RADIKAL(E) ERZÄHLEN WEITERE THEMEN: DIE WELT DER GESCHICHTE // VOM LEKTORAT ZUM BACKTORAT WE ARE WHAT WE WATCH - VEDRA

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RADIKAL(E) ERZÄHLEN WEITERE THEMEN: DIE WELT DER GESCHICHTE // VOM LEKTORAT ZUM BACKTORAT WE ARE WHAT WE WATCH - VEDRA
RADIKAL(E) ERZÄHLEN
                                     WEITERE THEMEN:
Die Welt der Geschichte // Vom Lektorat zum Backtorat
                                We are what we watch
                                             Bild: pixfuel.com

                               N°48N°34
                                    | November
                                        | Februar2020
                                                  2016
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E DITORIAL     |1

Liebe Leserinnen und Leser,
politisch gesehen ist es im Moment dringlich, für die Notleidenden der Krise
zu kämpfen. Das ist vor allem die Kinowirtschaft. Das sind Soloselbständige
und Produktionsfirmen.
    Die Stoffentwicklung betrifft der Notstand im Moment nur indirekt, denn
auf den ersten Blick geht es auch digital: Dramaturgische Besprechungen
finden online statt. Auch Writers’ Rooms und kreatives Schreiben lassen
sich mit Jitsi, Zoom und Teams gestalten (vgl. „Creative Writing: Going
Digital“, Frank Raki). Doch das bedeutet nicht, dass „Stoffentwicklung
online“ genau wie bisher einfach gemütlich weitergehen kann.
    Zu groß sind die Veränderungen der Digitalisierung, die durch die Coro-
na-Pandemie noch radikal beschleunigt und verstärkt werden. Wie sieht die
                                                                               Eva-Maria Fahmüller
Branche in einem oder gar in fünf Jahren aus?                                  Vorstandsvorsitzende VeDRA
    Diskutiert wird zurzeit die Zukunft des Kinos. Genauso geht es um eine
Verlagerung des Fernsehens in Mediatheken und VoD. Nicht zuletzt kämp-
fen Streamer um das größte Angebot und den besten Content. All das hat
massive dramaturgische Auswirkungen – auf Themen, Inhalte und Erzähl-
weisen.
    Um nur ein paar Allgemeinplätze zu nennen: Im besten Fall sind Kino-
filme schon aufgrund ihres Stoffs so wirkungsmächtig, dass der Besuch im
Filmtheater zu einem außergewöhnlichen Ereignis wird. Angesichts eines
überspannten Marktes – man denke an die für Zuschauer und Zuschaue-
rinnen nicht mehr zu erfassende Zahl neuer Serien – braucht jedes Projekt
mehr denn je einen starken und klaren USP. Es gibt eine große Sehnsucht
nach mehr Diversität. Ein Teil der Streaming-Serien lebt vom High-End-
Gedanken; das betrifft Budget und Umsetzung, doch bereits die Drehbücher
müssen daraufhin entwickelt und geschrieben sein.
    Die Corona-Krise wird dauern und nachwirken. Einige dadurch forcierte
Entwicklungen in der Film- und TV-Branche werden sich kaum mehr revi-
dieren lassen. Überleben werden deutsche Player auch und vor allem durch
die besten Geschichten. Insofern gilt es, jetzt auf die Stoffentwicklung und
die Projekte von morgen zu setzen.
    Doch was heißt das im Detail bei jedem einzelnen Projekt – von der
Grundidee bis in den kleinsten Dialogsatz hinein? „Stoffentwicklung on-
line“ bedeutet in den meisten Fällen auch, im einzelnen Stoff das Zukunfts-
weisende zu erkennen und zu fördern.
    Dramaturginnen und Dramaturgen von VeDRA zeigen in diesem
WENDEPUNKT ihre Expertise und stellen Ansätze für eine adäquate Stoff-
entwicklung vor. Jörg Michael Semsch berichtet aus dem VeDRA-Seminar
über ein dramaturgisches Modell zur Diversität („Das Begehren der Ande-
ren“). Christine Pepersack befasst sich mit der emotionalen Nachwirkung
von komplex erzählten Serien auf das Publikum („We are what we watch“).
Kollege Arno Stallmann schreibt über radikales Erzählen. Und Roman Klink
bereichert den Stoffentwicklungsprozess rückwirkend in meinen Augen
ganz wesentlich (!) mit der Idee eines Backtorats.

   Ich wünsche uns allen Gesundheit. Aber auch, dass unsere Freude und
Fantasie, dass unsere visionäre Kraft und unser Gemeinschaftsgefühl in all
den digitalen Besprechungen erhalten bleibt.
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Wendepunkt N°48  |  November 2020

        Inhalt

 3      Point o f View
        Radikal(e) erzählen
        Aspekte dramatischen Erzählens
        Arno Stallmann

 5      D ramat u rg isches Le xi ko n
        World-Driven!
        Die Welt der Geschichte in die Stoffentwicklung
        miteinbeziehen – Dr. Eva-Maria Fahmüller

 8      E i nwu rf
        Vom Lektorat zum Backtorat
        Kommerzielle und kreative Nach-
        haltigkeit – ein Vorschlag von
        Roman Klink

10      SE RI E NT Ä T E R
        We are what we watch
        Serienrezeption und Selbstreflektion
        Christine Pepersack

12      Kreativ Schrei b e n
        Creative Writing: Going Digital
        Stoffentwicklung online -
        ein Erfahrungsbericht von
        Frank Raki

14		    SEMI N A R- ChecK                                 V erei ns h eim
		     Diverses Erzählen                                  20 Wer macht was?
     	Seminar zum Thema gesellschaftliche
        Vielfalt und Antidiskriminierung                  21 Termine
		      Jörg Michael Semsch                               22 Impressum

15		    Nachru f
        Erika Richter

17		    Profil
		 Gisela Wehrl
                                                          Bilder: Marija Zaric, unsplash.com;
                                                          free-photos, pixabay.com; Marques
                                                          Kaspbrak, unsplash.com; Chris
                                                          Montgomery, unsplash.com
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POINT OF VIE W         |3

Radikal(e) erzählen |                                    Arno Stallmann          (VeDRA)

Ein Mädchen folgt dem Ruf eines Fabelwesens. Ein Lehrer ermutigt seine Schüler zu eigener Kreativität. Eine
Deutschtürkin führt eine Scheinehe. Ein Anwalt verrät seinen Bruder an die Justiz. Eine junge Frau versteckt
in ihrer Wohnung einen Wolf. Ein Chemielehrer kocht Crystal Meth. Ein Sheriff tritt ganz allein gegen vier
Verbrecher an. Ein Bruder will seine Schwester verführen, um nicht morden zu müssen. Ein Pfarrer zieht sich
eine Sprengstoffweste über. Eine Witwe sprengt sich und die Mörder ihrer Familie mit einer Nagelbombe in die
Luft. Ein Taxifahrer ballert ein Bordell zusammen. Ein hässlicher Verlierer zerhackt Frauen.

             ie Entscheidungen, die die Protagonis-       und ihren Bezugspersonen („Ich erkenne dich nicht
   D         tinnen und Protagonisten unserer Er-
             zählungen treffen, sind oft radikal – ihr
                                                          wieder!“), beeinflusst allerdings von dort aus den
                                                          inneren Konflikt durch Scham- und Schuldgefühle
             Weg, der bei diesen Entscheidungen be-       („Gehe ich zu weit?“) und den äußeren Konflikt mit
ginnt (im ersten Wendepunkt) oder sie zu ihnen führt      den (ebenfalls und oft abschließend radikalisierten)
(im zweiten Wendepunkt der Dreiaktstruktur), ist ein      Antagonistinnen und Antagonisten („Wir sind gar
Prozess der Radikalisierung. Ist ein Prozess, in dem      nicht so verschieden, wie du denkst“). Die Radikali-
ein Zweck immer drastischere Mittel heiligt, in dem       sierung, die nötig ist oder nötig scheint, um das dra-
die persönlichen Opfer, aber auch die gesellschaft-       matische Ziel zu erreichen, belastet das Verhältnis zu
lichen, die die Handelnden bereit sind zu bringen,        den tatsächlichen oder metaphorischen Familien, der
immer größer werden. Ist ein Prozess, in dem sie ihr      emotionalen und sozialen Heimat der Protagonis-
Fühlen, Denken und Handeln immer ängstlicher und          tinnen oder Protagonisten, dem was beispielsweise
wütender vor ihrem emotionalen Netzwerk verber-           Roland Zag die Zugehörigkeiten der Figuren nennt.
gen, und in dem oft das ursprüngliche Ziel der Hand-          Was von ihnen und ihrem emotionalen Netzwerk
lung in seiner Bedeutung hinter die Handlung selbst       als Radikalisierung verstanden wird und was nicht,
zurücktritt.                                              entscheiden erst diese Zugehörigkeiten. Für die eine
    Eine Radikalisierung ist, so begann ich 2016 mei-     Gemeinschaft mag eine Drohung eine Grenzüber-
ne Mitarbeit im Wendepunkt (s. WP Nr. 34, 02/16),         schreitung sein, für die andere ist Mord alltäglich.
in unserem dramatischen Erzählen schon angelegt.          Gleich welche ausgesprochenen oder unausgespro-
Das dramatische Ziel muss beinahe unerreichbar            chenen Regeln gelten, sie sind den Protagonistinnen
sein, das gegebene Problem fast unüberwindbar, der        und Protagonisten bewusst, und sie tun es bewusst,
erregte Konflikt nahezu unlösbar. Die Handlung der        wenn sie diese Regeln dehnen oder brechen. Das
Erzählung, die Handlungen der Figuren zum Errei-          muss nicht falsch sein: Regeln, ob gerechtfertigt oder
chen des Ziels, zum Überwinden des Problems, zum          nicht, sind immer repressiv. In der Heldenreise wer-
Lösen des Konflikts, sollen abgelehnte Vorschläge         den Personen, die Regeln durchsetzen, als Schwel-
sein im ersten Akt, größte Anstrengungen im zwei-         lenhüter verstanden. Dass Sibels Familie in GEGEN
ten, und zuvor völlig Undenkbares im dritten. Pro-        DIE WAND ihr ihr Bedürfnis nach Promiskuität ver-
tagonistinnen werden zu Heldinnen, Protagonisten          bietet, verstehen wir als Unterdrückung ihrer freien
werden zu Helden durch das persönliche Opfer, das         Entfaltung, dass in DER GOLDENE HANDSCHUH die
sie bringen, doch die Grenzen, an der das persönliche     Polizei Fritz Honka wegen Mordverdachts verhaftet,
Opfer endet und eine Nötigung der eigenen Gemein-         als notwendigen Schutz der Gemeinschaft.
schaft und Gesellschaft beginnt, sind schwammig.              Die Hauptfiguren reagieren, indem sie ihre Regel-
Entsprechend argumentieren etwa die Dorfbewohner          verletzungen vor ihrem emotionalen Netzwerk ängst-
in ZWÖLF UHR MITTAGS, Sheriff Kane möge das               lich verbergen. Sie sind schuldig, vielleicht fühlen sie
Dorf doch bitte einfach verlassen, statt die Ausein-      sich schuldig, und vielleicht fühlen sie Scham dafür,
andersetzung mit den Verbrechern zu suchen.               nicht den an sie gestellten Erwartungen zu entspre-
    Die Auseinandersetzung über den Zweck, viel öf-       chen. Statt den Konflikt zwischen ihren Absichten
ter aber über die Mittel, die er heiligt, bestimmt den    und den geltenden Regeln in die Öffentlichkeit der
emotionalen Konflikt zwischen den Hauptfiguren            Gemeinschaft zu tragen, um ihn dort zu verhandeln,

                                                                                 N°48  |  November 2020
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                                                                                  unsplash.com

scheuen die Figuren diese Anstrengung und ent-           Jimmy trotz aller Zurückweisungen mit ihm zu ei-
scheiden sich stattdessen für Verrat. Das muss nicht     ner brüderlichen Beziehung zu finden. Katjas Anwalt
falsch sein: Das Mädchen Ofelia in PANS LABY-            verspricht ihr eine Revision des Verfahrens, das die
RINTH kann nicht auf Augenhöhe mit Hauptmann             Terroristen, die ihre Familie ermordet haben, freige-
Vidal verhandeln, ihr bleibt nur die Heimlichtuerei.     sprochen hatte, bevor sie sich in AUS DEM NICHTS
Reverend Toller in FIRST REFORMED hingegen fühlt         in die Luft sprengt. Hier kann sich entscheiden, ob
sich vermutlich machtloser gegen Unternehmer Balq        es den radikalisierten Figuren überhaupt noch um
als er tatsächlich ist, wenn er zum Sprengstoffgürtel    das Erreichen ihres Zieles geht oder um die radikale
greift. Machtlosigkeit ist in beiden Fällen die Recht-   Handlung selbst. In TAXI DRIVER will Travis vor-
fertigung für den Regelbruch. Wie plausibel diese        geblich die minderjährige Prostituierte Iris retten,
Machtlosigkeit tatsächlich ist, kann eine Frage der      doch ihren Vorschlag, gemeinsam in eine Kommune
Erzählung sein, wie in BREAKING BAD. Dem Ver-            zu ziehen, lehnt er ab; besser gefallen ihm Mord und
rat an den Regeln der Gemeinschaft wohnt großes          versuchte Selbsttötung.
dramatisches Potenzial inne – und komisches, das             Radikal sein heißt, das Übel an der Wurzel zu
kennen wir etwa aus Cross-Dressing-Komödien.             packen. Diese Vorstellung ist reizvoll und verführt
    Das Verbergen der Regelverletzungen, der ei-         Figuren. Radikal sein heißt aber auch, sich über das
genen Radikalität und damit der eigenen Identität,       eigene emotionale Netzwerk zu erheben, das dieses
kann weiter radikalisieren. Die tatsächliche, emp-       Übel anders versteht oder billigt oder die Belastungen
fundene oder vorgeschützte Not zur Heimlichtuerei        scheut, die die Beseitigung des Übels für es bedeuten.
macht Protagonistinnen oder Protagonisten wütend:        Radikal zu sein, macht unsere Protagonistinnen oder
vielleicht erst auf sich selbst, dann aber auf die Ge-   Protagonisten schuldig und lässt sie sich schämen,
meinschaft, die Regeln macht, die Zwang erzeugt.         es macht sie wütend und hasserfüllt, manchmal so
Richteten sie ihre Vorwürfe erst gegen sich selbst,      sehr, dass sie nicht mehr in ihr emotionales Netzwerk
richten sie sie nun an die Gesellschaft. An Stelle von   zurückfinden. Für das emotionale Netzwerk sind die
Schuld oder Scham tritt Hass. Ania in WILD zieht         Radikalisierten eine Gefahr, aber auch die Chance,
sich vor ihrer Schwester und den Kollegen zurück         sich als Netzwerk zu öffnen: inklusiver, pluraler und
in ihre Perversion, und geht dann zum Angriff über       dadurch widerstandsfähiger gegen innere Spannun-
gegen ihren tyrannischen Chef. Niemand wähnt sich        gen zu werden. Man hätte das der High Society in
gerne radikal; wir fürchten „kaum etwas mehr als         DER CLUB DER TOTEN DICHTER gewünscht.
soziale Isolation“, schreibt Zag über Zugehörigkeiten
(Dimensionen filmischen Erzählens). Radikale Haupt-
figuren fühlen sich nicht radikal geworden, sondern
radikal gemacht. In Paul Schraders KATZENMEN-
SCHEN fühlt sich Irenas Bruder seinem mordenden
Schicksal hilflos ausgeliefert.                                            Arno Stallmann entwickelt und
    Im Tiefpunkt dann, wenn der radikale Weg nicht                         berät Filmstoffe – gerne zu politi-
zum Ziel geführt hat, öffnet sich ein Fenster zur In-                      schen und sozialen Themen – und
tegration zurück in die Gemeinschaft. Noch kurz vor                        schreibt darüber u.a. auf www.
Chucks Selbstmord in BETTER CALL SAUL versucht                             filmschreiben.de

                                                                               N°48  |  November 2020
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DRAMAT U RG ISCHES LE XIKON             |5

           World-Driven! |                          Dr. Eva-Maria Fahmüller              (VeDRA)

           Neben Plot und Figuren sind viele zeitgemäße Serien maßgeblich durch die Welt ihrer Geschichte geprägt. Um
           eine interessante Welt zu entwickeln, gibt es allerdings kaum dramaturgische Tools.

           Die Welt der Geschichte ist bedeutsam                  In der praktischen Seriendramaturgie ist der Er-
           geworden                                               zählraum allerdings schon längst zu einem Einheit
                                                                  stiftenden Element geworden. Das zeigen die unter-
                      gal ob in 25, 120, 440 oder noch viel       schiedlichsten Projekte wie DER TATORTREINIGER
              E       mehr Minuten – woran erkennt die Zu-
                      schauerin, dass ihr dabei jeweils eine
                                                                  (D 2011–2018), STRANGER THINGS (USA seit 2016),
                                                                  13 REASONS WHY (USA 2017–2020), aber auch
                      Geschichte erzählt wird und sie sich in     BABYLON BERLIN (D seit 2017), ganz besonders
         einem kohärenten Zusammenhang bewegt? Und wie            CHERNOBYL (GB 2019), UNORTHODOX (D 2020)
         schaffen es Filmemacher, einzelne Elemente einer         und OKTOBERFEST 1900 (D 2020). Sie alle schöp-
         und mehrerer Geschichten zu einem wiedererkenn-          fen ihren Inhalt ganz wesentlich aus den Welten, in
         baren Format zusammenzubringen?                          denen sie spielen.
         In unserer Vorstellung wird dafür zumeist der Ab-            Starke Erzählräume finden sich jedoch nicht nur
         lauf in der Zeit bemüht. Handlungen werden gefasst       bei Serien, sondern auch in Games und transmedi-
         durch ihren Anfang über die Mitte zum Ende. Es gibt      alen Projekten. Ausgangspunkt ist jeweils ein Uni-
         Spannungsbögen, Entwicklungsbögen, Staffelbögen,         versum, eine Welt, in der sich der Rezipient in einem
         Vertikales und Horizontales. Eine Figur kämpft für       selbstbestimmten und ggf. gebrochenen Zeitfenster
                                   etwas; Hindernisse stei-       aktiv zurechtfinden muss.
Warum es wichtig ge­               gern sich. Die Figur macht         So ändern sich die Sehgewohnheiten und die Er-
                                   eine Heldenreise. Alle Ele-    wartungen vieler Zuschauerinnen – nicht nur an die
worden ist, die Welt               mente münden in die Auf-       o.a. Formate, sondern ein Stück weit an Geschich-
der Geschichte bei                 lösung, vielleicht in eine     ten insgesamt. Mit den theoretischen Hintergründen
                                   Enthüllung und manch-          hierzu habe ich mich 2017 in „Neue Dramaturgien“
der Stoff­entwicklung              mal auch in eine plötzliche    beschäftigt. Eine Folge: Bei der Stoffentwicklung
einzubezieh­en und ei­             Wendung entgegen jeder         lässt sich längst nicht mehr nur character- und/
nige Aspekte, die dazu­ Erwartung. Die Elemen-                    oder plot-driven denken. Ich nenne es world-driven,
                                   te einer Geschichte sind       wenn der Erzählraum zum Ausgangspunkt und/oder
gehören.                           damit sortiert in der er-      dominierenden Element eines Projektes wird.
                                   zählten Zeit. Dabei ist ent-
         weder die Handlung richtungsweisend (plot-driven)        Elemente einer Welt der Geschichte
         oder der besondere Charakter (character-driven) oder
         beides geht Hand in Hand. Dem Zuschauer erschließt       Mit welchen Inhalten kann der Erzählraum gefüllt
         sich am Ende ein Sinn oder gerade die Sinnlosigkeit      werden, um eine Welt zu definieren? Im Folgenden
         von allem.                                               reiße ich einige maßgebliche Elemente lediglich an,
             Dabei hat sich das Erzählen in den letzten 15        ohne auf Wirkung und Zusammenspiel einzugehen.
         Jahren verändert. Die längere und freiere Erzählzeit     Vollständig ist diese Aufzählung nicht.
         von Serien mit horizontalen Strängen erfordert ein
         epischeres Herangehen. In Serien gibt es oftmals vie-       1. Setting
         le Nebenfiguren und -handlungen, die die Welt der           Grundlegend ist das Setting, also der Ort, an dem
         Geschichte von verschiedenen Seiten möglichst breit         eine Geschichte spielt. Vielleicht handelt es sich
         beleuchten. Der lange fast vergessene Erzählraum            um eine Autobahnraststätte, ein Ufo oder eine
         wird dadurch auch theoretisch interessant.                  Psychiatrie. Vielleicht spielt sie im ewigen Eis

                                                                                        N°48  |  November 2020
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DRAMAT U RG ISCHES LE XIKON              |6

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                                                                         pixabay.com

oder beim Karneval in Venedig. Nach Eschke/          1962). Was passt zur Hauptfigur und zum The-
Bohne (2018) lassen sich Welten grundsätzlich        ma? Ist es sinnvoller, dass sich eine Protagonistin
zwischen zwei Polen ansiedeln: Manche sind dem       in einer kleinen Welt zurechtfinden muss? Soll
Zuschauer vertraut. Er kennt sie zumeist aus sei-    sie sich in einer größeren Welt bestens auskennen
nem eigenen Umfeld, aus den Bereichen Familie        – oder im Gegenteil: verloren sein?
und Freunde; es sind Schulen, Arztpraxen, Kran-
kenhäuser und Arbeitsplätze. Oder sie sind in        Ist die Welt in Teilräume unterteilt? Viele Ge-
einer bestimmten Ausprägung fester Bestandteil       schichten spielen mit dem Gegensatz aus einer
gängiger Narrationen wie Polizeireviere, Gerich-     gewohnten Welt und einer neuen Welt. Doch
te und (wiederum) Krankenhäuser. Diese Welten        es kann weitere Teilwelten oder Unterteilungen
zielen vorrangig auf die leichte Wiedererkenn-       und dort platzierte Figuren geben. Sie können
barkeit durch das Publikum. Demgegenüber gibt        jeweils unterschiedliche Facetten der Welt mul-
es Welten, die der Zuschauerin nur vage bekannt      tiperspektivisch beleuchten. Teilwelten können
sind oder einen eingeschränkten Zugang haben.        nebeneinander oder nacheinander wie Ebenen in
Das könnten sein: Tschernobyl nach dem Reak-         Games angeordnet sein. Vielleicht sind manche
torunfall 1986, eine Gummibärchenfabrik, das         versteckt, geheim oder verboten.
Leben der Wikinger oder eine neuartige Vorstel-          Nach welchem Grundgesetz funktioniert eine
lung der Zukunft. Diese besonderen Welten zielen     Erzählwelt? Eine Geschichte geht vom Ideal der
vorrangig auf das Interesse am Neuen.                großen Liebe aus. In einer anderen gilt ein Ma-
                                                     fia-Kodex. Vielleicht schwört ein Kreis von Ju-
2. Aufbau                                            gendlichen, immer füreinander einzustehen; eine
Aus dem Setting ergibt sich vieles weitere. Oft      Regierung fordert Linientreue. Welche grundle-
erlebe ich es als hilfreich, zunächst dazu passen-   genden Werte werden dadurch berührt, welcher
de Figuren, Beziehungen, Haltungen, Werte und        kann herausgehoben werden (Freiheit, Loyalität,
Rituale, Räume, Wege und Objekte (aus Natur,         Freundschaft, Tradition oder ...)? Und vor allem:
Kultur und Technik) zu sammeln und erst nach         Welcher Gegenentwurf ist denkbar? So kommt es
und nach zu entscheiden, was sich davon wirk-        zu Wertekonflikten wie sie Roland Zag in „Di-
lich in die Welt der Geschichte fügt und sie aus-    mensionen filmischer Erzählung“ beschrieben
drucksstärker macht. Dabei helfen die folgenden      hat. Hieraus lassen sich kleinere, konkretere Re-
Fragen:                                              geln wie Belohnungen und Strafen ableiten –
    In welchen Grenzen wird die Welt insgesamt       oder umgekehrt.
erzählt? Es macht einen Unterschied, ob eine
skurrile Dorfidylle in der Eifel dominiert (Mord     3. Tonalität
mit Aussicht, D 2007–2014), ob ein regionaler        Die Welt der Geschichte ist   auch bestimmt durch
Kriminalfall in einen globalen Kontext eingeord-     ihren Ausdruck und den         damit verbundenen
net ist (Wallander-Reihe, SE/D 2005–2013) oder       Bezug zur Realität. Neben     dem Genre, das sich
ob James Bond um die ganze Welt jettet (USA seit     passend oder im Kontrast      zu anderen Elemen-

                                                                        N°48  |  November 2020
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   ten setzen lässt, ist es möglich, über kulturhis-                                      
   torische Stile oder Stilmittel nachzudenken und
   eine zur Aussage und zum Thema passende Mi-
   schung zu finden: Manche Geschichten zeigen                                            Film
                                                                                          in der edition text+kritik
   die Schattenseiten der Welt sachlich oder natura-
   listisch. Andere beinhalten romantisierte, beson-
   ders freundliche Krankenschwestern. Expressio-

                                                             F I L M � KO N ZE P T E 59
                                                                                              FILM-KONZEPTE
   nistische Elemente betonen u.U. die Brüchigkeit                                            59
                                                                                                                                  Begründet von
                                                                                                                                  Thomas Koebner
                                                                                                      9 / 2020                    Herausgegeben
                                                                                                                                  von Kristina Köhler,

   und Gewalttätigkeit der Welt. In manchen Serien

                                                            ULRICH SEIDL
                                                                                                                                  Fabienne Liptay und
                                                                                              Corina Erk / Brad Prager (Hg.)      Jörg Schweinitz

   transportieren surreale Elemente die Erlebnisse                                            ULRICH
   mit Toten, Untoten oder übersinnlichen Erlebnis-                                           SEIDL                                                      Corina Erk/
   sen. Prägen lässt sich die Tonalität auch durch                                                                                                       Brad Prager (Hg.)
   Metaphern und symbolische Elemente. Zumeist                                                                                                           Heft 59
   gibt es ein oder mehrere wiederkehrende Leitmo-                                                                                                       Ulrich Seidl
   tive. Die Krimi-Serie DER PASS bringt die dort                                                                                                        September 2020,
   erzählte Kälte zwischen den Menschen immer                                                                                                            108 Seiten,
                                                                                                                                                         zahlreiche farbige
   wieder durch ästhetisch gefilmte Winterwald-                                                                                                          und s/w-Abbildungen
   Bilder zum Ausdruck.                                                                                                                                  € 20,–

                                                                                                                       auch als                          ISBN 978-3-96707-425-3
Fazit                                                                                                               eBook

Die Elemente einer Welt der Geschichte stehen dabei
gerade nicht in Konkurrenz zu ihrem Ablauf in der
Zeit, d.h. zur inneren Entwicklung der Figuren und
der äußeren Handlung. Jedes Drehbuch entsteht im
allmählichen Zusammendenken von Figuren, Plot
und Welt. Das Handeln der Figuren in der Zeit ver-
ändert die Welt und die Welt bestimmt ihr Handeln.       Lust) Kohärenz erkennt und einen Bedeutungs- oder
An den Kreativen und dem Inhalt ihrer Geschich-          Sinnzusammenhang herstellt. Die aktuellen world-
te hängt, welcher dieser Aspekte prägend ist und         driven erzählten Serien zeigen auch: Je erkennbarer
wann er während der Stoffentwicklung im Vorder-          eine in diesem Sinne verstandene Einheit des Raums
grund steht. Bei meiner dramaturgischen Arbeit in        bedient wird, umso souveräner können Kreative die
den letzten Jahren habe ich allerdings vielfach die      Einheit der Zeit aufbrechen: durch Ellipsen, Flash-
Erfahrung gemacht, dass es hilfreich ist, einen Stoff    backs oder mehrere Zeitebenen – ohne dass die Ein-
world-driven anzugehen und/oder ganz bewusst sei-        heit einer Geschichte insgesamt verloren geht.
ne Welt auszuschöpfen. Das bedeutet, die Welt der
Geschichte als gleichberechtigten Aspekt neben Plot
und Figuren zu betrachten.
    Wichtig ist das nicht nur bei der Entwicklung von
Serien. Auch bei Einzelfilmen ist es inspirierend, mit                   Dr. Eva-Maria Fahmüller arbeitet
den Kreativen tief in die Welt der Geschichte einzu-                     seit 2000 als Dramaturgin und
tauchen. Ein reichhaltig und stimmig ausgestatteter                      leitet seit 2009 die Master School
Erzählraum charakterisiert Figuren. Er bietet spezi-                     Drehbuch. Zurzeit arbeitet sie an
fische Elemente, aus denen Autorinnen im Prozess                         einem Handbuch, das Kreativen
schöpfen und mit denen sie frei umgehen können.                          und Machern ganz praktisch dabei
Genauso wie der Ablauf in der Zeit kann eine Welt                        helfen soll, Welten für Serien und
der Geschichte einen Stoff zu einer Einheit wer-                         Filme zu verstehen und zu entwi-
den lassen. Am Ende geht es stets darum, dass der                        ckeln. Es wird im Frühjahr 2021
Zuschauer – wodurch auch immer – in den Bruchstü-        erscheinen. Eva-Maria Fahmüller ist Vorsitzende
cken einer audiovisuellen Erzählung (aktiv und mit       von VeDRA.

                                                                                                                                    N°48  |  November 2020
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Vom Lektorat zum Backtorat |                                                 Roman Klink         (VeDRA)

Ein Vorschlag

            euilletontexte und Fotos in sozialen        Projektentwicklung zu machen und aus vergangenen
   F        Medien zeugen von der erfolgreichen
            Festival­tour. Aufregende Erinnerungen
                                                        Versäumnissen zu lernen. Doch diese Art der Evalua-
                                                        tion ist hierzulande noch sehr ausbaufähig.
            an die glamouröse Premiere samt Par-            Bis heute verkürzen manche Kreative aus Deutsch-
ty flackern auf. Vielleicht ist auch die Nervosität     land komplexe und vielfältige US-amerikanische Pro-
aufrufbar, mit der man erste Meldungen zu Ticket-       duktionsstrukturen zu veralteten Schmähbegriffen
verkäufen erwartete. Und dann ist die Kinoauswer-       wie „Kommerzkino“. Hinsichtlich der analytischen
tung plötzlich vorbei. Der Film findet sich auf einer   Rückschau kann man jedoch von den US-Kollegen
Streaming­plattform oder hat Premiere im Free-TV.       lernen. Um konkret zu werden: Wer zum Beispiel die
Das Projekt wird in Aktenordnern abgelegt und           jährliche Box-Office-Analyse der größten Hits und
taucht in halbherzigen Statistiken auf.                 Flops auf deadline.com verfolgt, wird differenzierte
                                                        Betrachtungsweisen finden, in die auch künstleri-
Neben der verständlichen subjektiven Sicht gibt es      sche Aspekte einfließen. Beispielsweise lohnt sich
aber Daten, handfeste und greifbare Ergebnisse der      ein Blick auf die detektivische Arbeit, mit welcher
„Laufbahn“ eines Films. Erfolg ist bis zu einem ge-     der Diskrepanz zwischen begeisterter Kritik und ge-
wissen Grad messbar: die Kino-Reichweite mit ver-       mischter Publikumsresonanz beim Auteur-Blockbus-
kauften Tickets, Kopienschnitt und Langlebigkeit in     ter BLADE RUNNER 2049 auf den Grund gegangen
Filmtheatern; die Resonanz im Home Entertainment        wurde. Analyse-Kandidaten bietet auch die hiesige
und TV (mittlerweile geben auch die Player aus dem      Kinolandschaft, und hier kommt das titelgebende
SVoD-Bereich häppchenweise, teils kryptische Zah-       „Backtorat“ ins Spiel. Zugegebenermaßen ist diese
len heraus) und die Präsenz in Foren und sozialen       vorläufige Wortschöpfung ein Vorschlag und eine
Netzwerken. Auch Rezensionen und Publikumsreak-         Einladung zum Austausch, um gemeinsam ein Werk-
tionen sind quantifizierbar. Könnte man aus all die-    zeug zur zielführenden Evaluation zu schaffen. Was
sen Aspekten nicht Erkenntnisse ziehen für Zukünf-      hat es damit auf sich?
tiges, gerade wenn man ernsthaft eine wirtschaftlich
und kulturell nachhaltige Filmlandschaft anstrebt?      Dramaturginnen und Dramaturgen begleiten Pro-
    In meiner Vergangenheit als TV-Redakteur für        jekte oft über lange Zeiträume und mehrere Phasen
Kinofilme erlebte ich so manches Abwehrmanöver          hinweg. Sie lektorieren, dokumentieren, zeigen Opti-
– sowohl von Kreativen als auch aus der Produk-         onen und Alternativen auf, skizzieren die möglichen
tion -, um sich nicht mit Themen wie Zielgruppe         Auswirkungen. Diese Aufzeichnungen können in der
oder Reichweite auseinanderzusetzen zu müssen.          Rückschau helfen
„Zielgruppe? Natürlich alle. Die Leute ins Kino zu          Analog zum Lektorat kann eine rückblickende Be-
bekommen, ist ja dann Aufgabe von Marketing und         trachtung, das „Backtorat“, viele Entscheidungen aus
Verleih.“ Doch stimmt das? Ist es wirklich möglich,     der Entstehung einordnen: Kamen bei Publikum und
erst bei der Veröffentlichung eine Zielgruppe zu „er-   Presse inhaltliche und künstlerische Aspekte so an,
finden“, wenn das Werk ohne übermäßige Sensibi-         wie sie geplant waren? Wurde eine vermutete Provo-
lität für Publikumsinteresse und -rezeption konzi-      kation als solche empfunden? War das übermäßige
piert wurde? Paradoxerweise wird bei mangelndem         Auserklären einer Plot-Wendung tatsächlich nötig?
Zuspruch die Ursache dann meist anderen Faktoren        Sind fürs Verständnis wesentliche Andeutungen
zugeschrieben – dem Verleih, der übermächtigen          untergegangen? Haben die gezielt als hoch emotio-
Konkurrenz, strengen Kritiken oder dem Wetter. Es       nal angelegten Momente wirklich berührt? War die
wäre doch eher sinnstiftend, die gern als profane,      Festival-Resonanz wie erwartet? Und genügte das
bürokratische Sichtweise abgetane Auseinanderset-       als selbstverständlich vorausgesetzte Grundinteresse,
zung mit Daten zum konstruktiven Bestandteil einer      um den Gang ins Kino auszulösen? Viel wichtiger

                                                                              N°48  |  November 2020
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als die subjektive Meinung der Analysierenden ist         Wer viel schaut, sich informiert und die Arbeit an-
also die umfangreiche Auswertung verschiedenster          derer (Filmterritorien) wertschätzen kann, wird in
Daten.                                                    Zukunft – wenn die Töpfe schrumpfen und der wirt-
    Obendrein gibt es wichtige Voraussetzung zum          schaftliche Druck steigt – möglicherweise die Nase
Gelingen des „Backtorats“. Zum einen setzt es das         vorn haben. Das kann anstrengend sein, aber um so
Eingeständnis voraus, dass ein Film nicht die ge-         süßer sind die Früchte dieser unentwegten Arbeit.
steckten Ziele erreicht hat und die Gründe dafür teil-
weise im Werk selbst liegen könnten. Zudem sollten                          Roman Klink studierte Kultur- und
die inhaltlichen und kreativen Entscheidungen in der                        Medienpädagogik, arbeitete als
Projektentwicklung abrufbar und nachvollziehbar                             Filmjournalist, kaufte für die ARD
sein, weshalb es logisch ist, die projektbegleitenden                       Degeto Filme ein und verantwortete
Dramaturginnen und Dramaturgen einzubeziehen.                               als Redakteur Kinoproduktionen.
Auch die Datenlage kann sich noch bessern. Wäre es                          Seit 2013 ist er als Autor, Lektor
z.B. nicht hilfreich – und ehrlich gesagt, zeitgemäß –,                     und Dramaturg tätig. Seit 2019 ist
im vergleichsweise teuren, hiesigen „meistgenutzten                         er im VeDRA-Vorstand.
Fachinformationsportal der Entertainmentbranche“
bei Prognosen und Berichten nicht nur die Marke-
ting-Schlagworte von Anzeigenkunden zu lesen,
sondern mehr über die Social-Media-Resonanz von
Filmen und Serien zu erfahren?

In der Förderlandschaft ist eine Evaluation in dieser
Form nicht vorgesehen. Jahresrückschauen sind we-
niger auf das Zusammenspiel von Inhalt und Reso-
nanz ausgelegt, als auf Marktanteile und Demogra-
phisches. Ein möglicher Grund liegt auf der Hand:                                           %IN (AND
                                                                  TIMO GÖSSLER              BUCH F~R
Eine komplexe Rückschau ist sehr aufwendig. Sie
                                                                  KATRIN MERKEL             3ERIENPRO½S
ergibt nur als kompetenter und daher auch entspre-
                                                                                            UND SOLCHE
chend entlohnter Arbeitsprozess Sinn. Die Hoffnung
                                                                                            DIE ES WERDEN
ruht daher zunächst auf Produzentinnen, Produzen-
ten und Produktionsfirmen, die ein Zusammenspiel                 THE                        WOLLEN
aus kommerzieller und kreativer Nachhaltigkeit auf               GERMAN
                                                                 ROOM
der Agenda haben und ein solches „Backtorat“ er-
gebnisoffen in Auftrag geben.
    Doch vielleicht lohnt sich diese Herangehens-
                                                                 Der US-Writers’ Room
weise. Durch Streamer und soziale Medien ist die                 in der deutschen              %RSCHEIN
                                                                                             IM &R~H T
Konkurrenz schon seit einiger Zeit global. Ein großer            Serienentwicklung
Teil des Publikums unterscheidet nicht mehr zwi-                                                     JAHR
schen heimischer und internationaler Produktion,                                               
sondern viel mehr zwischen „macht mich neugierig“
und „interessiert mich nicht“. Auch deutsche Kreati-
ve könnten durchaus noch mehr über den Tellerrand
hinausschauen, sich nicht nur auf Feuilletonempfeh-
lungen, eigene Konditionierung oder vermeintlichen
Qualitäts-Konsens verlassen und aus der eigenen
Medien-Blase hinaustreten.

                                                                                  N°48  |  November 2020
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            We are what we watch |                                        Christine Pepersack           (VeDRA)

            Gut gemachte Fernseh- und Streamingserien haben gleich mehrere Qualitäten. Zum einen schaffen sie es, über
            eine weite Erzählstrecke zu unterhalten. Zum anderen hinterlassen sie den Zuschauer auch mit einem neuen
            Mindset – wenn er es denn zulässt, sich damit auseinanderzusetzen.

                      etzt mal ehrlich: Wir lieben Serien. Wir       600-Minuten-Epos anzuklicken, das der Algorith-
                J     leben ja auch im goldenen Zeitalter der
                      Serie. Tatsächlich ist es heutzutage gar
                                                                     mus des Streaming-Dienstes unseres Vertrauens vor-
                                                                     schlägt, kann es sich aber durchaus lohnen, einen
                      nicht mal so leicht, jemanden zu finden,       Blick nach innen zu werfen.
         der keine Serien schaut (Traditionalisten und be-               Schaue ich noch genauso auf die Welt, nach-
         stimmte Altersgruppen ausgenommen). Manch einer             dem ich in DARK die Grenzen von Zeit und Raum
         ist sogar geradezu besessen von Serien. Im modernen         überwunden habe? Wie denke ich über Politik, und
         Jargon nennen wir das auch Binge-Watching – vor             vertraue ich noch den Medien, nachdem ich mit
         lauter Serienwahn bleibt gar keine Zeit mehr, tief-         BORGEN oder HOUSE OF CARDS einen Blick ins In-
         gehender über das Gesehene nachzudenken. Neben              nerste von politischen Machtzentren geworfen habe?
         dem reinen Unterhaltungswert und Zeitvertreib, den          Wähle ich nach LOST plötzlich andere Lottozahlen?
         eine im Schnitt zehnstündige Serie uns bietet, ist da       Auf wessen Seite stehe ich in THE AFFAIR? Fan-
         aber noch mehr, und das betrifft weniger die Serie          ge ich nach THE HANDMAID’S TALE an, mich für
         als vielmehr uns selbst: Nachdem wir Stunden über           Feminismus zu interessieren, und sehe ich durch
         Stunden mit Serienfiguren, ihren Konflikten, Nieder-        WHEN THEY SEE US oder SUCCESSION mit anderen
                                      lagen und Erfolgen ver-        Augen auf die amerikanische Gesellschaft und ihr
                                      bracht haben, gehen wir        Rechtssystem? Hätte ich SLØBORN anders auf- und
Ein Plädoyer für mehr                 anders aus einer komplex       wahrgenommen, hätte die vor der Ausstrahlung ein-
Selbstreflexion in der                erzählten Serie heraus, als    getretene Sensibilisierung für ein Epidemiegesche-
Serienrezeption                       wir hineingegangen sind.       hen nicht stattgefunden? Es gäbe noch hunderte Bei-
                                      Jede Serie, die wir schauen,   spiele für die Wirkung einer Serie auf unser Denken
                                      macht etwas mit uns. Dif-      und unser Leben. Was wir aber festhalten können,
         ferenziert betrachtet, trifft das natürlich auch auf je-    ist: Wir sind und bleiben die Summe unserer Erfah-
         den Film zu. Aber eine Geschichte, der wir anstatt im       rungen. Das ist zwar an sich keine neue Erkenntnis,
         Durchschnitt 100 Minuten über acht bis zehn Stun-           doch viel zu selten werden unsere Weltanschauung
         den folgen, hat auch mehr Zeit zu wirken. Immer-            und unser mediales Rezeptionsverhalten einer ge-
         hin sind acht Stunden 480, zehn Stunden ganze 600           meinschaftlichen Betrachtung unterzogen. Denn Teil
         Minuten. Ganz davon abgesehen, welches Potenzie-            unserer Erfahrungen ist nicht nur, was wir erleben,
         rungspotenzial entsteht, wenn eine Serie gleich meh-        sondern auch das, was wir medial über einen Bild-
         rere Staffeln umfasst. Doch wir sind so gefangen in         schirm wahrnehmen.
         der Welt einer nicht enden wollenden Serienauswahl,             Leider geht unser Blick aber in der Regel nur so
         dass wir gar nicht mehr dazu kommen, in uns hinein-         weit, zu sezieren, was wir auf dem Bildschirm se-
         zuhorchen. Anstatt nach dem Ende einer in solcher           hen, nicht aber, was wir auf der emotionalen Ebene
         Breite erzähl-                                                             spüren, und was das mit uns macht.
         ten Geschich-                                                              Wir können stundenlang analysieren
         te gleich dem                                                              und auseinandernehmen, warum eine
         Drang unserer                                                              Serie mehr oder weniger gut gemacht
         Serien-Beses-                                                              ist. Warum diese oder jene Logik nicht
         senheit nach-                                                              funktioniert. Wir freuen uns, wenn wir
         zugeben, und                                                               Plotholes und Unglaubwürdigkeiten
         das nächste                                                                entdecken, und weisen Serienmacher­

          Bild: Marques Kaspbrak,
                    unsplash.com
                                                                                           N°48  |  November 2020
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innen und Serienmachern nur zu gerne ihre Un-            Hauptfigur sein. In dem Maße, wie diese Figuren sich
zulänglichkeiten nach. Warum also nicht mal den          verändern – Herausforderungen annehmen, an ihnen
wahrnehmenden Blick nicht nur objektiv schweifen         scheitern, Hindernisse überwinden, soziale Normen
lassen? Viel zu selten werfen wir, die wir nur zu ger-   in Frage stellen und Erfolg haben – beginnt sich
ne Kritik üben an Fernsehen und Streaming, einen         auch unsere Einstellung als Zuschauer zu verändern.
vollkommen und bewusst subjektiven Blick nach in-        Durch die Rezeption einer Serie wird es möglich,
nen, der von der Machart der Serie hinüberspringt zu     neue Interessensgebiete zu entdecken, eine politische
dem, was diese in uns auslöst.                           Haltung auszubilden, neue Rollenmodelle und Ent-
Es ist kein Geheimnis, dass der Mensch lernt, indem      scheidungsrahmen zu akzeptieren.
er die Welt und Individuen um sich herum wahr-               Weitergedacht, beeinflussen Serien also durchaus,
nimmt und imitiert. Schon in den 1970er-Jahren           wie wir die Welt sehen – und zwar ganz im Sinne des
haben Studien, u.a. des kanadischen Sozialpsycholo-      modernen Individuums. Aufgrund des heute allum-
gen Albert Bandura (*1925), gezeigt, dass unser Ver-     fassenden Angebots an seriell erzählten Geschichten
halten von dem beeinflusst wird, was wir sehen. Da       formen sich unzählige individuelle Weltbilder, ab-
verwundert es kaum, dass qualitativ hochwertige Se-      hängig von der Seherfahrung, die wir, jeder für sich,
rien uns mehr beeinflussen als wir erwarten mögen        gemacht haben. Das kollektive Seherlebnis linear
– sie formen unser Denken, unsere politische Einstel-    ausgestrahlter Inhalte dagegen, das uns über Jahr-
lung, ja sogar unsere kognitiven Fähigkeiten. Eine       zehnte begleitete, hat seit der Einführung des immer
10-Stunden-Serie kann heute sogar gleichwertig mit       verfügbaren Streamings quasi ausgedient.
einem bereichernden Roman sein. Roman? Ja, ge-
nau: Früher definierten wir unser Weltbild über das,     Horchen wir doch einfach mal mehr in uns hinein,
was wir lasen – nicht umsonst gab es eine Zeit, in der   wenn wir eine Serie oder eine Serienstaffel beendet
der sog. Bildungsroman die kollektive Weltanschau-       haben. Spüren nach, was sich in uns vielleicht ver-
ung formte. Diese Funktion hat längst das bewegte        ändert hat. Lässt sich die Realität klar abgrenzen zu
Bild übernommen, auf dem Fernseher, dem Laptop,          der gerade erlebten Fiktion? Natürlich wissen wir,
dem Smartphone. Tagtäglich, rund um die Uhr sind         dass das, was wir auf dem Bildschirm sehen, nur eine
wir umgeben von Bildschirmen jeglicher Größe – wie       ausgedachte Geschichte ist. Aber nach zehn Stunden,
könnten wir also annehmen, dass die Inhalte, die wir     in denen wir mit den Figuren durch dick und dünn
über diese Bildschirme wahrnehmen und verarbei-          gegangen sind, können wir nicht verhindern, dass
ten, nicht das Denken und Verhalten von Einzelnen,       wir die Welt doch durch ein bisschen andere Augen
Familien und ganzen Gemeinschaften beeinflussen          sehen. Die Emotion, die wir im Verlauf des Sehens
würde? Wenn die Wissenschaft uns beweist, dass ein       gespürt haben, ist ebenso wahrhaftig wie die echte
Zusammenhang zwischen dem, was wir sehen, und            Welt, in die wir danach zurückfallen. Solange un-
unserem Verhalten besteht, und Daten uns verraten,       ser Seherlebnis aber noch in uns nachwirkt, solange
dass wir mehr und mehr Zeit auf unseren Bildschir-       wir es in uns reflektieren, überlagern sich gewisser-
men verbringen, können wir gar nicht mehr umhin,         maßen zwei Welten, in denen wir die Realität nach
den Einfluss anzuerkennen, den auch und besonders        den Maßgaben der Fiktion beurteilen. Und das kann
lange Erzählformen wie Serien auf uns haben. Wir         durchaus seinen Reiz haben.
müssen dem nur auf den Grund gehen und dabei
aushalten können, dass Entertainment uns manch-                            Christine Pepersack hat Germa-
mal auch eine Haltung abverlangt.                                          nistik und Theaterwissenschaft
    So wie wir uns in einer Zeit vor der goldenen Ära                      studiert und ist freie Drehbuchau-
der Serie in einen Roman vertieften und die Welt für                       torin, Lektorin und Dramaturgin.
eine Weile durch die Augen der Hauptfigur sahen, so                        Ihr Fokus in der Stoffentwicklung
versetzen wir uns heute in die Rolle einer Serienfi-                       liegt vor allem auf dem Thema
gur. Ihre Welt wird für eine Weile zur unsrigen. Wir                       Serie. Seit Anfang 2020 ist sie
sehen uns selbst in dieser oder jener Figur, und je                        außerdem Lehrbeauftragte für Er-
komplexer die erzählte Welt und das Figurengeflecht                        zählkompetenz und Seriendrama-
aufgebaut sind, muss das nicht einmal zwingend die       turgie an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden.

                                                                               N°48  |  November 2020
Kreativ Schreiben             | 12

           Creative Writing: Going Digital |                                                     Frank Raki       (VeDRA)

           Das Ende einer Utopie                                    und fokussiert, wenn sie – absehbar – mit Video-
                                                                    konferenzen und PDFs bombardiert werden und mit
                     ch gebe einen Creative Writing-Kurs an         Langeweile und Überforderung zu kämpfen haben?
              I      der Hochschule München. Bis zum Win-
                     tersemester 2019/20 saß ich dazu mit           Ein neues Konzept
                     den Studierenden in einem Raum. Es ist
        ein interaktiver Kurs, mit vielen Übungen und Run-          Ich nahm die Herausforderung an. Um die digitalen
        den konstruktiven Feedbacks. Wissensvermittlung             Chancen zu nutzen – und nicht nur meinen bisheri-
        ist hier zweitrangig. Es geht mir darum, dass die Stu-      gen Kurs in eine digitale Form zu übertragen –, fällte
        dierenden ein Gefühl für ihre Kreativität entwickeln        ich zuerst eine psychologisch hilfreiche Entschei-
        und Erfahrungen machen, aus denen sie eigene kre-           dung: Ich würde meinen alten Kurs betrauern, ad acta
        ative Maßstäbe ableiten können. Persönlichkeitsent-         legen und einen komplett neuen Creative Writing-
        wicklung. Über sechs Tage Kurszeit wächst die Grup-         Kurs entwickeln. Außerdem setzte ich mir das Ziel,
        pe so weit zusammen, dass wir am Ende                       so wenig Kurszeit wie möglich in Videokonferenzen
        Lebensprobleme besprechen oder zu alkoholfreiem             zu verbringen, da sie, sofern hohe Aufmerksamkeit
                                      Punsch Folk-Lieder sin-       gefordert ist, sehr anstrengend werden. Stattdessen
                                      gen.                          wollte ich möglichst viele Inhalte in asynchrone
Kreatives Schreiben in                Ich bezeichne diesen Kurs     Lehrteile verwandeln und den Studierenden damit
einer Atmosphäre des                  als den einzigen Ort des      erlauben, den Kurs in ihrem individuellen Tempo zu
Vertrauens und der                    Studiums, an dem die          absolvieren.
                                      Studierenden ganz sie             Die Feedbackrunden zu den Kreativtexten schrift-
Wertschätzung – geht                  selber sein dürfen und an     lich in einem Online-Forum stattfinden zu lassen,
das auch online? Ein                  dem es kein „richtig“ und     schien mir jedoch nicht sinnvoll. Die Studierenden
                                      „falsch“ gibt. Es dürfen      kommen aus Studiengängen wie BWL, Tourismus-
Erfahrungsbericht.                    auch private Dinge zur        management und Physik zum Studium Generale,
                                      Sprache kommen. Man-          kennen einander nicht und sind im Feedbackgeben
        che Teilnehmende verarbeiten in ihren Texten sehr           weitgehend ungeschult. Es war daher ratsam, die
        persönliche Themen – im Extremfall, Opfer eines             Texte in einer Livekonferenz zu besprechen und die-
        Amoklaufs geworden zu sein oder eine Zeit in ei-            se zu moderieren.
        ner psychiatrischen Einrichtung verbracht zu haben.             Die Hauptfrage war für mich allerdings, wie ich
        Vertrauen und Wertschätzung innerhalb der Gruppe            meine Zielgruppe im Alter von Anfang bis Mit-
        sind wichtig.                                               te Zwanzig am leichtesten abholen und auf einen
            Vor diesem Hintergrund empfand ich es als De-           Kurs einschwingen kann, der so persönlich wie un-
        saster, als Anfang April 2020 entschieden wurde,            terhaltsam ist. Die Stolperfallen sind vielfältig. Vie-
        den Lehrbetrieb an den bayerischen Hochschulen              le Studierende kommen leider schon nach wenigen
        im Sommersemester komplett digital durchzuführen.           Semestern mit niedriger Motivation in neue Kurse.
        Ich überlegte, den Kurs aufzugeben. Ich hatte keine         Sie sind genervt von altbackenen Videovorlesungen
                    Antworten auf die Fragen, die sich mir          oder PDF-Materialien. Sie stehen oft unter hohem
                         stellten: Kann ein solcher Kurs rein       Leistungsdruck. Ganz abgesehen davon, dass es eine
                             digital funktionieren? Wie stellt      natürliche Hemmung gibt, sich in einer Gruppe Un-
                               man Vertrauen zueinander her,        bekannter zu öffnen und gar mit einem Dozenten
                                 wenn man sich nie begegnet?        aus der Generation 50+ zu einer vertraulichen Hel-
                                  Wie erreicht man ein Klima        denreise aufzubrechen.
                                   der Wertschätzung im virtu-          Ich stellte mir die Schlüsselfrage: Welchen Kurs
                                    ellen Raum? Wie hält man        würde ich selbst in dieser Situation gern besuchen?
                                    Studierende      interessiert   Und mit einem Mal lösten sich viele Probleme mit

                                    Bild: Thougt Catalog/
                                    unsplash.com                                           N°48  |  November 2020
Kreativ Schreiben           | 13

einer intuitiven Antwort auf: Als Studierender hätte      Ergebnisse und Ausblick
ich gern einen Podcast, den ich jederzeit und überall
hören kann. Kurz und knackig, damit ich ihn zwi-          Das Kurskonzept ging besser als erwartet auf. Die
schen die Veranstaltungen meines ansonsten über-          Studierenden beteiligten sich genauso intensiv wie
vollen Lehrplans schieben kann.                           in einem Präsenzkurs, und wie in jedem Semester
    Ein Podcast ist nicht nur zur Vermittlung krea-       empfanden sie Wehmut, als der Kurs zu Ende ging.
tiven Lehrstoffs gut geeignet. Vor allem ermöglicht       Einigen Stimmen zufolge konnten sie „etwas fürs Le-
er es bei einer regelmäßigen Veröffentlichung, die        ben mitnehmen“, und sie waren überrascht, wie stark
Studierenden engagiert in einem kontinuierlichen          sie als Gruppe zusammengewachsen waren. Ohne
Schreibprozess zu halten. Wer täglich 5–10 Minu-          meine Anregung bildeten sie eine Schreibgruppe, um
ten Podcast hört und zum Schluss zu einer kleinen         die Reise miteinander fortzusetzen.
Schreibübung angeleitet wird, bleibt im Fluss – eine          Für mich selbst gab es einige unerwartete Lern­
der wichtigsten Bedingungen, wenn man etwas über          effekte. Die Podcast-Produktion half mir, eine eige-
das Funktionieren des eigenen Schreibprozesses ler-       ne, freie Regelung für gendergerechtere Sprache zu
nen will.                                                 entwickeln. Ich bekam zudem ein neues Bewusstsein
    Der besondere Vorteil eines Podcasts ist aber, dass   für meine Artikulation, und ich lernte Audiosoftware
er auf zwanglose Art Vertrauen schafft. Hört man          zu bedienen. Ein weiterer Bonus des digitalen Trans-
einer menschlichen Stimme konzentriert zu, so ent-        fers: Während des Semesters muss ich nun nicht
steht eine fast intime Nähe. Nach einer gewissen Zeit     mehr wochenlang vor Ort sein.
empfindet man Vertrautheit zum Sprecher. Dieses               Bei allem, was in diesem Kurs gelang, bevorzuge
Vertrauen, so hoffte ich, würden die Studierenden in      ich dennoch Präsenzkurse. Sie bieten größere Gestal-
die Online-Konferenzen mitbringen und wäre eine           tungsmöglichkeiten für die Lehre. Viele Gruppen-
gute Basis für die gesamte Gruppe.                        übungen lassen sich online nicht umsetzen. Nicht
    Der Produktionsaufwand eines kurzen täglichen         zuletzt ist der soziale Umgang miteinander in der
Podcasts schien mir bewältigbar, und so war die           Präsenz nicht eingeschränkt. Als es in diesem Semes-
Entscheidung für das Rückgrat des Kurses getrof-          ter überraschend zu einer tränenbewegten Situation
fen. Aufwendig wurde es letzten Endes dennoch. Das        kam, konnte nur verbal Trost gespendet werden.
freie Sprechen liegt mir ohne Publikum nicht, ich             Die Hochschule München hat vor kurzem ent-
musste jede Episode daher zuvor skripten.                 schieden, in Zukunft noch mehr auf individuelles,
Für die Videokonferenzen etablierte ich zu Beginn         asynchrones Lernen zu setzen und Kurse im Hyb-
des Kurses die Regel, Kameras und Mikrophone kon-         rid-Konzept anzubieten, d.h. in einer Mischung aus
stant eingeschaltet zu lassen – ganz entgegen den         Digital und Präsenz. Dafür gerüstet zu sein, ist ein
Vorschriften in anderen Kursen der Studierenden.          gutes Gefühl.
Denn sehen wir einander und unsere körpersprach-
lichen Reaktionen, dann spüren wir auch eine so-          Der Podcast ist online öffentlich abrufbar unter:
ziale Verpflichtung füreinander. Wertschätzende           www.frank-raki.de/podcast.html
Interaktion – die beim Feedback-Geben essenziell
ist – fällt uns leichter. Eingeschaltete Mikrophone
sorgen außerdem dafür, dass die Teilnehmenden sich
aktiv und spontan beteiligen können. Eine Stumm-                            Frank Raki arbeitet als Drama-
            schaltung verführt zu einer passiven Hal-                       turg, Schreibcoach und Urheber-
                 tung – der Tod für eine produktive                         rechtsgutachter. DAS INFERNO
                    Feedbackrunde. Das permanente                           – FLAMMEN ÜBER BERLIN und
                      Live-Sein hat auf Zoom mit 16                         das preisgekrönte Transmedia-
                        Teilnehmenden übrigens sel-                         Konzept VIER AFFEN gehören zu
                         ten zu Problemen geführt.                          seinem Autoren-Werk. Als Film-
                          Gab es Störgeräusche, war                         dramaturg ist er auf Genrestoffe
                           der Fall schnell zu klären.                      und Adaptionen spezialisiert.

                         Bild: Chris Montgomery/
                         unsplash.com                                          N°48  |  November 2020
SEMINARCHECK          | 14

           Diverses Erzählen |                                   Jörg Michael Semsch           (VeDRA)

           Ein engagiertes Seminar zum Thema gesellschaftliche Vielfalt und Antidiskriminierung fand am 26. und
           27. September 2020 in Berlin statt. In den Räumen der Literaturhauses Lettretage in Kreuzberg begrüß-
           te VeDRA-Vorstandsmitglied Angela Heuser die beiden Gründerinnen des „Büros für vielfältiges Erzählen“
           Letízia Milano und Johanna Faltinat. Diese sensibilisierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für systemi-
           sche Strukturen der Diskriminierung und zeigten mit einem eigens entwickelten dramaturgischen Modell Wege
           auf, durch Inklusion Geschichten zu bereichern.

                     ine kleine Erzählung relativ am Anfang           schen oder Frauen – allzu schnell, so der Tenor der
              E      sorgt gleich schon mal für einen Aha-
                     Effekt: Eine junge, studierte Brasiliane-
                                                                      Anwesenden, wird darauf verwiesen, dass es bereits
                                                                      hinreichend Produktionen zu den Themen gibt.
                     rin aus der weißen Mittelschicht kommt               Geschichten formen Gesellschaften formen Ge-
         nach Deutschland und wird plötzlich zu einer „Per-           schichten. Milano und Faltinat sehen hier viele
         son of Colour“. So schnell kann’s also gehen, dass           vertane Chancen: Ihrer Meinung nach – und auch
         man aufgrund eines etwas dunkleren Hauttons völlig           hier herrschte allgemeine Zustimmung – akzeptiert
         anders betrachtet und bewertet wird. Dies ist keine          das Publikum längst ein viel breiteres Spektrum an
         Fiktion, sondern Teil der Lebensgeschichte von Letí-         Figuren. Und nicht bei jedem Charakter mit dunk-
         zia Milano. Die erfolgreiche Journalistin und Dreh-          ler Hautfarbe muss diese automatisch thematisiert
                        buchautorin erfuhr so, was es heißt,          werden. Dem gegenüber bieten diverse Figuren eine
Seminarbericht am Rande zu stehen und nicht zur                       Öffnung der Themenbandbreite. Die Erweiterung der
                        Normalität zu gehören – selbst an ei-         erzählerischen Möglichkeiten für Fernsehschaffen-
über die Angst          ner Institution wie der DFFB, wo sie          de ist auch die Triebfeder für ein dramaturgisches
vor der Anders- als Studentin erfuhr, dass Telenovelas                Instrument, das Milano und Faltinat entwickelt ha-
heit in unseren ihr doch im Blut liegen müssten.                      ben: „Das Begehren der Anderen*“ genannt, ist dies
                        Der Begriff der „Normalität“ ist dann         ein Kreismodell, in dem jede Figur hinsichtlich ih-
Stoffen                 auch eines der Keywords des Seminars,         rer Haltung zur Normalität positioniert wird. Will
                        das gleich zu Beginn auf die subtilen         die Figur Teil der Mehrheitsgesellschaft sein? Oder
                        Formen der Diskriminierung unterre-           die Gesellschaft in ihre Richtung verändern? Oder
         präsentierter Gruppen aufmerksam machen möchte:              kapselt sie sich in der Gemeinschaft ihrer Minderheit
         An der Normalität, der Mitte der Gesellschaft, richten       ab? Anhand eines Schemas können Autorinnenn wie
         sich alle Menschen aus – diejenigen, die als Teil der        auch Dramaturgen die Entwicklungsmöglichkeiten
         Mehrheitsgesellschaft bewusst oder unbewusst von             ausloten, überhaupt: die einzelnen Charaktere hin-
         Privilegien profitieren, wie auch diejenigen, denen          sichtlich ihrer Haltung besser analysieren.
         zugeschrieben wird, nicht ‚normal‘ zu sein und die               Am Ende zeigte sich die Gruppe begeistert von
         entsprechend ausgeschlossen werden. In Diskussi-             einem interessanten, spannenden, kreativen wie zu-
         onen und Spielrunden erläutern die Referentinnen             gleich auch unterhaltsamen Arbeitswochenende. Für
         Mechanismen (wie z.B. „Othering“ oder „Tokenism“),           alle, die sich für das aktuelle Thema interessieren,
         die viele Menschen aus unterrepräsentierten Grup-            stellte Angela Heuser ggf. eine Wiederholung im
         pen von einer echten Teilhabe ausschließen. Dies gilt        nächsten Jahr in Aussicht.
                    auf einer anderen Ebene auch für die hie-
                         sige TV- und Kino-Landschaft. So ist                         Jörg Michael Semsch ist freiberufli-
                             der Umgang mit Randgruppen bei                           cher Autor, Dramaturg, Lektor und
                               vielen Entscheidern immer noch                         Texter.
                                 von Ängsten geprägt, das Pu-
                                  blikum zu überfordern. Ob
                                   Homosexuelle, Transperso-
                                    nen, Nicht-weiße, körper-
                                    lich beeinträchtigte Men-

                                  Letízia Milano & Johanna Faltinat
                                  Bild: J. M. Semsch                                        N°48  |  November 2020
n AchRu f     | 15

                         Erika Richter |                        Nachruf von Ralf Schenk

                         E   rika Richter betrieb mit Leidenschaft einen Beruf, den es in den Abspännen
                             deutscher Kinofilme heute nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlich-
                         keit wie zu ihrer Zeit gibt: den der Dramaturgin. Bei der Babelsberger DEFA, wo
                         sie angestellt war, bildete die Dramaturgie eine Schaltstelle der Filmproduktion:
                         Hier wurden, gemeinsam mit den Autoren und oft auch schon mit den Regisseu-
                         ren, Stoffe ausgedacht, geprüft, entwickelt, wieder verworfen oder zur Drehreife
                         gebracht. Dramaturginnen und Dramaturgen verstanden sich ja nicht, wie heute
                         gelegentlich behauptet, als politische Kontrolleure einer vom Staat alimentierten
                         Filmproduktion. Das konnten sie manchmal auch sein, aber mehr noch galten
                         sie als künstlerisch-ästhetische Wegbegleiter, die ihre Stoffe enthusiasmiert ver-
                         fochten.

                         Erika Richter, geboren am 6. Januar 1938 in Aachen, hatte ihr Handwerk in
                         den 1950er-Jahren an der Deutschen Hochschule für Filmkunst Potsdam-Ba-
                         belsberg studiert und danach unter anderem als Redaktionsassistentin bei der
                         Zeitschrift „Deutsche Filmkunst“ und nach deren Auflösung als Redakteurin
                         der „Filmwissenschaftlichen Mitteilungen“ gearbeitet: ein Team, in dem sie
                         gemeinsam mit Kollegen wie Heinz Baumert und Wolfgang Gersch eine an
                         internationalen Maßstäben geschulte Filmpublizistik betrieb. Von 1967 bis 1969
                         war Erika Richter Lektorin am DDR-Kulturzentrum in Kairo; diesem Aufent-
                         halt entsprang das vom Henschelverlag publizierte Buch „Realistischer Film in
                         Ägypten“. Das war nicht nur eine Hommage an eine exotische Filmnation; die
                         Autorin resümierte hier auch ihre Hoffnungen, Wünsche und Forderungen an
                         ein gegenwartsnahes, wahrhaftiges, eingreifendes Kino überhaupt. Wer wollte,
ERIKA RICHTER            konnte aus Erika Richters Beschreibungen herauslesen, welche Art Kino sie im
6.1.1938 - 24.8.2020     eigenen Lande bevorzugte. In ihrer anschließenden Dissertation widmete sie sich
                         dann folgerichtig jenen DEFA-Filmen der jüngeren Zeit, die sie als maßstabset-
  Bild: Franz Richter,
    wikimedia.com        zend ansah: DER DRITTE und DIE SCHLÜSSEL von Egon Günther, LEBEN MIT
                         UWE von Lothar Warneke sowie DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA von
                         Heiner Carow.

                         Mit diesem Anspruch kam sie 1976 ins Babelsberger Studio. Als Dramaturgin
                         machte sie sich schnell einen Namen: mit sicherem Gespür für starke Stof-
                         fe, kampfbereit gegen Widerstände, klug argumentierend, stets offen für po-
                         litischen Wagemut und ästhetisches Neuland. Erika Richter stieß Tore auf, in
                         vielerlei Hinsicht. In sechzehn Jahren entstanden unter ihrer Obhut mehr als
                         zwanzig Filme: darunter Lothar Warnekes DIE BEUNRUHIGUNG (1981) und
                         BLONDER TANGO (1985), Rainer Simons JADUP UND BOEL (1981) und DIE
                         BESTEIGUNG DES CHIMBORAZO (1989), Evelyn Schmidts DAS FAHRRAD
                         (1982), Siegfried Kühns DIE SCHAUSPIELERIN (1988), Heiner Carows CO-
                         MING OUT (1989), Jörg Foths BIOLOGIE! (1990) und Herwig Kippings DAS
                         LAND HINTER DEM REGENBOGEN (1991). Einige andere Projekte, mit de-
                         nen sie Jahre verbracht und die sie leidenschaftlich verteidigt hatte, mussten
                         – oft aus politischen Gründen – aufgegeben werden, so wie das Rockmusical
                         PAULE PANKE, das Heiner Carow gemeinsam mit Rolf Richter verfasst hatte.
                         Vor allem das Gegenwartskino trieb sie an, die ästhetische Durchdringung zeit-

                                                                           N°48 | November 2020
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