Die Neustart! Zukunftsagenda - für Gesundheit, Partizipation und Gemeinwohl - Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen
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Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen Die Neustart! Zukunftsagenda – für Gesundheit, Partizipation und Gemeinwohl
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Die Neustart! Zukunftsagenda – für Gesundheit, Partizipation und Gemeinwohl
4 DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Vorwort Vorwort
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Vorwort 5 Die Initiative „Neustart! Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen“ der Robert Bosch Stiftung hat Bürgerinnen und Bürger aus ganz Deutschland in den Mittelpunkt einer mehr als zweijährigen Reformdebatte über das deutsche Gesundheitswesen gestellt. Auch über die Corona-Krise hinweg haben wir einen Dialog über Gesundheit und Gesundheitsver- sorgung ermöglicht und zugehört, was sich die Menschen in Deutschland für die Zukunft wünschen und vorstellen. Mit ihnen und einer Vielzahl von Fachleuten haben wir uns in die wesentlichen Züge des Gesundheitssystems hineingedacht und sind dabei vor allem auf den Wunsch nach einem Gesundheitssystem gestoßen, das tatsächlich die Förderung und Erhaltung von Gesundheit adressiert, bevor es Krankheiten heilt und lindert, was selbstverständlich ebenso seine Aufgabe ist. Aus dieser Sichtweise und den vielen frucht- baren Dialogen mit Bürgern, W issenschaftlern und Praktikern aus dem Gesundheitswesen beziehen wir den Mut, die „Neustart! Zukunftsagenda – für Gesundheit, Partizipation und Gemeinwohl“ vorzulegen. Wir wünschen uns, dass die darin formulierten Vorschläge für die dringend erforderliche Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems gehört und gewogen werden. Wir hoffen darüber hinaus, dass diese Neustart! Zukunftsagenda durch den dialogischen Prozess ihrer Entstehung auch einen Beitrag zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft, ihrer demokratischen Verfasstheit und ihres Zusammenhalts leisten kann. Die Robert Bosch Stiftung bedankt sich bei den Beiratsmitgliedern der Neustart!-Initiative: Marion Caspers-Merk, Hans-Jürgen Firnkorn, Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Dr. Zun-Gon Kim, Dr. Wolfgang Klitzsch, Dr. Claudia Maier, Prof. Dr. Gabriele Meyer, Prof. Dr. Andreas Michalsen, Dr. Dominik Graf von Stillfried und Dr. Matthias Zuchowski. Unser Dank gilt außerdem den Kooperationspartnern: Prof. Dr. Mujaheed Shaikh, Dr. Alexander Haarmann, Prof. Dr. Detlev Ganten und Dr. Britta Rutert sowie allen beteiligten Bürgerinnen und Bürgern und den Fachleuten aus Wissenschaft und Praxis, die sich im Verlauf der Initiative eingebracht haben. Robert Bosch Stiftung GmbH Stuttgart, im Juni 2021
6 DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Thesen Thesen 1. Das deutsche Gesundheitssystem braucht einen Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System. Das deutsche Gesundheitssystem ist zwar leistungsfähig bei der Die dritte Revolution: Behandlung kranker Menschen, aber es erfüllt seine Aufgabe den Wechsel zu einem nicht, sie durch Information, Gesundheitsförderung und Prävention Gesundheits-System vor Krankheiten zu schützen. Es klingt paradox, aber im Mittel- vollziehen punkt unseres Gesundheitssystems steht nicht die Gesunder haltung der Menschen. Damit das deutsche Gesundheitswesen seinen Namen verdient und endlich den Blick darauf richtet, Krankheiten erst gar nicht entstehen zu lassen, braucht es eine dritte Revolution. 2. Viele Menschen in Deutschland wollen ein solidarisches, am Gemeinwohl orientiertes Gesundheitssystem. Der stark ausgeprägte Wunsch der Bürger und Versicherten nach Ein an Solidarität und einem solidarischen und gemeinwohlorientierten Gesundheits Gemeinwohl orientiertes system muss endlich Eingang in die Politik finden. Dazu gehört System sichern auch die ernsthafte Debatte über die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung für alle. Ebenso der Wunsch der Menschen nach Transparenz, Mitbestimmung und Kommunikation auf Augen- höhe mit den im Gesundheitswesen Tätigen. 3. D ie Neuausrichtung des Gesundheitswesens muss bei den Menschen ansetzen – bei ihrer Gesundheit und dort, wo sie leben. Versorgung muss vor Ort bei den Menschen starten können und Mit der Gesundheits- leicht zugänglich sein. Sie verknüpft Prävention und Gesundheits- versorgung bei den Menschen förderung mit medizinisch-pflegerischer Versorgung. Primärversor- ansetzen gungszentren, die in ihre Region gut eingebunden sind, können dies leisten. Regionen übernehmen Verantwortung, stärken die öffent- liche Gesundheit und werden darin von einem nationalen Zentrum mit Verantwortung für öffentliche Gesundheit unterstützt.
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Thesen 7 4. D ie Partizipation der Bürger und Patienten muss auf allen Ebenen gestärkt werden Gesundheit ist auf die Kooperation und Koproduktion aller Betei- Partizipation auf allen Ebenen ligten angewiesen – in der Interaktion zwischen dem Patienten und ermöglichen seinen Helfern, in der Nachbarschaft und im informellen Engage- ment vor Ort, in der Gestaltung der regionalen Gesundheitsversor- gung und in der Beratung von Entscheidungsträgern. Dazu müssen die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden. 5. Investitionen in Menschen und Qualität: Bildung ist der große Schlüssel Gesundheitskompetenz, auch digital vermittelte Gesundheits In Menschen und Qualität kompetenz, ist wichtig für alle: für Bürger und Patienten, damit sie investieren ihre Eigenverantwortung wahrnehmen und sich an der Gestal- tung des Gesundheitswesens beteiligen können, ebenso wie für alle anderen, damit sie Zusammenhänge (besser) verstehen und vermitteln können. Investitionen in die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung, in höchste Qualifizierungsstandards der Gesundheitsberufe und in das Erlernen von Zusammenarbeit versprechen große Gewinne für die Gesundheit. 6. Ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem entsteht nicht in Deutschland allein Internationale Zusammenarbeit und Vernetzung sind unabdingbar, International zusammen wenn es darum geht, auf Pandemien und Katastrophen vorbereitet arbeiten für Gesundheit zu sein. Dies gilt nicht nur im Zusammenhang mit der Bereitstellung von Materialien und Gütern, sondern auch auf dem Gebiet einer sicheren Digitalisierung und bei gemeinsamen Herausforderungen wie dem Klimawandel. 7. Raus aus der Komfortzone: den Neustart wagen für eine Politik der langen Linien Es muss gehandelt werden – aber nicht wie in der Vergangenheit Jetzt handeln mit einer in kleinteiligen, technokratischen Verbesserungsversuchen hier Politik der langen Linien und dort, sondern mit Mut zu Weichenstellungen für große Ziele. Gefragt ist eine Politik der langen Linien, die nicht nur akute Krisen bewältigt, sondern für die Zukunft des Gesundheitswesens Rahmenbedingungen schafft, die Qualität weiterentwickeln und Innovation ermöglichen.
8 DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Inhalt Inhalt
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Inhalt 9 10 1 Warum ein Neustart notwendig ist – eine gesellschaftlich-historische Standortbestimmung des deutschen Gesundheitswesens 13 2 Neustart! – eine Plattform für den Austausch über das Gesundheitssystem von morgen 16 3 Die Botschaften aus der Mitte Deutschlands an die Politik 19 4 Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System – oder die dritte Revolution 20 4.1 Ein neues Fundament 21 4.2 Gesundheit für das Individuum 23 4.3 Gesundheit für die Bevölkerung 24 4.4 Gesundheit in der vernetzten Welt 25 4.5 Politik der langen Linien 27 5 Das Gesundheitssystem erneuern – „von unten“ und von Grund auf 28 5.1 Primärversorgung durch örtliche Gesundheitszentren stärken 29 5.2 Regionen zur Gestaltung von Gesundheit befähigen 30 5.3 Nationales Zentrum mit Verantwortung für öffentliche Gesundheit 32 6 Mut fassen für eine gesunde Zukunft 36 Beteiligte Personen 38 Publikationsliste 40 Impressum
10 DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Warum ein Neustart notwendig ist – eine gesellschaftlich-historische Standortbestimmung des deutschen Gesundheitswesens 1 Warum ein Neustart notwendig ist – eine gesellschaftlich- historische Standort bestimmung des deutschen Gesund- heitswesens
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Warum ein Neustart notwendig ist – eine gesellschaftlich-historische Standortbestimmung 11 des deutschen Gesundheitswesens Gesundheit ist ein hohes Gut – für jeden Einzelnen und für Diese Vernachlässigung der Sozialmedizin und die Veren- die Gesellschaft. Deutschland kann sich daher glücklich gung auf naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen ver- schätzen, ein im internationalen Vergleich leistungsfähiges stärkten den Trend zu einer arbeitsteiligen Medizin, die den Gesundheitssystem zu haben. Dennoch gibt es seit Jahren, Körper vor allem in seinen Einzelbestandteilen in den Blick gar Jahrzehnten, berechtigte gesundheitspolitische und nimmt bis hinein in den molekularbiologischen Bereich. gesundheitsfachliche Debatten über die Zukunftsfähigkeit Unter der Annahme einer der vermeintlichen Natur der Frau des Systems. Es steckt im Weiterentwicklungsstau. Dieser entspringenden Zugewandtheit und Dienstbarkeit wurde zeigt sich etwa daran, dass intime Kenner des Systems inzwi- im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse schen müde abwinken, wenn es um größere Reformen gehen zudem versäumt, die im Mittelalter wurzelnde christlich- soll. Bezeichnend ist auch, dass das Amt des Bundesgesund- abendländische Pflege- und Fürsorgearbeit in die säkulari heitsministers unter Politikern eher als unbeliebt und riskant sierte Welt zu überführen. So findet sich das deutsche gilt – obwohl Gesundheit für die Menschen so wichtig ist. Gesundheitssystem heute in der eigentümlichen Situation wieder, dass es in der Spitzenmedizin zwar wettbewerbs Die aktuelle Corona-Pandemie überschattet viele angestau fähig ist, gleichzeitig jedoch im Pflegebereich immer wieder ten Probleme und legt andere umso mehr unter das Ver Personalnotstände zu verzeichnen sind. größerungsglas. Vor allem macht sie spürbar, welch zentrale Bedeutung individuelle und öffentliche Gesundheit haben: Das Gesundheitssystem: weitgehend immun gegen Ohne sie steht plötzlich alles kopf, brechen Lieferketten Impulse von innen und außen auseinander, bleiben Schulen und Arbeitsplätze leer, steht das öffentliche Leben weitgehend still. Die Pandemie gibt Niemand möchte die Errungenschaften der modernen also allen Anlass, über die eigentlichen Ziele des Gesund- Medizin missen, und kaum jemand könnte aufwändige heitssystems nachzudenken, weshalb eine kurze gesell- Behandlungen ohne Weiteres aus eigener Tasche zahlen – schaftlich-historische Standortbestimmung hilfreich ist. fast alle erhalten sie dennoch: Anders als in anderen Ländern mit ähnlichem Entwicklungsstand gewährt das Systematisch vernachlässigt: deutsche Gesundheitssystem nahezu allen Bürgern Zugang Sozialmedizin und öffentliche Gesundheit zu gesundheitlicher Versorgung, weil durch die Sozialver sicherungssysteme ein gewisser Ausgleich zwischen den Das deutsche Gesundheitswesen ist keineswegs als ent verschiedenen Teilen der Bevölkerung (arm /reich, jung /alt, wickeltes System gestartet, sondern als Zwangsversicherung gesund /krank) hergestellt wird. gegen Lohnausfall bei Krankheit. Seine Wurzeln reichen zurück in die Zeit der industriellen Revolution: Mit der In seiner Architektur mit solidarischer Gleichbehandlung Kaiserlichen Botschaft von 1881 wurde die Sozialgesetz- und einkommensabhängigen Versicherungsbeiträgen gebung begründet, die nicht nur zum Ziel hatte, die Men- hat das deutsche Gesundheitssystem Kriege und Krisen schen vor materiellem Elend im Alter und bei Krankheit zu überstanden sowie, seine prinzipielle Anpassungsfähigkeit schützen – sondern auch das junge Reich vor revolutionären und relativ hohe Resilienz gegenüber verschiedenen Her- Bewegungen. Zeitgleich und dann massiv im 20. Jahrhun- ausforderungen bewiesen. Es hat in den letzten etwa fünf dert begann der Aufstieg der modernen Medizin. Mit ihren Generationen sein Leistungsniveau halten und ausbauen erheblichen Reparaturerfolgen vor allem in der Chirurgie können und ist damit als ein prominenter Teil deutscher befeuerte sie sowohl die Individualmedizin als auch die Kultur zu bewerten. Diktionsmacht der Medizinprofession – und prägte damit die Entwicklung der modernen Gesundheitsversorgung. Doch so erfolgreich sich das System gegen unzählige Diese einseitige Ausrichtung des Systems vollzog sich auch politische Interventionen gewehrt hat (die der Versorgung deshalb so erfolgreich, weil Sozialmedizin und öffentliche häufig wenig Orientierung gaben), so viel Kraft und Zeit Gesundheit („Public Health“) nach 1945 systematisch kosten mittlerweile selbst kleinere Veränderungen. Gesund- vernachlässigt wurden, was einerseits dem Missbrauch heitspolitik schafft heute weniger Lösungen als dass sie durch die Naziherrschaft geschuldet war, andererseits durch ihr technokratisch-kleinschrittiges Handeln Teil des der Illusion, Penicillin würde die Infektionskrankheiten im Problems geworden ist: Das Gesundheitssystem scheint Wesentlichen besiegen. geradezu immun zu sein gegen neue Impulse für seine
12 DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Warum ein Neustart notwendig ist – eine gesellschaftlich-historische Standortbestimmung des deutschen Gesundheitswesens Weiterentwicklung. Manche Kritiker bezeichnen es in seiner Keine Fortsetzung alter Debatten – raus aus der gegenwärtigen Verfasstheit als „Krankheitssystem“ – weil gesundheitspolitischen Komfortzone es so sehr auf den Kampf gegen Krankheiten fixiert ist und so wenig Ressourcen für die Erhaltung und Förderung von Vor diesem Hintergrund ist die Initiative „Neustart! Reform- Gesundheit bereitstellt. werkstatt für unser Gesundheitswesen“ 2018 auf den Plan getreten. Ihre Absicht ist nicht, Kritik an einem System Das hat entscheidend mit dem rechtlichen Rahmen des zu üben, das in der Vergangenheit erstaunliche Leistungs- Gesundheitssystems zu tun, der durch Grundgesetz, fähigkeit bewiesen hat. Auch sollen alte Debatten nicht Landesgesetze und die einschlägigen Sozialgesetzbücher fortgesetzt und hier und dort weitere technokratische definiert ist. Akteure, die Innovationen vorschlagen, kom- Verbesserungen vorgeschlagen werden (auch wenn am men daher nicht umhin, sich damit auseinanderzusetzen, Ende konkretes Handeln gefragt ist). Die Pandemie sollte ob und wie der gesetzliche Rahmen ihre Reformvorschläge uns aber aufrütteln, die bisherige gesundheitspolitische befördert oder behindert. Die Bearbeitung einer Vielzahl Komfortzone mit den immer gleichen Diskursen und immer von Einzelfragestellungen und Partikularinteressen hat gleichen Interessensarenen zu verlassen und die eigentli- in der Vergangenheit zu fast ausschließlich pfadabhängigen chen Ziele des Gesundheitswesens in den Blick zu nehmen. Lösungen und zu kleinteiligen, oft inkohärenten und in manchen Bereichen selbst für Fachleute zu nicht mehr Die Initiative fällt in eine Zeit, die allgemein als Umbruch überschaubaren Regulierungen geführt. Übergreifende erlebt wird, in der demokratische Ordnungen und so- Anstrengungen mit dem Anspruch, Weichen neu zu zialer Zusammenhalt in Frage gestellt werden, in der sich stellen, müssen daher fast aussichtlos wirken – eine technokratisch geprägte Strukturen als immer weniger Herausforderung, die für Neustart! nicht zu übersehen war. tragfähig erweisen angesichts einer pluralistischen Gesell- schaft. Die Menschen spüren, dass der Klimawandel, Weitgehend verschlossen zeigt sich das System auch die Digitalisierung und neue, unser Erbgut verändernde gegenüber Ansätzen, die seit Jahrzehnten international Technologien dabei sind, die Welt komplett zu verändern. auf höchster Ebene proklamiert und teilweise praktiziert werden. So hat beispielsweise die Erklärung der Welt Sollen Demokratie, sozialer Zusammenhalt und Krisen gesundheitsorganisation von 1978 zur Stärkung der Primär- resilienz gestärkt werden, ist mehr Partizipation auf allen versorgung (Alma Ata) die Gesundheitsversorgung hier Ebenen der Gesellschaft unumgänglich. Gerade in der zulande kaum strukturell prägen können. Auch passt sich Corona-Krise zeigt sich, wie wirkungsmächtig verschie- das System veränderten Aufgaben nur sehr zögerlich an. dene Meinungsbilder sein können und wie sehr belastbare Da es vor allem auf die Akutversorgung ausgerichtet ist, ver- Lösungen für ein demokratisches System auf ehrlichen nachlässigt es die kontinuierliche Begleitung chronisch und Dialog angewiesen sind. mehrfach erkrankter Menschen, obwohl diese inzwischen das Krankheitsspektrum maßgeblich prägen. Auch deshalb Neustart! ist deshalb der Versuch, aus der Mitte der ist bis heute keine befriedigende Antwort darauf gefunden, Gesellschaft heraus Orientierung zu finden, Perspektiven wie die vielen alten Menschen in einer Gesellschaft gepflegt für eine Gesundheitspolitik der langen Linien zu entwickeln werden sollen, die erst am Anfang eines historischen und Mut zu machen für tiefgreifende Veränderungen. Schubs demografischer Alterung steht. Nicht zuletzt ist die Neustart! will im besten Sinne einen Neustart auslösen zögerliche Digitalisierung der medizinischen Versorgung für einen weiteren großen Entwicklungsschritt des Gesund- ein schlagender Beweis für die mangelnde Flexibilität eines heitssystems. Für ein System, das auch in Zukunft für offenbar selbstzufriedenen Systems. alle Menschen in Deutschland eine bedarfsgerechte Ver- sorgung sicherstellt, ihnen zugewandt ist – patienten Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Debatten orientiert, multiprofessionell, qualitätsgeprägt und offen über die ungelösten Probleme der Vergangenheit, über die für Innovationen. Für ein Gesundheitssystem, das diesen aktuelle Corona-Krise sowie über die Herausforderungen in Namen zu Recht trägt. der Zukunft stellen den Status quo des Systems grundlegend in Frage.
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Neustart! – eine Plattform für den Austausch über das Gesundheitssystem von morgen 13 2 Neustart! – eine Platt- form für den Austausch über das Gesundheits- system von morgen
14 DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Neustart! – eine Plattform für den Austausch über das Gesundheitssystem von morgen Anspruch der Reformwerkstatt ist es, durch die Beteiligung Im Juli 2020 beantwortete Bundesgesundheitsminister von Bürgerinnen und Bürgern Legitimation für Reformvor- Jens Spahn Fragen der Bürgerinnen und Bürger und schläge herzustellen. Aus diesem Grund erschien es nicht signalisierte Offenheit, Ideen für ein zukünftiges Gesund- sinnvoll, zusätzlich zum „Sachverständigenrat zur Begut- heitssystem entgegenzunehmen. Im zweiten Bürger- achtung der Entwicklung im Gesundheitswesen“ einfach dialog 2020, hinterfragten und verdichteten die Teilnehmer eine weitere Expertenkommission einzuberufen. Vielmehr die in den unterschiedlichen Formaten vorgebrachten drängte sich auf, Perspektiven der Bürger aus der Mitte Lösungvorschläge. Mit Expertinnen und Experten disku der Gesellschaft zu erfahren. Ihre Ansichten und Einsichten tierten sie im Frühjahr 2021 die Aussichten auf tatsächliche bilden die wesentliche Grundlage für die Dialoge, denen Veränderungen. die Neustart!-Initiative seit 2018 als Plattform diente für den Austausch mit Expertinnen und Experten, mit Wissen- Zusätzliche externe Expertise für die Ideen aus schaftlerinnen und Wissenschaftlern, mit Vertreterinnen der Reformwerkstatt und Vertretern der Selbstverwaltung und der Berufsgruppen sowie mit den parlamentarischen Politikerinnen und Zwar bilden die vielfältigen Dialogformate das Herzstück Politikern einschließlich dem Bundesgesundheitsminister. von Neustart!. Dennoch erschien es angebracht, durch Aktivitäten und Kooperationen mit externen Institutionen Bei zwei großen Dialogveranstaltungen in den Jahren 2019 zusätzliche Dimensionen in den Blick zu nehmen, um zu und 2020 versammelten sich annähernd 700 Bürgerinnen verstehen, warum Veränderungen – gar ein Paradigmen- und Bürger in fünf Städten Deutschlands – in der Corona- wechsel – bislang ausgeblieben sind. So erarbeitete das Krise auf virtuellen Plattformen – und formulierten ihre Institute of Comparative Politics and Public Policy der Wünsche und Vorstellungen für das Gesundheitssystem TU Braunschweig mit Förderung durch die Robert Bosch von morgen. Ihre Anregungen wurden in parallel stattfinden Stiftung eine Synopse zur „Reform- und Innovationsfähigkeit den Think Labs mit Fachleuten aus Wissenschaft und Praxis des deutschen Gesundheitswesens“. Die Arbeit legt dar, wie aufgegriffen und durch Treffen von Bürgern mit Experten die politische Steuerung des Gesundheitssystems seit den ergänzt. Die Think Labs wurden in Kooperation mit 1950er Jahren bis heute verlief. Ihr wesentlicher Befund der Hertie School veranstaltet und behandelten folgende lautet, dass grundlegende Reformen nur unter spezifischen Fragen: Bedingungen durchsetzbar sind. So gibt es auch in der aktuellen Gesundheitspolitik trotz großer Gesetzesfülle • Wie kann ein anderes Gesundheitssystem aussehen? keine Strukturreformen, welche die großen Probleme – • Welche Entwicklungen auf dem Weg dahin sind zu Finanzierung, Solidarität, Qualität, Fachkräftemangel – berücksichtigen? wirkungsvoll aufgreifen. Vieles wird aus den Logiken der • Wer bildet die Zielgruppe: Patienten, Bürger, Konsu Teilsysteme heraus geregelt, die untereinander nicht kom- menten? Wie vielfältig ist sie? Was versteht sie unter patibel sind. Mit anderen Worten: Es herrscht Aktionismus, Gesundheit und Krankheit? Wie verhält sie sich? wo vorausschauendes vernetztes Handeln gefragt ist. • Wie muss die Leistungserbringung aufgestellt werden, um die Ziele zu erfüllen? Weitere Expertise von außen kam vom „Health Governance“- • Woher kommen die finanziellen Mittel, und wie werden Lehrstuhl der Hertie School, der sich mit der Frage be- sie verteilt? schäftigt, wie die Steuerung des Gesundheitswesens weiter- • Welche Form der Steuerung eignet sich für die Durch entwickelt, flexibler gestaltet und auf zukünftige Heraus setzung der Ziele und für schnellere Anpassungen an forderungen zugeschnitten werden kann. Auf Einladung der neue Herausforderungen? Robert Bosch Stiftung erstellte außerdem ein Arbeitskreis • Welches sind die Aussichten für ein neues ausgewiesener Fachleute einen Handlungskatalog, in Gesundheitssystem? dem beschrieben ist, wie die Sozialgesetzgebung und vor allem das fünfte Buch auf der Grundlage wünschens- Punktuell brachten weitere gesundheitspolitische Podi- werter Ziele überarbeitet werden müsste. Die Leitgedanken umsveranstaltungen interessierte Bürger, Fachleute und dafür entstammten vor allem dem ersten Bürgerdialog: Politiker miteinander ins Gespräch. Wie können die Sektoren aufgelöst werden und eine
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Neustart! – eine Plattform für den Austausch über das Gesundheitssystem von morgen 15 patientenorientiertere Gesundheitsversorgung gelingen? unterschiedlichster Weise darum bemühen, Krankheiten Wie erreicht man eine multiprofessionelle Leistungserbrin- zu heilen oder wenigstens Symptome zu lindern. Gerade gung und neue verantwortliche Rollen in den Gesundheits- die Corona-Pandemie zeigt jedoch, dass Umweltaspekte berufen? Wie kann der Stellenwert der öffentlichen Gesund- oder Präventionsmaßnahmen für die Gesunderhaltung heit erhöht werden? Wie können Regionen und Kommunen möglichst vieler Menschen mindestens ebenso relevant in ihrem Handeln für Gesundheit gestärkt werden? sind wie die reine Behandlungsmedizin. Die interdisziplinäre Welche Grenzen zieht das Grundgesetz? Wie lässt sich die Arbeitsgruppe „Zukunft der Medizin“ der BBAW beschäftigt konstruktive Nutzung der Digitalisierung abbilden? sich deshalb mit den wissenschaftlichen Grundlagen einer zukünftigen Medizin – angefangen bei der Molekularbio- Zusammenarbeit aller Disziplinen für Gesundheit logie über die Organsysteme bis zum Zusammenspiel der und Wohlbefinden Körperfunktionen – und verbindet diese in einem ganzheit- lichen Blick mit Umweltfaktoren, Lebensstilen und den Schließlich ist die Robert Bosch Stiftung im Rahmen von Konsequenzen für die Krankenversorgung, Prävention und Neustart! auch eine Kooperation mit der Berlin-Brandenbur- Gesundheit. Es geht letztlich um die Erfüllung des 3. Nach- gischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), dem World haltigkeitsziels der Vereinten Nationen, wonach Gesundheit Health Summit und Charité Global Health eingegangen. und Wohlbefinden für alle Menschen zu ermöglichen sind. Im Mittelpunkt der Zusammenarbeit steht das Bemühen, Die Kooperationspartner engagieren sich für den dafür ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und Krank- notwendigen kontinuierlichen Dialog zwischen Zivilgesell- heit zu vermitteln. Denn die moderne Medizin ist heute schaft, Wissenschaft und Politik. in eine Vielzahl von Spezialisierungen verästelt, die sich in Neustart! und Corona Die Corona-Pandemie durchkreuzte selbstverständlich auch die Pläne der Neustart!-Initiative und erzwang Online-Konferenzen, wo persönliche Begeg- nungen geplant waren. Im zweiten „Neustart! Think Lab“ im Juni 2019 – also nur wenige Monate vor den ersten bekannten Infektionen in China – wurde auf die Gefahr von Pandemien hingewiesen, die nicht nur durch die Ausbreitung und Mutation von Virenstämme drohen, sondern auch durch die zunehmende Antibiotikaresistenz vieler bakterieller Keime. In einer Serie von sieben „Neustart! Corona Calls“ im Sommer 2020 zogen 26 Fachleute aus Gesundheitsversorgung und Wissenschaft eine erste Bilanz der Krise und bereicherten die vorausgegangenen Diskussionen um wichtige Einsichten dahingehend, welche Veränderungen im Gesundheits system gerade im Lichte der Pandemieerfahrung nicht länger aufgeschoben werden dürfen.
16 DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Die Botschaften aus der Mitte Deutschlands an die Politik 3 Die Botschaften aus der Mitte Deutschlands an die Politik
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Die Botschaften aus der Mitte Deutschlands an die Politik 17 Kern der Neustart!-Initiative bildeten Dialogveranstaltungen, • Besonders deutlich sind die Sichtweisen zu den Themen an denen sich fast 700 zufällig ausgewählte Bürgerinnen Finanzierung und Vergütung: Das Gesundheitswesen soll und Bürger aus ganz Deutschland beteiligten. Sie wählten nach Meinung der Menschen gemeinwohlorientiert rund 40 Botschafter, welche die Anliegen in weiteren Forma- statt gewinnorientiert gestaltet werden. Einzelne Teil- ten wie den Bürger-Experten-Dialogen vertraten. Über die nehmende wünschen sich sogar ein staatlich gesteuertes Neustart!-Webseite gingen etwa 270 Kommentare ein, und Gesundheitssystem. Dies dürfte seinen Ursprung in der gut 1.000 Personen nahmen 2020 an einer repräsentativen Sorge haben, dass Gesundheit zunehmend den Kräften Umfrage zu Reformansätzen für das deutsche Gesundheits- des freien Marktes ausgesetzt und als „Common Good“ system teil. Die wesentlichen Botschaften, die die Bürger in in Gefahr ist. diesen Foren an die Politik richteten, lauten: • Mit dem Verständnis von Gesundheit als Gegenstand des Gemeinwohls ist eine weitere zentrale Botschaft aus • Im Gesundheitswesen soll der Mensch im Mittelpunkt den Bürgerdialogen erkennbar: Gesundheit bedarf des stehen. Dass eine Selbstverständlichkeit derart betont verantwortlichen Handelns aller Beteiligten: Die Bürge- wird, kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass rinnen und Bürger sehen klar die Verantwortung für die das Gesundheitssystem diese Erwartung oft eben nicht eigene Gesundheit und sprechen sich für ihre Förde- erfüllt und anderen Interessen dient. rung aus. Zusätzlich zur Vermittlung von Grundkenntnis- • Bürgerinnen und Bürger machen sich stark für mehr sen bereits bei Kindern und Jugendlichen sollten weitere Gesundheitsförderung und Prävention. Die Erhaltung Möglichkeiten angeboten werden, sich gesundheitsför- der Gesundheit steht für sie an erster Stelle. Sie wün- derlich zu verhalten. Transparente Informationsvermitt- schen sich, dass die Weichen durch Gesundheitsbildung lung, verlässliche Gesundheitsportale und Anlaufstellen bereits in Kitas und Schulen früh gestellt werden. sind ebenso wie ein konsequent nutzerfreundlich gestal- • Sie schlagen eine vermehrte Besteuerung gesund- tetes Gesundheitssystem insgesamt wichtige Schlüssel. heitsschädlicher Nahrungs- und Genussmittel vor. Auch sollte die Fähigkeit gefördert werden, Informationen Alltag und Lebenswelten sollen für alle und in allen aus verschiedenen Quellen gegeneinander abzuwägen. Bereichen so gestaltet sein, dass die Entscheidung Menschen mit eingeschränkter Gesundheitskompetenz für die gesunde und nachhaltige Alternative stets die sollten gezielt unterstützt werden. einfache und normale ist – von der Ernährung über die • Der Anspruch an Verantwortung soll sich jedoch nicht in Mobilität bis zum Stressverhalten. einem gesundheitsförderlichen Lebensstil (Ernährung, • Die Menschen erwarten leicht verständliche und zu Bewegung etc.) erschöpfen. Gefordert werden auch mehr gängliche und vor allem verlässliche Informationen. Partizipation und Mitbestimmung, was Kommunika- • Bürgerinnen und Bürger haben keineswegs nur ihre tion auf Augenhöhe mit den professionellen Helfenden eigene Gesundheit im Blick. Die Ergebnisse der Dialoge voraussetzt, aber auch einen einfachen Zugang zu und zeigen ein ausgeprägtes Verständnis von Gesundheit transparenten Austausch mit den administrativen Berei- als „Common Good“. Diese Haltung spiegelt sich in chen des Gesundheitssystems wie zum Beispiel einigen richtungsweisenden Vorschlägen für die Weiter- den Krankenkassen. So wünschen sich die Bürger mehr entwicklung des Gesundheitswesens wider. So sprechen Mitwirkung etwa bei der Planung und Gestaltung sich die Teilnehmenden sowohl in den Dialogen als auch regionaler und kommunaler Versorgungsstrukturen, zum in der repräsentativen Umfrage mehrheitlich für ein Beispiel durch kommunale Gesundheitskonferenzen. solidarisches Versicherungssystem aus, zum Beispiel • Mit Blick auf die Gesundheitsversorgung im engeren Sinne in Form einer allgemeinen Krankenversicherung, wünschen sich die Bürger vor allem eine gesicherte die die wesentliche Versorgung abdeckt und optional Erst- und Grundversorgung und einen niedrigschwel- Zusatzleistungen anbietet. ligen Zugang zu einer umfassenden und ganzheitlichen • Dieselbe Haltung kommt im Vorschlag für einen Betreuung. Darin und in einem breiten interdisziplinären Finanzausgleich zwischen ärmeren und wohlhaben- Angebot sehen sie die Vorteile von Primärversorgungs- deren Regionen zum Ausdruck. Auch die Überlegungen zentren, die zudem im ländlichen Raum Lücken der zu „Caring Communities“, also gegenseitiger nach ärztlichen Versorgung schließen und Angebote der barschaftlicher Hilfe, gehen in diese Richtung. Gesundheitsförderung und Prävention bündeln könnten.
18 DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Die Botschaften aus der Mitte Deutschlands an die Politik • Die Teilnehmenden der Dialogveranstaltung empfinden eine hohe Wertschätzung der Gesundheitsberufe und sehen es als wichtig an, professionelles Handeln in diesen Berufen nachhaltig zu unterstützen – durch angemessene Vergütung und mehr Zeit für die Kom munikation mit den Patienten, durch eine verbesserte Situation der Pflege und vor allem durch einfachere Prozesse und Entlastung von Bürokratie. Auch soll ärztliches, pflegerisches und therapeutisches Personal verstärkt in Kommunikations- und Sozialkompetenz qualifiziert werden, um Barrieren aufgrund von Sprache, kultureller Sozialisation, Bildungsniveau oder körperlicher bzw. kognitiver Beeinträchtigung abzubauen. • Eindeutige Kritik üben die Bürger daran, dass das Gesundheitssystem an vielen Stellen intransparent und die Interaktion vielfach mühsam sei. Vorschläge zur Verbesserung reichen von mehr Transparenz in den Abrechnungssystemen über allgemeinverständliche Befunde und Berichte bis zu seriösen Online-Rankings der Anbieter von Gesundheitsleistungen. • Bemerkenswert ist schließlich der Befund, dass Bürge- rinnen und Bürger weder übertriebene Bedenkenträger noch Verhinderer sein wollen – im Gegenteil: Sie unterstützen ausdrücklich Investitionen in Innovation und Forschung. Sie wünschen einen konstruktiven Einsatz der Digitalisierung und verbinden damit die Chance, mehr Transparenz herzustellen und Bürokratie zu reduzieren. Sie heißen ein sicheres Datensystem gut, das ihre Gesundheitsdaten zentral speichert und bei dem sie selbst über den Zugriff auf ihre Akte ent- scheiden. Vom vermehrten Einsatz der Telemedizin erhoffen sie sich eine flexiblere und qualitativ bessere Gesundheitsversorgung. • Ein wichtiges Ergebnis der Dialoge ist schließlich auch das, was die Bürger nicht thematisiert haben. Denn auch wenn mangelnde Transparenz und Zeit im Kontakt mit den Ärzten angesprochen worden sind, hat die fachliche Qualität der medizinischen und pflegerischen Versorgung in den Bürgerdialogen kaum eine Rolle gespielt.
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System – oder die dritte Revolution 19 4 Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits- System – oder die dritte Revolution
20 DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System – oder die dritte Revolution 4.1 Ein neues Fundament Wenn die Gesundheit der Menschen im Mittelpunkt stehen Der Grundstein für ein tragfähiges Fundament eines und ernstgenommen werden soll, was bei den Dialog- erneuerten deutschen Gesundheitswesens wurde bereits veranstaltungen klar gefordert wurde, braucht es Mut für im UN-Sozialpakt von 1966 gelegt. Danach anerkennen die Veränderungen. Dann muss das System zu einem echten Vertragsstaaten das Recht einer jeden Person auf das für Gesundheits-System umgebaut werden. Und das bedeutet sie erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger nichts weniger, als einen Paradigmenwechsel einzuleiten Gesundheit. Auch das dritte Nachhaltigkeitsziel der Ver- oder historisch betrachtet gar eine dritte Revolution im einten Nationen verpflichtet darauf, allen Menschen jeden Umgang mit Gesundheit. Ausgehend von dem Ziel, jedem Alters ein gesundes Leben zu gewährleisten und ihr Wohl Einzelnen und allen zusammen ein möglichst gesundes ergehen zu fördern. Dies sind zivilisatorische Errungen- Leben zu ermöglichen, müssen Bestehendes und Bewährtes schaften, die ihre Wirkkraft durch eine gemeinsame Haltung erneuert und verbessert werden, müssen über Partikular- von Akteuren verschiedenster Nationen entfalten. Sie ermu- interessen hinweg neue Lösungen entwickelt und Wege tigen, auch für die Gesundheitsversorgung in Deutschland gefunden werden, die eine wirksame und nachhaltige eine gemeinsame Grundhaltung zu entwickeln – unabhängig Umsetzung versprechen. Dabei muss es darum gehen, den von der Verschiedenheit der Akteure und ihrer jeweiligen Blick umfassend auf Gesundheit auszurichten und die Stellung in der Gesellschaft oder im Gesundheitssystem. Rollen von Patientinnen und Patienten ebenso neu zu Für den Kern einer neuen Haltung und für das Fundament verorten wie die der Gesundheitsberufe. All das erfordert eines zukunftsfähigen Gesundheitssystems lassen sich aus die Bereitschaft, Zuständigkeiten, Planungen, Umsetzung den Dialogen der Neustart!-Initiative folgende Prämissen und Finanzierung sowie die Steuerung des Systems neu zu ableiten: gestalten. • Gesundheit ist Teil der Daseinsvorsorge und Gegenstand sozialer Sicherung, gebunden an die Wert- haltungen des Sozialstaats und an ein Staatsverständ- nis, das die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im ländlichen und städtischen Raum anerkennt. • Die Prioritäten der Politik folgen der Logik, 1. Gesundheit zu erhalten, 2. Gesundheit bestmöglich wiederherzu- stellen und 3. mit Krankheit und Behinderung so gut wie möglich zu leben. Der Mensch mit seinen gesellschaft lichen Bezügen steht dabei im Mittelpunkt. • Gesundheit wird erheblich von sozialen Gegebenheiten beeinflusst und ist essentiell für eine leistungsfähige Gesellschaft. Gesundheit ist daher nicht nur Gegen- stand von Gesundheitspolitik im engeren Sinne, sondern erfordert „Health in all Policies“, das heißt die Berück- sichtigung von Gesundheit in allen Politikbereichen. • Bürger, Versicherte und Patienten sind mündiger und aktiver Teil des Gesundheitssystems. Sie werden in ihrer Verantwortung für die eigene Gesundheit ernst genommen und dazu befähigt. Menschen, die ihre Selbst- bestimmung nur eingeschränkt wahrnehmen können, dürfen dennoch auf würdevolle und hochwertige Versor gung vertrauen. Interaktion und Fürsorge bilden den existenziellen Kern des Versorgungsgeschehens auch bei schwerster Krankheit und bis zum letzten Lebensmoment.
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System – oder die dritte Revolution 21 4.2 Gesundheit für das Individuum • Leistungen im Gesundheitswesen werden zielgenau Die eigentliche Ressource des Gesundheitswesens ist der und ressourcenschonend eingesetzt, das heißt im Mensch selbst. Ein Bürger, der keine Verantwortung für die bestmöglichen Verhältnis von Zugänglichkeit, Qualität, eigene Gesundheit übernimmt, ein Patient, der im Heilungs- Wirksamkeit und Bedarfsgerechtigkeit. prozess nicht aktiv mitwirkt, verhindert, dass die Gesund- • Das Gesundheitswesen basiert auf Vertrauen und heitsversorgung ihr mögliches Leistungsniveau erreicht. Um lernender Weiterentwicklung, auf Kooperation und Gesundheit zu erhalten, muss daher prioritär die Selbstver- Verantwortung aller. Es ermöglicht das Engagement antwortungskraft von Bürgern und Patienten gestärkt und in und die Partizipation vieler Beteiligter. Transparenz ihre Gesundheits- und Digitalkompetenz investiert werden. ist eine notwendige Bedingung. Bildungsangebote und verlässliche Informationen sind • Trotz aller Sorge um Gesundheit und Genesung wird wichtige Elemente, damit Bürger und Patienten sich in einer die Endlichkeit des Lebens anerkannt: Krankheit und komplexen, oft widersprüchlichen Welt und ihrer eigenen Tod gehören zum Leben. Ethische Fragen erhalten Lebenssituation angemessen und eigenverantwortlich den angemessenen Raum, diskutiert zu werden. verhalten können. Im Versorgungsgeschehen zur Wieder herstellung ihrer Gesundheit bzw. für ein gutes Leben mit Werden diese Prämissen erfüllt, gewinnt die gesundheit ihrer Krankheit muss ihnen Koproduktion zugetraut und liche Versorgung der Zukunft Konturen: Die Akteure handeln zugemutet werden. ganzheitlich, vorausschauend und in einer Politik der langen Linien; sie treffen Vorsorge für potenzielle Krisen Koproduktion ist ihrem Wesen nach in den Beziehungen und investieren in Bildung, Forschung und Wissenschaft; zwischen dem Patienten und seinen Helfern verwurzelt sie sorgen für Innovation und setzen sie im Sinne der und – für ein erfolgreiches Produkt – an Voraussetzungen Gesundheit der Menschen ein; sie nehmen sich selbst als gebunden. Im koproduktiven Versorgungsgeschehen dürfen Teil der Weltgemeinschaft wahr. die Bürger und Patienten erwarten: • Zuwendung ihrer Helfer, die nicht anderen, sekundären Kalkülen folgt • neutral geprüfte Qualität und hohe Professionalität aller Akteure • Verzicht auf falsche Versprechungen und Hoffnungen, faire Kommunikation der Helfer und faires Aufzeigen der Behandlungsoptionen und ihrer Konsequenzen • Hilfe und Unterstützung dabei die Selbstverantwortungs- kraft zu steigern sowie die eigenen Interessen erkennen und vertreten zu können • Berücksichtigung der eigenen biografisch-sozialen Situation und gemeinsames Entscheiden über die Maßnahmen im Versorgungsprozess • gute Kooperation der beteiligten Helfer im Hinblick auf die eigenen Gesundheitsziele • unbedingte Begleitung und Hilfe in existenziellen Situationen Die Interaktionssituation ist somit das Nadelöhr und das Moment der Koproduktion in der gesundheitlichen Versor- gung. In der Begegnung mit den Patienten zeigt sich die Qualität der im Gesundheitswesen tätigen Fachkräfte – ob Ärzte, Pflegende oder Therapieberufe. Wenn diese versagen
22 DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System – oder die dritte Revolution oder weit von ihrem Optimum entfernt bleiben, bleiben alle Voraussetzungen dafür sind Anstrengungen der Gesundheitspolitik, der Partner der Selbstverwaltung, der Verbände sowie der einschlägigen • eine funktionierende Zusammenarbeit der verschiedenen Institutionen und Entscheidungsgremien ohne Wirkung. Gesundheitsberufe und weiterer Helfer Die hohe Verantwortung der Gesundheitsberufe verlangt • ein guter Zugang zur Gesundheitsversorgung – deshalb nach ihrer Unterstützung durch: digital, vor Ort und im Notfall • eine starke Primärversorgung mit koordinierten • Anreize und Rahmenbedingungen, die das Handeln Übergängen in die Spezialversorgung und zurück nach professionellen Standards und wissenschaftlicher Evidenz ermöglichen und befördern und die kluge Eine nahtlose Versorgung der Patienten entlang des indivi sowie professionelle Entscheidungen nicht konterkarieren duellen Verlaufskontinuums muss die Regel sein. Die Sozial • Investitionen in eine hohe und sensible Kommuni- gesetzgebung ist entsprechend zu überarbeiten, so dass kationskompetenz Sektoren(-Grenzen) nicht mehr überwunden werden • einen hohen Ausbildungsstand, der es erlaubt, über den müssen und die derzeit darin gebundenen Ressourcen für Tellerrand der eigenen Spezialisierung hinauszusehen die eigentliche Patientenversorgung frei werden. • eine in der Ausbildung geübte Kooperationsorientierung und in der Praxis durch Prozesse, die kooperatives Handeln unumgehbar machen • Erkennen der jeweiligen Kompetenzgrenzen, u. a. auch als Voraussetzung für eine notwendige Kooperationsorientierung • vernünftige und realistische Qualitätssicherungs- programme • die positive Bewertung von innovationsoffenem und investivem Handeln sowie von bewusstem therapeutisch-relevanten Nichthandeln Insbesondere der bislang nicht ausreichend beachtete Bei- trag der Pflegeberufe in der Gesundheitsversorgung muss erkannt und als solcher gefördert werden. Pflege- und Für- sorgearbeit halten die Gesundheitsversorgung am Laufen und sind wesentlich für die Lebensqualität von Patientinnen und Patienten, insbesondere in vulnerablen Situationen und wenn Heilung nicht (mehr) möglich ist. Diese Arbeit ist höchst voraussetzungsvoll, benötigt Bildung und tragfähige Anreize. Die Koproduktion zwischen Patienten und ihren Helfern muss in ein Versorgungsgeschehen eingebettet werden, das konsequent am individuellen Verlaufskontinuum ausge- richtet ist – von Prävention über Kuration, Rehabilitation und Pflege bis zur End-of-Life-Care mit den Zielen, Gesund- heit wiederherzustellen oder chronische Erkrankungen dauerhaft zu stabilisieren und dabei die Lebensqualität zu erhalten.
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System – oder die dritte Revolution 23 4.3 Gesundheit für die Bevölkerung Die öffentliche Gesundheit („Public Health“) wird seit Bundesländern existieren. Kommunale und regionale 1945 systematisch vernachlässigt. Ziel muss es sein, sie zu Gesundheitskonferenzen können zum Dreh- und Angelpunkt stärken – und zwar nicht nur durch die Stabilisierung der der Gesundheitsversorgung werden. Dazu braucht es klare kommunalen Gesundheitsämter und die Infektionskontrolle. rechtliche Befugnisse sowie Gestaltungspielraum. Gerade die Corona-Pandemie steigert die Bedeutung der Bevölkerungsgesundheit und eines funktionierenden öffent- Eine wirksame öffentliche Gesundheit ist zwingend ange- lichen Gesundheitsdiensts, der allein der Daseinsvorsorge wiesen auf verlässliche Informationen. Eine bedarfsorien- verpflichtet ist und keine Individualinteressen vertritt. tierte regionale Gesundheitsplanung sowie eine rationale Bei aller Verantwortung des Einzelnen für seine Gesundheit Bewertung von Maßnahmen und ihren Ergebnissen erfordern kann nicht alles auf das Individuum abgeschoben werden. geeignete Datenerhebungen bzw. -auswertungen, außerdem Auch können die Gesundheitsberufe bei allem professionel- die Verknüpfung mit den Daten der Sekundär- und Spezial- len Anspruch, der an sie gestellt wird, nicht jede Krankheit versorgung und damit Datenmodelle, die höchste Effizienz heilen und sind weitgehend machtlos gegenüber ungüns- und Qualität in der Gesundheitsberichterstattung ermög tigen sozialen Lebensbedingungen ihrer Patientinnen und lichen. Die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung Patienten. Gesundheit ist Teil der staatlichen Daseins könnte hier ihre größte Wirkung entfalten. Gesundheitsämter vorsorge und die epidemiologischen Entwicklungen in den müssen befähigt werden, geeignete Daten zu erheben letzten Monaten zeigen, dass der Staat vermehrt direkte und die ihnen bereits vorliegenden Daten im Rahmen der Verantwortung für die Gesundheit seiner Bürger überneh- Gesundheitsberichterstattung flächendeckend aufzuar men muss und die Eigenverantwortung des Individuums und beiten. Auch müssen sie befähigt werden, als verständliche die professionelle Verantwortung der Gesundheitsberufe Multiplikatoren aufzutreten. ergänzt. Die Gestaltung der öffentlichen Gesundheit muss inhaltlich Verantwortung für die öffentliche Gesundheit bedeutet, und datentechnisch anschlussfähig sein an die Strukturen eine bedarfsorientierte Versorgung zu gewährleisten. der Europäischen Union und an die Bemühungen um globale Gesundheitsförderung und Prävention müssen auf Ebene Gesundheit im internationalen Raum. der Städte und Gemeinden verankert werden. Im Sinne von „Health in All Policies“ muss der Verhältnisprävention der Stellenwert eingeräumt werden, der ihrer Bedeutung für die Gesundheit der Bevölkerung entspricht, das heißt staatliche Institutionen müssen auf gesunde Lebenswelten für die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen hinwirken. Gesundheitsförderung und Prävention dürfen nicht – wie derzeit vielfach üblich – unverbunden neben dem Bereich der Gesundheitsversorgung stehen. Sie müssen konstitu- tiver Teil einer zu stärkenden Primärversorgung sein und in pflegerisch-therapeutische Maßnahmen vor Ort integriert werden. Folglich bedarf es einer stärkeren Verknüpfung von ambulanter und stationärer Versorgung mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst und auch den Gesundheitsämtern. Bürgerinnen und Bürger müssen eng eingebunden werden. Die Ebene der Primärversorgung eröffnet insgesamt zahlreiche Optionen der kontinuierlichen Partizipation – von der Vereinsarbeit über Heimräte bis zur Beteiligung in kommunalen und regionalen Gesundheitskonferenzen. Voraussetzung sind Strukturen, wie sie bereits in einigen
24 DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System – oder die dritte Revolution 4.4 Gesundheit in der vernetzten Welt Die Leistung eines nationalen Gesundheitssystems kann Mit der „Strategie der Bundesregierung zur globalen exzellent sein – und dennoch verheerende Wirkungen Gesundheit“ will Deutschland in bemerkenswerter Weise in anderen Teilen der Welt auslösen. Dies kann der Fall sein Verantwortung für die globale Gesundheit übernehmen durch toxische Entwicklungen in der Organtransplantation und wirbt für eine gemeinsame Strategie zur Verbesserung (Organhandel), durch die Produktionsbedingungen national der globalen Gesundheit innerhalb der EU. Das ist be- erforderlicher Güter im Ausland (Antibiotika), durch die grüßenswert. Die in der Strategie geltend gemachten Ressourcenverteilung knapper Güter weltweit (Impfdosen), Prinzipien sollten auch in der Gestaltung der deutschen durch den Abzug von Fachkräften aus dem Ausland zur Gesundheitsversorgung Anwendung finden. Sicherstellung der Versorgung im Inland (Brain Drain) oder durch den eigenen CO 2 -Abdruck und die Verbindungen zur Gesundheit anderer Lebewesen (One Health). Ein nationales Gesundheitswesen, das derartige Wechselbe- ziehungen nicht in den Blick nimmt, ist nicht nur moralisch fragwürdig, sondern konterkariert auch internationale Abkommen und verkennt die systemischen Zusammen- hänge und Einflussfaktoren für die Gesundheit. Klimawandel, Pandemien, Wertschöpfungsketten und Datenmanage- ment erzwingen internationale Zusammenarbeit in Sachen Gesundheit. Mehr noch als in ihrer Unterschiedlichkeit sind die Staaten Europas angesichts globaler Entwicklungen in ihren Gemeinsamkeiten gefragt. Aus der gemeinsamen Werte- basis ergibt sich die Verpflichtung, allen Menschen ein möglichst gesundes Leben zu ermöglichen. Dazu gehören eine für alle zugängliche, qualitätsbasierte Gesundheits versorgung und eine Gesundheitspolitik, die sich aus den Prinzipien der Demokratie und der Achtung vor der Menschenwürde ableitet. Ganz besonders ist Europa im Umgang mit Gesundheitsdaten in der digitalisierten Welt aufgerufen, als Wertegemeinschaft einen eigenen Weg zu finden. Konkrete Maßnahmen sind das Aktionsprogramm „EU4Health“, die Bemühungen um die Einrichtung eines europäischen Datenraums für Gesundheit („European Health Data Space“) und die Erarbeitung eines europäischen „Code of Conduct“ zur Nutzung von Gesundheitsdaten sowie der Aufbau einer „European Health Union“. Letztere vertritt als zentralen programmatischen Punkt das Ziel einer „EU Global Health Policy“ zur Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation – auch um Europas Solidarität mit den anderen Ländern der Welt zu bekunden, wenn es darum geht, die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zu erreichen.
DIE NEUSTART! ZUKUNFTSAGENDA Paradigmenwechsel zu einem Gesundheits-System – oder die dritte Revolution 25 4.5 Politik der langen Linien Anstatt vieler kleiner technokratischer Veränderungs- gesundheitlichen Zusammenhängen entwickeln. schritte ist für die Neugestaltung des Gesundheitswesens Gleichzeitig müssen Kommunikationskanäle von der die Bereitschaft gefragt, in langfristig zu erreichende Alltagsebene „nach oben“ geöffnet werden. Ziele zu investieren. Dafür muss ressortübergreifend ein • Das Krankheitsspektrum in Deutschland muss stärker gemeinsames Verständnis wachsen. Eine Reformpolitik in den Fokus genommen werden: In den nächsten zehn des langen Atems gibt Raum für ernsthaftes und rationales Jahren wird ein demografischer Ruck durch Deutschland Nachdenken über alternative Wege, denen beherzte gehen. Die Alterung der Gesamtbevölkerung wird Umsetzungsmaßnahmen folgen müssen und die durch kluge das bereits jetzt vorherrschende Krankheitsspektrum an Evaluationen begleitet werden. Um zu überprüfen, ob die chronischen, individuell oft komplexen Erkrankungen strategischen Ziele erreicht werden, werden Kennzahlen zementieren. Angesagt sind daher Investitionen in definiert wie die Lebenserwartung, Lebensqualitäts- Gesundheitsförderung und Prävention zur Reduktion des und Partizipations-Scores, Prävalenz und Inzidenz vermeid- Versorgungsbedarfs, eine gestärkte Primärversorgung barer und vom Lebensstil beeinflussbarer chronischer zur Stabilisierung chronischer Erkrankungen sowie eine Erkrankungen u. v. m. höchst professionelle Pflege wider die strukturelle Lieblosigkeit und zur Sicherung der Pflegequalität in Die Kernthemen einer Politik der langen Linien müssen der Breite. sein: • Bildung – Bildung – Bildung: Sie ist der größte Ein- flussfaktor für die individuelle Gesundheit. Ein hoher • Weil Gesundheit keine Ware ist, sondern „Common Good“ Bildungsstand verspricht gute Gesundheitsergebnisse. und Grundlage einer leistungsfähigen Gesellschaft, Gesundheitskompetenz – ergänzt um Digitalkompetenz muss das Zusammenspiel von Markt, Staat und – ist ein Schlüsselelement für die zukünftige Gesund- Selbstverwaltung ebenso permanent neu überdacht heitsversorgung. Bildung brauchen jedoch nicht nur die werden wie die Anreize: Marktmechanismen müssen im Bürgerinnen und Bürger, sondern auch die Gesundheits- Sinne der Gesundheitsziele klug und mit Bedacht genutzt berufe. Ihre Curricula sind kontinuierlich anzupassen. werden und dürfen die auf Solidarität ausgelegten Struk- Pflege- und Therapieberufe benötigen in wachsendem turen nicht aushöhlen. Solidarität ist zu stärken. Anreize Ausmaß akademische Qualifizierung. müssen in erster Linie die Steigerung der Versorgungs- • Über Bildung hinaus braucht das Gesundheitssystem qualität und die Förderung von Innovationen bewirken. als Ganzes eine funktionierende Lernkultur. Es kann Vergütungen müssen ausgewogen sein und im Verhältnis sein potenzielles Leistungsniveau nicht entfalten, ohne zum Nutzen stehen. permanent zu lernen und sich anzupassen. Unbedingte • Das Gesundheitssystem muss sich dauerhaft auf Voraussetzung dafür ist Innovationsoffenheit in jeder potenzielle Krisen einstellen: Auf Basis der Erkennt- Hinsicht: für Verbesserungen bei der Bildung und nis, dass Krisen wie Pandemien und Katastrophenfälle beim Engagement der Akteure, für neue Erkenntnisse aus infolge des Klimawandels zukünftig eine Art von Normal- Wissenschaft und Forschung und für neue technologische fall darstellen, muss eine Krisenvoreinstellung verankert Entwicklungen. Der Innovationsfonds kann als Initialzün- werden. Potenzielle Krisen müssen mit Frühwarnsystemen dung verstanden werden, seine Problemlösungsfähigkeit antizipiert, mit Szenarien unterlegt und mit geeigneter und seine Wirkkraft für eine durchgehende Verbesserung Vorsorge bedacht werden. Benötigt wird eine qualifizier- der Versorgungsqualität sind jedoch noch nicht absehbar. te Datenbasis, anhand derer Entscheidungen getroffen Aus dem Innovationsstau in der Digitalisierung des und Blindflüge vermieden werden können. Ein weiteres Gesundheitswesens müssen Schlüsse für eine wirksame Element langfristig agierender Gesundheitspolitik bildet Lern- und Innovationskultur gezogen werden. Am Vor- die sachgerechte Kommunikation zwischen Wissenschaft abend der Einführung von Künstlicher Intelligenz und von (alle relevanten Fachrichtungen), Politik und Bevölke- Erbgut verändernden Technologien ist es höchste Zeit rung. Die Wissenschaftskommunikation ist zu stärken. für tragfähige Meinungs- und Entscheidungsfindungspro- Entscheidungsträger und Vermittler von Kommunikation zesse unter Beteiligung der Bürger. Die Grundlage dafür wie Medienvertreter müssen ein Grundverständnis von ist eine transparente Nutzen- und Folgenabschätzung.
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