einsatz der Telemedizin
  erhoffen sie sich eine flexiblere und qualitativ bessere
  Gesundheitsversorgung.
• Ein wichtiges Ergebnis der Dialoge ist schließlich auch
  das, was die Bürger nicht thematisiert haben. Denn auch
  wenn mangelnde Transparenz und Zeit im Kontakt mit
  den Ärzten angesprochen worden sind, hat die fachliche
  Qualität der medizinischen und pflegerischen Versorgung
  in den Bürgerdialogen kaum eine Rolle gespielt.
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
    Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System – oder die dritte Revolution
                                                                                 19

4
Paradigmenwechsel
zu einem Gesundheits-
System – oder die
dritte Revolution
20       DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
         Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System – oder die dritte Revolution

                                                                4.1 Ein neues Fundament
Wenn die Gesundheit der Menschen im Mittelpunkt stehen          Der Grundstein für ein tragfähiges Fundament eines
und ernstgenommen werden soll, was bei den Dialog-              erneuerten deutschen Gesundheitswesens wurde bereits
veranstaltungen klar gefordert wurde, braucht es Mut für        im UN-Sozialpakt von 1966 gelegt. Danach anerkennen die
Veränderungen. Dann muss das System zu einem echten             Vertragsstaaten das Recht einer jeden Person auf das für
Gesundheits-System umgebaut werden. Und das bedeutet            sie erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger
nichts weniger, als einen Paradigmenwechsel einzuleiten         Gesundheit. Auch das dritte Nachhaltigkeitsziel der Ver-
oder historisch betrachtet gar eine dritte Revolution im        einten Nationen verpflichtet darauf, allen Menschen jeden
Umgang mit Gesundheit. Ausgehend von dem Ziel, jedem            Alters ein gesundes Leben zu gewährleisten und ihr Wohl­
Einzelnen und allen zusammen ein möglichst gesundes             ergehen zu fördern. Dies sind zivilisatorische Errungen-
Leben zu ermöglichen, müssen Bestehendes und Bewährtes          schaften, die ihre Wirkkraft durch eine gemeinsame Haltung
erneuert und verbessert werden, müssen über Partikular-         von Akteuren verschiedenster Nationen entfalten. Sie ermu-
interessen hinweg neue Lösungen entwickelt und Wege             tigen, auch für die Gesundheitsversorgung in Deutschland
gefunden werden, die eine wirksame und nachhaltige              eine gemeinsame Grundhaltung zu entwickeln – unabhängig
Umsetzung versprechen. Dabei muss es darum gehen, den           von der Verschiedenheit der Akteure und ihrer jeweiligen
Blick umfassend auf Gesundheit auszurichten und die             Stellung in der Gesellschaft oder im Gesundheitssystem.
Rollen von Patientinnen und Patienten ebenso neu zu             Für den Kern einer neuen Haltung und für das Fundament
verorten wie die der Gesundheitsberufe. All das erfordert       eines zukunftsfähigen Gesundheitssystems lassen sich aus
die Bereitschaft, Zuständigkeiten, Planungen, Umsetzung         den Dialogen der Neustart!-Initiative folgende Prämissen
und Finanzierung sowie die Steuerung des Systems neu zu         ableiten:
gestalten.
                                                                • Gesundheit ist Teil der Daseinsvorsorge und
                                                                  Gegenstand sozialer Sicherung, gebunden an die Wert-
                                                                  haltungen des Sozialstaats und an ein Staatsverständ-
                                                                  nis, das die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im
                                                                  ländlichen und städtischen Raum anerkennt.
                                                                • Die Prioritäten der Politik folgen der Logik, 1. Gesundheit
                                                                  zu erhalten, 2. Gesundheit bestmöglich wiederherzu-
                                                                  stellen und 3. mit Krankheit und Behinderung so gut wie
                                                                  möglich zu leben. Der Mensch mit seinen gesellschaft­
                                                                  lichen Bezügen steht dabei im Mittelpunkt.
                                                                • Gesundheit wird erheblich von sozialen Gegebenheiten
                                                                  beeinflusst und ist essentiell für eine leistungsfähige
                                                                  Gesellschaft. Gesundheit ist daher nicht nur Gegen­-
                                                                  stand von Gesundheitspolitik im engeren Sinne, sondern
                                                                  erfordert „Health in all Policies“, das heißt die Berück­-
                                                                  sichtigung von Gesundheit in allen Politikbereichen.
                                                                • Bürger, Versicherte und Patienten sind mündiger und
                                                                  aktiver Teil des Gesundheitssystems. Sie werden in ihrer
                                                                  Verantwortung für die eigene Gesundheit ernst­
                                                                  genommen und dazu befähigt. Menschen, die ihre Selbst-
                                                                  bestimmung nur eingeschränkt wahrnehmen können,
                                                                  dürfen dennoch auf würdevolle und hochwertige Versor­
                                                                  gung vertrauen. Interaktion und Fürsorge bilden
                                                                  den existenziellen Kern des Versorgungsgeschehens
                                                                  auch bei schwerster Krankheit und bis zum letzten
                                                                  Lebensmoment.
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
                                           Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System – oder die dritte Revolution
                                                                                                                        21

                                                               4.2 Gesundheit für das Individuum
• Leistungen im Gesundheitswesen werden zielgenau              Die eigentliche Ressource des Gesundheitswesens ist der
   und ressourcenschonend eingesetzt, das heißt im             Mensch selbst. Ein Bürger, der keine Verantwortung für die
   best­möglichen Verhältnis von Zugänglichkeit, Qualität,     eigene Gesundheit übernimmt, ein Patient, der im Heilungs-
  ­Wirksamkeit und Bedarfsgerechtigkeit.                       prozess nicht aktiv mitwirkt, verhindert, dass die Gesund-
• Das Gesundheitswesen basiert auf Vertrauen und               heitsversorgung ihr mögliches Leistungsniveau erreicht. Um
   lernender Weiterentwicklung, auf Kooperation und            Gesundheit zu erhalten, muss daher prioritär die Selbstver-
   Verantwortung aller. Es ermöglicht das Engagement           antwortungskraft von Bürgern und Patienten gestärkt und in
   und die Partizipation vieler Beteiligter. Transparenz       ihre Gesundheits- und Digitalkompetenz investiert werden.
   ist eine notwendige Bedingung.                              Bildungsangebote und verlässliche Informationen sind
• Trotz aller Sorge um Gesundheit und Genesung wird            wichtige Elemente, damit Bürger und Patienten sich in einer
   die Endlichkeit des Lebens anerkannt: Krankheit und         komplexen, oft widersprüchlichen Welt und ihrer eigenen
   Tod gehören zum Leben. Ethische Fragen erhalten             Lebenssituation angemessen und eigenverantwortlich
   den angemessenen Raum, diskutiert zu werden.                verhalten können. Im Versorgungsgeschehen zur Wieder­
                                                               herstellung ihrer Gesundheit bzw. für ein gutes Leben mit
Werden diese Prämissen erfüllt, gewinnt die gesundheit­        ihrer Krankheit muss ihnen Koproduktion zugetraut und
liche Versorgung der Zukunft Konturen: Die Akteure handeln     zugemutet werden.
ganzheitlich, vorausschauend und in einer Politik der
langen Linien; sie treffen Vorsorge für potenzielle Krisen     Koproduktion ist ihrem Wesen nach in den Beziehungen
und investieren in Bildung, Forschung und Wissenschaft;        zwischen dem Patienten und seinen Helfern verwurzelt
sie sorgen für Innovation und setzen sie im Sinne der          und – für ein erfolgreiches Produkt – an Voraussetzungen
Gesundheit der Menschen ein; sie nehmen sich selbst als        gebunden. Im koproduktiven Versorgungsgeschehen dürfen
Teil der Weltgemeinschaft wahr.                                die Bürger und Patienten erwarten:

                                                               • Zuwendung ihrer Helfer, die nicht anderen, sekundären
                                                                 Kalkülen folgt
                                                               • neutral geprüfte Qualität und hohe Professionalität
                                                                 aller Akteure
                                                               • Verzicht auf falsche Versprechungen und Hoffnungen,
                                                                 faire Kommunikation der Helfer und faires Aufzeigen
                                                                 der Behandlungsoptionen und ihrer Konsequenzen
                                                               • Hilfe und Unterstützung dabei die Selbstverantwortungs-
                                                                 kraft zu steigern sowie die eigenen Interessen erkennen
                                                                 und vertreten zu können
                                                               • Berücksichtigung der eigenen biografisch-sozialen
                                                                 Situation und gemeinsames Entscheiden über die
                                                                 Maßnahmen im Versorgungsprozess
                                                               • gute Kooperation der beteiligten Helfer im Hinblick auf
                                                                 die eigenen Gesundheitsziele
                                                               • unbedingte Begleitung und Hilfe in existenziellen
                                                                 Situationen

                                                               Die Interaktionssituation ist somit das Nadelöhr und das
                                                               Moment der Koproduktion in der gesundheitlichen Versor-
                                                               gung. In der Begegnung mit den Patienten zeigt sich die
                                                               Qualität der im Gesundheitswesen tätigen Fachkräfte – ob
                                                               Ärzte, Pflegende oder Therapieberufe. Wenn diese versagen
22        DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
          Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System – oder die dritte Revolution

oder weit von ihrem Optimum entfernt bleiben, bleiben alle       Voraussetzungen dafür sind
Anstrengungen der Gesundheitspolitik, der Partner der
Selbstverwaltung, der Verbände sowie der einschlägigen           • eine funktionierende Zusammenarbeit der verschiedenen
Institutionen und Entscheidungsgremien ohne Wirkung.               Gesundheitsberufe und weiterer Helfer
Die hohe Verantwortung der Gesundheitsberufe verlangt            • ein guter Zugang zur Gesundheitsversorgung –
deshalb nach ihrer Unterstützung durch:                            digital, vor Ort und im Notfall
                                                                 • eine starke Primärversorgung mit koordinierten
• Anreize und Rahmenbedingungen, die das Handeln                   Übergängen in die Spezialversorgung und zurück
  nach professionellen Standards und wissenschaftlicher
  Evidenz ermöglichen und befördern und die kluge                Eine nahtlose Versorgung der Patienten entlang des indivi­
  sowie professionelle Entscheidungen nicht konterkarieren       duellen Verlaufskontinuums muss die Regel sein. Die Sozial­
• Investitionen in eine hohe und sensible Kommuni-               gesetzgebung ist entsprechend zu überarbeiten, so dass
  kationskompetenz                                               Sektoren(-Grenzen) nicht mehr überwunden werden
• einen hohen Ausbildungsstand, der es erlaubt, über den         müssen und die derzeit darin gebundenen Ressourcen für
  Tellerrand der eigenen Spezialisierung hinauszusehen           die eigentliche Patientenversorgung frei werden.
• eine in der Ausbildung geübte Kooperationsorientierung
  und in der Praxis durch Prozesse, die kooperatives
  Handeln unumgehbar machen
• Erkennen der jeweiligen Kompetenzgrenzen,
  u. a. auch als Voraussetzung für eine notwendige
  Kooperationsorientierung
• vernünftige und realistische Qualitätssicherungs­-
  programme
• die positive Bewertung von innovationsoffenem
  und investivem Handeln sowie von bewusstem
  therapeutisch-relevanten Nichthandeln

Insbesondere der bislang nicht ausreichend beachtete Bei-
trag der Pflegeberufe in der Gesundheitsversorgung muss
erkannt und als solcher gefördert werden. Pflege- und Für-
sorgearbeit halten die Gesundheitsversorgung am Laufen
und sind wesentlich für die Lebensqualität von Patientinnen
und Patienten, insbesondere in vulnerablen Situationen
und wenn Heilung nicht (mehr) möglich ist. Diese Arbeit ist
höchst voraussetzungsvoll, benötigt Bildung und tragfähige
Anreize.

Die Koproduktion zwischen Patienten und ihren Helfern
muss in ein Versorgungsgeschehen eingebettet werden,
das konsequent am individuellen Verlaufskontinuum ausge-
richtet ist – von Prävention über Kuration, Rehabilitation
und Pflege bis zur End-of-Life-Care mit den Zielen, Gesund-
heit wiederherzustellen oder chronische Erkrankungen
dauer­haft zu stabilisieren und dabei die Lebensqualität zu
erhalten.
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
                                           Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System – oder die dritte Revolution
                                                                                                                        23

4.3 Gesundheit für die
Bevölkerung
Die öffentliche Gesundheit („Public Health“) wird seit         Bundesländern existieren. Kommunale und regionale
1945 systematisch vernachlässigt. Ziel muss es sein, sie zu    Gesundheitskonferenzen können zum Dreh- und Angelpunkt
stärken – und zwar nicht nur durch die Stabilisierung der      der Gesundheitsversorgung werden. Dazu braucht es klare
kommunalen Gesundheitsämter und die Infektionskontrolle.       rechtliche Befugnisse sowie Gestaltungspielraum.
Gerade die Corona-Pandemie steigert die Bedeutung der
Bevölkerungsgesundheit und eines funktionierenden öffent-      Eine wirksame öffentliche Gesundheit ist zwingend ange-
lichen Gesundheitsdiensts, der allein der Daseinsvorsorge      wiesen auf verlässliche Informationen. Eine bedarfsorien-
verpflichtet ist und keine Individualinteressen vertritt.      tierte regionale Gesundheitsplanung sowie eine rationale
Bei aller Verantwortung des Einzelnen für seine Gesundheit     Bewertung von Maßnahmen und ihren Ergebnissen erfordern
kann nicht alles auf das Individuum abgeschoben werden.        geeignete Datenerhebungen bzw. -auswertungen, außerdem
Auch können die Gesundheitsberufe bei allem professionel-      die Verknüpfung mit den Daten der Sekundär- und Spezial-
len Anspruch, der an sie gestellt wird, nicht jede Krankheit   versorgung und damit Datenmodelle, die höchste Effizienz
heilen und sind weitgehend machtlos gegenüber ungüns-          und Qualität in der Gesundheitsberichterstattung ermög­
tigen sozialen Lebensbedingungen ihrer Patientinnen und        lichen. Die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung
Patienten. Gesundheit ist Teil der staatlichen Daseins­        könnte hier ihre größte Wirkung entfalten. Gesundheitsämter
vorsorge und die epidemiologischen Entwicklungen in den        müssen befähigt werden, geeignete Daten zu erheben
letzten Monaten zeigen, dass der Staat vermehrt direkte        und die ihnen bereits vorliegenden Daten im Rahmen der
Verantwortung für die Gesundheit seiner Bürger überneh-        Gesundheitsberichterstattung flächendeckend aufzuar­
men muss und die Eigenverantwortung des Individuums und        beiten. Auch müssen sie befähigt werden, als verständliche
die professionelle Verantwortung der Gesundheitsberufe         Multiplikatoren aufzutreten.
ergänzt.
                                                            Die Gestaltung der öffentlichen Gesundheit muss inhaltlich
Verantwortung für die öffentliche Gesundheit bedeutet,      und datentechnisch anschlussfähig sein an die Strukturen
eine bedarfsorientierte Versorgung zu gewährleisten.        der Europäischen Union und an die Bemühungen um globale
Gesundheitsförderung und Prävention müssen auf Ebene        Gesundheit im internationalen Raum.
der Städte und Gemeinden verankert werden. Im Sinne von
„Health in All Policies“ muss der Verhältnisprävention der
Stellenwert eingeräumt werden, der ihrer Bedeutung für die
Gesundheit der Bevölkerung entspricht, das heißt staatliche
Institutionen müssen auf gesunde Lebenswelten für die
Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen hinwirken.

Gesundheitsförderung und Prävention dürfen nicht – wie
derzeit vielfach üblich – unverbunden neben dem Bereich
der Gesundheitsversorgung stehen. Sie müssen konstitu-
tiver Teil einer zu stärkenden Primärversorgung sein und in
pflegerisch-therapeutische Maßnahmen vor Ort integriert
werden. Folglich bedarf es einer stärkeren Verknüpfung von
ambulanter und stationärer Versorgung mit dem öffent­lichen
Gesundheitsdienst und auch den Gesundheitsämtern.
Bürgerinnen und Bürger müssen eng eingebunden werden.
Die Ebene der Primärversorgung eröffnet insgesamt
zahlreiche Optionen der kontinuierlichen Partizipation –
von der Vereinsarbeit über Heimräte bis zur Beteiligung
in kommunalen und regionalen Gesundheitskonferenzen.
Voraussetzung sind Strukturen, wie sie bereits in einigen
24        DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
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4.4 Gesundheit in der
vernetzten Welt
Die Leistung eines nationalen Gesundheitssystems kann            Mit der „Strategie der Bundesregierung zur globalen
exzellent sein – und dennoch verheerende Wirkungen               Ge­sundheit“ will Deutschland in bemerkenswerter Weise
in anderen Teilen der Welt auslösen. Dies kann der Fall sein     Verantwortung für die globale Gesundheit übernehmen
durch toxische Entwicklungen in der Organtransplantation         und wirbt für eine gemeinsame Strategie zur Verbesserung
(Organhandel), durch die Produktionsbedingungen national         der globalen Gesundheit innerhalb der EU. Das ist be­-
erforderlicher Güter im Ausland (Antibiotika), durch die         grüßenswert. Die in der Strategie geltend gemachten
Ressourcenverteilung knapper Güter weltweit (Impfdosen),         Prinzipien sollten auch in der Gestaltung der deutschen
durch den Abzug von Fachkräften aus dem Ausland zur              Gesundheitsversorgung Anwendung finden.
Sicherstellung der Versorgung im Inland (Brain Drain) oder
durch den eigenen CO 2 -Abdruck und die Verbindungen
zur Gesundheit anderer Lebewesen (One Health). Ein
nationales Gesundheitswesen, das derartige Wechselbe-
ziehungen nicht in den Blick nimmt, ist nicht nur moralisch
fragwürdig, sondern konterkariert auch internationale
Abkommen und verkennt die systemischen Zusammen-
hänge und Einflussfaktoren für die Gesundheit. Klimawandel,
Pandemien, Wertschöpfungsketten und Datenmanage-
ment erzwingen internationale Zusammenarbeit in Sachen
Gesundheit.

Mehr noch als in ihrer Unterschiedlichkeit sind die Staaten
Europas angesichts globaler Entwicklungen in ihren
Gemeinsamkeiten gefragt. Aus der gemeinsamen Werte-
basis ergibt sich die Verpflichtung, allen Menschen ein
möglichst gesundes Leben zu ermöglichen. Dazu gehören
eine für alle zugängliche, qualitätsbasierte Gesundheits­
versorgung und eine Gesundheitspolitik, die sich aus den
Prinzipien der Demokratie und der Achtung vor der
Menschenwürde ableitet. Ganz besonders ist Europa im
Umgang mit Gesundheitsdaten in der digitalisierten Welt
aufgerufen, als Wertegemeinschaft einen eigenen Weg
zu finden. Konkrete Maßnahmen sind das Aktionsprogramm
„EU4Health“, die Bemühungen um die Einrichtung eines
europäischen Datenraums für Gesundheit („European Health
Data Space“) und die Erarbeitung eines europäischen
„Code of Conduct“ zur Nutzung von Gesundheitsdaten
sowie der Aufbau einer „European Health Union“. Letztere
vertritt als zentralen programmatischen Punkt das Ziel
einer „EU Global Health Policy“ zur Zusammenarbeit mit der
Weltgesundheitsorganisation – auch um Europas Solidarität
mit den anderen Ländern der Welt zu bekunden, wenn es
darum geht, die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen
zu erreichen.
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA
                                          Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System – oder die dritte Revolution
                                                                                                                       25

4.5 Politik der langen Linien
Anstatt vieler kleiner technokratischer Veränderungs-           gesundheitlichen Zusammenhängen entwickeln.
schritte ist für die Neugestaltung des Gesundheitswesens        Gleichzeitig müssen Kommunikationskanäle von der
die Bereitschaft gefragt, in langfristig zu erreichende         Alltagsebene „nach oben“ geöffnet werden.
Ziele zu investieren. Dafür muss ressortübergreifend ein      • Das Krankheitsspektrum in Deutschland muss stärker
gemeinsames Verständnis wachsen. Eine Reformpolitik             in den Fokus genommen werden: In den nächsten zehn
des langen Atems gibt Raum für ernsthaftes und rationales       Jahren wird ein demografischer Ruck durch Deutschland
Nachdenken über alternative Wege, denen beherzte                gehen. Die Alterung der Gesamtbevölkerung wird
Umsetzungsmaßnahmen folgen müssen und die durch kluge           das bereits jetzt vorherrschende Krankheitsspek­trum an
Evaluationen begleitet werden. Um zu überprüfen, ob die         chronischen, individuell oft komplexen Erkrankungen
strategischen Ziele erreicht werden, werden Kennzahlen          zementieren. Angesagt sind daher Investitionen in
definiert wie die Lebenserwartung, Lebensqualitäts-             Gesundheitsförderung und Prävention zur Reduktion des
und Partizipations-Scores, Prävalenz und Inzidenz vermeid-      Versorgungsbedarfs, eine gestärkte Primärversorgung
barer und vom Lebensstil beeinflussbarer chronischer            zur Stabilisierung chronischer Erkrankungen sowie eine
Erkrankungen u. v. m.                                           höchst professionelle Pflege wider die strukturelle
                                                                Lieblosigkeit und zur Sicherung der Pflegequalität in
Die Kernthemen einer Politik der langen Linien müssen           der Breite.
sein:                                                         • Bildung – Bildung – Bildung: Sie ist der größte Ein-
                                                                flussfaktor für die individuelle Gesundheit. Ein hoher
• Weil Gesundheit keine Ware ist, sondern „Common Good“         Bildungsstand verspricht gute Gesundheitsergebnisse.
   und Grundlage einer leistungsfähigen Gesellschaft,           Gesundheitskompetenz – ergänzt um Digitalkompetenz
   muss das Zusammenspiel von Markt, Staat und                  – ist ein Schlüsselelement für die zukünftige Gesund-
   Selbstverwaltung ebenso permanent neu überdacht              heitsversorgung. Bildung brauchen jedoch nicht nur die
   werden wie die Anreize: Marktmechanismen müssen im           Bürgerinnen und Bürger, sondern auch die Gesundheits-
   Sinne der Gesundheitsziele klug und mit Bedacht genutzt      berufe. Ihre Curricula sind kontinuierlich anzupassen.
   werden und dürfen die auf Solidarität ausgelegten Struk-     Pflege- und Therapieberufe benötigen in wachsendem
   turen nicht aushöhlen. Solidarität ist zu stärken. Anreize   Ausmaß akademische Qualifizierung.
   müssen in erster Linie die Steigerung der Versorgungs-     • Über Bildung hinaus braucht das Gesundheitssystem
   qualität und die Förderung von Innovationen bewirken.        als Ganzes eine funktionierende Lernkultur. Es kann
   Vergütungen müssen ausgewogen sein und im Verhältnis         sein potenzielles Leistungsniveau nicht entfalten, ohne
   zum Nutzen stehen.                                           permanent zu lernen und sich anzupassen. Unbedingte
• Das Gesundheitssystem muss sich dauerhaft auf                 Voraussetzung dafür ist Innovationsoffenheit in jeder
   potenzielle Krisen einstellen: Auf Basis der Erkennt-        Hinsicht: für Verbesserungen bei der Bildung und
   nis, dass Krisen wie Pandemien und Katastrophenfälle         beim Engagement der Akteure, für neue Erkenntnisse aus
   infolge des Klimawandels zukünftig eine Art von Normal-      Wissenschaft und Forschung und für neue technologische
   fall darstellen, muss eine Krisenvoreinstellung verankert    Entwicklungen. Der Innovationsfonds kann als Initialzün-
   werden. Potenzielle Krisen müssen mit Frühwarnsystemen       dung verstanden werden, seine Problemlösungsfähigkeit
   antizipiert, mit Szenarien unterlegt und mit geeigneter      und seine Wirkkraft für eine durchgehende Verbesserung
   Vorsorge bedacht werden. Benötigt wird eine qualifizier-     der Versorgungsqualität sind jedoch noch nicht absehbar.
   te Datenbasis, anhand derer Entscheidungen getroffen         Aus dem Innovationsstau in der Digitalisierung des
   und Blindflüge vermieden werden können. Ein weiteres         Gesundheitswesens müssen Schlüsse für eine wirksame
   Element langfristig agierender Gesundheitspolitik bildet     Lern- und Innovationskultur gezogen werden. Am Vor-
   die sachgerechte Kommunikation zwischen Wissenschaft         abend der Einführung von Künstlicher Intelligenz und von
   (alle relevanten Fachrichtungen), Politik und Bevölke­-      Erbgut verändernden Technologien ist es höchste Zeit
   rung. Die Wissenschaftskommunikation ist zu stärken.         für tragfähige Meinungs- und Entscheidungsfindungspro-
   Entscheidungsträger und Vermittler von Kommunikation         zesse unter Beteiligung der Bürger. Die Grundlage dafür
   wie Medienvertreter müssen ein Grundverständnis von          ist eine transparente Nutzen- und Folgenabschätzung.
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