Seite 6-8 Kündigungen machen krank - Mieterverband

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Mieten + Wohnen   Nr. 3, Juni 2021           www.mieterverband.ch

                                      Kündigungen
                                      machen krank
                                      Seite 6–8
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Editorial                                             Inhaltsverzeichnis

Liebe Leser*innen                                     Aktuell Doppelter Angriff auf
                                                       die Rechte der Mietenden                                                       3
                                                      Urteil Schlechte Nachrichten
                                                       vom Bundesgericht                                                              5
                                                      Thema Was Kündigungen
                                                       mit der Gesundheit machen                                                      6
Wie viele solche Geschichten haben wir im M+W
in den letzten Jahren wohl erzählt: Von Men­
                                                      Zürich Auch in Uster wird es
schen, denen die Wohnung gekündigt wird, weil          für Mietende ungemütlich                                                       9
die Eigentümerin – meist eine Bank, eine Pen­
sionskasse oder eine Versicherung – ihr Haus ent­     Sanitärwucher Achtung bei
weder totalsanieren oder abreissen und durch
einen Neubau ersetzen will. In den allerwenigsten
                                                       der Ersatzvornahme                                                         12
Fällen können die Mietenden danach in ihre            Etcetera Arbeitseinsätze
Wohnung zurückkehren. Meist aus dem ein­
fachen Grund, dass sie sich den neuen Mietzins         zu fairen Bedingungen                                                      14
nicht leisten können.
    Für diese Ausgabe hat Isabel Plana eine
                                                      Haushalt Seit März gilt ein
Gruppe von Menschen in Uster besucht, die vor          neues Energielabel                                                         16
kurzem die Kündigung erhalten haben. Die vier
dreistöckigen Wohnblöcke, in denen sie wohnen,        Verlosung Gewinnen Sie das
sollen abgerissen und durch fünf grössere, höhere
ersetzt werden – dabei sind sie noch nicht
                                                       neue Buch von Max Küng                                                     17
einmal vierzig Jahre alt. Die Besitzerin UBS will     Miettipp Todesfall: Was ge-
verdichten und damit ihre Rendite maximieren.
Die Mietenden haben die Kündigungen ange­              schieht mit dem Mietvertrag?                                               18
fochten und das Gespräch mit der Eigentümerin
gesucht. Die weigert sich aber bis jetzt, mit ihnen
                                                      Hotline Fan-Jubel: Muss ich
zu reden.                                              die ganze Miete bezahlen?                                                  21
    Was macht es mit den Menschen, die zum
Teil nach Jahrzehnten ihr Zuhause verlieren?
Esther Banz ist dieser Frage nachgegangen und
hat festgestellt, dass das Thema noch sehr wenig
erforscht ist. Die Fachpersonen, mit denen sie        Herausgeber                                Druck
gesprochen hat, zeigten sich aber alle sehr be­       Mieterinnen- und Mieterverband             Stämpfli AG, Bern
                                                      Deutschschweiz                             Beglaubigte Auflage
sorgt. Der Verlust der Wohnung ist besonders für                                                 126 564 Exemplare
verletzliche Menschen – ältere oder solche mit        Redaktion                                  Erscheinen
                                                      Andrea Bauer                               6-mal pro Jahr
kleinem Einkommen – sehr belastend.                   m+w@mieterverband.ch                       Abonnementspreis
    Mit der Thematik setzt sich auch der Film         www.mietenundwohnen.ch                     Fr. 40.–/Jahr
«Kleine Heimat» von Hans Haldimann aus­               Administration und ­Adressverwaltung       Inserate und Beilagen
                                                      Mieterinnen- und Mieterverband             Katanja Schwander
einander. Haldimann begleitete über mehrere           Deutschschweiz                             katanja.schwander@mieterverband.ch
Jahre zwei über 90-jährige Frauen, die nach           Bäckerstrasse 52, 8004 Zürich              T 043 243 40 40
sechzig Jahren aus ihrer Wohnung in Zürich-           T 043 243 40 40
                                                      info@mieterverband.ch
Leimbach ausziehen müssen, weil die Siedlung          www.mieterverband.ch
abgerissen wird. Der eindrückliche Film läuft         Mitarbeit
aktuell in den Kinos.                                 Walter Angst, Esther Banz, Ernst Feurer,
                                                      Urs Geiser, Fabian Gloor, Laetitia
    Falls Sie noch auf der Suche nach einer Som­      Hardegger, Stefan Hartmann, Natalie
merlektüre sind: Machen Sie bei unserer Ver­          Imboden, Isabel Plana, Patric Sandri,
losung mit und gewinnen Sie eins von drei Exem­       Reto Schlatter, Carlo Sommaruga,
                                                      Florentina Walser
plaren des neuen Buchs «Fremde Freunde» von           Gestaltungskonzept
Max Küng.                                             Hubertus Design GmbH, Zürich               www.facebook.com/Mieterverband
                                                      Layout
                                                      Atelier Bläuer, Joel Kaiser, Bern
   Ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer!            Titelbild
   Andrea Bauer                                       Patric Sandri, Zürich                      Gedruckt in der Schweiz

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Aktuell                             Text von Carlo Sommaruga

                                      Alarmstufe Rot
                           Die Rechte der Mietenden werden zurzeit
                          gleich von zwei Seiten angegriffen. Schlechte
                            Voraussetzungen für den Dialog, den der
                            Bund mit den Sozialpartnern führen will.

Sowohl aus dem Bundeshaus als auch vom Bundesgericht gibt es schlechte Nachrichten für Mietende.

                                                                                                       Foto: M+W

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Es waren einer Bananenrepublik würdige Szenen. Eine Mehr­
heit des Nationalrats hatte soeben mit einer Stimme Unter­
schied eine Motion des Ständerats angenommen, die den
Bundesrat aufforderte, nach Anhörung der Sozialpartner im
Wohnungswesen eine ausgewogene Revision des Mietrechts
auszuarbeiten. Da liess der Präsident dieser Kammer – SVP-
Mitglied wie der Präsident des Hauseigentümerverbands –
die Abstimmung unter dem Vorwand eines inexistenten tech­
nischen Problems wiederholen. Das Ergebnis fiel diesmal
genau umgekehrt aus: Mit einer Mehrheit von einer Stimme
wurde die Motion abgelehnt. Dabei blieb es – es wird keinen
Vorschlag des Bundesrats für eine ausgewogene Revision
des Mietrechts geben. Vielmehr haben sich diejenigen politi­
schen Kräfte durchgesetzt, die mit Vorstössen im Parlament
den Schutz der Mietenden aushöhlen wollen. Diese Vorstösse
werden bald aufs Tapet kommen.

   Angriff von unerwarteter Seite
   Gleichzeitig hat sich unerwartet eine zweite Front eröffnet,
die es auf die Rechte der Mietenden abgesehen hat: durch das
Bundesgericht, in seiner zivilrechtlichen Abteilung von bür­
gerlichen Richter*innen dominiert, die empfänglich sind für
die Ansprüche der Immobilienwirtschaft. Das Gericht revi­
diert zurzeit seine Rechtsprechung und macht systematisch
Errungenschaften rückgängig, die sich zum Teil über Jahr­
zehnte hinweg etabliert haben. Es ermöglicht damit den Ver­
mieter*innen höhere Renditen und erleichtert die Einführung
von Marktmieten (siehe rechte Seite).
   Der vom Bundesamt für Wohnungswesen ins Leben geru­
fene Dialog zwischen den Sozialpartnern im Wohnungswesen
steht daher unter den denkbar schlechtesten politischen und
juristischen Vorzeichen. Für den Mieterinnen- und Mieter­
verband darf sich dieser Dialog nicht auf das endlose Lamento
der Vermieterseite beschränken. Im Mittelpunkt der Diskus­
sionen müssen vielmehr eine effektivere Mietzinskontrolle
und eine faire Abwälzung von Investitionen auf die Mieten
stehen. Andernfalls wird die Übung zu nichts führen.
   Mehr denn je können die Mietenden auf den Mieterinnen-
und Mieterverband zählen. Wir werden die ungerechten Vor­
stösse, die in den nächsten Monaten kommen werden, mit
dem Referendum bekämpfen und uns mehr denn je für eine
echte und effektive Mietzinskontrolle stark machen.
   Wir werden uns gemeinsam zu wehren wissen.

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Aktuell                               Text von Andrea Bauer

                                      Zum zweiten Mal innert kurzer Zeit ändert
                                      das Bundesgericht seine Rechtsprechung zu
                                      Ungunsten der Mietenden.

Bundesgericht weicht
«Samichlaus»-Entscheid auf
Bis vor kurzem galt: Wenn eine Miete bei                 Und die Vermieterschaft kann diesen Ver­        fangsmietzinses wird durch dieses Urteil
einem Wechsel der Mieterschaft gegen­                    dacht bedeutend einfacher entkräften. Sie       deshalb stark erschwert.
über der Vormiete um mehr als 10 Pro­                    muss nicht wie bisher fünf vergleichbare
zent erhöht wird und die Vermieterschaft                 Objekte anführen, um zu belegen, dass              Trotzdem weiter anfechten
mit der Orts- und Quartierüblichkeit                     die Miete orts- und quartierüblich ist. Als         Dies ist innert Kürze bereits der
argumentiert, hat eine Anfechtung gute                   Beleg denkbar sind gemäss Bundesgericht         zweite Entscheid des Bundesgerichts
Erfolgschancen. Die Vermieterschaft                      Indizien wie eine inoffizielle Statistik, ein   zum Nachteil der Mietenden. Bereits
musste in diesem Fall anhand von fünf                    Privatgutachten oder die Tatsache, dass         letzten Herbst hatte es mit einem
vergleichbaren Objekten aus dem Quar­                    die Vormieterschaft länger ohne Mietzins­       Leit­urteil für Aufsehen gesorgt, gemäss
tier belegen, dass der erhöhte Mietzins                  erhöhung in der Wohnung lebte.                  dem künftig eine höhere Nettorendite
tatsächlich dem entsprach, was im Quar­                      Gelingt es der Vermieterschaft so, den      für die Vermietenden zulässig ist. Beide
tier sonst für vergleichbare Wohnungen                   Verdacht gegen sie abzuwenden, fällt die        Entscheide erleichtern es den Eigen­
bezahlt werden muss. Gelang ihr das                      Beweislast zurück an die Mieterschaft,          tümer*innen, die Mietzinse zu erhöhen.
nicht, galt die Vermutung, die Erhöhung                  welche die Miete als zu hoch bean­              Damit gehen sie in die komplett falsche
des Mietzinses sei tatsächlich miss­                     standet. Sie muss dann ihrerseits den Be­       Richtung. Fast zeitgleich mit dem Ent­
bräuchlich. Diese Praxis des Bundesge­                   weis erbringen, dass die Mietzinserhö­          scheid im Juni machte das Bundesamt für
richts, an dem sich auch die anderen                     hung tatsächlich missbräuchlich ist. Im         Statistik den neuen Mietpreisindex pu­
Gerichte orientierten, ging auf den so­­                 Gegensatz zur Vermieterschaft muss die          blik, der zeigt: Die Mieten sind auch im
genannten «Samichlaus»-Entscheid                         Mieterschaft aber den «strikten Beweis»         letzten halben Jahr weiter angestiegen.
vom 6. Dezember 2012 zurück (BGER                        erbringen. Das heisst, sie muss wie früher      Dabei müssten sie angesichts der tiefen
4a_491/2012).                                            die Vermieterschaft anhand von fünf ver­        Zinsen eigentlich sinken.
    Anfang Juni nun kam das Bundes­                      gleichbaren Objekten im Quartier be­                Die neue Praxis des Bundesgerichts
gericht auf diesen Entscheid zurück und                  weisen, dass die Miete zu hoch ist. Dies        sollte allerdings Mietende nicht davon
präzisierte ihn anhand eines konkreten                   ist ein grosser Nachteil für die Mie­           abhalten, eine Anfangsmiete, die gegen­
Falls.                                                   tenden, denn gewöhnlich gilt: Wer die           über derjenigen der Vormietenden stark
                                                         Beweislast hat, hat die Zwei am Rücken.         erhöht wurde, anzufechten. Die Chancen
   Beweislast stärker bei Mietenden                      Die Mietenden haben normalerweise               auf eine Reduktion sind in vielen Fällen
Künftig gilt der Verdacht, dass eine Miete               keinen Zugang zu den Mietpreisen an­            auch weiterhin intakt, und oft kommt es
bei einem Wechsel zu stark erhöht wurde,                 derer Wohnungen in der Nachbarschaft.           gar nicht zum Gerichtstermin, weil
nur noch dann als gegeben, wenn die                      Das macht für sie die Beweisführung             Vermieter*innen bereits vor der Schlich­
Miete gegenüber der Vormiete um deut­                    nahezu unmöglich, dass die Miete miss­          tungsstelle einsehen, dass sie es über­
lich mehr als 10 Prozent erhöht wurde.                   bräuchlich ist. Die Anfechtung des An­          trieben haben.

Mieten + Wohnen                       Nr. 3, Juni 2021                                                                                              5
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Thema                                 Text von Esther Banz

                                                                                                                                                  Foto: Filmstill aus «Kleine Heimat», Prosa Film
Am Tag von Hanni Islers Beisetzung fahren vor dem Haus, in dem sie sechzig Jahre gelebt hat, die Bagger auf.

«Ihre Lebens­
                                                                                                      Es passierte in der Nacht. Eine Nachbarin
                                                                                                      hörte etwas. Vielleicht ein Holzstuhl,
                                                                                                      der mit Kraft umplatziert wurde. Die Ge­­

freude war weg»
                                                                                                      räusche kamen aus dem 9. Stockwerk.
                                                                                                      Die Nachbarin schlief wieder ein. Am
                                                                                                      nächsten Morgen lag Gertrud Kreis* tot
                                                                                                      vor dem Haus. Sibylle Morgan*, in einem
                                                                                                      der unteren Stockwerke des Schoren-
                                                                                                      wegs 20 in Basel wohnhaft – ein Hoch­
In aller Selbstverständlichkeit werden                                                                haus, das der Pensionskasse der Credit
Menschen aus ihren Wohnungen ver­                                                                     Suisse gehört –, sah die Leiche.
                                                                                                          Es ist anzunehmen, dass Gertrud Kreis
trieben. Dazu, was das für ihre Gesund­                                                               in jener Nacht des 2. Dezember 2019
                                                                                                      in den Tod sprang. Die Basler Staatsan­
heit bedeutet, gibt es wenig Forschung.                                                               waltschaft, die den Fall untersucht hat,
Aber Fachleute machen sich Sorgen.                                                                    gibt keine Auskunft. Für die Menschen im
                                                                                                      Haus, mit denen sich Gertrud Kreis aus­
                                                                                                      tauschte, gibt es keine Zweifel. Sibylle
                                                                                                      Morgan: «Ihre Wohnung zu verlieren, war
                                                                                                      für sie unvorstellbar.» Beat Leuthardt vom
                                                                                                      Mieterverband Basel sieht einen mög­
                                                                                                      lichen Zusammenhang mit einem Brief,
                                                                                                      den die Verwaltung Wincasa den Mie­
                                                                                                      ter*innen nur wenige Tage davor geschickt
                                                                                                      *Name geändert

Mieten + Wohnen                       Nr. 3, Juni 2021                                                                                        6
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hatte: «Darin stand, die Baueinsprachen                vertrieben werden, damit man durch             – Doris Isler: «Niemand fragte meine
seien vollumfänglich abgewiesen worden                 Neuvermietung viel höhere Mieten gene­         Mutter je, was der erzwungene Auszug für
– das suggerierte, alles sei nun ent­                  rieren kann, wie es die UBS vorrechnet.        sie bedeutet. Dabei wurde sie wirklich
schieden. Tatsächlich ist das Bauver­                  «Die bisherigen Mieter*innen werden als        entwurzelt.» Ein Gewaltakt, den die gut
fahren auch heute noch, nach eineinhalb                Hindernis betrachtet. Sie stehen im Weg,       bezahlten Manager diskret nach unten
Jahren, weiterhin hängig. Dieser freche                wenn in der Marktlogik an Ort und Stelle       delegieren können, an ihre Angestellten
Brief sollte den Bewohnern wohl                        ein Mehrfaches abgeschöpft werden              und an die Verwaltungsfirma, die für sie
jede Hoffnung nehmen, doch bleiben                     kann», sagt Luisa Gehriger. Durch Ver­         das Wegschaffen der Mieter*innen erle­
zu können.»                                            drängung werde Kapital vermehrt. Dazu,         digt. Und nicht einmal für die Folgen der
    Gertrud Kreis war 75 Jahre alt, als sie            was das für die Betroffenen bedeutet,          Vertreibung muss die Versicherung Ver­
ging – Wally Kohn auf den Tag genau ein                werde international zwar rege geforscht,       antwortung tragen: Diese Kosten – für
Jahrhundert alt. Am 27. August 2020, dem               in der Schweiz stehe man aber erst am An­      das soziale und gesundheitliche Auf­
Tag ihres 100. Geburtstages, nahm sich                 fang, weiss die Doktorandin der Sozial-        fangen oder je nach Einkommen und Ver­
Kohn mithilfe eines Sterbedienstes das                 und Kulturgeografie an der Universität         mögen der Betroffenen auch bei einem
Leben. Gesundheitlich war sie in für ihr               Zürich.                                        vorzeitigen Eintritt ins Altersheim –
Alter guter Verfassung. Sie kündigte ihren                                                            tragen die Steuerzahlenden. Wie stark
Suizid zwei Tage davor in der Basler Zei­                 Kündigung nach 60 Jahren                    diese Kosten die öffentliche Hand be­
tung «BZ» an: «Wenn ich hier raus muss,                    Basel und Zürich sind Hotspots der         lasten und voraussichtlich noch belasten
dann gehe ich. Keine 100 Pferde bringen                Verdrängung in der Deutschschweiz,             werden, wenn die Verdrängung weiter
mich ins Heim.» Und so tat sie es.                     «Mieten und Wohnen» schreibt Ausgabe           an Dynamik zunimmt, dazu scheint es
    Zwei weitere Bewohner, beides                      für Ausgabe über neue Fälle. Auch den          keine Berechnungen zu geben. Klar ist:
Männer, starben sehr bald und über­                    Filmemacher Hans Haldimann treibt die          Entmietungs- und Vertreibungsprozesse
raschend, nachdem die CS-Pensionskasse                 Entwicklung um. Aktuell läuft sein Doku­       sind ein neues Paradebeispiel für die
allen im Haus gekündigt hatte. Eine                    mentarfilm «Kleine Heimat» in den              Privatisierung von Gewinn und die De­
der Witwen sagte gegenüber der «BZ»:                   Kinos: Er begleitet Hanni Isler (geboren       mokratisierung von Kosten – und es
«Nachdem wir die Kündigung erhalten                    1925) und Rosa Zehnder (geboren 1928).         geschieht beim Wohnen, diesem existen­
hatten, hat sich sein Zustand verschlech­              Die beiden leben seit Beginn in einer 1957     ziellen Bedürfnis. Noch schlimmer:
tert. Den Stress hat er nicht überlebt.»               erstellten Mehrfamilienhaussiedlung in         Betroffen sind vor allem Menschen, die
                                                       Zürich-Leimbach. Auf Ende März 2017            ohnehin schon verletzlich sind, alte
   Möglichst viel Rendite erwirtschaften               wurde ihnen wie allen andern gekündigt,        Menschen etwa. Von den über 65-Jäh­
    Immer öfter werden in urbanen Zen­                 zuvor wechselten die Häuser ihre Besit­        rigen war 2019 jede sechste Person arm,
tren ganze Häuser oder sogar Siedlungen                zerin: Die Zürich Versicherung kaufte die      verfügte also nicht über die finanziellen
abgerissen oder totalsaniert, nur in we­               Siedlung der Swiss Re ab. Isler ist 91 Jahre   Mittel, um am gesellschaftlichen Leben
nigen Fällen können die Menschen, die                  alt, als Haldimann sie erstmals mit der        teilzunehmen.
oft schon Jahrzehnte dort leben und am                 Kamera besucht. Zackig geht sie den Weg
Ort verwurzelt sind, bleiben. Wohnbau­                 zum Lebensmittelgeschäft hinunter,                Hohe politische Relevanz
genossenschaften beweisen zwar, dass                   etwas langsamer nach dem Einkauf den               Die bisher wichtigste Schweizer
Kündigung und Vertreibung vermieden                    Berg wieder hoch – in beiden Händen            Studie zur Frage, wie Wohnungskündi­
werden können, etwa durch etappiertes                  trägt sie eine volle Tasche. Hilfe braucht     gungen im Kontext von Verdrängungs­
Sanieren. Aber profitorientierte Immobi­               sie dabei keine. Auch im Kopf ist die          prozessen vonstatten gehen und was sie
lienbesitzer wollen gar nicht, dass die be­            Rentnerin agil. Ihre Sorge über den be­        für die Menschen bedeuten, erscheint
stehende Mieterschaft bleibt. Pensions­                vorstehenden Verlust der Heimat ist            diesen Herbst in Buchform: «Entmietet
kassen, Banken, Versicherungen sollen                  spürbar, aber sie verbietet es sich zu         und verdrängt werden». Verantwortlich
heute über Wohnungsmieten möglichst                    klagen. Der einzige Satz, der im Film ihre     für die mehrjährige Forschungsarbeit
viel Rendite erwirtschaften.                           Angst zum Ausdruck bringt, ist: «Man           sind die Post-Doktorandin Miriam
    Die UBS schreibt in einer aktuellen                kann heute sowas ja gar nicht mehr             Meuth von der Universität Zürich und
Studie, beim Sanieren von Mehrfamilien­                finden.» Damit meint sie eine für sie als      Christian Reutlinger, Professor für Sozial­
häusern böten sich jetzt «dank Steuer­                 Rentnerin bezahlbare Wohnung.                  raumforschung und Sozialraumarbeit an
abzügen, Subventionen und einherge­                        Doris Isler stand ihrer Mutter in der      der Ostschweizer Fachhochschule. Beide
henden Mietzinserhöhungen in vielen                    unsicheren Zeit zur Seite. Sie erlebte, wie    sehen in der Verdrängung eine komplexe
Fällen attraktive Renditen.» Bestandes­                sie sich nach der Kündigung veränderte:        Entwicklung von hoher politischer Rele­
mieten sind in der Schweiz durch das                   «Nachdem definitiv war, dass sie nicht         vanz. Christian Reutlinger: «Es geht bei
Mietrecht geschützt. In einst für Familien             bleiben kann, dass es keine Hoffnung           der Verdrängung um grosse strukturelle
erstellten Siedlungen aus den 50er-, 60er-,            gibt, war ihre Lebensfreude weg. Ich sah       Aspekte, unsere Altersversorgung ist einer
70er-Jahren sind die Mieten oft bezahlbar              ihr an, wie sie sich Mühe gab, nach aussen     davon. Und gleichzeitig ist eine Kündi­
– und noch weniger hoch sind sie, wo                   weiter positiv zu sein – aber innerlich        gung so etwas Individuelles. Und die be­
Mieter*innen schon seit Jahrzehnten in                 zerfrass es sie.» Der Zürich Versicherung      troffenen Menschen sind oft so alleine
ihrer Wohnung leben. Sie müssen quasi                  war egal, was mit ihrer Mieterin passiert      damit.»

Mieten + Wohnen                     Nr. 3, Juni 2021                                                                                            7
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Menschen, denen gekündigt wird,                      Gehriger, die die internationale For­    schaftliche Erkenntnisse zeigten, dass
oder andere, die von (Leer-)Kündigungen              schung und Literatur zu aktuellen Ver­       die soziale Integration und nahe Bezie­
erzählen, erfahren oft wenig Empathie.               drängungsformen kennt, sagt: «Der Zu­        hungen die beiden wichtigsten Kriterien
Weit verbreitet ist die Haltung: «Es gibt            sammenhang von Verdrängung und               für ein langes Leben seien, vor allen
kein Recht, in einer Stadt wie Basel oder            negativen Folgen für die Gesundheit ist      anderen, auch dem Verzicht auf das Rau­
Zürich zentrumsnah zu wohnen.» Oder:                 evident; es gibt viele Folgeerscheinungen,   chen oder sportlicher Betätigung.
«Das Leben bedeutet nun mal stetige Ver­             nicht zuletzt darum, weil von Verdrän­           Hanni Isler zog ins Altersheim. Der
änderung.» Oder: «Man muss eben fle­                 gung Betroffene oft bereits in prekären      Filmemacher Hans Haldimann wollte sie
xibel sein.» Da würden – in einer neolibe­           Lebenssituationen sind.» Gefühle der         nach dem Umzug ein weiteres Mal besu­
ralen Logik – gesellschaftspolitische                Machtlosigkeit und fehlender Anerken­        chen gehen, aber sie schreibt ihm per
Probleme zu einem Problem der Mie­                   nung und auch die Entsolidarisierung         SMS: «Lieber Hans, ich finde es besser,
ter*innen gemacht, sagt Miriam Meuth,                seien wichtige Aspekte: «Oftmals werden      wenn du baden gehst. Die ganze Situa­
«die Betroffenen werden als unflexibel               Bewohner*innen in Verdrängungspro­           tion setzt mir doch zu sehr zu. Ich melde
dargestellt», als ob sie das Problem wären.          zessen als ersetzbar und illegitim darge­    mich wieder. Ganz liebe Grüsse, Hanni.»
Diese sarkastische Haltung verkenne auch             stellt, sie werden desavouiert und stigma­   Sie meldet sich nicht mehr – sie stirbt,
die ungleich verteilten Ressourcen: Für              tisiert.» Vertriebene würden auch zu hohe    drei Tage später. Nur fünf Wochen nach
diejenigen, die es sich leisten können, ist          Mieten in Kauf nehmen, um in ihrem           dem Umzug. Am Tag ihrer Beisetzung
es möglich, eine neue Wohnung zu finden              Quartier, wo sie verwurzelt sind, bleiben    fahren vor dem Haus, in dem sie sechzig
– aber für alle, die wenig Einkommen                 zu können. Folgeeffekte davon: «Ver­         Jahre gelebt hat, die Bagger auf.
haben, ist es in den Ballungsräumen fast             schuldung oder eine Prekarisierung an­           Zum Schluss aber noch eine gute
unmöglich. Womöglich wird ihnen etwas                derer Lebensbereiche.» Sparen beim           Nachricht. In Deutschland gab es diesen
in einer anderen älteren Siedlung ange­              Essen und bei sozialen Kontakten etwa.       Mai ein wegweisendes Urteil: Das Ber­
boten, die aber bereits – ohne dass die                                                           liner Landgericht entschied, dass der er­
Vertriebenen es wissen – ihrerseits dem                 «Widerspricht allem, was wir empfehlen»   zwungene Wohnungsverlust eines älteren
Abriss geweiht ist. So werden sie nach ein,    Eine Brücke von der Wissenschaft zur               Ehepaares, das fast zwanzig Jahre in
zwei, drei Jahren abermals vertrieben.    Beratung und Praxis schlägt die Gesund­                 der gleichen Wohnung gelebt hatte, eine
«Verdichtung betrifft am allermeisten     heitsförderung Schweiz. Obwohl man                      Verletzung der Menschenwürde sei.
genau jene, die nicht so sehr gehört      sich dort noch nicht explizit mit Gesund­               Der Richter argumentierte mit der «tiefen
werden», wissen Meuth und Reutlinger      heitsfolgen von Verdrängung beschäftigt                 Verwurzelung» der Betroffenen.
aus ihrem Forschungsprojekt.              hat, ist für Cornelia Waser klar, dass das
    Die beiden führen das weitgehende     Rausgestossenwerden aus der Wohnung,
Fehlen einer kritischen Reflexion der Ver­die Stabilität, Schutz und Sicherheit be­
drängung auch darauf zurück, dass die     deutet, der Gesundheit schadet. Die Pro­
Perspektive der Verdrängten im wissen­    jektleiterin Psychische Gesundheit der
schaftlichen Diskurs bisher zu wenig im   von den Kantonen und Versicherern ge­
Fokus war. So bestehe die Gefahr der Ver­ tragenen Stiftung sagt: «Mit der Woh­                        «Kleine Heimat»
harmlosung und auch der Romantisie­       nung verliert jemand ja auch ein soziales                    Hanni Isler lebt noch mit 91 Jahren so, wie
rung von «Aufwertungen», etwa wenn        Umfeld. Oft ein tragendes, speziell wenn                  es sich viele ältere Menschen wünschen:
eine soziale Durchmischung versprochen    der Mensch Jahrzehnte am selben Ort ge­                   selbstbestimmt und bei guter Gesundheit in
wird oder es heisst, ärmere Menschen      lebt hat. Und dass hier über die Köpfe der                ihrer eigenen Wohnung. Seit sechzig Jahren
könnten von einer «Aufwertung»            Menschen hinweg entschieden wird, erst                    ist die Mehrfamilienhaus-Siedlung in Zürich-
                                                                                                    Leimbach ihre Heimat, hier zog sie auch ihre
profitieren.                              noch in einem für sie so existenziellen
                                                                                                    Kinder gross. Ebenso Rosa Zehnder. Jetzt
                                          Belang wie dem Wohnen, dem Zuhause:                       wird abgerissen, alle müssen gehen. Der stille,
    Sparen beim Essen und beim Sozialen   Dieses Vorgehen widerspricht ziemlich                     eindrückliche Film begleitet die beiden
    Verdrängungsforscherin Luisa          genau allem, was wir empfehlen.»                          Frauen über mehrere Jahre, bis zum Abriss
Gehriger interessiert sich unter anderem       Menschen brauchen Verortung, auch                    und darüber hinaus. Dokumentarfilmer Hans
dafür, was die Menschen für ein Quartier sozial. Wohnen bedeutet Aufgehoben­                        Haldimann zeigt, was heute so viele und ins­
                                          sein, in engen Beziehungen und auch in                    besondere auch viele ältere Menschen erleben
bedeuten, auch in einem ökonomischen
                                                                                                    müssen: Sie werden rücksichtslos aus ihrer
Sinn. Sie sagt: «Wir alle müssen irgendwo loseren, wie sie in Nachbarschaften gelebt                Welt vertrieben – aus den Räumen, die Teil
leben und wir alle produzieren ein Quar­ werden. Eingebunden sein in einer Nach­                    ihrer Identität sind und ihnen Sicherheit
tier mit. Aber der Mehrwert, der auch     barschaft ermöglicht soziale Teilhabe. Es                 geben, und aus nachbarschaftlichen, sozialen
durch uns und unser tagtägliches Leben    ist im Alter schwieriger, auf Distanz Be­                 Strukturen, die für ihre Gesundheit so wich­
generiert wird, dieser Mehrwert kann      ziehungen zu pflegen, deshalb werden die                  tig sind. (eb)
absorbiert werden von jenen, denen die    Beziehungen im näheren Umfeld wich­
                                                                                                    Der Film läuft in Zürich im Kino Houdini
Liegenschaften gehören, während die       tiger. Mit der Kündigung und dem Raus­                    (Spielzeiten: www.kinohoudini.ch). Spezial­
Quartierbevölkerung aus­getauscht wird.   geworfenwerden wird all das kaputt ge­                    vorstellungen im Beisein des Regisseurs:
Man kann also auch von einer Enteignung macht. «Dümmer kann es eigentlich nicht                     Mo, 28. Juni, 14.30/20.30, Kino Qtopia, Uster
sprechen.»                                laufen», sagt Cornelia Waser. Wissen­                     Do, 1. Juli, 20.15, Kino Cameo, Winterthur

Mieten + Wohnen                   Nr. 3, Juni 2021                                                                                                  8
Seite 6-8 Kündigungen machen krank - Mieterverband
Uster ZH                               Text von Isabel Plana

Mieter*innen der Siedlung an der Zelgstrasse mit Jevaire Sulejmani (2. von links), Nathalie Bissegger
(4. von links), José Franco (3. von links) und Hansjörg Bumbacher (1. von links) von der Kerngruppe.

             «Wir gehen nicht kampflos»
             In Uster wird es für Mietende zusehends ungemütlich.
             Jüngst wurde bekannt, dass die familienfreundliche
             Siedlung an der Zelgstrasse abgerissen und durch fünf
             Mehr­familienhäuser ersetzt werden soll. Die Mieterschaft
                                                                                                            Foto: Reto Schlatter

             erfuhr davon erst wenige Wochen vor der Kündigung.

Mieten + Wohnen                        Nr. 3, Juni 2021                                                 9
Seite 6-8 Kündigungen machen krank - Mieterverband
Was man sich aus der Stadt Zürich schon                trotzdem in diese Maisonette-Wohnung      wie im Begleitschreiben zur Kündigung
länger gewohnt ist, scheint nun auch im                                                          steht. Stattdessen sollen die vier Häuser
                                                       verliebt, vor allem auch, weil die Siedlung
boomenden Uster angekommen zu sein.                    so grün und ruhig ist.»                   abgerissen und durch grossflächigere,
Grossinvestoren planen im Stillen Ersatz­                  Die vier dreistöckigen Mehrfamilien­  höhergeschossige Neubauten ersetzt
neubauten mit möglichst hoher Aus­                     häuser mit Baujahr 1982 sind nur wenige   werden. Der zusätzliche fünfte Wohn­
nutzungsziffer und lassen die Mieter­                  Minuten vom Greifensee entfernt. Die      block dürfte auf der heute unbebauten
schaft bis zum letztmöglichen Zeitpunkt                siebzig Wohnungen sind preiswert, die     Wiese zu stehen kommen – ade, Spiel­
darüber im Dunkeln. Selbst wenn ein­                   Mieterschaft durchmischt, viele Familien, platz und Gemeinschaftsgarten. Aus
zelne Mieter*innen Verdacht schöpfen                   ältere Leute, verschiedene Nationalitäten.70 werden so 164 Wohnungen.
und nachfragen, bekommen sie von der                   Das Herzstück der Siedlung ist eine           Über Preis und Grösse der geplanten
Liegenschaftsverwaltung keine Antwort.                 grosse Wiese mit Kinderspielplatz und     Wohnungen hält sich die Vermieterschaft
    «Ich habe erst durch den Brief des                 Gemeinschaftsgarten. «Unser Zuhause ist   bedeckt. Dass sie teurer werden, ist so gut
Mieterinnen- und Mieterverbands Mitte                  in jeder Hinsicht ein Bijou», beschreibt  wie sicher. «Meiner Nachbarin hat die
März von den möglichen Abriss- und                     es Sulejmani. Die UBS sieht darin wohl    Verwaltung auf Anfrage gesagt, dass die
Neubauplänen erfahren», erzählt Jevaire                eher einen Rohdiamanten.                  neuen 4,5-Zimmer-Wohnungen voraus­
Sulejmani. Die 35-jährige Berufsschulleh­                                                        sichtlich 80 bis 90 Quadratmeter gross
rerin wohnt seit zwölf Jahren mit ihrem                   Aus 70 Wohnungen werden 164            sein und um die 3000 Franken kosten
Partner in der Siedlung Zelgstrasse, die                  Mitte Mai haben die Mieter*innen der würden», erzählt Nathalie Bissegger, die
von der UBS im grössten Immobilien­                    Zelgstrasse die «Kündigung aufgrund Er­ mit ihrem Mann und den zwei jüngsten
fonds der Schweiz (Sima-Fonds) gehalten                satzneubau» erhalten. An einer Sanierung Kindern seit 2016 in der Siedlung wohnt.
wird. «Schon damals bei der Wohnungs­                  der durchaus noch gut erhaltenen Lie­     «Wie soll eine vierköpfige Familie auf so
besichtigung meinte der Vormieter, dass                genschaft war die UBS nicht interessiert. kleiner Fläche zu einem solchen Preis
wahrscheinlich bald mal renoviert                      Weil eine Sanierung «aus ökologischer     wohnen?», fragt sie sich. Zum Vergleich:
würde.» Gemacht wurde bisher nie etwas.                und ökonomischer Betrachtung keinen       Für ihre 135-Quadratmeter-Maisonnette
«Dass Küche und Bad recht alt waren, hat               Sinn ergibt» und die Stadt Uster in       inklusive Garagenparkplatz zahlt Biss­
uns nicht gestört. Wir haben uns                       diesem Gebiet mehr Verdichtung fordere, egger aktuell 2500 Franken pro Monat.

Die UBS will die vier Wohnblöcke abreissen und durch fünf Neubauten ersetzen – aus 70 Wohnungen sollen 164 werden.

                                                                                                                                               Foto: Reto Schlatter

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Die beiden Mitarbeiter der Verwaltung,               fechtung wollen sie sich mehr Zeit
die ihnen die Kündigung persönlich zu­               verschaffen.
hause überreichten, hätten ihnen zwar ein
Vormietrecht in Aussicht gestellt. Aber sie             Familien werden aus Uster verdrängt
hätten keine konkreten Angaben zur zu­         Nach dem ersten Info-Treffen, zu
künftigen Wohnung machen können,           dem der MV die Mieterschaft im März
weder zu Fläche, Zimmerzahl, Raum­         geladen hatte, haben Sulejmani und
aufteilung noch Mietpreis, sagt Bissegger. Bissegger mit sechs weiteren Bewoh­
«Das ist uns viel zu unsicher und keine    ner*innen der Siedlung eine Kerngruppe
echte Option. Da verzichten wir lieber auf gebildet, um gegen die Leerkündigung zu
das Vormietrecht.» Nicht nur das Vor­      mobilisieren. Sie trafen sich mit der
mietrecht kann sich als Mogelpackung       Stadtpräsidentin und dem Bauvorstand
entpuppen, sondern auch die durch          von Uster zu einem Gespräch, um heraus­
die Verwaltung angebotene Unterstüt­       zufinden, ob die Stadt sie in ihrem Kampf
zung bei der Wohnungssuche. Bissegger:     unterstützen könne. Die Frage war
«Die Inserate, die uns die Verwaltung bis­ schnell beantwortet: Der Stadt sind bau­
lang zugeschickt hat, entsprechen nicht    rechtlich die Hände gebunden. Die Stadt­
an­nähernd unseren Kriterien.»             präsidentin wies darauf hin, dass die
                                           Bevölkerung über politische Vorstösse
    Präventive Kündigung als Strategie     und Eingaben bei der neuen Bau- und
    Noch mehr als diese «Mieterspezial­    Zonenordnung selber Einfluss auf
behandlung» irritiert der Umstand, dass    die Entwicklung im Wohnungsmarkt
zum Zeitpunkt der Kündigung für das ge­ nehmen könne.
plante Projekt noch gar kein Baugesuch         «Von der Stadt bin ich ziemlich ent­
vorlag. Ein Baustart im Frühling 2022 ist  täuscht», sagt Nathalie Bissegger. «Uster
also sehr unrealistisch. Trotzdem soll die schreibt sich auf die Fahne, familien­
erste Hälfte der Mieterschaft per Ende     freundlich zu sein und soziale Durchmi­
April nächsten Jahres ausziehen. Diese     schung zu fördern. Solche Neubaupro­
fast schon «präventive» Kündigung habe     jekte bewirken aber genau das Gegenteil:
Strategie, sagt Walter Angst vom Miete­    Es entsteht eine Klassengesellschaft und              UBS: Asset Manager bleibt
rinnen- und Mieterverband Zürich. «Die Familien werden aus Uster verdrängt.»                     in Deckung
Eigentümerin überfällt die meist völlig    Auch dagegen wolle sie mit ihrem Enga­                Offiziell gehören die Häuser an
ahnungslosen Mieter*innen mit dem          gement in der Kerngruppe ein Zeichen               der Zelgstrasse der Turintra AG.
Kündigungsschreiben und hofft, dass        setzen. Ihre Mitstreiterin Jevaire Sulej­          Real ist sie Teil des grossen Immo­
möglichst wenige die Kündigung             mani sagt: «Wir müssen uns wehren und              bilienportfolios der UBS. Die Ent­
                                                                                              scheide trifft Daniel Brüllmann,
anfechten.»                                laut sein, damit es auch die Öffentlichkeit        Chef der UBS Fund Management
    «Der Termin Ende April kommt für       mitbekommt und sich politisch etwas                (Switzerland) AG. Die Mieter*innen
uns zu einem unmöglichen Zeitpunkt –       bewegt.» Damit es anderen in Zukunft               der Zelgstrasse versuchen seit April,
mitten im Schuljahr», sagt Nathalie Biss­ nicht mehr so ergehe wie ihnen. «Wenn               mit dem Entscheidungsträger Kon­
egger, deren zwei jüngste Töchter in den   wir hier rausmüssen, dann nicht kampf­             takt aufzunehmen. Auf Anfrage liess
Kindergarten respektive in die 1. Klasse   ­los», sagt Nathalie Bissegger. «Wir wollen        Brüllmann über die Verwalterin
                                                                                              (Livit) mitteilen, dass die Mieter*in­
gehen. Sie bezweifle, dass ihre Familie im den Zeitpunkt mitbestimmen. Und wir
                                                                                              nen nicht mit der Eigentümerschaft
gleichen Quartier eine passende und         wollen, dass die Eigentümer ihr Gesicht           Kontakt aufnehmen dürften. Daran
zahlbare Wohnung finden wird und die        zeigen und die Bedürfnisse der Mie­               hat auch ein Schreiben der Uster­
Kinder in der gleichen Schule bleiben       ter*innen ernst nehmen.»                          mer Stadtpräsidentin Barbara Thal­
können. «Deswegen haben wir die Kündi­                                                        mann nichts geändert. Nach dem
gung angefochten und eine Mieterstre­                                                         Gespräch mit den Mieter*innen
                                                                                              hat sie Brüllmann am 20. Mai
ckung gefordert, damit wir den Umzug
                                                                                              freundlich gebeten, über den Ent­
auf den Sommer, zwischen die Schul­                                                           scheidfindungsprozess der Eigentü­
jahre, legen können.»                                                                         merschaft zu informieren. Bis Re­
    Auch Jevaire Sulejmani hat die Kündi­                                                     daktionsschluss (14. Juni) hat dieses
gung angefochten. «Wir wollen in Uster,                                                       Schreiben keine Wirkung entfaltet.
am liebsten in Niederuster bleiben und                                                        Brüllmann ist Vorstandsmitglied
sind aktiv am Suchen. Aber es ist echt                                                        des Verbands Immobilien Schweiz
                                                                                              (VSI). Die vom Appenzeller CVP-
schwierig. Unter 3000 Franken haben wir                                                       Ständerat Daniel Fässler präsidierte
in der Nähe kaum eine Wohnung ge­                                                             Lobbyorganisation will den Schutz
sehen, die von der Grösse her mit der                                                         der Mieter*innen vor missbräuch­
unsrigen vergleichbar wäre.» Mit der An­                                                      lichen Mietzinsen demontieren.

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Sanitärwucher                          Text von Andrea Bauer

Das tut weh

Weil der Vermieter den
Abfluss nicht entstopfen
liess, engagierte die Familie
Robertson selber eine
Sanitärfirma. Nicht nur
wurden sie von dieser übel
abgezockt, sie blieben auch
noch auf der Rechnung
sitzen.
2443 Franken für das Entstopfen eines Abflusses sind eindeutig viel zu viel.

                                                                                    Foto: 123RF

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Als an einem Donnerstag Anfang Januar               sehr aufwändig gewesen, so die Begrün­      Suche im Internet genau die Firmen zu­
im Küchentrog das Wasser nicht mehr                 dung für den überrissenen Betrag. Wieder    oberst, die unseriös sind.
abfliesst, ruft Mark Robertson seinen Ver­          ruft Robertson seinen Vermieter an.
mieter an. Der verspricht zwar, etwas zu            Der sagt, er bezahle nichts. «Die beiden       Wie man sich schützt
unternehmen, jedoch geschieht nichts.               Handwerker bestanden auf einer sofor­    Die Robertsons sind leider nicht die
Am Wochenende und in der darauffol­                 tigen Bezahlung und wurden je länger,Einzigen, die auf diese Art abgezockt
gen­den Woche wird die Situation mit                je aggressiver», erinnert sich Robertson.
                                                                                         wurden. Bereits 2018 gab es gemäss
dem Abfluss zunehmend schlimmer –                   Die Situation sei sehr unangenehm ge­Decurtins eine Welle, und seit einigen
vor allem in der Nacht und in den frühen            wesen, weshalb er die Rechnung schliess­
                                                                                         Monaten mehren sich die Fälle wieder –
Morgenstunden. «Aus dem Abfluss trat                lich unterschrieben und bezahlt habe.verschiedentlich berichteten auch die
eine stinkige Brühe und das Gurgeln                                                      Medien darüber. Wie aber kann man sich
raubte uns den Schlaf», erinnert sich            Achtung bei der Ersatzvornahme          schützen? «Am besten, man verlangt von
Robertson. Wieder ruft er den Hausbe­            Robertson fragt seinen Vermieter in     der Verwaltung eine Liste mit Nummern,
sitzer an, doch wieder geschieht nichts.     den kommenden Wochen nochmals, ob           die man in Notfällen jeder Art anrufen
    Das 6-Familien-Haus in Kilchberg,        er die Kosten übernehme, dieser lehnt       kann – ein Schlüsseldienst, eine Sanitär­
in dem die Familie Robertson seit            aber kategorisch ab. Kollegen raten ihm     firma, ein Heizungsdienst und so weiter»,
sieben Jahren wohnt, ist schon etwas         deshalb, sich an den Mieterinnen- und       sagt Decurtins. Falls es keine solche Liste
älter. Früher gehörte es einem alten         Mieterverband zu wenden. Er wird Mit­       gibt, empfiehlt Decurtins, bei einem Not­
Mann, nach dessen Tod ging es in den Be­     glied und erhält einen Beratungstermin      fall unbedingt zuerst die Hauswartung
sitz seiner beiden Kinder über, und heute    beim Rechtsberater Daniel Decurtins.        oder die Vermieterschaft zu kontaktieren,
kümmert sich der Sohn alleine darum.             «Ich musste ihm leider mitteilen, dass wenn irgendwie möglich schriftlich. Falls
Wobei von «kümmern» nicht die Rede           sein Vermieter solch hohe Kosten nicht      die Reparatur nicht warten kann und
sein könne: «Er kassiert einzig die Miete,   übernehmen muss», sagt dieser. Beim Fall man selber eine Firma auswählen muss,
sonst macht er nichts», sagt Robertson.      der Familie Robertson handle es sich um solle man sorgfältig recherchieren, so
Nach einer Woche – die Situation ist für     eine sogenannte Ersatzvornahme. Sie         Decurtins. «Nicht die erstbeste Nummer
alle unerträglich geworden – entscheiden     haben einen Mangel selber beseitigt, ob­ aus dem Internet anrufen und schon gar
seine Frau und er deshalb, selber etwas zu   schon dies eigentlich Sache ihres Vermie­ keine 0800/0900-Nummern. Da oft
unternehmen. «Meine Frau fand via In­        ters gewesen wäre. Grundsätzlich dürfen Wegpauschalen verrechnet werden, lokale
ternet eine Sanitärfirma in der Nähe und     Mietende dies, solange sie sich dabei an    Firmen bevorzugen. Und schliesslich un­
die versprachen, umgehend zwei Hand­         drei Dinge halten:                          bedingt eine Offerte verlangen und darauf
werker vorbeizuschicken.»                        Erstens muss der Vermieterschaft        bestehen, per Rechnung zu bezahlen.»
                                             zuvor schriftlich eine angemessene Frist
    Böse Überraschung                        eingeräumt werden, den Mangel selbst            So viel kostet eine Rohrentstopfung
    Als die Handwerker ankommen, will        zu beheben. Zweitens darf es sich beim          Was die Robertsons angeht, so ist der
Robertson als Erstes von ihnen wissen,       Mangel lediglich um einen «mittleren        Schaden angerichtet. Das Einzige, was sie
wie teuer die Reparatur werden würde.        Mangel» handeln, eine kaputte Wasch­        noch tun können, ist, vor der Schlich­
Die beiden wollen sich nicht festlegen.      maschine etwa oder eine schlecht            tungsbehörde den Teil der Kosten von
Sie müssten erst eine Kamera an einem        funktionierende Heizung. Und drittens       ihrem Vermieter zurückzuverlangen, den
Kabel in das Rohr hinunterlassen, um den muss sich die Reparatur auf das Nötigste dieser normalerweise für eine Rohrent­
Grad der Verschmutzung festzustellen.        beschränken.                                stopfung bezahlt hätte. Gemäss Daniel
Als sie ihn darauf hinweisen, die Arbeit sei     Bei der Ersatzvornahme tragen           Decurtins hätten sie gute Chancen, dass
sofort und bar zu bezahlen, wird Mark        Mietende zudem eine Sorgfaltspflicht.       ihnen dieses Geld zugesprochen würde.
Robertson misstrauisch und ruft seinen       Das bedeutet, sie müssen im Interesse       Gegen die Sanitärfirma vorzugehen,
Vermieter an. Er sei nicht einverstanden, der Vermieterschaft handeln – so, als          lohne sich dagegen kaum.
antwortet dieser, sie sollten die Hand­      müssten sie die Reparatur selber                «Es war ein schockierendes Erlebnis»,
werker wieder wegschicken. «Ich sagte        bezahlen.                                   sagt Mark Robertson rückblickend. Es sei
ihm, dafür sei es jetzt zu spät, sie seien       Hier liegt der springende Punkt,        ihm deshalb auch ein Anliegen, dass an­
bereits mitten an der Arbeit», sagt          warum    der  Vermieter der Robertsons die  dere nicht dasselbe erlebten wie sie. Das
Robertson. Dann muss er sein Kind von        Reparaturkosten nicht übernehmen            Auto der Sanitärfirma sieht er ab und
der Schule abholen. Als er zurückkommt, muss. «Die 2443 Franken sind eindeutig           zu noch in der Nachbarschaft. Er versucht
wird er schon erwartet: Seine Frau ist       viel zu viel für eine Rohrentstopfung»,     dann jeweils, seine Nachbar*innen vor
total aufgebracht. «Die Handwerker           sagt Decurtins, «das kann der Vermieter     der Firma zu warnen.
hatten ihre Arbeit abgeschlossen, sassen     nötigenfalls belegen, indem er eine tiefere     Wie viel eine Rohrentstopfung nor­
nun am Küchentisch und wollten ihr           Offerte einholt.» Zur Sorgfaltspflicht      malerweise kostet, steht übrigens auf
Geld: 2443 Franken, bar auf die Hand –       gehört aber auch, dass man nicht die erst­ der Website einer bekannten Rohrreini­
ich hatte mit maximal 800 Franken ge­        beste, sondern eine seriöse Firma auf­      gungs-Firma: «Eine einfache Abfluss-Ent-
rechnet.» Die Rohre seien in einem äus­      bietet und im Voraus eine Offerte ver­      stopfung kostet um die 300 bis 500 CHF.
serst schlechten Zustand, die Reparatur      langt. Achtung: Oft erscheinen bei der      – Nicht mehrere 1000 Franken!!!»

Mieten + Wohnen                  Nr. 3, Juni 2021                                                                                        13
Etcetera          Text von Laetitia Hardegger und Florentina Walser

                                       Unkomplizierte
                                       Hilfe im Alltag
                                       Die soziale Auftragsvermittlung
                                       Etcetera organisiert bezahlte
                                       Arbeitseinsätze für Personen, die
                                       erwerbslos oder auf Einkom­mens­­
                                       ergänzung angewiesen sind.
                                                                                Foto: SAH

Mieten + Wohnen   Nr. 3, Juni 2021                                         14
Wenn Jacqueline über ihre Arbeit spricht,              auf einen Nebenerwerb angewiesen sind,        geschäfts. Vor allem der Kontakt mit Bau­
ist das Herzblut dafür in ihrer Stimme                 erhalten durch die Arbeitseinsätze von        ingenieur*innen und Architekt*innen –
hörbar: «Ich liebe Menschen», sagt sie                 Etcetera ihre Arbeitsfähigkeit, haben eine    «Leuten, die Esprit hatten» – bereitet
rundheraus. Schon im Kindergarten                      Tagesstruktur und erwirtschaften sich         ihm Freude. Als seine Stelle 2013 aus wirt­
wusste sie, dass sie einmal Kranken­                   selbst ein Einkommen. Für Jacqueline be­      schaftlichen Gründen gestrichen wird,
schwester werden würde. Dank ihrer aus­                sonders wichtig: Über Etcetera kann sie       denkt sich Chris: «Jetzt oder nie», nutzt
sergewöhnlichen Wissbegierde darf sie                  ihre Kinderbetreuungsengagements und          die Zwangsferien für einen Tauchkurs in
schon vor Abschluss ihrer Ausbildung                   Putzaufträge vertraglich absichern und ist    Thailand und wird Dive-Master.
anspruchsvollere Aufgaben übernehmen                   so vor Ausbeutung geschützt. Dank ihrer           Zurück in der Schweiz, findet er keine
und startet so ziemlich steil in eine span­            langjährigen Erfahrung als Kranken­           Stelle mehr. Seine einzigen Optionen sind
nende Karriere im Pflegebereich. Bald                  schwester wird sie oft zu den «schwieri­      Ferienvertretungen, Temporäranstel­
aber bekommt sie Fernweh, sehnt sich                   geren» Fällen geschickt. Ihr Lieblings­       lungen, Kurzeinsätze. Oder um es in
nach der Weite der Wüste. «Mit einem                   kunde, ein Ex-Alkoholiker, nennt              Chris’ Worten zu sagen: «Ich habe die
Land Rover fuhren wir von hier aus los,                Jacqueline freundschaftlich seine «gute       Kohlen aus dem Feuer geholt.» Nach
mit dem Schiff übers Meer und durch ganz               Fee» oder gar «Engel». Sie putzen ge­         einer Weile sieht er keinen anderen
Nordafrika, Mali, Senegal, Gambia.» Nach               meinsam, trinken Kaffee und teilen die        Ausweg mehr als den Gang auf das
einem Jahr Reisen kehrt Jacqueline zurück,             Leidenschaft für den Citroën Deux             Sozial­­amt. Doch um längere Zeit dem
wird Abteilungsleiterin, gibt Weiterbil­               Chevaux. Diesen Kontakt will sie nicht        Staat auf der Tasche zu liegen – dafür ist
dungen und Kurse. Auch als sie Mutter                  mehr missen – obwohl sie auf der Suche        er zu stolz. Er will seinen Lebensunterhalt
wird, arbeitet sie, baut mehrere Vereine               nach einer Festanstellung ist. «Er wird       selber bestreiten. Er, der sich selbst als
auf und betreut neben ihrem eigenen Sohn               einer der wenigen Kunden sein, die ich        «loyalen, treuen Menschen» bezeichnet,
oft auch Pflege- und Tageskinder.                      ganz sicher behalte.» Überhaupt geniesst      ist unkompliziert, was Arbeit angeht.
                                                       sie die persönlichen Kontakte mit ihren       Am liebsten würde er wieder in der
   Plötzlich arbeitsunfähig                            Kund*innen. Dass sie merkt, wie sehr sie      Logistik arbeiten oder gärtnern. Gesund­
    Als ihr älterer Sohn in die Pubertät               geschätzt wird, motiviert Jacqueline.         heitlich ist er topfit: «In Thailand gehen
kommt, erleidet sie unerwartet einen                   «Ich bekomme so viele schöne Sachen           wir morgens immer zuerst rennen, bevor
schweren psychischen Zusammenbruch                     zu hören, die mir einfach guttun.             wir die Bäckerei öffnen – immer dem
und muss ihren Job aufgeben. Sie erhält                Das macht mich glücklich – und ist            Fluss entlang.» Bevor er seinen Lebens­
von da an eine Invalidenrente, die sie                 manchmal so viel mehr wert als ein            traum vom Auswandern verwirklicht, will
mit Gelegenheitsarbeiten aufbessert.                   ganzer Haufen Geld.» Die allergrössten        er nun nochmals ein Jahr arbeiten, sein
Jacqueline gibt aber nicht auf: «Ich                   Highlights in Jacquelines Leben bleiben       Konto auffüllen, um dann mit einem
wusste, ich muss arbeiten, ich will gesund             aber ihre regelmässigen Reisen nach           guten Gefühl in seine Wahlheimat zu
werden.» Der zweite Schicksalsschlag                   Mali: «Mein Herz ist dort zuhause.»           ziehen.
kommt mit einem harmlos scheinenden,
aber hochinfektiösen Katzenkratzer – sie                  Den Lebensunterhalt selber bestreiten
erleidet eine lebensbedrohliche Blutver­                   Auch der Logistikfachmann Chris ar­
giftung. «Die Sterblichkeitsrate beträgt               beitet für Etcetera Thalwil: als Allrounder
70 Prozent. Ich hatte wirklich einfach                 im Garten, bei Umzügen oder Renova­
Glück.» Trotz Medikamenten genest sie                  tionen. Auch ihn zieht es zwischendurch
nicht, wird komplett arbeitsunfähig.                   in die Ferne, nach Südostasien: Er
Irgendwann reicht es Jacqueline. Sie                   schwärmt für das wenig bekannte Nord­
schwört der Schulmedizin ab und sagt                   thailand. Dort, nahe an der Grenze zu
sich: «Jetzt mache ich es so, wie ich es gut           Laos, führt seine Lebensgefährtin eine
finde.» Statt auf Pillen setzt sie auf Selbst­         Bäckerei und ein Gasthaus. Sein grösster
heilung und stellt die Ernährung um –                  Wunsch ist es, nach seiner Pensionierung
mit Erfolg. Als Belohnung nach der                     auszuwandern, sich seiner Partnerin an­
schweren Zeit gönnt sie sich eine Reise                zuschliessen, in der Bäckerei zu helfen             Etcetera ist ein Angebot des Schweizeri­
                                                                                                           schen Arbeiterhilfswerks (SAH) Zürich.
in ihre Traumdestination Mali, wo sie sich             und die thailändische Geselligkeit zu ge­
                                                                                                           Es funktioniert wie ein Personalverleih,
in die Kultur der Tuareg verliebt.                     niessen. Seine Reserven sind aber «fast             wobei nicht Umsatz oder Gewinn,
    Heute hat sie ihre alte Lebensfreude               komplett weggeschmolzen», wie er er­                sondern die Beschäftigung und die be­
und ihre Energie wiedergefunden – nur                  zählt – er hatte bisher wenig Glück in              rufliche Förderung der Arbeitnehmen­
mit der Festanstellung will es noch nicht              seinem Arbeitsleben. Ursprünglich will er           den im Vordergrund stehen. Vermittelt
klappen. Sie betreut Kinder und arbeitet               Industriemaler werden. Die toxischen                werden Arbeitseinsätze zu fairen Be­
regelmässig bei Etcetera Thalwil.                      Chlorkautschukfarben setzen seiner                  dingungen für Haushalt, Reinigung,
                                                                                                           Garten, Räumungen, Wohnungswechsel,
                                                       Gesundheit aber so stark zu, dass er                ein­fache Büroarbeiten, Versand, Lager­
   Vertraglich abgesichert                             die Lehre nach nur zwei Jahren abbrechen            arbeiten und weitere Hilfsarbeiten.
   Personen wie Jacqueline, die vorüber­               muss. Später arbeitet er vierzehn Jahre
gehend oder dauerhaft erwerbslos oder                  lang im Aussendienst eines Kopier­                  www.sah-zh.ch/etcetera

Mieten + Wohnen                     Nr. 3, Juni 2021                                                                                              15
Haushalt          Text von Stefan Hartmann, Topten

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Dank Förderprogramm
tiefere Stromkosten
Seit März 2021 gilt ein neues Energielabel.          Gefördert werden folgende ener­
                                                     gieeffizienten Geräte: Geschirr­
Mit einem Programm will der Bund zum Kauf            spüler der neuen Förderklasse A-B,
                                                     Waschmaschinen unter 8 Kilo
von effizienteren Haushaltsgeräten mit dem           (Klasse A-D), Waschmaschinen mit
                                                     8 oder mehr Kilos (Klasse A-B),
neuen Label motivieren.                              Kühlgeräte (Klasse A-D), Gefrier­
                                                     geräte (Klasse A-D). Waschtrockner
                                                     (kombinierte Waschmaschinen-
                                                     Tumbler) sind nicht förderberech­
                                                     tigt. Die Geräte müssen die seit
                                                     März 21 gültige, neue Energieeti­
                                                     kette aufweisen. Geräte mit der
                                                     alten Energieetikette (Klasse A+++
                                                     etc.) sind nicht förderberechtigt.
                                                     Für Staubsauger oder Klimageräte
                                                     erfolgt die Einführung der neuen
                                                     Etikette frühestens ab 2022.

Mieten + Wohnen   Nr. 3, Juni 2021                                                    16
Mit der neuen Energieetikette verschwinden die bisherigen
Energieklassen A+, A++ und A+++. Sie sorgten für zu grosse Unklar­                          Gewinnen Sie
                                                                                            ein Buch!
heit. An ihrer Stelle wird die ursprüngliche Skala der Buch­
staben A bis G wieder eingeführt. Das heisst, die effizientesten
Geräte am Markt fallen in die Klasse A. Haushaltsgeräte wie
Waschmaschinen, Geschirrspüler oder Kühlgeräte der alten
Klasse A+++ gelten neu nur noch als Geräte der Klasse B oder C.                             In Kooperation mit dem Verlag
                                                                                            Kein & Aber verlosen wir 3 Exemp­
    Anreiz zur Produktion effizienterer Geräte
    Was zunächst wie eine Abwertung aussieht, hat einen ganz                                lare des neu erschienenen Buchs
bestimmten Zweck: Die Messlatte bei der Energieeffizienz wird                               «Fremde Freunde» von Max Küng.
höher gesetzt. Mit der neuen Skala erreichen Geräte, die früher
als A+++ eingestuft waren, derzeit kaum noch die Klasse A. Eric                             Schreiben Sie uns bis zum 12. Juli ein Mail
Bush von Topten* erklärt den Grund so: «Die Hersteller sollen
dazu motiviert werden, noch sparsamere Geräte zu entwi­
                                                                                            mit dem Betreff «Buchverlosung» an:
ckeln.» Die neue Energieetikette (s. Bild) enthält zusätzlich                               verlosung@mieterverband.ch
nützliche Infos, so etwa zum Wasserverbrauch oder zu Ge­
räuschemissionen. In einer Übergangszeit bis Ende 2021 dürfen
Geräte noch mit der alten Etikette verkauft werden.

    Förderprogramm des Bundes
    Mit dem Förderprogramm «Weniger Stromkosten für Mie­
tende» von 2,5 Millionen Franken will der Bund den Kauf von
effizienten Haushaltsgeräten mit dem neuen Label ankurbeln.
Wenn bei den Geräten ein Topten-Signet drauf ist, wird ein
Rabatt von 70 Franken gewährt. Baugenossenschaften und an­
dere Besitzende von Mehrfamilienhäusern können bei der
Anschaffung effizienter Haushaltsgeräte auf www.topten.ch/
immo Gesuche für Förderbeiträge stellen.
    Das Förderprogramm möchte damit einen Beitrag zur Lö­
sung des Eigentümerschaft-Mieterschaft-Dilemmas leisten: Ge­
wöhnlich entstehen der Eigentümerschaft durch den Kauf von                                     Max Küng: Fremde Freunde
teureren, energieeffizienten Geräten Mehrkosten, ohne dass sie                                 Verlag Kein & Aber, Zürich 2021
                                                                                               432 Seiten
gleichzeitig vom Vorteil der Stromkostenersparnis profitieren
                                                                                               ISBN 978-3-0369-5838-5
kann. Davon profitieren normalerweise «nur» die Mietenden.
Das Förderprogramm entschärft nun diesen Interessenkonflikt,
indem alle profitieren, Erstere von den Subventionen, Letztere                              Die Einladung klingt perfekt: Eine Woche Ferien
von tieferen Stromkosten.                                                                   in einem idyllischen Haus in Frankreich. Einfach
                                                                                            mal wieder die Seele baumeln lassen. Süsses
* Die neutrale Internetplattform Topten beurteilt elektrische Geräte                        Dolcefarniente geniessen. Und natürlich: Essen
  nach ihrer Effizienz.
                                                                                            wie Gott in Frankreich! Doch leider kommt
                                                                                            es dann so, wie es oft kommt: ganz, ganz anders.
                                                                                            Eine abgründige und urkomische Geschichte
                                                                                            über die schönste Zeit des Jahres: die Ferien!

                                                                                            Max Küng, geboren 1969 in Maisprach bei Basel,
                                                                                            ist seit 1999 Reporter und Kolumnist beim
                                                                                            Magazin des «Tages-Anzeiger». Er war Easy-
                                                                                            Listening-DJ, Debitorenbuchhalter und Tanz­
                                                                                            theatermusiker. Zuletzt erschienen seine Kolum-
                                                                                            nensammlung «Die Rettung der Dinge» und
                                                                                            sein Roman «Wenn du dein Haus verlässt,
                                                                                            beginnt das Unglück». Max Küng lebt in Zürich.
                                                                               Grafik: EE

Vergleich der alten (links) und der neuen Energieetikette mit aktualisierter
Skala und neuem Design (hier das Beispiel einer Waschmaschine).

Mieten + Wohnen                              Nr. 3, Juni 2021                                                                                  17
Miettipp          Text von Fabian Gloor

                                               Illustration: Patric Sandri

Mieten + Wohnen   Nr. 3, Juni 2021        18
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