RADIKAL(E) ERZÄHLEN WEITERE THEMEN: DIE WELT DER GESCHICHTE // VOM LEKTORAT ZUM BACKTORAT WE ARE WHAT WE WATCH - VEDRA
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
RADIKAL(E) ERZÄHLEN WEITERE THEMEN: Die Welt der Geschichte // Vom Lektorat zum Backtorat We are what we watch Bild: pixfuel.com N°48N°34 | November | Februar2020 2016
E DITORIAL |1 Liebe Leserinnen und Leser, politisch gesehen ist es im Moment dringlich, für die Notleidenden der Krise zu kämpfen. Das ist vor allem die Kinowirtschaft. Das sind Soloselbständige und Produktionsfirmen. Die Stoffentwicklung betrifft der Notstand im Moment nur indirekt, denn auf den ersten Blick geht es auch digital: Dramaturgische Besprechungen finden online statt. Auch Writers’ Rooms und kreatives Schreiben lassen sich mit Jitsi, Zoom und Teams gestalten (vgl. „Creative Writing: Going Digital“, Frank Raki). Doch das bedeutet nicht, dass „Stoffentwicklung online“ genau wie bisher einfach gemütlich weitergehen kann. Zu groß sind die Veränderungen der Digitalisierung, die durch die Coro- na-Pandemie noch radikal beschleunigt und verstärkt werden. Wie sieht die Eva-Maria Fahmüller Branche in einem oder gar in fünf Jahren aus? Vorstandsvorsitzende VeDRA Diskutiert wird zurzeit die Zukunft des Kinos. Genauso geht es um eine Verlagerung des Fernsehens in Mediatheken und VoD. Nicht zuletzt kämp- fen Streamer um das größte Angebot und den besten Content. All das hat massive dramaturgische Auswirkungen – auf Themen, Inhalte und Erzähl- weisen. Um nur ein paar Allgemeinplätze zu nennen: Im besten Fall sind Kino- filme schon aufgrund ihres Stoffs so wirkungsmächtig, dass der Besuch im Filmtheater zu einem außergewöhnlichen Ereignis wird. Angesichts eines überspannten Marktes – man denke an die für Zuschauer und Zuschaue- rinnen nicht mehr zu erfassende Zahl neuer Serien – braucht jedes Projekt mehr denn je einen starken und klaren USP. Es gibt eine große Sehnsucht nach mehr Diversität. Ein Teil der Streaming-Serien lebt vom High-End- Gedanken; das betrifft Budget und Umsetzung, doch bereits die Drehbücher müssen daraufhin entwickelt und geschrieben sein. Die Corona-Krise wird dauern und nachwirken. Einige dadurch forcierte Entwicklungen in der Film- und TV-Branche werden sich kaum mehr revi- dieren lassen. Überleben werden deutsche Player auch und vor allem durch die besten Geschichten. Insofern gilt es, jetzt auf die Stoffentwicklung und die Projekte von morgen zu setzen. Doch was heißt das im Detail bei jedem einzelnen Projekt – von der Grundidee bis in den kleinsten Dialogsatz hinein? „Stoffentwicklung on- line“ bedeutet in den meisten Fällen auch, im einzelnen Stoff das Zukunfts- weisende zu erkennen und zu fördern. Dramaturginnen und Dramaturgen von VeDRA zeigen in diesem WENDEPUNKT ihre Expertise und stellen Ansätze für eine adäquate Stoff- entwicklung vor. Jörg Michael Semsch berichtet aus dem VeDRA-Seminar über ein dramaturgisches Modell zur Diversität („Das Begehren der Ande- ren“). Christine Pepersack befasst sich mit der emotionalen Nachwirkung von komplex erzählten Serien auf das Publikum („We are what we watch“). Kollege Arno Stallmann schreibt über radikales Erzählen. Und Roman Klink bereichert den Stoffentwicklungsprozess rückwirkend in meinen Augen ganz wesentlich (!) mit der Idee eines Backtorats. Ich wünsche uns allen Gesundheit. Aber auch, dass unsere Freude und Fantasie, dass unsere visionäre Kraft und unser Gemeinschaftsgefühl in all den digitalen Besprechungen erhalten bleibt.
Wendepunkt N°48 | November 2020 Inhalt 3 Point o f View Radikal(e) erzählen Aspekte dramatischen Erzählens Arno Stallmann 5 D ramat u rg isches Le xi ko n World-Driven! Die Welt der Geschichte in die Stoffentwicklung miteinbeziehen – Dr. Eva-Maria Fahmüller 8 E i nwu rf Vom Lektorat zum Backtorat Kommerzielle und kreative Nach- haltigkeit – ein Vorschlag von Roman Klink 10 SE RI E NT Ä T E R We are what we watch Serienrezeption und Selbstreflektion Christine Pepersack 12 Kreativ Schrei b e n Creative Writing: Going Digital Stoffentwicklung online - ein Erfahrungsbericht von Frank Raki 14 SEMI N A R- ChecK V erei ns h eim Diverses Erzählen 20 Wer macht was? Seminar zum Thema gesellschaftliche Vielfalt und Antidiskriminierung 21 Termine Jörg Michael Semsch 22 Impressum 15 Nachru f Erika Richter 17 Profil Gisela Wehrl Bilder: Marija Zaric, unsplash.com; free-photos, pixabay.com; Marques Kaspbrak, unsplash.com; Chris Montgomery, unsplash.com
POINT OF VIE W |3 Radikal(e) erzählen | Arno Stallmann (VeDRA) Ein Mädchen folgt dem Ruf eines Fabelwesens. Ein Lehrer ermutigt seine Schüler zu eigener Kreativität. Eine Deutschtürkin führt eine Scheinehe. Ein Anwalt verrät seinen Bruder an die Justiz. Eine junge Frau versteckt in ihrer Wohnung einen Wolf. Ein Chemielehrer kocht Crystal Meth. Ein Sheriff tritt ganz allein gegen vier Verbrecher an. Ein Bruder will seine Schwester verführen, um nicht morden zu müssen. Ein Pfarrer zieht sich eine Sprengstoffweste über. Eine Witwe sprengt sich und die Mörder ihrer Familie mit einer Nagelbombe in die Luft. Ein Taxifahrer ballert ein Bordell zusammen. Ein hässlicher Verlierer zerhackt Frauen. ie Entscheidungen, die die Protagonis- und ihren Bezugspersonen („Ich erkenne dich nicht D tinnen und Protagonisten unserer Er- zählungen treffen, sind oft radikal – ihr wieder!“), beeinflusst allerdings von dort aus den inneren Konflikt durch Scham- und Schuldgefühle Weg, der bei diesen Entscheidungen be- („Gehe ich zu weit?“) und den äußeren Konflikt mit ginnt (im ersten Wendepunkt) oder sie zu ihnen führt den (ebenfalls und oft abschließend radikalisierten) (im zweiten Wendepunkt der Dreiaktstruktur), ist ein Antagonistinnen und Antagonisten („Wir sind gar Prozess der Radikalisierung. Ist ein Prozess, in dem nicht so verschieden, wie du denkst“). Die Radikali- ein Zweck immer drastischere Mittel heiligt, in dem sierung, die nötig ist oder nötig scheint, um das dra- die persönlichen Opfer, aber auch die gesellschaft- matische Ziel zu erreichen, belastet das Verhältnis zu lichen, die die Handelnden bereit sind zu bringen, den tatsächlichen oder metaphorischen Familien, der immer größer werden. Ist ein Prozess, in dem sie ihr emotionalen und sozialen Heimat der Protagonis- Fühlen, Denken und Handeln immer ängstlicher und tinnen oder Protagonisten, dem was beispielsweise wütender vor ihrem emotionalen Netzwerk verber- Roland Zag die Zugehörigkeiten der Figuren nennt. gen, und in dem oft das ursprüngliche Ziel der Hand- Was von ihnen und ihrem emotionalen Netzwerk lung in seiner Bedeutung hinter die Handlung selbst als Radikalisierung verstanden wird und was nicht, zurücktritt. entscheiden erst diese Zugehörigkeiten. Für die eine Eine Radikalisierung ist, so begann ich 2016 mei- Gemeinschaft mag eine Drohung eine Grenzüber- ne Mitarbeit im Wendepunkt (s. WP Nr. 34, 02/16), schreitung sein, für die andere ist Mord alltäglich. in unserem dramatischen Erzählen schon angelegt. Gleich welche ausgesprochenen oder unausgespro- Das dramatische Ziel muss beinahe unerreichbar chenen Regeln gelten, sie sind den Protagonistinnen sein, das gegebene Problem fast unüberwindbar, der und Protagonisten bewusst, und sie tun es bewusst, erregte Konflikt nahezu unlösbar. Die Handlung der wenn sie diese Regeln dehnen oder brechen. Das Erzählung, die Handlungen der Figuren zum Errei- muss nicht falsch sein: Regeln, ob gerechtfertigt oder chen des Ziels, zum Überwinden des Problems, zum nicht, sind immer repressiv. In der Heldenreise wer- Lösen des Konflikts, sollen abgelehnte Vorschläge den Personen, die Regeln durchsetzen, als Schwel- sein im ersten Akt, größte Anstrengungen im zwei- lenhüter verstanden. Dass Sibels Familie in GEGEN ten, und zuvor völlig Undenkbares im dritten. Pro- DIE WAND ihr ihr Bedürfnis nach Promiskuität ver- tagonistinnen werden zu Heldinnen, Protagonisten bietet, verstehen wir als Unterdrückung ihrer freien werden zu Helden durch das persönliche Opfer, das Entfaltung, dass in DER GOLDENE HANDSCHUH die sie bringen, doch die Grenzen, an der das persönliche Polizei Fritz Honka wegen Mordverdachts verhaftet, Opfer endet und eine Nötigung der eigenen Gemein- als notwendigen Schutz der Gemeinschaft. schaft und Gesellschaft beginnt, sind schwammig. Die Hauptfiguren reagieren, indem sie ihre Regel- Entsprechend argumentieren etwa die Dorfbewohner verletzungen vor ihrem emotionalen Netzwerk ängst- in ZWÖLF UHR MITTAGS, Sheriff Kane möge das lich verbergen. Sie sind schuldig, vielleicht fühlen sie Dorf doch bitte einfach verlassen, statt die Ausein- sich schuldig, und vielleicht fühlen sie Scham dafür, andersetzung mit den Verbrechern zu suchen. nicht den an sie gestellten Erwartungen zu entspre- Die Auseinandersetzung über den Zweck, viel öf- chen. Statt den Konflikt zwischen ihren Absichten ter aber über die Mittel, die er heiligt, bestimmt den und den geltenden Regeln in die Öffentlichkeit der emotionalen Konflikt zwischen den Hauptfiguren Gemeinschaft zu tragen, um ihn dort zu verhandeln, N°48 | November 2020
POINT OF VIE W |4 Bild: Marija Zaric, unsplash.com scheuen die Figuren diese Anstrengung und ent- Jimmy trotz aller Zurückweisungen mit ihm zu ei- scheiden sich stattdessen für Verrat. Das muss nicht ner brüderlichen Beziehung zu finden. Katjas Anwalt falsch sein: Das Mädchen Ofelia in PANS LABY- verspricht ihr eine Revision des Verfahrens, das die RINTH kann nicht auf Augenhöhe mit Hauptmann Terroristen, die ihre Familie ermordet haben, freige- Vidal verhandeln, ihr bleibt nur die Heimlichtuerei. sprochen hatte, bevor sie sich in AUS DEM NICHTS Reverend Toller in FIRST REFORMED hingegen fühlt in die Luft sprengt. Hier kann sich entscheiden, ob sich vermutlich machtloser gegen Unternehmer Balq es den radikalisierten Figuren überhaupt noch um als er tatsächlich ist, wenn er zum Sprengstoffgürtel das Erreichen ihres Zieles geht oder um die radikale greift. Machtlosigkeit ist in beiden Fällen die Recht- Handlung selbst. In TAXI DRIVER will Travis vor- fertigung für den Regelbruch. Wie plausibel diese geblich die minderjährige Prostituierte Iris retten, Machtlosigkeit tatsächlich ist, kann eine Frage der doch ihren Vorschlag, gemeinsam in eine Kommune Erzählung sein, wie in BREAKING BAD. Dem Ver- zu ziehen, lehnt er ab; besser gefallen ihm Mord und rat an den Regeln der Gemeinschaft wohnt großes versuchte Selbsttötung. dramatisches Potenzial inne – und komisches, das Radikal sein heißt, das Übel an der Wurzel zu kennen wir etwa aus Cross-Dressing-Komödien. packen. Diese Vorstellung ist reizvoll und verführt Das Verbergen der Regelverletzungen, der ei- Figuren. Radikal sein heißt aber auch, sich über das genen Radikalität und damit der eigenen Identität, eigene emotionale Netzwerk zu erheben, das dieses kann weiter radikalisieren. Die tatsächliche, emp- Übel anders versteht oder billigt oder die Belastungen fundene oder vorgeschützte Not zur Heimlichtuerei scheut, die die Beseitigung des Übels für es bedeuten. macht Protagonistinnen oder Protagonisten wütend: Radikal zu sein, macht unsere Protagonistinnen oder vielleicht erst auf sich selbst, dann aber auf die Ge- Protagonisten schuldig und lässt sie sich schämen, meinschaft, die Regeln macht, die Zwang erzeugt. es macht sie wütend und hasserfüllt, manchmal so Richteten sie ihre Vorwürfe erst gegen sich selbst, sehr, dass sie nicht mehr in ihr emotionales Netzwerk richten sie sie nun an die Gesellschaft. An Stelle von zurückfinden. Für das emotionale Netzwerk sind die Schuld oder Scham tritt Hass. Ania in WILD zieht Radikalisierten eine Gefahr, aber auch die Chance, sich vor ihrer Schwester und den Kollegen zurück sich als Netzwerk zu öffnen: inklusiver, pluraler und in ihre Perversion, und geht dann zum Angriff über dadurch widerstandsfähiger gegen innere Spannun- gegen ihren tyrannischen Chef. Niemand wähnt sich gen zu werden. Man hätte das der High Society in gerne radikal; wir fürchten „kaum etwas mehr als DER CLUB DER TOTEN DICHTER gewünscht. soziale Isolation“, schreibt Zag über Zugehörigkeiten (Dimensionen filmischen Erzählens). Radikale Haupt- figuren fühlen sich nicht radikal geworden, sondern radikal gemacht. In Paul Schraders KATZENMEN- SCHEN fühlt sich Irenas Bruder seinem mordenden Schicksal hilflos ausgeliefert. Arno Stallmann entwickelt und Im Tiefpunkt dann, wenn der radikale Weg nicht berät Filmstoffe – gerne zu politi- zum Ziel geführt hat, öffnet sich ein Fenster zur In- schen und sozialen Themen – und tegration zurück in die Gemeinschaft. Noch kurz vor schreibt darüber u.a. auf www. Chucks Selbstmord in BETTER CALL SAUL versucht filmschreiben.de N°48 | November 2020
DRAMAT U RG ISCHES LE XIKON |5 World-Driven! | Dr. Eva-Maria Fahmüller (VeDRA) Neben Plot und Figuren sind viele zeitgemäße Serien maßgeblich durch die Welt ihrer Geschichte geprägt. Um eine interessante Welt zu entwickeln, gibt es allerdings kaum dramaturgische Tools. Die Welt der Geschichte ist bedeutsam In der praktischen Seriendramaturgie ist der Er- geworden zählraum allerdings schon längst zu einem Einheit stiftenden Element geworden. Das zeigen die unter- gal ob in 25, 120, 440 oder noch viel schiedlichsten Projekte wie DER TATORTREINIGER E mehr Minuten – woran erkennt die Zu- schauerin, dass ihr dabei jeweils eine (D 2011–2018), STRANGER THINGS (USA seit 2016), 13 REASONS WHY (USA 2017–2020), aber auch Geschichte erzählt wird und sie sich in BABYLON BERLIN (D seit 2017), ganz besonders einem kohärenten Zusammenhang bewegt? Und wie CHERNOBYL (GB 2019), UNORTHODOX (D 2020) schaffen es Filmemacher, einzelne Elemente einer und OKTOBERFEST 1900 (D 2020). Sie alle schöp- und mehrerer Geschichten zu einem wiedererkenn- fen ihren Inhalt ganz wesentlich aus den Welten, in baren Format zusammenzubringen? denen sie spielen. In unserer Vorstellung wird dafür zumeist der Ab- Starke Erzählräume finden sich jedoch nicht nur lauf in der Zeit bemüht. Handlungen werden gefasst bei Serien, sondern auch in Games und transmedi- durch ihren Anfang über die Mitte zum Ende. Es gibt alen Projekten. Ausgangspunkt ist jeweils ein Uni- Spannungsbögen, Entwicklungsbögen, Staffelbögen, versum, eine Welt, in der sich der Rezipient in einem Vertikales und Horizontales. Eine Figur kämpft für selbstbestimmten und ggf. gebrochenen Zeitfenster etwas; Hindernisse stei- aktiv zurechtfinden muss. Warum es wichtig ge gern sich. Die Figur macht So ändern sich die Sehgewohnheiten und die Er- eine Heldenreise. Alle Ele- wartungen vieler Zuschauerinnen – nicht nur an die worden ist, die Welt mente münden in die Auf- o.a. Formate, sondern ein Stück weit an Geschich- der Geschichte bei lösung, vielleicht in eine ten insgesamt. Mit den theoretischen Hintergründen Enthüllung und manch- hierzu habe ich mich 2017 in „Neue Dramaturgien“ der Stoffentwicklung mal auch in eine plötzliche beschäftigt. Eine Folge: Bei der Stoffentwicklung einzubeziehen und ei Wendung entgegen jeder lässt sich längst nicht mehr nur character- und/ nige Aspekte, die dazu Erwartung. Die Elemen- oder plot-driven denken. Ich nenne es world-driven, te einer Geschichte sind wenn der Erzählraum zum Ausgangspunkt und/oder gehören. damit sortiert in der er- dominierenden Element eines Projektes wird. zählten Zeit. Dabei ist ent- weder die Handlung richtungsweisend (plot-driven) Elemente einer Welt der Geschichte oder der besondere Charakter (character-driven) oder beides geht Hand in Hand. Dem Zuschauer erschließt Mit welchen Inhalten kann der Erzählraum gefüllt sich am Ende ein Sinn oder gerade die Sinnlosigkeit werden, um eine Welt zu definieren? Im Folgenden von allem. reiße ich einige maßgebliche Elemente lediglich an, Dabei hat sich das Erzählen in den letzten 15 ohne auf Wirkung und Zusammenspiel einzugehen. Jahren verändert. Die längere und freiere Erzählzeit Vollständig ist diese Aufzählung nicht. von Serien mit horizontalen Strängen erfordert ein epischeres Herangehen. In Serien gibt es oftmals vie- 1. Setting le Nebenfiguren und -handlungen, die die Welt der Grundlegend ist das Setting, also der Ort, an dem Geschichte von verschiedenen Seiten möglichst breit eine Geschichte spielt. Vielleicht handelt es sich beleuchten. Der lange fast vergessene Erzählraum um eine Autobahnraststätte, ein Ufo oder eine wird dadurch auch theoretisch interessant. Psychiatrie. Vielleicht spielt sie im ewigen Eis N°48 | November 2020
DRAMAT U RG ISCHES LE XIKON |6 Bild: free-photos, pixabay.com oder beim Karneval in Venedig. Nach Eschke/ 1962). Was passt zur Hauptfigur und zum The- Bohne (2018) lassen sich Welten grundsätzlich ma? Ist es sinnvoller, dass sich eine Protagonistin zwischen zwei Polen ansiedeln: Manche sind dem in einer kleinen Welt zurechtfinden muss? Soll Zuschauer vertraut. Er kennt sie zumeist aus sei- sie sich in einer größeren Welt bestens auskennen nem eigenen Umfeld, aus den Bereichen Familie – oder im Gegenteil: verloren sein? und Freunde; es sind Schulen, Arztpraxen, Kran- kenhäuser und Arbeitsplätze. Oder sie sind in Ist die Welt in Teilräume unterteilt? Viele Ge- einer bestimmten Ausprägung fester Bestandteil schichten spielen mit dem Gegensatz aus einer gängiger Narrationen wie Polizeireviere, Gerich- gewohnten Welt und einer neuen Welt. Doch te und (wiederum) Krankenhäuser. Diese Welten es kann weitere Teilwelten oder Unterteilungen zielen vorrangig auf die leichte Wiedererkenn- und dort platzierte Figuren geben. Sie können barkeit durch das Publikum. Demgegenüber gibt jeweils unterschiedliche Facetten der Welt mul- es Welten, die der Zuschauerin nur vage bekannt tiperspektivisch beleuchten. Teilwelten können sind oder einen eingeschränkten Zugang haben. nebeneinander oder nacheinander wie Ebenen in Das könnten sein: Tschernobyl nach dem Reak- Games angeordnet sein. Vielleicht sind manche torunfall 1986, eine Gummibärchenfabrik, das versteckt, geheim oder verboten. Leben der Wikinger oder eine neuartige Vorstel- Nach welchem Grundgesetz funktioniert eine lung der Zukunft. Diese besonderen Welten zielen Erzählwelt? Eine Geschichte geht vom Ideal der vorrangig auf das Interesse am Neuen. großen Liebe aus. In einer anderen gilt ein Ma- fia-Kodex. Vielleicht schwört ein Kreis von Ju- 2. Aufbau gendlichen, immer füreinander einzustehen; eine Aus dem Setting ergibt sich vieles weitere. Oft Regierung fordert Linientreue. Welche grundle- erlebe ich es als hilfreich, zunächst dazu passen- genden Werte werden dadurch berührt, welcher de Figuren, Beziehungen, Haltungen, Werte und kann herausgehoben werden (Freiheit, Loyalität, Rituale, Räume, Wege und Objekte (aus Natur, Freundschaft, Tradition oder ...)? Und vor allem: Kultur und Technik) zu sammeln und erst nach Welcher Gegenentwurf ist denkbar? So kommt es und nach zu entscheiden, was sich davon wirk- zu Wertekonflikten wie sie Roland Zag in „Di- lich in die Welt der Geschichte fügt und sie aus- mensionen filmischer Erzählung“ beschrieben drucksstärker macht. Dabei helfen die folgenden hat. Hieraus lassen sich kleinere, konkretere Re- Fragen: geln wie Belohnungen und Strafen ableiten – In welchen Grenzen wird die Welt insgesamt oder umgekehrt. erzählt? Es macht einen Unterschied, ob eine skurrile Dorfidylle in der Eifel dominiert (Mord 3. Tonalität mit Aussicht, D 2007–2014), ob ein regionaler Die Welt der Geschichte ist auch bestimmt durch Kriminalfall in einen globalen Kontext eingeord- ihren Ausdruck und den damit verbundenen net ist (Wallander-Reihe, SE/D 2005–2013) oder Bezug zur Realität. Neben dem Genre, das sich ob James Bond um die ganze Welt jettet (USA seit passend oder im Kontrast zu anderen Elemen- N°48 | November 2020
DRAMAT U RG ISCHES LE XIKON |7 ten setzen lässt, ist es möglich, über kulturhis- torische Stile oder Stilmittel nachzudenken und eine zur Aussage und zum Thema passende Mi- schung zu finden: Manche Geschichten zeigen Film in der edition text+kritik die Schattenseiten der Welt sachlich oder natura- listisch. Andere beinhalten romantisierte, beson- ders freundliche Krankenschwestern. Expressio- F I L M � KO N ZE P T E 59 FILM-KONZEPTE nistische Elemente betonen u.U. die Brüchigkeit 59 Begründet von Thomas Koebner 9 / 2020 Herausgegeben von Kristina Köhler, und Gewalttätigkeit der Welt. In manchen Serien ULRICH SEIDL Fabienne Liptay und Corina Erk / Brad Prager (Hg.) Jörg Schweinitz transportieren surreale Elemente die Erlebnisse ULRICH mit Toten, Untoten oder übersinnlichen Erlebnis- SEIDL Corina Erk/ sen. Prägen lässt sich die Tonalität auch durch Brad Prager (Hg.) Metaphern und symbolische Elemente. Zumeist Heft 59 gibt es ein oder mehrere wiederkehrende Leitmo- Ulrich Seidl tive. Die Krimi-Serie DER PASS bringt die dort September 2020, erzählte Kälte zwischen den Menschen immer 108 Seiten, zahlreiche farbige wieder durch ästhetisch gefilmte Winterwald- und s/w-Abbildungen Bilder zum Ausdruck. € 20,– auch als ISBN 978-3-96707-425-3 Fazit eBook Die Elemente einer Welt der Geschichte stehen dabei gerade nicht in Konkurrenz zu ihrem Ablauf in der Zeit, d.h. zur inneren Entwicklung der Figuren und der äußeren Handlung. Jedes Drehbuch entsteht im allmählichen Zusammendenken von Figuren, Plot und Welt. Das Handeln der Figuren in der Zeit ver- ändert die Welt und die Welt bestimmt ihr Handeln. Lust) Kohärenz erkennt und einen Bedeutungs- oder An den Kreativen und dem Inhalt ihrer Geschich- Sinnzusammenhang herstellt. Die aktuellen world- te hängt, welcher dieser Aspekte prägend ist und driven erzählten Serien zeigen auch: Je erkennbarer wann er während der Stoffentwicklung im Vorder- eine in diesem Sinne verstandene Einheit des Raums grund steht. Bei meiner dramaturgischen Arbeit in bedient wird, umso souveräner können Kreative die den letzten Jahren habe ich allerdings vielfach die Einheit der Zeit aufbrechen: durch Ellipsen, Flash- Erfahrung gemacht, dass es hilfreich ist, einen Stoff backs oder mehrere Zeitebenen – ohne dass die Ein- world-driven anzugehen und/oder ganz bewusst sei- heit einer Geschichte insgesamt verloren geht. ne Welt auszuschöpfen. Das bedeutet, die Welt der Geschichte als gleichberechtigten Aspekt neben Plot und Figuren zu betrachten. Wichtig ist das nicht nur bei der Entwicklung von Serien. Auch bei Einzelfilmen ist es inspirierend, mit Dr. Eva-Maria Fahmüller arbeitet den Kreativen tief in die Welt der Geschichte einzu- seit 2000 als Dramaturgin und tauchen. Ein reichhaltig und stimmig ausgestatteter leitet seit 2009 die Master School Erzählraum charakterisiert Figuren. Er bietet spezi- Drehbuch. Zurzeit arbeitet sie an fische Elemente, aus denen Autorinnen im Prozess einem Handbuch, das Kreativen schöpfen und mit denen sie frei umgehen können. und Machern ganz praktisch dabei Genauso wie der Ablauf in der Zeit kann eine Welt helfen soll, Welten für Serien und der Geschichte einen Stoff zu einer Einheit wer- Filme zu verstehen und zu entwi- den lassen. Am Ende geht es stets darum, dass der ckeln. Es wird im Frühjahr 2021 Zuschauer – wodurch auch immer – in den Bruchstü- erscheinen. Eva-Maria Fahmüller ist Vorsitzende cken einer audiovisuellen Erzählung (aktiv und mit von VeDRA. N°48 | November 2020
E inwu rf |8 Vom Lektorat zum Backtorat | Roman Klink (VeDRA) Ein Vorschlag euilletontexte und Fotos in sozialen Projektentwicklung zu machen und aus vergangenen F Medien zeugen von der erfolgreichen Festivaltour. Aufregende Erinnerungen Versäumnissen zu lernen. Doch diese Art der Evalua- tion ist hierzulande noch sehr ausbaufähig. an die glamouröse Premiere samt Par- Bis heute verkürzen manche Kreative aus Deutsch- ty flackern auf. Vielleicht ist auch die Nervosität land komplexe und vielfältige US-amerikanische Pro- aufrufbar, mit der man erste Meldungen zu Ticket- duktionsstrukturen zu veralteten Schmähbegriffen verkäufen erwartete. Und dann ist die Kinoauswer- wie „Kommerzkino“. Hinsichtlich der analytischen tung plötzlich vorbei. Der Film findet sich auf einer Rückschau kann man jedoch von den US-Kollegen Streamingplattform oder hat Premiere im Free-TV. lernen. Um konkret zu werden: Wer zum Beispiel die Das Projekt wird in Aktenordnern abgelegt und jährliche Box-Office-Analyse der größten Hits und taucht in halbherzigen Statistiken auf. Flops auf deadline.com verfolgt, wird differenzierte Betrachtungsweisen finden, in die auch künstleri- Neben der verständlichen subjektiven Sicht gibt es sche Aspekte einfließen. Beispielsweise lohnt sich aber Daten, handfeste und greifbare Ergebnisse der ein Blick auf die detektivische Arbeit, mit welcher „Laufbahn“ eines Films. Erfolg ist bis zu einem ge- der Diskrepanz zwischen begeisterter Kritik und ge- wissen Grad messbar: die Kino-Reichweite mit ver- mischter Publikumsresonanz beim Auteur-Blockbus- kauften Tickets, Kopienschnitt und Langlebigkeit in ter BLADE RUNNER 2049 auf den Grund gegangen Filmtheatern; die Resonanz im Home Entertainment wurde. Analyse-Kandidaten bietet auch die hiesige und TV (mittlerweile geben auch die Player aus dem Kinolandschaft, und hier kommt das titelgebende SVoD-Bereich häppchenweise, teils kryptische Zah- „Backtorat“ ins Spiel. Zugegebenermaßen ist diese len heraus) und die Präsenz in Foren und sozialen vorläufige Wortschöpfung ein Vorschlag und eine Netzwerken. Auch Rezensionen und Publikumsreak- Einladung zum Austausch, um gemeinsam ein Werk- tionen sind quantifizierbar. Könnte man aus all die- zeug zur zielführenden Evaluation zu schaffen. Was sen Aspekten nicht Erkenntnisse ziehen für Zukünf- hat es damit auf sich? tiges, gerade wenn man ernsthaft eine wirtschaftlich und kulturell nachhaltige Filmlandschaft anstrebt? Dramaturginnen und Dramaturgen begleiten Pro- In meiner Vergangenheit als TV-Redakteur für jekte oft über lange Zeiträume und mehrere Phasen Kinofilme erlebte ich so manches Abwehrmanöver hinweg. Sie lektorieren, dokumentieren, zeigen Opti- – sowohl von Kreativen als auch aus der Produk- onen und Alternativen auf, skizzieren die möglichen tion -, um sich nicht mit Themen wie Zielgruppe Auswirkungen. Diese Aufzeichnungen können in der oder Reichweite auseinanderzusetzen zu müssen. Rückschau helfen „Zielgruppe? Natürlich alle. Die Leute ins Kino zu Analog zum Lektorat kann eine rückblickende Be- bekommen, ist ja dann Aufgabe von Marketing und trachtung, das „Backtorat“, viele Entscheidungen aus Verleih.“ Doch stimmt das? Ist es wirklich möglich, der Entstehung einordnen: Kamen bei Publikum und erst bei der Veröffentlichung eine Zielgruppe zu „er- Presse inhaltliche und künstlerische Aspekte so an, finden“, wenn das Werk ohne übermäßige Sensibi- wie sie geplant waren? Wurde eine vermutete Provo- lität für Publikumsinteresse und -rezeption konzi- kation als solche empfunden? War das übermäßige piert wurde? Paradoxerweise wird bei mangelndem Auserklären einer Plot-Wendung tatsächlich nötig? Zuspruch die Ursache dann meist anderen Faktoren Sind fürs Verständnis wesentliche Andeutungen zugeschrieben – dem Verleih, der übermächtigen untergegangen? Haben die gezielt als hoch emotio- Konkurrenz, strengen Kritiken oder dem Wetter. Es nal angelegten Momente wirklich berührt? War die wäre doch eher sinnstiftend, die gern als profane, Festival-Resonanz wie erwartet? Und genügte das bürokratische Sichtweise abgetane Auseinanderset- als selbstverständlich vorausgesetzte Grundinteresse, zung mit Daten zum konstruktiven Bestandteil einer um den Gang ins Kino auszulösen? Viel wichtiger N°48 | November 2020
E inwu rf |9 als die subjektive Meinung der Analysierenden ist Wer viel schaut, sich informiert und die Arbeit an- also die umfangreiche Auswertung verschiedenster derer (Filmterritorien) wertschätzen kann, wird in Daten. Zukunft – wenn die Töpfe schrumpfen und der wirt- Obendrein gibt es wichtige Voraussetzung zum schaftliche Druck steigt – möglicherweise die Nase Gelingen des „Backtorats“. Zum einen setzt es das vorn haben. Das kann anstrengend sein, aber um so Eingeständnis voraus, dass ein Film nicht die ge- süßer sind die Früchte dieser unentwegten Arbeit. steckten Ziele erreicht hat und die Gründe dafür teil- weise im Werk selbst liegen könnten. Zudem sollten Roman Klink studierte Kultur- und die inhaltlichen und kreativen Entscheidungen in der Medienpädagogik, arbeitete als Projektentwicklung abrufbar und nachvollziehbar Filmjournalist, kaufte für die ARD sein, weshalb es logisch ist, die projektbegleitenden Degeto Filme ein und verantwortete Dramaturginnen und Dramaturgen einzubeziehen. als Redakteur Kinoproduktionen. Auch die Datenlage kann sich noch bessern. Wäre es Seit 2013 ist er als Autor, Lektor z.B. nicht hilfreich – und ehrlich gesagt, zeitgemäß –, und Dramaturg tätig. Seit 2019 ist im vergleichsweise teuren, hiesigen „meistgenutzten er im VeDRA-Vorstand. Fachinformationsportal der Entertainmentbranche“ bei Prognosen und Berichten nicht nur die Marke- ting-Schlagworte von Anzeigenkunden zu lesen, sondern mehr über die Social-Media-Resonanz von Filmen und Serien zu erfahren? In der Förderlandschaft ist eine Evaluation in dieser Form nicht vorgesehen. Jahresrückschauen sind we- niger auf das Zusammenspiel von Inhalt und Reso- nanz ausgelegt, als auf Marktanteile und Demogra- phisches. Ein möglicher Grund liegt auf der Hand: %IN (AND TIMO GÖSSLER BUCH F~R Eine komplexe Rückschau ist sehr aufwendig. Sie KATRIN MERKEL 3ERIENPRO½S ergibt nur als kompetenter und daher auch entspre- UND SOLCHE chend entlohnter Arbeitsprozess Sinn. Die Hoffnung DIE ES WERDEN ruht daher zunächst auf Produzentinnen, Produzen- ten und Produktionsfirmen, die ein Zusammenspiel THE WOLLEN aus kommerzieller und kreativer Nachhaltigkeit auf GERMAN ROOM der Agenda haben und ein solches „Backtorat“ er- gebnisoffen in Auftrag geben. Doch vielleicht lohnt sich diese Herangehens- Der US-Writers’ Room weise. Durch Streamer und soziale Medien ist die in der deutschen %RSCHEIN IM &R~H T Konkurrenz schon seit einiger Zeit global. Ein großer Serienentwicklung Teil des Publikums unterscheidet nicht mehr zwi- JAHR schen heimischer und internationaler Produktion, sondern viel mehr zwischen „macht mich neugierig“ und „interessiert mich nicht“. Auch deutsche Kreati- ve könnten durchaus noch mehr über den Tellerrand hinausschauen, sich nicht nur auf Feuilletonempfeh- lungen, eigene Konditionierung oder vermeintlichen Qualitäts-Konsens verlassen und aus der eigenen Medien-Blase hinaustreten. N°48 | November 2020
Serientäter | 10 We are what we watch | Christine Pepersack (VeDRA) Gut gemachte Fernseh- und Streamingserien haben gleich mehrere Qualitäten. Zum einen schaffen sie es, über eine weite Erzählstrecke zu unterhalten. Zum anderen hinterlassen sie den Zuschauer auch mit einem neuen Mindset – wenn er es denn zulässt, sich damit auseinanderzusetzen. etzt mal ehrlich: Wir lieben Serien. Wir 600-Minuten-Epos anzuklicken, das der Algorith- J leben ja auch im goldenen Zeitalter der Serie. Tatsächlich ist es heutzutage gar mus des Streaming-Dienstes unseres Vertrauens vor- schlägt, kann es sich aber durchaus lohnen, einen nicht mal so leicht, jemanden zu finden, Blick nach innen zu werfen. der keine Serien schaut (Traditionalisten und be- Schaue ich noch genauso auf die Welt, nach- stimmte Altersgruppen ausgenommen). Manch einer dem ich in DARK die Grenzen von Zeit und Raum ist sogar geradezu besessen von Serien. Im modernen überwunden habe? Wie denke ich über Politik, und Jargon nennen wir das auch Binge-Watching – vor vertraue ich noch den Medien, nachdem ich mit lauter Serienwahn bleibt gar keine Zeit mehr, tief- BORGEN oder HOUSE OF CARDS einen Blick ins In- gehender über das Gesehene nachzudenken. Neben nerste von politischen Machtzentren geworfen habe? dem reinen Unterhaltungswert und Zeitvertreib, den Wähle ich nach LOST plötzlich andere Lottozahlen? eine im Schnitt zehnstündige Serie uns bietet, ist da Auf wessen Seite stehe ich in THE AFFAIR? Fan- aber noch mehr, und das betrifft weniger die Serie ge ich nach THE HANDMAID’S TALE an, mich für als vielmehr uns selbst: Nachdem wir Stunden über Feminismus zu interessieren, und sehe ich durch Stunden mit Serienfiguren, ihren Konflikten, Nieder- WHEN THEY SEE US oder SUCCESSION mit anderen lagen und Erfolgen ver- Augen auf die amerikanische Gesellschaft und ihr bracht haben, gehen wir Rechtssystem? Hätte ich SLØBORN anders auf- und Ein Plädoyer für mehr anders aus einer komplex wahrgenommen, hätte die vor der Ausstrahlung ein- Selbstreflexion in der erzählten Serie heraus, als getretene Sensibilisierung für ein Epidemiegesche- Serienrezeption wir hineingegangen sind. hen nicht stattgefunden? Es gäbe noch hunderte Bei- Jede Serie, die wir schauen, spiele für die Wirkung einer Serie auf unser Denken macht etwas mit uns. Dif- und unser Leben. Was wir aber festhalten können, ferenziert betrachtet, trifft das natürlich auch auf je- ist: Wir sind und bleiben die Summe unserer Erfah- den Film zu. Aber eine Geschichte, der wir anstatt im rungen. Das ist zwar an sich keine neue Erkenntnis, Durchschnitt 100 Minuten über acht bis zehn Stun- doch viel zu selten werden unsere Weltanschauung den folgen, hat auch mehr Zeit zu wirken. Immer- und unser mediales Rezeptionsverhalten einer ge- hin sind acht Stunden 480, zehn Stunden ganze 600 meinschaftlichen Betrachtung unterzogen. Denn Teil Minuten. Ganz davon abgesehen, welches Potenzie- unserer Erfahrungen ist nicht nur, was wir erleben, rungspotenzial entsteht, wenn eine Serie gleich meh- sondern auch das, was wir medial über einen Bild- rere Staffeln umfasst. Doch wir sind so gefangen in schirm wahrnehmen. der Welt einer nicht enden wollenden Serienauswahl, Leider geht unser Blick aber in der Regel nur so dass wir gar nicht mehr dazu kommen, in uns hinein- weit, zu sezieren, was wir auf dem Bildschirm se- zuhorchen. Anstatt nach dem Ende einer in solcher hen, nicht aber, was wir auf der emotionalen Ebene Breite erzähl- spüren, und was das mit uns macht. ten Geschich- Wir können stundenlang analysieren te gleich dem und auseinandernehmen, warum eine Drang unserer Serie mehr oder weniger gut gemacht Serien-Beses- ist. Warum diese oder jene Logik nicht senheit nach- funktioniert. Wir freuen uns, wenn wir zugeben, und Plotholes und Unglaubwürdigkeiten das nächste entdecken, und weisen Serienmacher Bild: Marques Kaspbrak, unsplash.com N°48 | November 2020
Serientäter | 11 innen und Serienmachern nur zu gerne ihre Un- Hauptfigur sein. In dem Maße, wie diese Figuren sich zulänglichkeiten nach. Warum also nicht mal den verändern – Herausforderungen annehmen, an ihnen wahrnehmenden Blick nicht nur objektiv schweifen scheitern, Hindernisse überwinden, soziale Normen lassen? Viel zu selten werfen wir, die wir nur zu ger- in Frage stellen und Erfolg haben – beginnt sich ne Kritik üben an Fernsehen und Streaming, einen auch unsere Einstellung als Zuschauer zu verändern. vollkommen und bewusst subjektiven Blick nach in- Durch die Rezeption einer Serie wird es möglich, nen, der von der Machart der Serie hinüberspringt zu neue Interessensgebiete zu entdecken, eine politische dem, was diese in uns auslöst. Haltung auszubilden, neue Rollenmodelle und Ent- Es ist kein Geheimnis, dass der Mensch lernt, indem scheidungsrahmen zu akzeptieren. er die Welt und Individuen um sich herum wahr- Weitergedacht, beeinflussen Serien also durchaus, nimmt und imitiert. Schon in den 1970er-Jahren wie wir die Welt sehen – und zwar ganz im Sinne des haben Studien, u.a. des kanadischen Sozialpsycholo- modernen Individuums. Aufgrund des heute allum- gen Albert Bandura (*1925), gezeigt, dass unser Ver- fassenden Angebots an seriell erzählten Geschichten halten von dem beeinflusst wird, was wir sehen. Da formen sich unzählige individuelle Weltbilder, ab- verwundert es kaum, dass qualitativ hochwertige Se- hängig von der Seherfahrung, die wir, jeder für sich, rien uns mehr beeinflussen als wir erwarten mögen gemacht haben. Das kollektive Seherlebnis linear – sie formen unser Denken, unsere politische Einstel- ausgestrahlter Inhalte dagegen, das uns über Jahr- lung, ja sogar unsere kognitiven Fähigkeiten. Eine zehnte begleitete, hat seit der Einführung des immer 10-Stunden-Serie kann heute sogar gleichwertig mit verfügbaren Streamings quasi ausgedient. einem bereichernden Roman sein. Roman? Ja, ge- nau: Früher definierten wir unser Weltbild über das, Horchen wir doch einfach mal mehr in uns hinein, was wir lasen – nicht umsonst gab es eine Zeit, in der wenn wir eine Serie oder eine Serienstaffel beendet der sog. Bildungsroman die kollektive Weltanschau- haben. Spüren nach, was sich in uns vielleicht ver- ung formte. Diese Funktion hat längst das bewegte ändert hat. Lässt sich die Realität klar abgrenzen zu Bild übernommen, auf dem Fernseher, dem Laptop, der gerade erlebten Fiktion? Natürlich wissen wir, dem Smartphone. Tagtäglich, rund um die Uhr sind dass das, was wir auf dem Bildschirm sehen, nur eine wir umgeben von Bildschirmen jeglicher Größe – wie ausgedachte Geschichte ist. Aber nach zehn Stunden, könnten wir also annehmen, dass die Inhalte, die wir in denen wir mit den Figuren durch dick und dünn über diese Bildschirme wahrnehmen und verarbei- gegangen sind, können wir nicht verhindern, dass ten, nicht das Denken und Verhalten von Einzelnen, wir die Welt doch durch ein bisschen andere Augen Familien und ganzen Gemeinschaften beeinflussen sehen. Die Emotion, die wir im Verlauf des Sehens würde? Wenn die Wissenschaft uns beweist, dass ein gespürt haben, ist ebenso wahrhaftig wie die echte Zusammenhang zwischen dem, was wir sehen, und Welt, in die wir danach zurückfallen. Solange un- unserem Verhalten besteht, und Daten uns verraten, ser Seherlebnis aber noch in uns nachwirkt, solange dass wir mehr und mehr Zeit auf unseren Bildschir- wir es in uns reflektieren, überlagern sich gewisser- men verbringen, können wir gar nicht mehr umhin, maßen zwei Welten, in denen wir die Realität nach den Einfluss anzuerkennen, den auch und besonders den Maßgaben der Fiktion beurteilen. Und das kann lange Erzählformen wie Serien auf uns haben. Wir durchaus seinen Reiz haben. müssen dem nur auf den Grund gehen und dabei aushalten können, dass Entertainment uns manch- Christine Pepersack hat Germa- mal auch eine Haltung abverlangt. nistik und Theaterwissenschaft So wie wir uns in einer Zeit vor der goldenen Ära studiert und ist freie Drehbuchau- der Serie in einen Roman vertieften und die Welt für torin, Lektorin und Dramaturgin. eine Weile durch die Augen der Hauptfigur sahen, so Ihr Fokus in der Stoffentwicklung versetzen wir uns heute in die Rolle einer Serienfi- liegt vor allem auf dem Thema gur. Ihre Welt wird für eine Weile zur unsrigen. Wir Serie. Seit Anfang 2020 ist sie sehen uns selbst in dieser oder jener Figur, und je außerdem Lehrbeauftragte für Er- komplexer die erzählte Welt und das Figurengeflecht zählkompetenz und Seriendrama- aufgebaut sind, muss das nicht einmal zwingend die turgie an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. N°48 | November 2020
Kreativ Schreiben | 12 Creative Writing: Going Digital | Frank Raki (VeDRA) Das Ende einer Utopie und fokussiert, wenn sie – absehbar – mit Video- konferenzen und PDFs bombardiert werden und mit ch gebe einen Creative Writing-Kurs an Langeweile und Überforderung zu kämpfen haben? I der Hochschule München. Bis zum Win- tersemester 2019/20 saß ich dazu mit Ein neues Konzept den Studierenden in einem Raum. Es ist ein interaktiver Kurs, mit vielen Übungen und Run- Ich nahm die Herausforderung an. Um die digitalen den konstruktiven Feedbacks. Wissensvermittlung Chancen zu nutzen – und nicht nur meinen bisheri- ist hier zweitrangig. Es geht mir darum, dass die Stu- gen Kurs in eine digitale Form zu übertragen –, fällte dierenden ein Gefühl für ihre Kreativität entwickeln ich zuerst eine psychologisch hilfreiche Entschei- und Erfahrungen machen, aus denen sie eigene kre- dung: Ich würde meinen alten Kurs betrauern, ad acta ative Maßstäbe ableiten können. Persönlichkeitsent- legen und einen komplett neuen Creative Writing- wicklung. Über sechs Tage Kurszeit wächst die Grup- Kurs entwickeln. Außerdem setzte ich mir das Ziel, pe so weit zusammen, dass wir am Ende so wenig Kurszeit wie möglich in Videokonferenzen Lebensprobleme besprechen oder zu alkoholfreiem zu verbringen, da sie, sofern hohe Aufmerksamkeit Punsch Folk-Lieder sin- gefordert ist, sehr anstrengend werden. Stattdessen gen. wollte ich möglichst viele Inhalte in asynchrone Kreatives Schreiben in Ich bezeichne diesen Kurs Lehrteile verwandeln und den Studierenden damit einer Atmosphäre des als den einzigen Ort des erlauben, den Kurs in ihrem individuellen Tempo zu Vertrauens und der Studiums, an dem die absolvieren. Studierenden ganz sie Die Feedbackrunden zu den Kreativtexten schrift- Wertschätzung – geht selber sein dürfen und an lich in einem Online-Forum stattfinden zu lassen, das auch online? Ein dem es kein „richtig“ und schien mir jedoch nicht sinnvoll. Die Studierenden „falsch“ gibt. Es dürfen kommen aus Studiengängen wie BWL, Tourismus- Erfahrungsbericht. auch private Dinge zur management und Physik zum Studium Generale, Sprache kommen. Man- kennen einander nicht und sind im Feedbackgeben che Teilnehmende verarbeiten in ihren Texten sehr weitgehend ungeschult. Es war daher ratsam, die persönliche Themen – im Extremfall, Opfer eines Texte in einer Livekonferenz zu besprechen und die- Amoklaufs geworden zu sein oder eine Zeit in ei- se zu moderieren. ner psychiatrischen Einrichtung verbracht zu haben. Die Hauptfrage war für mich allerdings, wie ich Vertrauen und Wertschätzung innerhalb der Gruppe meine Zielgruppe im Alter von Anfang bis Mit- sind wichtig. te Zwanzig am leichtesten abholen und auf einen Vor diesem Hintergrund empfand ich es als De- Kurs einschwingen kann, der so persönlich wie un- saster, als Anfang April 2020 entschieden wurde, terhaltsam ist. Die Stolperfallen sind vielfältig. Vie- den Lehrbetrieb an den bayerischen Hochschulen le Studierende kommen leider schon nach wenigen im Sommersemester komplett digital durchzuführen. Semestern mit niedriger Motivation in neue Kurse. Ich überlegte, den Kurs aufzugeben. Ich hatte keine Sie sind genervt von altbackenen Videovorlesungen Antworten auf die Fragen, die sich mir oder PDF-Materialien. Sie stehen oft unter hohem stellten: Kann ein solcher Kurs rein Leistungsdruck. Ganz abgesehen davon, dass es eine digital funktionieren? Wie stellt natürliche Hemmung gibt, sich in einer Gruppe Un- man Vertrauen zueinander her, bekannter zu öffnen und gar mit einem Dozenten wenn man sich nie begegnet? aus der Generation 50+ zu einer vertraulichen Hel- Wie erreicht man ein Klima denreise aufzubrechen. der Wertschätzung im virtu- Ich stellte mir die Schlüsselfrage: Welchen Kurs ellen Raum? Wie hält man würde ich selbst in dieser Situation gern besuchen? Studierende interessiert Und mit einem Mal lösten sich viele Probleme mit Bild: Thougt Catalog/ unsplash.com N°48 | November 2020
Kreativ Schreiben | 13 einer intuitiven Antwort auf: Als Studierender hätte Ergebnisse und Ausblick ich gern einen Podcast, den ich jederzeit und überall hören kann. Kurz und knackig, damit ich ihn zwi- Das Kurskonzept ging besser als erwartet auf. Die schen die Veranstaltungen meines ansonsten über- Studierenden beteiligten sich genauso intensiv wie vollen Lehrplans schieben kann. in einem Präsenzkurs, und wie in jedem Semester Ein Podcast ist nicht nur zur Vermittlung krea- empfanden sie Wehmut, als der Kurs zu Ende ging. tiven Lehrstoffs gut geeignet. Vor allem ermöglicht Einigen Stimmen zufolge konnten sie „etwas fürs Le- er es bei einer regelmäßigen Veröffentlichung, die ben mitnehmen“, und sie waren überrascht, wie stark Studierenden engagiert in einem kontinuierlichen sie als Gruppe zusammengewachsen waren. Ohne Schreibprozess zu halten. Wer täglich 5–10 Minu- meine Anregung bildeten sie eine Schreibgruppe, um ten Podcast hört und zum Schluss zu einer kleinen die Reise miteinander fortzusetzen. Schreibübung angeleitet wird, bleibt im Fluss – eine Für mich selbst gab es einige unerwartete Lern der wichtigsten Bedingungen, wenn man etwas über effekte. Die Podcast-Produktion half mir, eine eige- das Funktionieren des eigenen Schreibprozesses ler- ne, freie Regelung für gendergerechtere Sprache zu nen will. entwickeln. Ich bekam zudem ein neues Bewusstsein Der besondere Vorteil eines Podcasts ist aber, dass für meine Artikulation, und ich lernte Audiosoftware er auf zwanglose Art Vertrauen schafft. Hört man zu bedienen. Ein weiterer Bonus des digitalen Trans- einer menschlichen Stimme konzentriert zu, so ent- fers: Während des Semesters muss ich nun nicht steht eine fast intime Nähe. Nach einer gewissen Zeit mehr wochenlang vor Ort sein. empfindet man Vertrautheit zum Sprecher. Dieses Bei allem, was in diesem Kurs gelang, bevorzuge Vertrauen, so hoffte ich, würden die Studierenden in ich dennoch Präsenzkurse. Sie bieten größere Gestal- die Online-Konferenzen mitbringen und wäre eine tungsmöglichkeiten für die Lehre. Viele Gruppen- gute Basis für die gesamte Gruppe. übungen lassen sich online nicht umsetzen. Nicht Der Produktionsaufwand eines kurzen täglichen zuletzt ist der soziale Umgang miteinander in der Podcasts schien mir bewältigbar, und so war die Präsenz nicht eingeschränkt. Als es in diesem Semes- Entscheidung für das Rückgrat des Kurses getrof- ter überraschend zu einer tränenbewegten Situation fen. Aufwendig wurde es letzten Endes dennoch. Das kam, konnte nur verbal Trost gespendet werden. freie Sprechen liegt mir ohne Publikum nicht, ich Die Hochschule München hat vor kurzem ent- musste jede Episode daher zuvor skripten. schieden, in Zukunft noch mehr auf individuelles, Für die Videokonferenzen etablierte ich zu Beginn asynchrones Lernen zu setzen und Kurse im Hyb- des Kurses die Regel, Kameras und Mikrophone kon- rid-Konzept anzubieten, d.h. in einer Mischung aus stant eingeschaltet zu lassen – ganz entgegen den Digital und Präsenz. Dafür gerüstet zu sein, ist ein Vorschriften in anderen Kursen der Studierenden. gutes Gefühl. Denn sehen wir einander und unsere körpersprach- lichen Reaktionen, dann spüren wir auch eine so- Der Podcast ist online öffentlich abrufbar unter: ziale Verpflichtung füreinander. Wertschätzende www.frank-raki.de/podcast.html Interaktion – die beim Feedback-Geben essenziell ist – fällt uns leichter. Eingeschaltete Mikrophone sorgen außerdem dafür, dass die Teilnehmenden sich aktiv und spontan beteiligen können. Eine Stumm- Frank Raki arbeitet als Drama- schaltung verführt zu einer passiven Hal- turg, Schreibcoach und Urheber- tung – der Tod für eine produktive rechtsgutachter. DAS INFERNO Feedbackrunde. Das permanente – FLAMMEN ÜBER BERLIN und Live-Sein hat auf Zoom mit 16 das preisgekrönte Transmedia- Teilnehmenden übrigens sel- Konzept VIER AFFEN gehören zu ten zu Problemen geführt. seinem Autoren-Werk. Als Film- Gab es Störgeräusche, war dramaturg ist er auf Genrestoffe der Fall schnell zu klären. und Adaptionen spezialisiert. Bild: Chris Montgomery/ unsplash.com N°48 | November 2020
SEMINARCHECK | 14 Diverses Erzählen | Jörg Michael Semsch (VeDRA) Ein engagiertes Seminar zum Thema gesellschaftliche Vielfalt und Antidiskriminierung fand am 26. und 27. September 2020 in Berlin statt. In den Räumen der Literaturhauses Lettretage in Kreuzberg begrüß- te VeDRA-Vorstandsmitglied Angela Heuser die beiden Gründerinnen des „Büros für vielfältiges Erzählen“ Letízia Milano und Johanna Faltinat. Diese sensibilisierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für systemi- sche Strukturen der Diskriminierung und zeigten mit einem eigens entwickelten dramaturgischen Modell Wege auf, durch Inklusion Geschichten zu bereichern. ine kleine Erzählung relativ am Anfang schen oder Frauen – allzu schnell, so der Tenor der E sorgt gleich schon mal für einen Aha- Effekt: Eine junge, studierte Brasiliane- Anwesenden, wird darauf verwiesen, dass es bereits hinreichend Produktionen zu den Themen gibt. rin aus der weißen Mittelschicht kommt Geschichten formen Gesellschaften formen Ge- nach Deutschland und wird plötzlich zu einer „Per- schichten. Milano und Faltinat sehen hier viele son of Colour“. So schnell kann’s also gehen, dass vertane Chancen: Ihrer Meinung nach – und auch man aufgrund eines etwas dunkleren Hauttons völlig hier herrschte allgemeine Zustimmung – akzeptiert anders betrachtet und bewertet wird. Dies ist keine das Publikum längst ein viel breiteres Spektrum an Fiktion, sondern Teil der Lebensgeschichte von Letí- Figuren. Und nicht bei jedem Charakter mit dunk- zia Milano. Die erfolgreiche Journalistin und Dreh- ler Hautfarbe muss diese automatisch thematisiert buchautorin erfuhr so, was es heißt, werden. Dem gegenüber bieten diverse Figuren eine Seminarbericht am Rande zu stehen und nicht zur Öffnung der Themenbandbreite. Die Erweiterung der Normalität zu gehören – selbst an ei- erzählerischen Möglichkeiten für Fernsehschaffen- über die Angst ner Institution wie der DFFB, wo sie de ist auch die Triebfeder für ein dramaturgisches vor der Anders- als Studentin erfuhr, dass Telenovelas Instrument, das Milano und Faltinat entwickelt ha- heit in unseren ihr doch im Blut liegen müssten. ben: „Das Begehren der Anderen*“ genannt, ist dies Der Begriff der „Normalität“ ist dann ein Kreismodell, in dem jede Figur hinsichtlich ih- Stoffen auch eines der Keywords des Seminars, rer Haltung zur Normalität positioniert wird. Will das gleich zu Beginn auf die subtilen die Figur Teil der Mehrheitsgesellschaft sein? Oder Formen der Diskriminierung unterre- die Gesellschaft in ihre Richtung verändern? Oder präsentierter Gruppen aufmerksam machen möchte: kapselt sie sich in der Gemeinschaft ihrer Minderheit An der Normalität, der Mitte der Gesellschaft, richten ab? Anhand eines Schemas können Autorinnenn wie sich alle Menschen aus – diejenigen, die als Teil der auch Dramaturgen die Entwicklungsmöglichkeiten Mehrheitsgesellschaft bewusst oder unbewusst von ausloten, überhaupt: die einzelnen Charaktere hin- Privilegien profitieren, wie auch diejenigen, denen sichtlich ihrer Haltung besser analysieren. zugeschrieben wird, nicht ‚normal‘ zu sein und die Am Ende zeigte sich die Gruppe begeistert von entsprechend ausgeschlossen werden. In Diskussi- einem interessanten, spannenden, kreativen wie zu- onen und Spielrunden erläutern die Referentinnen gleich auch unterhaltsamen Arbeitswochenende. Für Mechanismen (wie z.B. „Othering“ oder „Tokenism“), alle, die sich für das aktuelle Thema interessieren, die viele Menschen aus unterrepräsentierten Grup- stellte Angela Heuser ggf. eine Wiederholung im pen von einer echten Teilhabe ausschließen. Dies gilt nächsten Jahr in Aussicht. auf einer anderen Ebene auch für die hie- sige TV- und Kino-Landschaft. So ist Jörg Michael Semsch ist freiberufli- der Umgang mit Randgruppen bei cher Autor, Dramaturg, Lektor und vielen Entscheidern immer noch Texter. von Ängsten geprägt, das Pu- blikum zu überfordern. Ob Homosexuelle, Transperso- nen, Nicht-weiße, körper- lich beeinträchtigte Men- Letízia Milano & Johanna Faltinat Bild: J. M. Semsch N°48 | November 2020
n AchRu f | 15 Erika Richter | Nachruf von Ralf Schenk E rika Richter betrieb mit Leidenschaft einen Beruf, den es in den Abspännen deutscher Kinofilme heute nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlich- keit wie zu ihrer Zeit gibt: den der Dramaturgin. Bei der Babelsberger DEFA, wo sie angestellt war, bildete die Dramaturgie eine Schaltstelle der Filmproduktion: Hier wurden, gemeinsam mit den Autoren und oft auch schon mit den Regisseu- ren, Stoffe ausgedacht, geprüft, entwickelt, wieder verworfen oder zur Drehreife gebracht. Dramaturginnen und Dramaturgen verstanden sich ja nicht, wie heute gelegentlich behauptet, als politische Kontrolleure einer vom Staat alimentierten Filmproduktion. Das konnten sie manchmal auch sein, aber mehr noch galten sie als künstlerisch-ästhetische Wegbegleiter, die ihre Stoffe enthusiasmiert ver- fochten. Erika Richter, geboren am 6. Januar 1938 in Aachen, hatte ihr Handwerk in den 1950er-Jahren an der Deutschen Hochschule für Filmkunst Potsdam-Ba- belsberg studiert und danach unter anderem als Redaktionsassistentin bei der Zeitschrift „Deutsche Filmkunst“ und nach deren Auflösung als Redakteurin der „Filmwissenschaftlichen Mitteilungen“ gearbeitet: ein Team, in dem sie gemeinsam mit Kollegen wie Heinz Baumert und Wolfgang Gersch eine an internationalen Maßstäben geschulte Filmpublizistik betrieb. Von 1967 bis 1969 war Erika Richter Lektorin am DDR-Kulturzentrum in Kairo; diesem Aufent- halt entsprang das vom Henschelverlag publizierte Buch „Realistischer Film in Ägypten“. Das war nicht nur eine Hommage an eine exotische Filmnation; die Autorin resümierte hier auch ihre Hoffnungen, Wünsche und Forderungen an ein gegenwartsnahes, wahrhaftiges, eingreifendes Kino überhaupt. Wer wollte, ERIKA RICHTER konnte aus Erika Richters Beschreibungen herauslesen, welche Art Kino sie im 6.1.1938 - 24.8.2020 eigenen Lande bevorzugte. In ihrer anschließenden Dissertation widmete sie sich dann folgerichtig jenen DEFA-Filmen der jüngeren Zeit, die sie als maßstabset- Bild: Franz Richter, wikimedia.com zend ansah: DER DRITTE und DIE SCHLÜSSEL von Egon Günther, LEBEN MIT UWE von Lothar Warneke sowie DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA von Heiner Carow. Mit diesem Anspruch kam sie 1976 ins Babelsberger Studio. Als Dramaturgin machte sie sich schnell einen Namen: mit sicherem Gespür für starke Stof- fe, kampfbereit gegen Widerstände, klug argumentierend, stets offen für po- litischen Wagemut und ästhetisches Neuland. Erika Richter stieß Tore auf, in vielerlei Hinsicht. In sechzehn Jahren entstanden unter ihrer Obhut mehr als zwanzig Filme: darunter Lothar Warnekes DIE BEUNRUHIGUNG (1981) und BLONDER TANGO (1985), Rainer Simons JADUP UND BOEL (1981) und DIE BESTEIGUNG DES CHIMBORAZO (1989), Evelyn Schmidts DAS FAHRRAD (1982), Siegfried Kühns DIE SCHAUSPIELERIN (1988), Heiner Carows CO- MING OUT (1989), Jörg Foths BIOLOGIE! (1990) und Herwig Kippings DAS LAND HINTER DEM REGENBOGEN (1991). Einige andere Projekte, mit de- nen sie Jahre verbracht und die sie leidenschaftlich verteidigt hatte, mussten – oft aus politischen Gründen – aufgegeben werden, so wie das Rockmusical PAULE PANKE, das Heiner Carow gemeinsam mit Rolf Richter verfasst hatte. Vor allem das Gegenwartskino trieb sie an, die ästhetische Durchdringung zeit- N°48 | November 2020
Sie können auch lesen