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ANTHROPOS
                                                                                                               111.2016: 395 – 414

                       Miḻāvu – göttliches Perkussionsinstrument
                      im südindischen Sanskrit-Drama Kūṭiyāṭṭam
                                                               Karin Bindu

Abstract. – The ritual context of the Kerala’s Sanskrit genre of            dern der Nampyār-Kaste, den Perkussionisten der
drama, Kūṭiyāṭṭam, demands the exclusive use of percussionists              miḻāvu (Trommel). Laut Moser (2008: ​4, 24) haben
of sacral and secular miḻāvu drums in kūṭiyāṭṭam, naṅṅyār- and
cākyār kūttu performances as well as orchestral temple music.
                                                                            diese Kasten bis ins 11. Jahrhundert voneinander
The classification of the anthropomorphic “divine” instrument               unabhängige Formen der Darstellung praktiziert.
miḻāvu goes back to the book “Nāṭya Śāstra” of Bharatamuni                  Die performative Praxis des kūṭiyāṭṭam im südindi-
around 2,000 years ago. Eight private and governmental train-               schen Bundesstaat Kerala wird dabei von den ma-
ing centers in Kerala, e.g., the “Kerala Kalamandalam,” offer               habharatabhattatiri, den Erzählern des “Mahabha-
methodic mixed forms between traditional Guru-Shishya and
contemporary training methods for the literally nearly unmen-
                                                                            rata” in Keralas Tempeln, hergeleitet.
tioned copper drum miḻāvu. Sociocultural criteria, such as affilia-             Ein dritter Aspekt des Zusammenspiels ergibt
tion to training centers, age differences, training’s level, gender,        sich durch die musikalische Koordination von fünf
and a variety of tasks related to the context of performance prac-          Instrumenten (pañchavādyam), die ich in weiterer
tice form a complex network of close relationships, difficulties,
and responsibilities between traditional miḻāvu percussionists of
                                                                            Folge noch genauer anführen werde. Der v­ ierte As-
Nampyār caste, students from other castes, gurus, and kūṭiyāṭṭam            pekt basiert auf dem Zusammenspiel zwischen Per-
actors of both sexes. [India, Sanskrit, theatre, drum percussion]           formerInnen und Gottheiten: Zu Beginn jeder kū­
                                                                            ṭi­yāṭ­ṭam- und kūttu-Performance spielt e­ iner der
Karin Bindu, Dr. (Universität Wien), seit 1996 als Perkussionis-            beiden miḻāvu-Perkussionisten mit konzentrierter
tin sowie als Kultur- und Sozialanthropologin in den Bereichen              Exaktheit eine Solophrase namens mi­ḻā­vo­chap­
Erziehung, Kunst und Kultur tätig. – Als Dozentin und Prakti-
kerin beschäftigt sie sich in erster Linie mit den Musikrhyth-
                                                                            pe­dut­tal in der Bühnenmitte. Diese bezweckt die
men in verschiedenen Kulturräumen (Indien, Trinidad, Orient                 Vertreibung der Dämonen (asuras) sowie die dar-
und Westafrika) und führt wissenschaftliche Untersuchungen zu               auf folgende Einladung der Gottheiten (devas) an
Aspekten ritueller Kommunikation, Bewusstsein und Emotio-                   den Ort des Geschehens. Devas dienen dabei laut
nen durch. – Der regionale Schwerpunkt ihrer Forschungen sind
Trinidad und Kerala. Die 2012 erstellte Dissertation behandelt
                                                                            P. K. N. Nambiar, dem Senior Maestro der miḻāvu,
“Aspekte der Produktion und Kommunikation südindischer talas                als “security guards” zur sicheren Begleitung der
im Kūṭiyāṭṭam” (Wien 2013). – Siehe auch Zitierte Literatur.                Per­for­mance (Bindu 2013: ​312). Die wechselseitige
                                                                            Reaktion des Publikums auf dargestellte Emotionen
                                                                            der Bühnencharaktere – unterstützt durch die ver-
Einleitung                                                                  stärkenden Klänge der miḻāvu – stellen einen fünf-
                                                                            ten Aspekt des Zusammenspiels dar.
In der Landessprache Keralas bedeutet kūṭiyāṭṭam                                Geschichten aus den indischen Nationalepen
“Zusammenspiel”. Der Begriff umfasst sowohl das                             “Ma­ha­bha­rata” und dem “Ramayana” bilden die
Zusammenspiel von männlichen und weiblichen                                 Inhalte der kūṭiyāṭṭam-Aufführungen, wobei in der
DarstellerInnen der Cākyār- und Naṅṅyār-Kasten                              heutigen Zeit für die Performances nur jeweils ein
als auch die gemeinsame Performance mit Mitglie-                            Aus­zug aus einem Akt eines Dramas gewählt wird.

                                                  https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-2-395
                                           Generiert durch IP '46.4.80.155', am 19.10.2021, 02:52:39.
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Während im kūṭiyāṭṭam mehrere DarstellerInnen                     manity” ausgezeichnet. Das Hauptinstrument der
auf der Bühne agieren, handelt es sich bei kūttu-                 kūṭiyāṭṭam-Performances stellt die kupferne Trom-
Aufführungen um Soloperformances der Naṅṅyār                      mel miḻāvu dar, die in gegenwärtigen Publikatio-
(naṅ­ṅyār kūttu) oder der Cākyār (cākyār kūttu). Da-              nen über indische Musikinstrumente kaum erwähnt
rin werden Themen aus den Epen und literarische                   wird. Klassifizierungen des Instrumentes gehen auf
Kompositionen (prabandhas) erzählt, die vor allem                 das “Nāṭya Śāstra” zurück, das vor zweitausend
von Mellapattur Narayana Bhattatiripad, einem be-                 Jahren geschrieben wurde (Bharatamuni). Die mi­ḻā­
rühmten Poeten aus Kerala aus dem 16. Jahrhundert                 vu gilt als anthropomorphes deva vadyam, als gött-
verfasst wurden. Diese prabandhas enthalten Epi-                  liches Instrument mit menschlichen Eigenschaften.
soden aus der Mythologie Indiens. Darsteller des                  Miḻāvu-Perkussionisten kommunizieren und koor-
cākyār kūttu adoptieren das Kostüm des vidushakas                 dinieren spezifische tālas (rhythmisch-musikali-
(Tricksters) und demonstrieren damit auf der Bühne                sche Zyklen) mit kuḻitāḷam (Zimbel) Spielerinnen,
ihre enorme Kraft der Kommunikation. Dabei spie-                  dem iṭakka-Perkussionisten, den Bewegungen der
len sie alle Rollen, die im Stück vorkommen, selbst.              AkteurInnen, und auch mit den devas (Gottheiten)
Ihre Rollen beinhalten auch moralische Verantwor-                 selbst. Sie werden zu Beginn jeder Performance
tung, sie tragen laut Pisharoty (1994: ​113) sozusa-              nach der perkussiven Solophrase des Perkussionis-
gen das Bewusstsein der Gesellschaft ihrer Zeit.                  ten und nach dem Eintreffen der übrigen MusikerIn-
   Die Präsentationen von kūṭiyāṭṭam- und kūttu-                  nen mit speziellen Rhythmen und Liedern gepriesen
Per­for­mances mit all ihren Regeln und beschreiben-              (Bindu 2013: ​15, 18). Bei der iṭakka handelt es sich
den Abläufen sind handschriftlich auf Palmblätter                 um ein sanduhrförmiges, beidseitig bespanntes Per-
geschrieben worden, die auch heute noch gemein-                   kussionsinstrument, das durch Zusammendrücken
sam mit den attaprakaram- und kramadipika-                        der Spannriemen mit einem Stick gespielt me­lo­
Büh­nen­anwei­sun­gen von den jeweiligen Fami­lien                diöse Klänge produziert. Tempelpriester verwen-
sorg­sam gehütet und in matrilinearer Erb­folge wei-              den die iṭakka zur Begleitung sakraler Melodien.
tergegeben werden. Gopal Venu – Darsteller, Autor                     Laut Panchal (1984: ​62) bilden alle soeben ge-
und internationaler Promotor und Leiter des Perfor-               nannten Instrumente gemeinsam mit einem Blas­
mance-Zentrums “Natana Kairali” in Irinjalakuda                   instru­ment (kuṟuṅ kuḻal), das in früheren kūṭiyāṭṭam-
– übersetzt attaprakaram mit “Schauspiel-Hand-                    Performances verwendet wurde, und der Muschel
buch” und kramadipika mit “Produktionshandbuch”                   saṅkhu, die den Beginn einer Performance ankün-
(2002: ​175–178).                                                 digt, die pañchavādyam – fünf Instrumente – des
   Kūṭiyāṭṭam wurde im Jahre 2001 von der                         kū­ṭi­yāṭ­ṭam. Anleitungen zur Verwendung der Mu-
­UNESCO als “Oral and Intangible Heritage of Hu-                  sik wie auch zu den Bewegungen der PerformerIn-

                                                                                                          Abb. 1: Kūṭiyāṭṭam-Performance
                                                                                                          mit Kalamandalam Artists, Tri-
                                                                                                          vandrum 2005 (Foto: © Karin
                                                                                                          Bindu).

                                                                                                                     Anthropos  111.2016
                                             https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-2-395
                                      Generiert durch IP '46.4.80.155', am 19.10.2021, 02:52:39.
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Miḻāvu – göttliches Perkussionsinstrument im südindischen Sanskrit-Drama Kūṭiyāṭṭam                                      397

nen und der Bühnenkonstruktion, gleichwie oben                          anstrengend für die Hände – die Haut an den Fin-
erwähnte Klassifizierungen der Instrumente, wur-                        gern war meist bereits nach 20-minütigem Training
zeln im “Nāṭya Śāstra” von Bharatamuni.                                 an verschiedensten Stellen eingerissen. Bei Perfor-
   Die mangelnde Beschreibung der miḻāvu-Per­                           mances beobachtete ich, dass auch die männlichen
kus­sio­nisten und des von ihnen gespielten Instru-                     Spieler ihre Finger mit Pflaster schützen mussten.
mentes hat mich im Jahre 2004 bewogen, meine                            Gegenwärtig befinden sich miḻāvu-Perkussionisten
Forschungen im Rahmen eines Dissertationspro-                           im soziokulturellen Spannungsfeld zwischen Vertre-
jektes am Institut für Kultur- und Sozialanthropo-                      terInnen der traditionellen Kasten und kūṭiyāṭṭam-
logie der Universität Wien auf diese Perkussionis-                      KünstlerInnen anderer Kasten, denen die Ausübung
ten und der Ausübung ihrer perkussiven Kunst zu                         der Kunst erst seit siebzig Jahren ermöglicht worden
fokussieren. Zahlreiche Publikationen über perfor-                      ist (Bindu 2013: ​40, 112, 125).
mative Aspekte des kūṭiyāṭṭam – beispielsweise von                          Die im kūṭiyāṭṭam verwendeten tālas werden
Unni (1977), Panchal (1984), Sarabhai (1994), Nair                      ge­le­gent­lich in Publikationen genannt, jedoch nicht
(1995), Chakyar (1995), Pisharoty (1994), Pau-                          durch Notation dargestellt. Die einzigen Buch­
lose (1998, 2003, 2006), Venu (1989, 2002), Paul                        ausga­ben, die sich inhaltlich zur Gänze der miḻāvu
(2005), Paniker (2005), Gramaprakasan (2007) und                        widmen, existieren bis heute nur in Malayalam, der
Moser (2008) – erwähnen dessen Hauptinstrument                          Landessprache Keralas. Es handelt sich hierbei um
nur am Rande. In meiner Forschungsarbeit im Rah-                        das Buch “Miḻāvu Nampyārūde Kramadipika” des
men der Dissertation an der Universität Wien ging                       Maestros P. K. N. Nambiar und war 2005 in Killi-
es mir nicht nur um soziokulturelle Aspekte in der                      mangalam erschienen, fünf Jahre später folgte in
Kunst der Perkussionisten, sondern auch um eine                         Cheruthuruthy das Werk “Miḻāvoli” seines Schülers
detaillierte Beschreibung der miḻāvu, ihrer Spiel-                      Kalamandalam Eswaranunni, der bis 2014 das mi­
technik und Rhythmik, ihrer Funktion als deva va-                       ḻā­vu-Department am Kerala Kalamandalam geleitet
dyam, der Unterrichtsmethoden, der Anforderungen                        und die meisten der gegenwärtig aktiven Perkussio-
an das Bewusstsein der Spieler und der Notations-                       nisten ausgebildet hat.
möglichkeiten rhythmisch-musikalischer Zyklen                               Aufgrund dieser Tatsachen und einer Art “in-
(tālas).                                                                neren Anziehung” zum Thema “Rhythmik im kū­
   Die performative Umsetzung dieser tālas in ver-                      ṭi­yāṭ­ṭam” wie auch zu den miḻāvu-Protagonisten
schiedene Geschwindigkeiten korreliert laut Raja-                       und ihren einzigartig klingenden Instrumenten, ver-
gopalan (2005: ​33 f.) mit den von AkteurInnen in                       tiefte ich mich in mehreren Feldforschungen zwi-
der Sprache Sanskrit rezitierten rāgas (Melodien).                      schen 2004 und 2012 sowohl in die Evolution süd-
Diese werden je nach beabsichtigter Qualität spezifi-                   indischer Rhythmik als auch in die Welt der miḻāvu
scher Emotionen von den dargestellten Charakteren                       als Schülerin von K. Eswaranunni am Kerala Ka-
rezitiert, die vom Publikum als rāsas wahrgenom-                        lamandalam, der “Deemed University of Perform-
men werden. Tālas dienen andererseits der atmo-                         ing Arts”. In diesem interdisziplinären Forschungs-
sphärischen Verstärkung in der szenischen Umset-                        projekt kombinierte ich Methoden der Ethnografie,
zung der Dramen je nach Bühnencharakter und je                          Musikethnologie und empirischen Sozialforschung
nach Abschnitt der Gesamtperformance. Dabei im-                         mit eigenem Vorwissen aus der Praxis diverser Per-
provisiert der erste miḻāvu-Perkussionist auf die Be-                   kussionsinstrumente aus Afrika und Indien und den
wegungen der DarstellerInnen reagierend, während                        langjährigen Inspirationen durch meinen geschätz-
der zweite Spieler den Rhythmus beibeihält. Da es                       ten Mentor und Betreuer o. Univ.-Prof. Dr. Manfred
sich bei den Spielern ausschließlich um männliche                       Kremser. Grundsätzliche Erfahrungen mit Konzep-
Spieler handelt, wird auf die Genderschreibweise                        ten indischer Perkussion hatte ich bereits 1991 und
verzichtet. Obwohl kūṭiyāṭṭam-Darstellerinnen alle                      1992 bei meinen ersten Tabla-Lehrern K. J. Thom-
tālas aus der performativen Praxis kennen und um-                       as aus Kumily und Gopan aus Trivandrum sam-
setzen können, sind sie laut Jayanthi Nambiar zu                        meln können (Bindu 2013: ​10), auch wenn sich die
schwach, um diese auf der miḻāvu zu spielen (Bindu                      Rhythmik der nordindischen Tablas wesentlich von
2013: ​248). Grundsätzlich ist es in der heutigen Zeit                  der südindischen Rhythmik unterscheidet.
auch Frauen möglich, das Instrument zu erlernen.                            In diesem Artikel stelle ich das Instrument mi­ḻā­
   Meine eigene weibliche Identität stellte bei der                     vu in den Fokus der Ausführungen und gebe sowohl
Aufnahme als miḻāvu-Schülerin des “Kerala Kala-                         wesentliche Einblicke in die Performing Art des kū­
mandalam” kein Hindernis dar. Durch das jahre-                          ṭi­yāṭ­ṭam und dessen ProtagonistInnen als auch einen
lange Djembe-, Congas- und Tabla-Spiel habe ich                         kurzen Überblick über soziokulturelle Progressio-
entsprechende Muskeln aufgebaut. Dennoch emp-                           nen der Perkussionisten von antiker Tradition bis
fand ich die praktischen miḻāvu-Stunden als extrem                      zur kontemporären Repräsentation.

Anthropos  111.2016
                                              https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-2-395
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Kūṭiyāṭṭam-Aufführungen in Tempeltheatern                          Regierung Keralas den Landbesitz neu regelte, ver-
                                                                   loren die Cākyār jedoch alle Rechte und die Päch-
Sanskrit-Dramen bilden die literarische Basis für                  ter erhielten die Ländereien der Tempel. Dadurch
kūṭiyāṭṭam-Performances. Sie beruhen in Indien auf                 waren alle Cākyār- und Nampyār-Familien von Ar-
einer 2500 Jahre andauernden Tradition: Paulose                    mut betroffen. Viele gaben den Beruf auf und such-
(2006: ​41) bezeichnet das erste Millennium dieser                 ten sich andere Einkommensmöglichkeiten. Die
Periode von 500 v. Chr. bis 400 n. Chr. als “golden                dadurch bedingte Öffnung der Kunst für Interes-
era of Sanskrit theatre”. Aus dieser Zeit stammen                  sentInnen aller Kasten wird auch heute noch von
die natasutras, die Dramen von Bhasa und Kalida-                   manchen VertreterInnen der Nampyār, Cākyār und
sa sowie das “Nāṭya Śāstra”. Es enthält detaillier-                Naṅṅyār mit Skepsis betrachtet (Bindu 2013: ​112,
te Anleitungen für die performative Praxis südindi-                125, 142, 232).
scher “Performing Art”, für Theorien und Konzepte                      In der heutigen Zeit gibt es laut Venu (1989: 6)
in Bezug auf rasas, Verwendung der tālas und Klas-                 nur mehr eine geringe Anzahl von Cākyār der alten
sifizierung der Musikinstrumente. In den folgenden                 Generation, die ihre Tradition als Beruf ausüben.
fünfhundert Jahren trugen Sanskrit-Autoren wie                     Während jährliche kūṭiyāṭṭam-Performances in al-
Har­sha, Bha­va­bhuti, Bhattanarayana und andere                   ten Zeiten in siebzehn Tempeln Keralas stattgefun-
zum Kulturgut bei.                                                 den haben, sind in der heutigen Zeit – abgesehen
     Das Drama “Mattavilasa” von König Mahen-                      von modernen Aufführungsstätten – nur noch Per-
dravikrama gilt als erstes populäres Sanskrit-Dra-                 formances in den Tempeln Trichur und in Venganel-
ma in Kerala aus dem 7. Jahrhundert. Nilakantha-                   lore zu sehen. Andererseits haben sich in den letz-
kavi war laut Paulose (2006: ​65–67) der erste Poet                ten Jahrzehnten in Kerala acht kūṭiyāṭṭam-Zentren
aus Kerala, der ein Sanskrit-Drama namens “Ka-                     entwickelt, die zum Teil auf den Traditionen unter-
lyanasaugandhika” schrieb. Aus dem 11. Jahrhun-                    schiedlicher Cākyār-Familien aufbauen, wie etwa
dert sind die beiden Dramen “Subhadradhanan-                       das Natana Kairali in Irinjalakuda kombiniert mit
jaya” und “Tapatisamvarana” des Chera-Königs                       dem Ammanur Chachu Chakyar Gurukulam, das
Kulashekara belegt, die Geschichten aus dem “Ma-                   Manimadhavachakar Smarak Gurukulam in Killi-
habharata” beinhalten. Keralas populärstes Drama                   kurussimangalam, das Smaraka Kalapitam in Pain-
“Ascharyacudamani” von Shaktibadra stammt aus                      kulam und das Pottiyil in Ernakkulam. Die anderen
dem 13. Jahrhundert und basiert auf dem indischen                  Zentren arbeiten mit KünstlerInnen aus Familien
Nationalepos “Ramayana”. Ihm zufolge entstanden                    unterschiedlicher Herkunft: Das Kerala Kalaman-
weitere Sanskrit-Dramen verschiedenster Autoren                    dalam in Cheruthuruthy, Margi in Trivandrum und
bis ins 18. Jahrhundert.                                           Nepatya in Muzhikulam (Bindu 2013: ​235).
     Nach Kulashekara Varmans Zeit wurden viele                        Kūṭiyāṭṭam-Aufführungen fanden und finden
Akte aus diesen Dramen von den Cākyār ins Reper-                   noch heute in eigenen Tempeltheatergebäuden (kūt­
toire aufgenommen. Die Cākyār – die männlichen                     tam­pa­lam) statt. In Kerala existieren gegenwärtig
Darsteller im kūṭiyāṭṭam – sind seit der Sangam-Pe-                sechzehn an der Zahl. Die ein Meter hohe Bühne
riode des 5. Jahrhunderts in Südindien bekannt, in                 im hinteren Teil der Tempeltheater wird von ei-
der Arier das Land zunehmend beeinflusst hatten.                   nem separaten Dach überdeckt. An den vier Ecken
Sie zählten zu einer Subkaste der arischen Brah-                   der Bühne stützen verzierte Säulen das Dach, des-
manen (Namputiris) – der Kaste der Ampalavāsi                      sen Unterseite mit Blumenmotiven geschmückt ist.
(Tem­pel­bewoh­ner), die zu jener Zeit diverse Diens-              Im kūt­tam­pa­lam des Kerala Kalamandalam weisen
te im Tempel verrichteten (Pisharoty 1994: ​101 f.).               Säulen rund um den Bereich des Publikums neben
Moser betont (2008: ​4), dass die Mitglieder dieser                Blütenmotiven auch Statuen von Gottheiten in den
Kaste zur Aufführung von kūttu- und kūṭiyāṭṭam-                    108 Tanzpositionen (karanas) auf, die im “Nāṭya
Aufführungen verpflichtet waren. Diese Aufführun-                  Śāstra” angeführt sind. SchülerInnen des Kerala
gen werden bis heute vom miḻāvu-Spiel der Männer                   Kalamandalam schmücken den Bühnenbereich vor
aus der Nampyār-Kaste und dem Zimbel-Spiel (ku­                    Performances mit frischen Girlanden aus Palmblät-
ḻi­tā­lam) ihrer Frauen, der Naṅṅyār begleitet.                    tern und Blumen. Die Wand auf der Rückseite des
     Venu erwähnt (1989: ​5), dass die Remuneration                kūt­tam­pa­lam ziert ein für Kerala typisches Mauer-
für oben genannte Aufführungen der darstellenden                   gemälde von Mammiyoor Krishnankutty Nair, wie
Familien in der Vergabe von Land der jeweiligen                    Gramaprakasan (2007: ​49 f.) erwähnte. Die Bühne
Tempel bestand, das als kūttuvirutti bezeichnet wor-               wird entsprechend des ritualistischen Aspekts der
den war. Wegen der Kunst hatten die Cākyār jedoch                  kū­ṭi­yāṭ­ṭam-Performances als heilig betrachtet. Gott-
wenig Zeit für das Land – sie verpachteten es und                  heiten bewachen und beschützen die Bühne vor den
erhielten dafür einen Teil der Ernte. 1970, als die                Dämonen (asuras) (Panchal 1981: ​134 f.).

                                                                                                           Anthropos  111.2016
                                              https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-2-395
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Miḻāvu – göttliches Perkussionsinstrument im südindischen Sanskrit-Drama Kūṭiyāṭṭam                                              399

   Kūṭiyāṭṭam gilt als “visual sacrifice”, dessen ri-                   3. Bühnendekoration und Kostümierung werden als
tualisierter Ablauf mit dem Anzünden der kleinen                           aharyabhinaya bezeichnet.
nilaviḷakku (Öllampe) im “Green Room” hinter der                        4. Sprachgebrauch (vacikabhinaya): Die Rezita-
Bühne beginnt: DarstellerInnen verrichten dort das                         tion einer Auswahl an Sanskrit-slokas (Versen)
erste Gebet, bevor sie sich kostümieren und schmin-                        in 24 ragas (Melodien) wird mit der Expres-
ken. Die Bühne selbst wird mit blühenden Bananen-                          sion bestimmter bhavas (Emotionen, die in den
bäumen, Kokosnüssen, Kokosblättern und weiteren                            DarstellerInnen produziert werden) und mit der
saisonalen Früchten und Gräsern dekoriert. An der                          Handlungsabsicht der Charaktere des jeweiligen
vorderen Mitte entzündet ein Nampyār bzw. einer                            Dramas abgestimmt.1 In meinen Feldforschun-
der miḻāvu-Perkussionisten die nilaviḷakku (Venu                           gen beobachtete ich, dass die Rezitation der slo-
1989: 5).                                                                  kas von DarstellerInnen individuell interpretiert
   Miḻāvu-Perkussionisten nehmen bei Performanc-                           und ausgeführt wird, so dass eine einheitliche
es den Platz in der hinteren Bühnenmitte ein, wo-                          Melodieführung kaum feststellbar ist. Rezitierte
durch sie auf Abbildungen in diversen Artikeln über                        Worte werden dabei in die Länge gezogen und
das kūṭiyāṭṭam nur im Hintergrund zu sehen sind.                           tonal auf- oder abwärts “verbogen”.
Durch den Fokus meiner Betrachtungen rücken sie
jedoch ins Zentrum des Geschehens, das sich für                            Das Identifikationssystem im aharyabhinaya des
sie zwischen Bühne und dem dahinter befindlichen                        kūṭiyāṭṭam (Punkt 3.) baut auf dem namam oder na-
“Green Room” (Umkleideraum) befindet. Dieses                            makuri, dem aufgemalten Symbol auf der Stirne
Zentrum korreliert symbolisch mit der Vielzahl ihrer                    des jeweiligen Charakters, auf: “conch” (Muschel),
Funktionen, die von Vorbereitungen für die Perfor-                      Dreizack, Halbmond, Swastika und andere identifi-
mance bis zur Darstellung selbst reichen: Nambiar                       kationsstiftende Symbole aus dem Hinduismus wer-
erzählte mir in einem Interview 2006 (Bindu 2013: ​                     den laut Pisharoty (1994: ​103) vom “Chutty Artist”,
115), dass Nampyār nicht nur inhaltlich und perfor-                     dem Make-Up Spezialisten mittels Farben aus na-
mativ über das komplette Wissen einer kūṭiyāṭṭam-                       türlichen Materialien aufgetragen. Das Kerala Kala-
Aufführung verfügen, sondern auch vom Beginn                            mandalam (Deemed University of Performing Arts)
bis zum Schluss der Performances für die Bühne                          bietet seit 1965 neben “Performing-Art-Studien” für
verantwortlich sind. Die Ankündigung des jeweili-                       StudentInnen aller Kasten eine institutionalisierte
gen Aktes gehört gleichfalls zu ihren Aufgaben wie                      mehrjährige Chutty-Ausbildung an.
auch die Betreuung der Öllampen, der Auf- und Ab-                          Die Aufführungspraxis im kūṭiyāṭṭam basiert
bau der Instrumente sowie die Mithilfe beim Kos-                        bis in die gegenwärtige Zeit auf detaillierten An-
tümieren der DarstellerInnen. Da sich die Cākyār                        weisungen aus dem “Nāṭya Śāstra” und den Palm-
aufwendig kostümiert im vorderen Teil der Bühne                         blattmanuskripten der Cākyār-Familien. Im Laufe
bewegen und durch ihre Darstellung die Dra­ma­                          der Jahrhunderte fusionierten laut Panchal (1994: ​
inhal­te vermitteln, stehen sie meistens für das Pu-                    16) zusätzlich lokale Einflüsse aus dravidischen wie
blikum wie auch für ForscherInnen im Mittelpunkt                        auch arischen Kulturen. Panchal erwähnt in diesem
des Interesses. Bevor ich nun den Fokus dieses Ar-                      Zusammenhang vor allem den Einfluss lokaler dra-
tikels auf die miḻāvu richte, möchte ich hier die we-                   vidischer Performing-Art-Formen wie mutiyettu,
sentlichsten Elemente der komplexen kūṭiyāṭṭam-                         patayani und teyyam auf die Kostümierung, die Mu-
Per­for­mance­kunst aufzeigen.                                          sik und die Handgesten der Performance.

Kūṭiyāṭṭam abhinaya                                                     Kathakali

Die Darstellungstechnik (abhinaya) der Performe-                        Kathakali ist eine dreihundert Jahre alte Form der
rInnen erfolgt im Kūṭiyāṭṭam auf vier Ebenen:                           Performing Art in Kerala und zählt zu den rezen-
                                                                        teren Künsten, die sich durch wechselseitige Be-
1. Körperbewegungen (angikabhinaya) kombinie-                           einflussung mit dem kūṭiyāṭṭam auszeichnet. Es
   ren die 24 mudras (Handgesten) zur “Formu-                           entstand im 17. Jahrhundert als volksnahe Theater-
   lierung” von Inhalten des jeweiligen Dramas                          kunst, die zwei Sänger in die Performance integ-
   in Kombination mit Körperpositionen und be-                          rierte. Diese singen in der Landessprache Malaya-
   stimmten Schrittfolgen.
2. Gesichtsbewegungen (satvikabhinaya) und Au-                            1 Chakyar (1995); Paulose (2003: ​97–107); Venu (2005: ​171–
   genbewegungen (netrabhinaya) drücken vor allem                           179); Mani Paniker (2005); Paulose (2006: ​122–137); Gra-
   emotionale Aspekte dargestellter Charaktere aus.                         maprakasan (2007: ​18–23); Moser (2008: ​106–118).

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                                              https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-2-395
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lam Lieder über die dargestellten Handlungen aus                  be), hasa (Freude), shoka (Trauer), kroda (Ärger),
den Nationalepen. Im kathakali sind nur männli-                   utsaha (Stärke), bhaya (Angst), jugupsa (Grau­
che Darsteller erlaubt, welche in der Performance                 en), vismaya (Erstaunen) und sama (Ruhe). Mi­ḻā­
weibliche und männliche Rollen übernehmen (Bol-                   vu-Perkussionisten verstärken durch ihr Spiel die
land 1996: ​3). Dies steht in großem Gegensatz zum                Darstellung dieser neun bhavas, wobei laut K. Sa-
kūṭiyāṭṭam, in dem weibliche Darsteller auch Cha-                 jith Vijayan auch die miḻāvu selbst auf jene bha-
raktere beider Geschlechter repräsentieren können                 vas reagiert, die der Perkussionist aus seinem In-
(Bindu 2013: ​43).                                                neren erzeugt. Die gemeinsame Performance von
    Vasudevan Namputirippad, ehemaliger Tourma-                   Perkussionisten und AkteurInnen transportiert diese
nager und Organisator des Kerala Kalamandalam,                    Emotionen zum Publikum. Bhavas werden dadurch
betonte in einem Interview 2006 einerseits die Of-                von jenem als rāsas wahrgenommen. Diese neun
fenheit des kathakali für alle Kasten seit Anbeginn               als rāsas wahrgenommenen Gefühlszustände tragen
dessen Entwicklung, wie auch die freie Wahl der                   die Bezeichnungen sringara, hasya, karuna, veera,
Aufführungsplätze. Die Brahmanen Keralas stan-                    raudra, bhayanaka, bheebatsa, adbhuta und shanta.
den ihm nach der Entstehung des kathakali kritisch                    Paulose (2003: ​98–103) beschreibt noch weitere
gegenüber. Gründe dafür waren nicht nur die Nähe                  Variationen von Interaktionen zwischen Performe-
zum gewöhnlichen Volk und der “Bhakti Bewe-                       rIn und Publikum im kūṭiyāṭṭam, wobei im Grun-
gung”, sondern auch der Performancemodus, der                     de zwischen einem gewöhnlichen Publikum (nana-
die ganze Nacht andauerte, und die Offenheit der                  loka) und einem die satras kennenden Publikum
Kunstform für Darsteller aus allen Kasten (Bindu                  (prek­saka) unterschieden wird. Hradayasamvada
2013: ​136 f.).                                                   (Kommunikation des Herzens) betrifft die Kommu-
    Inspirationen durch das kūṭiyāṭṭam sind im kat-               nikation zwischen Charakteren und gewöhnlichem
hakali an der Verwendung ähnlicher Kostüme und                    Publikum durch die Mittel des vierteiligen abhina-
Make-Up Techniken ersichtlich wie auch laut Gra-                  ya. Auf suggestive Weise wird das Publikum dazu
maprakashan (2007: ​4) am Einsatz eines Vorhangs                  bewogen, die Vision der DarstellerInnen zu re­kreie­
zwischen den Akten. Laut Gramaprakashan soll                      ren und die imaginative Welt des Dramatikers zu be-
in umgekehrter Weise Painkulam Rama Chakyar                       treten. Antarabhinaya hingegen beinhaltet für das
dem kathakali Elemente entlehnt haben, die dem                    künstlerisch erfahrene Publikum noch eine zusätz-
kūṭiyāṭṭam zusätzlichen Glanz verliehen. Ein gros-                liche Präsentationsebene, die subtil durch Augenbe-
ser Unterschied zum kūṭiyāṭṭam besteht auch im                    wegungen (netrabhinaya) hervorgerufen wird. Aus
Einsatz von Musikinstrumenten: Das begleitende                    eigener Erfahrung füge ich hinzu, dass auch detail-
Hauptinstrument im kathakali sowie im theyyam ist                 lierte Dialoge, die durch mudras vermittelt werden,
die von Männen gespielte “Nationaltrommel Ke-                     sowie die rezitierten Sanskrit-Verse (slokas) nur
ralas”, die über weite Distanzen kräftig klingende                vom künstlerisch erfahrenen Publikum verstanden
centa-Trommel, deren Rhythmik einem eigenen                       werden.
System folgt (Bindu 2013: ​47). Kathakali-Perfor-                     Miḻāvu-Perkussionisten können aufgrund ihrer
mances werden musikalisch durch weitere Instru-                   Bühnenposition DarstellerInnen nur von der Rück-
mente wie Gong, maddalam, thimila und thalam                      seite aus sehen und auf deren Emotionen reagie-
(große Zimbel) untermalt. Im Gegensatz zu den kū­                 ren. Ihnen müssen daher alle Aspekte des rasabhi-
ṭi­yāṭ­ṭam-DarstellerInnen bewegen sich kathakali-                naya aus dem Kontext des Dramas heraus bekannt
Performer immer im Rhythmus der Musik, was von                    sein. Darüber hinaus geben laut Paulose (1998: 5–7)
einem miḻāvu-Spieler scherzhaft als “robot dance”                 spezifische Körperpositionen der DarstellerInnen
bezeichnet wurde.                                                 Auskunft darüber, welche rāsas sie damit hervor-
    Eine wesentliche Gemeinsamkeit beider Per-                    rufen wollen: samāvastha (Normalposition) für die
forming-Art-Formen bildet die Darstellung von                     rāsas “sringara” und “karuna”, irunnāṭṭam (Bewe­
Charakteren und deren Gefühlen (bhavas) aus den                   gun­gen am Boden) für unglückliche Stimmungen,
indischen Nationalepen “Mahabharata” und “Ra-                     iḷakiyāṭṭam (ein Fuß vorne, der andere hinten) für
mayana”. Wie jede andere indische Kunstform                       die rāsas “veera”, “raudra”, “adbhuta” u. a. Eine
sprechen kūṭiyāṭṭam und kathakali neun Emotio-                    spezifische halbkreisförmige Gestik der Darstel-
nen an, die als navarāsas bezeichnet werden. Sie                  lerInnen, die auch von der Bühnenrückseite gut
weisen unterschiedliche Benennungen auf, je nach-                 sichtbar ist, fordert die Perkussionisten auf, das
dem ob sie durch die DarstellerInnen als bhavas er-               Spiel zu stoppen. Die rhythmische Unterstützung
zeugt oder vom Publikum als rāsas wahrgenom-                      bei der Wahrnehmung von rāsas durch miḻāvu-
men werden. Bei den bhavas handelt es sich laut                   Perkussionisten wird von Nambiar (1995: ​107) als
Suresh (2003: ​28–30) um die Emotionen rathi (Lie-                eine der drei Arten des Trommelns im kūṭiyāṭṭam

                                                                                                          Anthropos  111.2016
                                             https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-2-395
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Miḻāvu – göttliches Perkussionsinstrument im südindischen Sanskrit-Drama Kūṭiyāṭṭam                                                 401

angeführt – als mēlam bezogen auf den emotional                         Rajagopalans Artikel geben jedoch weder Hin­weise
signifikanten Handlungsverlauf im kūṭiyāṭṭam in                         zu den Perkussionisten selbst noch zur Notation der
Reaktion auf wechselnde rāgas, rāsas und bhavas.                        tālas. Auch andere kūṭiyāṭṭam-SpezialistInnen, wie
                                                                        Venu (1989: ​3; 2002: ​16 f., 33) und Moser (2008: 5),
                                                                        für die Dramatiker sowie DarstellerInnen der Cā­
Die Miḻāvu in der Literatur                                             kyār- und Naṅṅyār-Kaste im Mittelpunkt der Be-
                                                                        trachtungen stehen, erwähnen Perkussionisten und
Bei der Durchsicht englischsprachiger Literatur in                      ihr Instrument nur am Rande, Notationen sind auf-
verschiedensten Bibliotheken Keralas und New Del-                       grund der oralen Tradition in keiner der angeführ-
his erging es mir ähnlich wie auf der Suche nach                        ten Artikel zu finden, mit Ausnahme von Nambiar,
Notationen über die tālas im kūṭiyāṭṭam: Wenige In-                     der Notationsbeispiele ohne erkennbare metrische
formationen über das Hauptinstrument dieser Per-                        Struktur in den dafür üblichen mnemotechnischen
forming-Art-Form waren bei Sangeet (1956: ​17) zu                       Silben (vaittari) anführt.
finden. Seiner Beschreibung nach wurde die miḻāvu                           Paulose rief bereits im Jahre 1998 zur intensi-
mit einer Kombination von Hand und “stick” ge-                          veren Erforschung der Musik im kūṭiyāṭṭam auf,
spielt, der Ton des Instrumentes war laut und hoch                      womit sich – abgesehen von meinem Lehrer K.
und deren schmaler Hals mit dicker Haut bespannt.                       Es­wa­ra­nunni – auch Hareesh Nambiar am kū­ṭi­yāṭ­
Samba­moorthy, der bekannteste Musikethnologe                           ṭam-Zentrum Madhava Chakyar Smaraka Guruku-
Süd­indiens, erwähnte eine Kupfertrommel aus Ta-                        lam befasste. Zur Zeit meines Aufenthaltes im Jahre
mil Nadu mit fünf “Gesichtern” (1960: ​195), die                        2007 zeigte er mir in Trivandrum eine Videoaufnah-
nach Ansicht meines Lehrers K. Eswaranunni vom                          me, auf der sein Vater P. K. N. Nambiar alle tālas
kū­ṭi­yāṭ­ṭam-Zentrum “Natana Kairali” als Me­dien­                     des kūṭiyāṭṭam auf seiner miḻāvu demonstrierte und
attrak­tion nach Kerala geholt worden war.                              durch Informationen zur Entstehungsgeschichte des
    Sowle wies in seiner Dissertation auf die ­große                    Instrumentes in der Landessprache Malayalam er-
Verantwortung der miḻāvu-Perkussionisten im Zu­                         gänzte (Bindu 2013: ​160). In seiner neuesten Pub-
sam­men­hang mit der Projektion der Emotionen                           likation widmet Paulose (2006: ​132 f.) der Rhyth-
auf die jeweiligen Charaktere der kūṭiyāṭṭam-Dar­                       mik im kūṭiyāṭṭam ein oberflächlich informierendes
stel­lung hin (1982: ​177 f.). Als teilnehmender Be-                    Kurzkapitel, in dem er miḻāvu thyambaka – eine
obachter des Trainings am Kerala Kalamandalam                           konzertante musikalische Tempelperformance mit
berichtete er vom Morgentraining der Schüler an                         mehreren Instrumenten – als Neuentwicklung er-
einer kleinen Trainingstrommel, die er als “mizhāvu                     wähnt, über die Nambiar jedoch bereits 1995 be-
kutti ” (Baby-mizhāvu) bezeichnete. Ausführliche-                       richtet hatte (1995: ​111).
re Beschreibungen fand ich bei Panchal (1984: ​35):                         In einer Publikation des Kerala Kalamandalam
Hier wurden nicht nur Wandmalereien an Tempeln                          beschreibt Gramaprakasan die miḻāvu-Trommel als
erwähnt, die Lord Śiva bei der Aufführung des tan-                      die in der Sangam-Literatur genannte perumpara
dava-Tanzes in Begleitung einer miḻāvu-spielenden                       (Kriegstrommel). In anderen alten Tamil-Werken
Gottheit zeigen, sondern es wurde auch auf die                          ist das Intrument als muzha bezeichnet worden,
Verwendung unterschiedlicher swaras und tālas,                          was eine allgemeine Bezeichnung für Instrumente
je nach Emotion, Tageszeit und Ende eines Aktes,                        mit lautem Klang darstellt. Gramaprakasan (2007: ​
hingewiesen. Panchal schrieb sowohl über die Posi­                      25) listet auch die tālas des kūṭiyāṭṭam auf, verwen-
tion des Instrumentes auf der Bühne als auch über                       det dafür zum Teil jedoch unübliche Bezeichnun-
die sechzehn Zeremonien (saṁskāras), mit der die                        gen aus der rhythmischen Terminologie der karna-
miḻāvu geweiht wird (1984: ​62).                                        tischen Musik.
    Detailliertere Charakterisierungen des Instru-                          Wie bereits erwähnt, sind die beiden wesent­lich­
mentes waren in einer Sonderausgabe des Sangeet                         sten Buchausgaben über die miḻāvu in Malayalam
Natak der Sangeet Natak Akademi in Delhi 1995 zu                        geschrieben, der Landessprache Keralas: Das Buch
finden. Einblicke in die tālas des Instrumentes sowie                   “Miḻāvu Nampyārūde Kramadipika ” des Maestros
dessen Verbindung zu den ragas und rasas vermit-                        P. K. N. Nambiar aus dem Jahre 2005 und das Werk
telten Nair (1995: ​23), Nambiar (1995: ​101–119)                       “Miḻāvoli” seines Schülers K. Eswaranunni aus dem
und Rajagopalan (1995: ​113–122). In einem jünge-                       Jahre 2010, der bis heute das miḻāvu-De­part­ment
ren Artikel wurde auch auf die Betrachtung des In-                      am Kerala Kalamandalam leitet.2 In ihrer Disser-
struments als “brahmacari” (Schüler Brahmas) hin-
gewiesen, was heute nur noch auf miḻāvus zutrifft,                        2 In seiner Klasse konnte ich mit Hilfe von Stipendien der Uni-
die in Tempeltheatern von Männern der Nampyār-                              versität Wien und des Landes Niederösterreich in den Jahren
Kaste gespielt werden (Rajagopalan 2005: ​29–30).                           2005–2006 vier Monate als miḻāvu-Schülerin und Feldfor-

Anthropos  111.2016
                                              https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-2-395
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tation über kūṭiyāṭṭam widmet Leah K. Lowthorp       Buddhisten. Der Begriff bhanda wird in der Bear-
(2013: ​108–111) der miḻāvu ein dreiseitiges Kapi-   beitung des “Nāṭya Śāstra” von Gupta (2003: ​510)
tel, in dem sie den Status quo dreier Perkussionis-  vom Verb “bhramayati” (sich bewegen) abgeleitet,
ten des kūṭiyāṭṭam-Zentrums Margi in Trivandrum      was mit den unterschiedlichen Spielpositionen der
porträtiert, über das Instrument selbst jedoch weni- Trommeln zu tun haben kann: Der heilige Svāthi
ge Informationen liefert. In Zusammenhang mit der    schuf laut Gopal drei Typen von mrdangam-Trom-
Überlegung, ob eine kūṭiyāṭṭam-Darstellung auch      meln (Trommeln aus Ton): alingya mridangam, an-
zu auf Tonträgern gebrannten rhythmischen Phrasen    kya mridangam und urdhva mridangam. Die zuletzt
geprobt werden könne, betont sie, dass die Kom-      genannte Trommelart wird laut Gopal (2004: ​27–
munikation zwischen Perkussionisten und Darstel-     30) in aufrechter Position gespielt – sie ist nur mit
lerInnen zu dynamisch sei, um mechanisch ersetzt     einer Haut am oberen Ende bespannt.
zu werden (2013: ​136). An anderer Stelle erwähnt       Die Bezeichnung als vadya wird laut Kasliwal
einer der miḻāvu-Perkussionisten die spezielle Ener- (2004: 1) vom Wort vad (sprechen) abgeleitet – va-
gie, die beim Spiel im kūttampalam entsteht. Diese   dana bedeutet literarisch, “das Musikinstrument
sei seiner Erfahrung nach auf “profanen” Bühnen      spre­chen zu lassen”. Nambiar ordnet die Bezeich-
nicht spürbar (Lowthorp 2013: ​129). Auf diese spe-  nung ghaṭavādya aus dem Buch “Sangeeta Ratna-
ziellen Energien soll später zurückgekommen wer-     kara” von Sarngadeva der miḻāvu zu (1995: ​102).
den, zunächst geht es um Klassifizierung und Kör-    Im “Śilappatikaram”, einem der Hauptwerke der
perbau der miḻāvu.                                   tamilischen Sangam-Literatur, wird die miḻāvu als
                                                     muzha oder kuṭa muḻa bezeichnet. Der in alten Ta-
                                                     mil-Werken verwendete Begriff muḻa – hier muzha
Die Miḻāvu als Membranophon                          geschrieben – gilt allgemein als Bezeichnung für
                                                     Instrumente mit lautem Klang. Muzha-Instrumente
Membranophone gelten in Indiens “Nāṭya Śāstra” werden in akamuzha, akappuramuzha, puramuzha,
von Bharatamuni als avanaddha vadya, die aus hun- purappuramuzha, pannamaimuzha, nanmuzha und
derten an Variationen bestehen, wobei drei Trom- kalimuzha unterteilt.
meltypen unterschieden werden: mrdanga, panava          In Südindien werden laut Nirmala Paniker
und dardura (Gupta 2003: ​484 f.). Die ersten beiden (1992: ​27) die meisten Perkussionsinstumente der
Typen sind beidseitig bespannt, während es sich bei akamuzha-Gruppe zugeordnet. Dazu gehören sol-
den dardura-Trommeln um einköpfige Instrumen- che Instrumente wie maddalam, iṭakka, karadika,
te handelt. Bharatamuni bezeichnete diese auch als bheri, padaham und kudamuzha. Panikers Annah-
pushkara und vadyabhandamukha (Kes­sel­instru­ me, dass die kudamuzha-Trommel mit der heutigen
mente mit Gesicht). Laut Deva erfolgt eine weite- miḻāvu kongruent sei, wird von Nambiar bestätigt.
re Kategorisierung in Trommeln, die geschlagen Letzterer berichtet im folgenden Zitat über weitere
werden, in Reibetrommeln und in Zupfinstrumente. Referenzen zur miḻāvu in den Büchern “Kaṇ­ṇaś­śa­
Zu den Schlagtrommeln zählen auch Rahmentrom- rā­mā­ya­ṇam” und “Bāṇayuddhapṛabhanda” (Nam-
meln und Kesseltrommeln, wobei von Deva (2000: ​ biar 1995: ​102 f.):
62) hier noch zwischen “monofacial” (einseitig be-
spannten), “bifacial” (zylindrisch, beidseitig be- Kaṇṇaśśarāmāyaṇam also has a reference to this instru-
spannten) sowie “multifacial” (vielseitig bespann- ment in “iṭiyākina milāvoliyālēvaṛkkum paritāpam ka­ḷa­
ten) Instrumenten unterschieden wird.                vān” (to remove the sorrows of everyone by the thunder-
   Kesseltrommeln werden auch als bhanda vadya ing sound of the mizhāvu). Bāṇa has drummed on the
                                                     mizhāvu impressively in accompaniment to the cosmic
bezeichnet, wobei bhanda mit “Kessel” oder “Topf”
                                                     dance (tāṇḍava) of Lord Siva and was rewarded with a
übersetzt werden kann. In der vedischen Literatur thousand hands – this allusion to the mizhāvu occurs in
werden laut Deva (2000: ​65) Perkussionsinstru- the Bāṇayuddhapṛabhanda as “ye vadyēna ta­va­pṛasā­da­
mente dieser Art erwähnt, so z. B. vadha bhanda matu­lam nṛttai purā pūrayam”. From all theses scattered
im Buch “Arthasastra” von Kautilya, kumbha (Topf) referenes, it is evident that the mizhāvu had been in popu-
im “Ramayana” und in einem heiligen Buch der lar use in this country for centuries.

   scherin im Beisein meiner Kinder verbringen. – In einem In-              Curt Sachs, der die Klassifizierung der Instru-
   terview mit Saraswathy Nagarajan vom 30. 01. 2014 kündig-            mente aus dem “Nāṭya Śāstra” übernommen hat-
   te Eswaranunni in The Hindu weitere Publikationen an, in             te, erwähnte die miḻāvu in den Beschreibungen di-
   denen er seinen Erfahrungsschatz als miḻāvu-Perkussionist,
   centa-Perkussionist und Entwickler verschiedenster Variati-          verser Kesseltrommeln nicht (1923: ​55). Dies lag
   onen an miḻāvu-Perkussion-Ensembles weitergeben will (Na-            möglicherweise an der Vielfalt indischer Per­kus­
   garajan 2014).                                                       sions­instru­mente, die seiner Ansicht nach für Eu-

                                                                                                                Anthropos  111.2016
                                                   https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-2-395
                                            Generiert durch IP '46.4.80.155', am 19.10.2021, 02:52:39.
                                     Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Miḻāvu – göttliches Perkussionsinstrument im südindischen Sanskrit-Drama Kūṭiyāṭṭam                               403

ropäerInnen kaum fassbar sein soll. Seiner Ansicht                Länge von 2 cm – und die Höhe von großen miḻāvus
nach stand die Unmenge indischer Per­kus­sions­                   mit über 50 angulams.
instru­mente in keinem Verhältnis zu den drei oder                    Die miḻāvu wird in drei Formen je nach Präfe-
vier Trommelarten, die für europäische MusikerIn-                 renz des Perkussionisten und je nach der Form des
nen völlig ausreichten. Er beschrieb das Vorhanden-               Tempeltheaters (kūttampalam), in der sie residie-
sein von zwei Duzend Kesseltrommeln aus Ton in                    ren wird, produziert: länglich, ballförmig und eiför-
Hindustan als besondere Herausforderung an Euro-                  mig. Es wird zwischen großen, mittleren und klei-
päerInnen, da diese sich nur wenig voneinander un-                nen miḻāvus unterschieden, die ebenfalls je nach der
terschieden. Sachs erwähnte auch bereits die starke               Form des kūttampalam konstruiert werden, um da-
Verbindung zwischen indischen Perkussionsinstru-                  durch den optimalen Klang zu erzeugen. So wird
menten und heiligen Zeremonien sowie deren dar-                   laut Nambiar (1995: ​102) eine große miḻāvu in ei-
aus resultierende sakrale Funktionen.                             nem rechteckigen Tempeltheater plaziert, eine mit-
   Auch kūṭiyāṭṭam gilt als “visual sacrifice”                    telgroße in einem quadratischen Gebäude und eine
(chaks­bus­ba yagna), daher müssen für Performanc-                kleine miḻāvu in einem dreieckigen kūttampalam.
es im sakralen Kontext nicht nur alle Materialien,                    Heute werden in Kerala hauptsächlich eiförmi-
die mit diesem yagna zu tun haben, geweiht und                    ge und runde miḻāvus verwendet. Durch die Öff-
purifiziert sein, sondern auch die PerformerInnen                 nung des kūṭiyāṭṭam für alle Kasten und für pro-
und deren Instrumente selbst. Hierbei gilt die mi­ḻā­             fane Bühnen werden heute meist mittelgroße und
vu als sakrales Instrument (deva vadyam), das den                 kleine “Reise-miḻāvus” produziert, die ca. 55 cm
Gottheiten geweiht ist.3 Trotz zunehmender inter-                 hoch sind. Im Unterschied zu den großen miḻāvus
nationaler Bekanntheit der miḻāvu durch deren Ein-                befinden sich diese nicht in einem Holzgestell, auf
satz bei Darstellungen auf profanen Bühnen betonte                dessen Ausbuchtung am oberen Rand die Tromm-
Nambiar in einem Interview 2006, dass die mi­ḻā­vu                ler sitzen, sondern auf kleineren Konstruktionen aus
idealerweise nur im Kontext von kūṭiyāṭṭam- und                   Holz (in Notfällen auf einem umgedrehten Hocker),
kūttu-Darbietungen sowie orchestraler Tem­      pel­              die vor den Perkussionisten stehen. Jene sitzen auf
musik eingesetzt werden sollte (Bindu 2013: ​113).                einem Stuhl dahinter. Die Form der miḻāvu selbst
Im Tempelambiente wird sie auch heute noch aus-                   entspricht laut Nambiar dem Rumpf des Menschen.
schließlich von Perkussionisten der Nampyār-Kaste                 Bei der Kreation von Klang beginnt der mensch-
gespielt.                                                         liche Atem im Basischakra (muladhara zwischen
                                                                  Anus und Genitalien) und reicht bis zu den Stimm-
                                                                  bändern in der Kehle. In identischer Weise schwingt
Die Miḻāvu als anthropomorpher Körper                             bei der miḻāvu die Haut, wenn Klang erzeugt wird.
                                                                  Durch kräftigeres Atmen im Brustbereich wird der
Der bauchige Körper der miḻāvu wurde in alten Zei- Klang der menschlichen Stimme verstärkt – das-
ten aus Ton hergestellt. Dies führte zu Verwechslun- selbe gilt für die miḻāvu und erklärt dadurch ihre
gen mit der mrdangam, dem Perkussionsinstrument Form. Auch in der Praxis des Yoga zeigt die Energie
der karnatischen klassischen Musik Südindiens, die die Tendenz, aufzusteigen, demnach praktiziert die
damals ebenso aus Ton erzeugt wurde (Rajagopa- miḻāvu ebenfalls Yoga (Bindu 2013: ​312, FP 54).
lan 2005: ​29). In seinem Interview 2006 bestätigte                   Die anthropomorphen Eigenschaften der miḻāvu
Nambiar diese Ansicht und verwies auf die Refe- sind auch in den Bezeichnungen ihrer Kör­per­teile
renz “Mridangopanayanavidhi” im “Tantrasamuch- enthalten, die mir mein Lehrer K. Eswaranunni
ayam”, einer Abhandlung über symbolische Rituale (Bindu 2013: ​164) vermittelt hat: Der Boden wird
in Tempeln. In der heutigen Zeit befinden sich sei- als aṭi bāgam (Tanzplatz) bezeichnet. Darüber befin-
ner Meinung nach miḻāvus aus Ton in zerbrochenem det sich der Bauch (vayar) des Instrumentes, wofür
Zustand im Madayikkavu Tempel in Nord-Malabar im Malayalam dasselbe Wort wie für den menschli-
und im Tempel von Kurumathur Mana. Das Instru- chen Bauch verwendet wird. Die kleine Öffnung im
ment im Madayikkavu Tempel ist ca. 500 Jahre alt. oberen Drittel der Trommel, die immer zum Publi-
Ein jährliches kūttu findet dort an jedem 15. Sep- kum zeigt, wird karṇṇam (Ohr) oder karṇ­ṇa­duā­ram
tember statt (Bindu 2013: ​160). Rezentere miḻāvus (Ohrloch) genannt. Die obere Öffnung der Trommel,
werden aus Kupfer erzeugt. Gramaprakasan (2007: ​ die mit Kalbshaut bespannt wird, heißt vāya vaṭṭam
25 f.) gibt die Höhe einer mittelgroßen miḻāvu mit (runder Mund). Der “Hals” der Trommel reicht vom
30–36 angulams an – ein angulam entspricht einer “runden Mund” bis zum Bauch und wird wie beim
                                                                  Menschen als kaḻuttu (Hals) bezeichnet. Die Kuh-
 3 Paniker (1992: ​28); Rajagopalan (2005: ​29); Nambiar (1995: ​ haut (paśutōl ) bedeckt den Mund der miḻāvu. Sie
   103).                                                          wird dem menschlichen Stimmband gleichgesetzt.

Anthropos  111.2016
                                              https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-2-395
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                                                                                                          Abb. 2: K. Bindu, K. Anup und
                                                                                                          K. Sajith Vijayan an den abhya­
                                                                                                          sa­kuṭ­ṭikkal, 2006 (Foto: © Karin
                                                                                                          Bindu).

Zur Fixierung der Haut am Instrument dient eine                   mit Zangen leicht nach hinten gebogen, so dass ein
um den Hals gewickelte Schnur (vār). Das Instru-                  weiteres Kupferplattenteil im Reißverschlusssys-
ment steht aufrecht in einem quadratischen hölzer-                tem angefügt werden kann. Die gebogenen Metall-
nen Kasten (miḻāvaṇam), an dessen oberen Rand                     teile werden mit dem Hammer an den angefügten
eine Sitzfläche für den Perkussionisten montiert                  Teil gehämmert und anschließend durch Hitze ver-
ist. Im Kerala Kalamandalam und auch in anderen                   schmolzen. Auf diese Art wird der runde Bodenteil
kūṭiyāṭṭam-Zentren üben miḻāvu-StudentInnen auf                   an den Bauchteil gelötet, ebenso ein breiter Ring
hölzernen Übungstrommeln (abhyasakuṭṭikkal im                     zwischen Bauch und Hals. Zum Schluss wird das
Plural), die nur ca. 30 cm hoch sind, jedoch ähnlich              Ohrloch gebohrt.4
der kupfernen miḻāvu eine Schlagfläche mit dem                        Abhyasakuṭṭikkal (Übungstrommeln) werden hin­-
Durchmesser um die 20 cm aufweisen.                               ge­gen aus dem Holz des Brotfruchtbaumes (plā­vu)
    In Tamil Nadu existiert eine dritte Form einer                hergestellt. Das Holzstück wird in Form eines Trich-
miḻāvu: Eine Kupfertrommel mit fünf “Gesichtern”                  ters ausgehöhlt. Vor der Bespannung der Übungs-
(panchamukha vadhyam), wobei laut Nambiar nur                     trommel, für die im Kerala Kalamandalam die
noch zwei oder drei dieser Instrumente in Tempeln                 miḻāvu-Schüler zuständig sind, wird eine Kalbshaut
zum Einsatz kommen. Die Anzahl der Perkussio-                     vier Stunden im Wasser eingeweicht. Dann werden
nisten, die darauf traditionelle Rhythmen spielen                 die wulstartig verstärkten Ränder des Trommelkör-
können, ist seiner Aussage nach auf zwei bis drei                 pers mit zerquetschtem, gekochtem Reis oder mit
Personen zurückgegangen. Ein Modell, das nur sel-                 Paste aus pappadam (dünnem, in Fett gebackenem
ten eingesetzt wird, befindet sich auch heute noch                Fladenbrot) bestrichen. Auf den derart vorbereite-
im kūṭiyāṭṭam-Zentrum “Natana Kairali” in Irin­ja­                ten Mund wird die Kalbshaut aufgelegt und mit ei-
la­kuda (Bindu 2013: ​313).                                       ner Schnur im Uhrzeigersinn solange umwickelt,
    Die Konstruktion kupferner miḻāvus wird in der                bis sie gut gespannt ist. Um einen perfekten Klang
heutigen Zeit Herstellern von Kochgefäßen und                     zu garantieren, ist während der Trocknung jede Be-
Messinglampen oder Experten für Instrumenten-                     rührung verboten. Meist “überleben” die Übungs-
bau in Auftrag gegeben. Jeder Instrumentenkörper                  trommeln nur eine Trainingswoche, so dass sie je-
besteht aus vier Kupferplattenteilen. Durch Trei-                 den Sonntag erneut bespannt werden müssen.
ben erhalten sie halbrunde Formen, die Halsöff-                       Die Prozedur der Bespannung größerer miḻāvus
nung wird ausgeschnitten. An einem der Platten-                   gleicht jener der Übungstrommeln, wobei der auf-
ränder werden in Abständen von 4–5 cm jeweils
zwei kleine Einschnitte im Abstand von ca. 1 cm                     4 Dieser Herstellungsvorgang ist auf der DVD “Rhapsody of
vorgenommen. Diese kleinen Metallstücke werden                        Beats” von Invis Multimedia aus Kerala (2007) zu sehen.

                                                                                                                       Anthropos  111.2016
                                             https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-2-395
                                      Generiert durch IP '46.4.80.155', am 19.10.2021, 02:52:39.
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Miḻāvu – göttliches Perkussionsinstrument im südindischen Sanskrit-Drama Kūṭiyāṭṭam                                          405

getragenen Paste ein wenig Kleber beigemischt                           nern gestellt, dann spricht der tanṭri ein Gebet an
wird, um ein Nachlassen der Spannung während ei-                        Ganapathi (Ganesh), der alle Hindernisse aus dem
ner Performance zu verhindern (Bindu 2013: ​167).                       Weg räumt. Nach einführenden Riten und Purifi-
                                                                        kation wird Nandikeshvara, der Gott aller Perkus-
                                                                        sionsinstrumente und zugleich das Vehikel von Lord
Sakrale Miḻāvus                                                         Śiva, angerufen. Im Anschluß daran erfolgt das ritu-
                                                                        elle Bad, die rituelle Bekleidung des Instrumentes,
Kūṭiyāṭṭam wird als Schöpfung Brahmas betrach-                          danach das Opfer (homam) für Agni, den Gott des
tet, wobei die Worte dem “Rig Veda”, die Kunst der                      Feuers. Die weiteren acht Zeremonien entsprechen
Darstellung (abhinaya) den “Yajur Vedas”, die mu-                       jenen, die für jeden Hindu (mit Ausnahme der Hoch-
sikalischen Töne (svāras) dem “Sama Veda” und die                       zeitszeremonie) durchgeführt werden: Zeremonien
Gefühlsexpressionen (rāsas) den “Atharva Vedas”                         für die Erschaffung von Leben im Mutterleib, für
entnommen wurden. Rajagopalan (1995: ​119) er-                          den Schutz des Embryo, für dessen Fähigkeit auf
wähnt, dass den Schülern Bharatas die miḻāvu im                         Klänge zu reagieren, für die Geburt, die Namens-
Traum als passendes Instrument für kūṭiyāṭṭam-                          gebung, die erste Aufnahme fester Nahrung, für das
Aufführungen erschienen sein soll. Nach Ansicht                         Haareschneiden und für die Ausbildung des Kindes
Nambiars, dem Lehrer meines Lehrers, wurde sie                          durch einen Guru (Nambiar 1995: ​103).
erstmals vom Dämonen-König Bana, dem ältesten                               Die sakrale miḻāvu wird als “Schüler Brahmas”
Sohn von Bali (König von Mahabalipura) zur Be-                          betrachtet und besitzt daher ein Eigenleben. So wird
gleitung des kosmischen Tanzes von Lord Śiva ge-                        angenommen, dass sie selbst um die Initiation (upa-
spielt. Dieser war von Banas Spiel derart begeistert,                   nayana) bittet, wofür vom tantri eine ideale Zeit de-
dass er ihn mit tausend Armen ausstattete (Bindu                        finiert wird. Wenn der Moment gekommen ist, wird
2013: ​116).                                                            sie mit dem Schultertuch der Brahmanen sowie ei-
    Mein Lehrer K. Eswaranunni erzählte mir die­se                      nem Stück Rehhaut bedeckt.
Ursprungsmythe in der ersten miḻāvu-Un­ter­richts­
stunde am Kerala Kalamandalam in einer anderen                          Then the holy rites signifying the sacrifices connected
                                                                        with the study of the four sections of the Vedas (chatur-
Variation: Demzufolge ist die miḻāvu erstmals von
                                                                        dravya hōma) are performed. Finally pṛasannapuja (a
Nandikeshvara, dem Vehikel von Lord Śiva gespielt                       ceremony that suggests that the deity is pleased) and
worden (Bindu 2013: ​310). Er residiert in der sa­                      nīrānjana (a rite with a view to propitiate) are performed
kra­len miḻāvu. Nandikeshvara gilt wie die Trommel                      (Nambiar 1995: 103).
selbst als brahmacari (Schüler Brahmas), der mit
der Energie eines auf die Musik fokussierten Aske-                      Sodann legt ein Nampyār ein Stück Kuhhaut über
ten ausgestattet ist.                                                   den Mund der miḻāvu und fixiert es. Der tanṭri spielt
    Als brahmacari wird die sakrale miḻāvu, die im                      daraufhin die Trommel, dann der Nampyār selbst.
Tempel wohnt, wie ein Hindu durch sechzehn ve-                          Bevor das Instrument erstmals auf der Bühne ge-
dische Rituale (shōdhashakriyakal ) geweiht, wobei                      spielt werden kann, durchläuft es weitere Riten, die
nur das Hochzeitsritual entfällt. Als Asket verehrt                     vor Ort durchgeführt werden müssen. Eine sakrale
die miḻāvu den Schöpfer Brahma durch Medita-                            mi­ḻā­vu wird nach den im Buch “Tantrasamuchcha-
tion über das nadabrahma mit dem om-karam. Der                          ya” angeführten Begräbniszeremonien (samskara)
durchgehende obertonreiche Klang desselben ist                          begraben, sobald sie irreparable Defekte aufweist.
während des Spiels am Instrument ununterbrochen                             Nach einer derartigen Zeremonie muss Nandi-
zu hören. Die rituellen Texte für die Weihen sind im                    keshvara rituell von der alten miḻāvu in das neue In-
“Tantrasamucchaya” enthalten (Rajagopalan 1995: ​                       strument transferiert werden (Nambiar 1995: ​104).
119). Sakrale miḻāvus dürfen auch heute noch nur                        Sollte kein neues Instrument dafür vorhanden sein,
von Männern der Nampyār-Kaste gespielt werden                           so wird der Geist (chaintanya) des Nandikeshvara
(Rajagopalan 2005: ​30)! Im Gegensatz zur Bespan-                       nach Reinigungszeremonien aus der alten miḻāvu in
nungsmethode profaner Instrumente durchläuft die                        einen mit heiligem Wasser gefüllten Topf (kalasa)
sakrale miḻāvu eine Anzahl hinduistischer Rituale,                      transferiert. Dieses Wasser wird dann nach den er-
die vom tanṭri, dem Leiter religiöser Zeremonien,                       forderlichen Gebeten und Opfergaben in das “Sanc-
durchgeführt werden.5                                                   tum Sanctorum” – das innerste Heiligtum des Tem-
    Laut Nambiar wird der neue Korpus einer sakra-                      pels – gegossen, um den chaintanya mit der dem
len miḻāvu auf einen Sitz aus Reis und anderen Kör-                     Tempel vorsitzenden Gottheit symbolisch zu verei-
                                                                        nigen (Rajagopalan 2005: ​31).
 5 Der Ablauf einer solchen Weihe ist ebenfalls auf der DVD
   “Rhapsody of Beats” (2007) zu sehen.

Anthropos  111.2016
                                              https://doi.org/10.5771/0257-9774-2016-2-395
                                       Generiert durch IP '46.4.80.155', am 19.10.2021, 02:52:39.
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