Rassismus am Arbeitsplatz - Arbeitnehmerkammer Bremen

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Rassismus am Arbeitsplatz - Arbeitnehmerkammer Bremen
März /  April 2022

        Rassismus am Arbeitsplatz
                                Experten und Betroffene erzählen

Rollenklischees & Berufswahl        Infos zur Steuererklärung       Hier muss Bewegung rein
Jungs wollen Technik, Mädchen       Kurzarbeitergeld, Homeoffice,   Fachkräftemangel und zu wenig
ins Büro?                           Corona-Bonus & Co.              Nachwuchs in Physiotherapiepraxen
Rassismus am Arbeitsplatz - Arbeitnehmerkammer Bremen
BAM — März / April 2022                                                                       Inhalt

      Galerie der Arbeitswelt                        Verbrauchertipp: Risikolebensversicherung   Das sieht nach Arbeit aus
      Seite 16                                       Seite 10                                    Seite 20

      Inhalt
                                                                             SERVICE & BERATUNG

                                                                             10      Verbrauchertipp
                                                                                     Risikolebens­­­­versicherung – wichtiger Schutz
                                                                                     für die Familie

                                                                             11      Fragen & Antworten
      THEMEN                                                                         Infos zur Steuererklärung

                 Schwerpunkt                                                 22      Alles, was Recht ist
      6          Rassismus am Arbeitsplatz                                           Rechtstipp / Rechtsirrtum: Im Homeoffice ist
                 Experten und Betroffene erzählen                                    jeder Unfall ein Arbeitsunfall

      14         Jungs wollen Technik, Mädchen ins Büro?                     23      Drei Fragen
                 Rollenklischees bei der Berufswahl                                  zum Jobwechsel

      18         Eine Branche braucht Bewegung
                 Fachkräftemangel und zu wenig                               IN JEDEM HEFT
                 Nachwuchs in Physiotherapiepraxen
                                                                             3       Editorial
      20          Das sieht nach Arbeit aus
                  Eine kleine Kulturgeschichte der                           4        Die Bremer Arbeitswelt in Zahlen
                 ­Berufsbekleidung                                                    Bremer Beschäftigte mit
                                                                                     ­Migrationshintergrund

                                                                             5       Kurz gemeldet

                                       Aktuelle politische Inhalte           12      Tipps & Termine
        BAM                           und Service-Informationen

       im Abo?                           von uns finden Sie auf              13      Veranstaltungskalender
                                    Twitter   (@ANK_HB), Facebook,
                                e    Instagram, YouTube und Xing.            16      Galerie der Arbeitswelt
                 er.d
  bam@ ehmerkamm                                                                     Die Kita-Koordinatorin
         n
  arbeit
                                                                             22      Impressum

       Titelfoto: Mindermann arbeitet in der B­ remer                        23      Cartoon
      ­Be­­ratungsstelle ADA – ­Antidiskriminierung
       in der Arbeitswelt und berät und schult                               24      Beratungsangebote & Öffnungszeiten
       dort ­Unter­nehmen, die eine innerbetriebliche
       Beschwerdestelle einrichten wollen.

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Rassismus am Arbeitsplatz - Arbeitnehmerkammer Bremen
Editorial                                                                                                             BAM — März / April 2022

                                                                            EDITORIAL

                                                                            Gegen die Rolle
                                                                            rückwärts!
                                      #first7jobs

                                      Mit zweieinhalb Jahren stand sie
                                      schon auf Rollen, später gehörte
                                      sie zur Weltspitze: 2004 wurde
                                      die Bremerhavenerin ­Constance
                                      ­Hoßfeld-Seedorf Vize-Welt­
                                      meisterin im Rollkunstlauf. Ihre
                                      Profikarriere hat sie zwar an den
                                      Nagel gehängt, als Trainerin und
                                      Choreografin ist sie ihrem Heimat­                               Peter Kruse
                                      verein aber treu geblieben.                                    Präsident der
                                          Schon während ihrer Sportler­                       Arbeitnehmerkammer
                                      karriere hat ­Hoßfeld-Seedorf                                       Bremen
                                      Amerika­nistik, Germanistik und
                                      Kultur­wissenschaften an der Uni-
                                      versität Bremen studiert.
                                          Seit 13 Jahren arbeitet sie als   Liebe Leserinnen und Leser,
                                      Re­porterin beim Radio-Bremen-
                                      Regional­magazin „buten un binnen“.   im März feiern wir den Internationalen Frauentag – und müssen gleichzeitig auch
                                                                            den Equal Pay Day begehen. Denn, ob mit Pandemie oder ohne: Frauen verdienen
                                        Tanz und Comedy bei Festen          nach wie vor deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen und sind in Bremen
                                        mit zwei Schulfreundinnen           deutlich seltener in Beschäftigung.
                                        Freie Mitarbeiterin für den
                                        Lokalteil der Nordsee-Zeitung       Doch wie sieht es genau aus, nach zwei Jahren Corona? Die gute Nachricht: Es
                                        in Bremer­haven                     entstehen wieder mehr Vollzeitstellen für Frauen und sie finden sich häufiger
                                        Kellnerin bei Hochzeiten in         in hoch qualifizierten Jobs wieder. Und die schlechte Nachricht? Der Frauenan-
                                        einem Gasthof                       teil an der sozialversicherten Beschäftigung ist in keinem anderen Bundesland
                                        Kindertrainerin in ihrem Roll-      so gering und nirgendwo sind so wenig Frauen in Führungspositionen zu finden.
                                        kunstlaufverein in Bremerhaven
                                        Kleine Modenschauen                 Was uns besonders Sorgen bereitet: Die Pandemie hat es für Frauen wieder
                                        Promotion für diverse ­Produkte     schwieriger gemacht, Arbeit und Familienleben unter einen Hut zu bringen. Von
                                        in der Bremerhavener und            Schul- und Kitaschließungen waren vor allem sie betroffen, haben häufiger die
                                        Cuxhavener Fußgängerzone            Arbeitszeiten reduziert. Die Pandemie zeigt, wie schnell alte Rollenmuster wie-
                                        Nachrichtensprecherin bei           der Konjunktur haben. Wo sie seit jeher zementiert scheinen, zeigt unser Artikel
                                        Radio Regenbogen Freiburg           in diesem Heft über Rollenklischees bei der Berufswahl. Noch immer entscheiden
                                                                            sich junge Männer und Frauen überwiegend für klassische Männer- und Frauen-
                                                                            berufe – und noch immer wirkt sich das für Frauen aufs Gehalt aus.

                                                                            Was hilft? Tarifbindung hilft! Wo Betriebe nach Tarif bezahlen, ist der Gender
                                                                            Pay Gap erheblich kleiner. Darum muss das Bundesland sich kümmern – zum
Foto: Radio Bremen – Marissa Kimmel

                                                                            Beispiel durch ein neues Tariftreue- und Vergabegesetz, das auch die häufig von
                                                                            Frauen gewählten Dienstleistungsberufe einbezieht. Die Entwürfe dazu liegen auf
                                                                            dem Tisch, nun müssen sie nur noch beschlossen und umgesetzt werden.

                                                                            Ihr Peter Kruse

                                                                            ­Kontakt:     bam@arbeitnehmerkammer.de

                                          Constance
                                        Hoßfeld-Seedorf
                                                                                                                                                       — 3
Rassismus am Arbeitsplatz - Arbeitnehmerkammer Bremen
BAM — März / April 2022

      DIE BREMER ARBEITSWELT IN ZAHLEN

      Bremer Beschäftigte mit
      Migrationshintergrund

      Im Bremer Gastgewerbe hat fast jeder zweite
      Beschäftigte einen Migrationshintergrund, in
      der Lebensmittelproduktion, dem Einzelhandel,
      der Zeitarbeit und der Kfz-Reparatur sind es fast
      40 Prozent.                                                                            Einen Migrationshintergrund
      Illustration: Marco Agosta, Asja Beckmann                                              haben Menschen, die nicht mit
                                                                                             einer deutschen Staatsbürgerschaft
                                                                                             geboren sind oder die mindestens
                                                                                             einen Elternteil haben, auf das
                                                                                             dies zutrifft.

                                                                                                          24 % aller Bremer
                                                                                                                   Beschäftigten
                                                                                                                   haben einen
                                                                                                                   Migrations-
                                                                                                                   hintergrund
  Das Modelädchen               Blumen
                                                                             76 %
      Abschlüsse (in Prozent)
                         39
                                                                         Beschäftigte mit Migrationshintergrund
                              33
                                                           30     30     (in Prozent)
                                                                         Beschäftigte mit Migrationshintergrund haben
                                                                         häufiger unsichere Arbeitsverhältnisse und be-
                                                                         lastende Arbeitsbedingungen.

                                                                                                                                         Quelle: Koordinaten der Arbeit – Beschäftigtenbefragung der Arbeitnehmerkammer 2021
              14                                14                                                      31
                                                                                                    20
                                         7                                           14
        4
                                                                               7                                                6
                                                                                                                         2
         kein        betriebliche       Meister,          Hochschul-
       Abschluss       Berufs-         Techniker,          abschluss
                     ausbildung      Betriebs- oder
                                        Fachwirt                          befristet angestellt     Schichtdienst         Zeitarbeit

                                                                                     24
                                                                              18
                                                                                                           10           10     12
                                                                                                     5
      Nettoeinkommen pro Monat (in Prozent)
                                43     41
                    37
                                                                            regelmäßig an            auf Abruf       regelmäßig nachts
             24                                                          Sonn- und Feiertagen
                                                     18
                                                            11

               Unter             1.500 bis              Über
            1.500 Euro          3.000 Euro           3.000 Euro

      ohne Migrationshintergrund             mit Migrationshintergrund

— 4
Rassismus am Arbeitsplatz - Arbeitnehmerkammer Bremen
BAM — März / April 2022

Kurz
gemeldet
                                                               Ausweitung des
                                                               ­Landesmindestlohns
                                                               Zukünftig soll bei allen öffentlichen Bau- und Dienstleis-
                                                               tungsaufträgen unabhängig von der Auftragshöhe der
                                                               Landes­mindestlohn gezahlt werden. Als ein wichtiger
                                                               ­Baustein gegen Lohndumping sichert das Beschäftigten
Für ein verlässliches                                           einen Verdienst von mindestens zwölf Euro in der Stunde.
                                                                Die Arbeitnehmerkammer fordert die Landespolitik auf,
­Sorgesystem                                                    darüber hinaus Betriebe zur Zahlung von Tariflöhnen zu
                                                                verpflichten, wenn sie öffentliche Aufträge ausführen.
Was brauchen Pflegefachkräfte, um ihrer Arbeit gut nach-
                                                                Dies setzt auch Anreize zur Erhöhung der Tarif­bindung,
gehen zu können und zu wollen? Was brauchen Eltern,
                                                                die im Land Bremen ebenso wie im Bund deutlich
Erzieherinnen und Erzieher, um Kinder nachhaltig gut
                                                                zurückgegangen ist. Eine entsprechende Neufassung des
betreut zu wissen? Und wie können Bedarfe von Care-­
                                                                Tariftreue- und Vergabegesetzes ist im Koalitionsvertrag
Tätigkeiten als Teil der Wirtschaft systematisch berück-
                                                                angekündigt, aber noch nicht umgesetzt.
sichtigt werden? Thema von Vorträgen und Diskussionen
zum Equal Care Day 2022 am 1. März ist der Erhalt eines
verlässlichen Sorgesystems.
                                                                                  Equal Pay 4.0 –
Eine Kooperation zwischen Arbeitnehmerkammer
Bremen und dem Projekt „carat – caring all together“
                                                                                  Gerechte
des Referats Chancengleichheit der Universität                                    ­Bezahlung in
­Bremen.
    www.equalcareday.de
                                                                                   der digitalen
                                                                                   ­Arbeitswelt
                                                               Wie beeinflusst die Digitalisierung der Arbeitswelt die
Weiterbildender                                                Strukturen für eine gerechte Bezahlung zwischen Frauen
­Masterstudiengang                                             und Männern? Der Equal Pay Day am 7. März be­­schäftigt
                                                               sich mit der Rolle von künstlicher Intelligenz für mehr
 für betriebliche                                              Diversität und Lohngerechtigkeit, an welchen Knoten­
 ­Interessenvertretungen                                       punkten in Deutschland die Weichen auf Gleichstellung
                                                               geschaltet werden müssen und wie die letzten Stolper-
Im berufsbegleitenden Studienprogramm „Arbeit –                steine auf dem Weg zu Entgeltgleichheit weggeräumt
­Be­­ratung – Organisation. Prozesse partizipativ gestalten“   ­werden können.
 von zap, Arbeitnehmerkammer Bremen und der ­Akademie                    Frauen verdienen weniger als Männer. Um
 für Weiterbildung der Universität Bremen können ein            das E­ inkommen zu erzielen, das Männer bereits am
 weiter­bildender Masterabschluss erworben oder Studien-        31. ­Dezember des Vorjahres hatten, müssten Frauen
 abschnitte als Zertifikate studiert werden.                    2022 bis zum 7. März arbeiten. Das sind 66 Tage.

Für: Personalräte, Betriebsräte, Mitarbeiter­ver­              Infos zu Veranstaltungen in Bremen unter:
tretungen, BR-/PR-Referenten, Schwerbehinderten­               www.djb.de/djb-vor-ort/regionalgruppenuebergreifend
vertretungen und Gleichstellungsbeauftragte                    www.equalpayday.de
Dauer: zwölf Monate (18 Präsenztage, ggf. online)
Bewerbungsfrist: 30. Juni 2022, Studienbeginn:
1. September 2022
Info-Veranstaltung am 30. März 2022 und 28. April                               Für aktuelle Informationen und
um 17 Uhr online.                                                               ­Neuig­keiten registrieren Sie sich für
Weitere Infos:                                                                   unseren ­Newsletter:
    www.uni-bremen.de/mabo oder     0421 . 21 85 67 07                              www.arbeitnehmerkammer.de/newsletter

                                                                                                                            — 5
Rassismus am Arbeitsplatz - Arbeitnehmerkammer Bremen
SCHWERPUNKT

Rassismus am
Arbeitsplatz
— Experten und
Betroffene erzählen

Zum Alltag vieler ­People
of Color gehört es, dass
sie (auch) im Berufs­leben
­Diskriminierung ­erfahren.
­Fachleute und B
               ­ etroffene sind
sich einig: Um das zu ändern,
braucht es ein g
               ­ esellschaftliches
Um­­denken und ­Unterstützung
aus der Politik

Text: Anne-Katrin Wehrmann
Fotos: Jonas Ginter
Rassismus am Arbeitsplatz - Arbeitnehmerkammer Bremen
Schwerpunkt                                                                 BAM — März / April 2022

                                                     Mehrere Monate lang hielt der      Probleme hätten, überhaupt einen Job
                                             junge Afrikaner die rassistischen Belei-   zu finden. „Dabei hat es hier schon so
                                             digungen aus – weil seine Aufenthalts-     viele Studierende of Color gegeben,
                                             erlaubnis an die Ausbildung gekoppelt      die dieselben Kompetenzen haben wie
                                             ist und weil er die Ausbildungsver­        weiße Menschen. Da stellt sich mir die
                                             gütung braucht, um seine Miete und         Frage: Nach welchen Kriterien werden
                                             die Rechnungen bezahlen zu können.         Menschen eigentlich eingestellt? Ist es
                                             Ende November wurde die Situation für      das erste Kriterium, weiß zu sein?“
                                             ihn dann so unerträglich, dass er zum
                                             Produktionsleiter ging und ihm sagte,
                                             dass es so nicht weitergehen könne.
                                             „Ich habe ihn gefragt, womit ich das

B
                                                                                           „Nach welchen Kriterien
           andjan Keita (Name geän-          verdient habe, aber er hat mir nicht
                                                                                        ­werden Menschen eigentlich
           dert) lebt noch nicht lange       geantwortet“, berichtet er. Stattdessen
           in ­Bremen. Seine Heimat          bekam er per Post einen Aufhebungs-         eingestellt? Ist es das erste
           in Westafrika hat der junge       vertrag, den er nicht unterschrieb, und
                                                                                            Kriterium, weiß zu sein?“
 Mann verlassen, um mit einem Stu-           dann im Januar schließlich die Kündi-
dentenvisum nach Deutschland zu              gung. „Es wird eine Weile dauern, bis         Virginie Kamche, Mitgründerin des
­kommen. „Ich wollte etwas Neues ler-        ich das alles verarbeitet habe“, meint             Afrika Netzwerks Bremen
 nen und mir eine Perspektive auf-           Keita. Aufgeben wolle er nicht: Sein
 bauen“, erzählt er, „das war von            Ziel sei es, bald einen neuen Ausbil-
 Anfang an mein Ziel.“ In einem ­Bremer      dungsplatz zu finden – dann hoffent-
 Unternehmen bekam Keita voriges             lich in einem anderen Umfeld. „So eine     Häufig äußere sich Rassismus sehr
 Jahr die Möglichkeit, zunächst drei         Erfahrung will ich nicht noch einmal       ­subtil und sei deswegen schwer nach-
 Monate als Aushilfe zu arbeiten und         machen müssen.“                             zuweisen. „Aber wir spüren das“,
 dann im August eine Ausbildung zum                                                      macht Virginie Kamche deutlich. „Alle
 Verfahrenstechnologen zu beginnen.                                                      People of Color und insbesondere alle
 „Am Anfang war noch alles gut mit                                                       Schwarzen wissen: Wir müssen viel
                                                                                         ­
 den Kollegen“, erinnert er sich. „Aber                                                  mehr leisten, um anerkannt zu werden.
                                               „Angefangen hat es damit,
 ab Juli veränderte sich die Stimmung                                                    Das gilt überall und in allen Bereichen
 mir gegenüber plötzlich.“ Angefan-            dass mich die anderen im                  und das ist wirklich sehr verletzend.“
 gen habe es damit, dass ihn die ande-                                                   Der permanente Druck, immer alles
                                               Team nicht mehr gegrüßt
 ren im Team nicht mehr gegrüßt und                                                      besser machen zu müssen und dabei
 auch sonst weitgehend ignoriert hätten.      und auch sonst weitgehend                  möglichst nicht aufzufallen, führe fast
 Hinter seinem Rücken seien dann mit                                                     zwangsläufig zu Verunsicherung und
                                                      ­ignoriert haben.“
 der Zeit Beleidigungen wie „dreckiger                                                   Angst. Wer im Restaurant zur Toilette
 Hund“ ausgesprochen ­worden – gefolgt           Bandjan Keita (Name geändert)           gehe, sehe dort zumeist als Erstes afri-
 von direkt an ihn gerichtete Provoka-                                                   kanische Reinigungsfrauen: „Das sind
 tionen wie: „Was willst du hier? Geh                                                    Bilder, die sich ständig reproduzie-
 doch zum Bahnhof.“ Oder: „Was hast                                                      ren – und die dazu führen, dass viele
 du da in der Hand? Sind das Drogen?“                                                    ­dieser Frauen irgendwann selbst glau-
 Und auch: „Kommt ihr alle hierher,          Druck, Verunsicherung und Angst              ben, sie könnten nichts anderes. Was
 um so intelligent zu werden wie wir?“       Rassistische Diskriminierung ist nicht       wir brauchen, sind Vorbilder. Schwarze
 Bandjan Keita wurde nun auf Schritt         die Ausnahme, sondern immer noch             Menschen, die in Banken, Schulen,
 und Tritt überwacht und kontrolliert,       die Regel: Das sagt Virginie Kam-            Arztpraxen arbeiten.“ Es sollte selbst-
 wie er sagt. Sein Meister sprach nicht      che, Mitgründerin des Afrika Netz-           verständlich sein, jeden Menschen als
 mehr direkt mit ihm, sondern ließ           werks B  ­ remen und Bremer „Diversity       Menschen zu akzeptieren und zu res-
 ihm seine Arbeitsaufträge über Kolle-       ­Persönlichkeit 2019“. Als Fachpromo-        pektieren, betont Kamche. „Aber das
 gen ausrichten. „Das war psychischer         torin für Migration, Diaspora und Ent-      ist es offensichtlich nicht. Wir brauchen
 Terror“, macht er deutlich. „Aber ich        wicklung setzt sich die gebürtige Kame-     da ein allgemeines Umdenken und das
 dachte, ich muss das aushalten.“             runerin seit Jahren dafür ein, dass die     muss auch von der Politik unterstützt
                                              Stimmen von People of Color (PoC) in        werden.“
                                              der Stadt mehr Gehör finden und der
                                              inter- und transkulturelle Austausch      Struktureller Diskriminierung
Foto links: Virginie Kamche, Mitgründerin     gestärkt ­werden. So heftige Anfeindun-   ­entgegenwirken
des Afrika Netzwerks Bremen, sagt: „Alle      gen wie bei Bandjan Keita gebe es zwar     Umfassende statistische Er­­hebungen
People of Color und insbesondere alle         eher selten, berichtet sie. „Aber die      und Untersuchungen zur Diskri-
Schwarzen wissen: Wir müssen viel mehr        Anfänge sehen ganz oft so oder so ähn-     minierung von PoC auf dem deut-
leisten, um anerkannt zu werden. Das gilt     lich aus, das ist praktisch der Normal­    schen Arbeitsmarkt sind bis heute
überall und in allen Bereichen und das ist    fall.“ Sie kenne viele Schwarze, die am    Mangelware. Erste Einblicke gibt
wirklich sehr verletzend.“                    Arbeitsplatz diskriminiert würden oder     aber zum Beispiel eine Studie des

                                                                                                                                      — 7
Rassismus am Arbeitsplatz - Arbeitnehmerkammer Bremen
BAM — März / April 2022                                                             Schwerpunkt

                                                                                       zu werden. Und aus dem kürzlich ver­
                                                                                       öffentlichten „Afrozensus“, der zum
                                                                                       ersten Mal die Lebensrealität von
                                                                                       schwarzen Menschen in Deutschland
                                                                                       in den Fokus nimmt, geht hervor: Rund
                                                                                       85 Prozent der Befragten haben in den
                                                                                       vergangenen zwei Jahren Diskrimi-
                                                                                       nierung im Arbeitsleben erfahren. Be­
                                                                                       sonders häufig genannt wurden in der
                                                                                       Umfrage rassistische Beleidigungen
                                                                                       sowie aus rassistischen Gründen aus-
                                                                                       bleibende Beförderungen.

                                                                                              „Diese Zahlen sind ­
                                                                                              deutliche Hinweise
                                                                                                auf strukturelle
                                                                                                Diskriminierung.“
                                                                                                   Regine Geraedts,
                                                                                             Referentin für A
                                                                                                            ­ rbeitsmarkt-
                                                                                              und Beschäftigungspolitik

                                                                                       Auch in Bremen gibt es zur Situation
                                                                                       von PoC auf dem Arbeitsmarkt ­bisher
                                                                                       kein detailliertes Datenmaterial. Es
                                                                                       besteht aber eine Schnittmenge mit den
                                                                                       Beschäftigten mit Migrationshinter-
                                                                                       grund (s. auch die Infografik auf S. 4),
                                                                                       die in der jüngsten Beschäftigtenbefra-
                                                                                       gung „Koordinaten der Arbeit im Land
                                                                                       Bremen“ der Arbeitnehmer­      kammer
                                                                                       interviewt wurden. Eine Sonderauswer-
                                                                                       tung zeigt unter anderem: Der Anteil
                                                                                       der Beschäftigten ohne Berufsabschluss
                                                                                       liegt bei den Befragten mit ausländi-
                                                                                       scher Staatsangehörigkeit fast viermal
                                                                                       und bei denen mit Migrationshinter-
            „Die Einrichtung einer Beschwerdestelle                                    grund mehr als dreimal so hoch wie
                                                                                       bei den übrigen Befragten. Diejenigen
                ist eine gesetzliche Verpflichtung                                     unter ihnen, die über einen Hochschul-
        der Betriebe. Es ist für Betroffene enorm wichtig,                             abschluss verfügen, ­können diesen am
                                                                                       Arbeitsmarkt weniger gut ver­   werten:
                    eine ­Anlaufstelle zu haben.“                                      So übt weniger als die Hälfte der
                     Michael Mindermann, Bremer Beratungsstelle ADA –                  Migrantinnen und Migranten mit Hoch-
                           Antidiskriminierung in der Arbeitswelt                      schulabschluss auch tatsächlich eine
                                                                                       Tätigkeit auf diesem Qualifikationsni-
                                                                                       veau aus. Insgesamt sind Menschen mit
                                                                                       Migrationshintergrund häufiger niedrig
                                                                                       entlohnt.
      Wissenschaftszentrums    Berlin    für   fand 2016 heraus, dass sich Kopf-              „Diese Zahlen sind deut­    liche
      Sozial­
            forschung von 2018, nach der       tuch tragende Musliminnen mit tür-      Hinweise auf strukturelle Diskrimi-
      Menschen mit afrikanischem oder mus-     kischem Namen viermal so häufig be­­    nierung“, meint Regine Geraedts,
      limischem Migrationshintergrund im       werben müssen wie Bewerberinnen         Referentin für Arbeitsmarkt- und
      Bewerbungsverfahren besonders deut-      ohne Kopftuch und mit deutsch klin-     Beschäftigungspolitik bei der Arbeit-
      lich benachteiligt werden. Das For-      gendem Namen, um überhaupt zu           nehmerkammer. Dagegen lasse sich
      schungsinstitut zur Zukunft der Arbeit   einem Vorstellungsgespräch eingeladen   aktiv etwas tun: „Die Politik muss

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Rassismus am Arbeitsplatz - Arbeitnehmerkammer Bremen
BAM — März / April 2022

                                                                                  KOMMENTAR
                                           einrichten wollen. Laut Allge-
 People of Color                           meinem       Gleichbehandlungsge-
                                           setz (AGG) haben alle Beschäf-
 People of Color (Singular: P­ erson       tigten das Recht, sich bei einer
 of Color) ist eine selbst gewählte        zuständigen Stelle innerhalb ihres

                                                                                                                                  Foto: Stefan Schmidbauer
 politische Bezeichnung von ver­           Betriebs zu beschweren, wenn sie       Regine Geraedts,
 schiedensten M  ­ enschen, die            sich wegen eines der im Gesetz           Referentin für
 ­rassistische Diskriminierung             benannten Diskriminierungsmerk-         ­Arbeitsmarkt-
  erfahren. Dabei geht es nicht um         male benachteiligt ­   fühlen: also                und
  Haut­farben, sondern um die Be­          zum Beispiel aus rassistischen         Beschäftigungs­
  nennung von Rassismus und                Gründen, wegen ihres Geschlechts                 politik
  Machtverhältnissen in einer              oder ihrer sexuellen Identität.
  ­mehrheitlich ­weißen Gesellschaft.      Doch obwohl die Einrichtung einer
   Viele Menschen afrikanischer und        Beschwerdestelle eine gesetzliche
   afrodiasporischer Herkunft be­          Verpflichtung sei, gebe es solche
   zeichnen sich selbst als Schwarz        Stellen in der ­Praxis nur in sehr
   (mit großem S). Die Großschrei-         wenigen Unternehmen, macht
                                           Mindermann deutlich. Es gehöre
                                                                                        Zusammen
   bung soll verdeutlichen, dass hier
   keine tatsächliche Eigenschaft          zur Fürsorgepflicht von Arbeitge-
                                           benden, Diskriminierung proaktiv
                                                                                          gegen
   im Sinne einer Farbe beschrieben
   wird, sondern eine von Rassis-          zu begegnen und auf betrieblicher
                                           Ebene dazu beizu­tragen, dass sie
                                                                                        Rassismus!
   mus betroffene gesellschaft­liche
   ­Position.                              gar nicht erst stattfinde. Dazu sei
                                           Sensibilisierung nötig: „Ohne ein
                                           solches Setting werden die Ziele
Maßnahmen ergreifen, um mehr               des Beschwerderechts konter­            Rassismus ist in Deutschland gesellschaft­
Migrantinnen und Migranten einen           kariert und Beschwerden verhin-          liche Realität – auch in Betrieb und Arbeits-
Berufsabschluss zu ermöglichen. Und        dert.“ Dabei sei es für Betroffene     welt. Betroffene, Beratungsstellen und
auch die Betriebe müssen Verant­           enorm wichtig, eine Anlaufstelle         Gewerkschaften kennen viele Schattierun-
wortung übernehmen, indem sie              zu haben. Denn während PoC              gen – von abfälligen Sprüchen, beleidigen-
Beschäftigte mit Migrationshintergrund     ­Diskriminierung als Alltags­­­­­er­     den Witzen, offener Hetze über ­Schikanen
qualifikationsadäquat einstellen und        fahrung erlebten, gebe es eine Dis-     bis zur Schlechterstellung bei Lohn, Be­­
bezahlen und ihre Aus- und Weiter­          krepanz in der Wahrnehmung:             förderung oder Weiterbildung. Beschäf-
bildungschancen verbessern.“                „Gerade auch was die Deutungs­        tigte sind ihrem Status nach abhängig. Das
                                            hoheit angeht. People of Color          macht es Einzelnen ohnehin schwer, sich
Zum Argumentieren braucht es                werden einfach nicht so gehört         gegen Diskriminierung zu wehren. Das
Zahlen und Daten                            wie die Mitglieder der ­   weißen      gilt umso mehr für rassistische Diskrimi-
Eine gezielte Studie zum Themenfeld         Mehrheitsgesellschaft.“                 nierung in einer weißen Mehrheitsgesell-
Rassismus und Diskriminierung könne                                                 schaft.
sehr hilfreich sein, meint Michael         Als Sohn eines ghanaischen Vaters                Betroffenen kann es helfen, sich
­Mindermann. „Die Betroffenen wissen,      und einer deutschen Mutter hat         Unterstützung vom Betriebsrat und von
 dass es das gibt. Aber um argumentie-     Michael Mindermann selbst schon        Vorgesetzten zu holen. Das gelingt b    ­ esser,
 ren zu können, braucht es ­Zahlen und     von Kindesbeinen an vielfältige        wenn sie nicht allein sind. Deshalb ist
 Daten.“ Mindermann arbeitet in der        Formen von Ausgrenzung erlebt,           es wichtig, dass viele Kolleginnen und
 Bremer Beratungsstelle ADA – Anti­        wie er sagt – privat und später         ­Kollegen sich auf deren Seite stellen, Unter-
 diskriminierung in der Arbeitswelt und    auch beruflich. So sei bei ­manchen      stützung anbieten, Solidarität, R   ­espekt
 berät und schult dort Unternehmen, die    seiner Jobs in der Vergangen-          und Sicherheit einfordern. Verantwortung
 eine innerbetriebliche Beschwerdestelle   heit seine Expertise nicht wert-       ­tragen auch die Unternehmens­leitungen:
                                           geschätzt worden. „Meine ­jetzige        Sie müssen sich aktiv gegen Rassismus
                                           Arbeit ist für mich auch eine            einsetzen und eine Kultur ­schaffen, die
 Migrationshintergrund                     Strate­gie, mit Diskriminierung im      Be­­troffene ernst nimmt und in der Hetze
                                           Alltag umzugehen. Sie hilft mir,         keine Chance hat.
 Der gebräuchlichen ­Definition            mich mit ­meinen Erfahrungen in
 des ­Statistischen Bundes­amtes           geordnetem Rahmen auseinander-
 zufolge hat eine Person dann              zusetzen und Selbstwirksamkeit zu
 einen Migrations­hintergrund,             erleben.“
 „wenn sie selbst oder mindes-
 tens ein Elternteil die deutsche
 ­Staatsangehörigkeit nicht durch
  Geburt besitzt“.

                                                                                                                            — 9
Rassismus am Arbeitsplatz - Arbeitnehmerkammer Bremen
BAM — März / April 2022                                                                     Verbrauchertipp

       GASTBEITRAG
                                                                         Versicherungssumme und Formen
                                                                         Die Höhe der Versicherungssumme ist individuell und vom
                                                                         Verwendungszweck abhängig. Wird die Versicherung zur
                                                                         Absicherung eines Immobiliendarlehens benötigt, ist die
                                                                         Summe anders zu ermitteln, als zur Absicherung der F
                                                                                                                            ­ amilie.
                                                                         Eine Möglichkeit ist eine Risikolebensversicherung mit
                                                                         fallen­der Versicherungssumme. Diese Versicherung wird zur
                                                                         Absicherung eines Hypotheken- und Immobiliendarlehens
                                                                         verwendet. Sinkt die Kredithöhe durch laufende ­Tilgung,
                                                                         sinkt die Versicherungssumme im gleichen Verhältnis mit.
                                                                         Durch die fallende Summe sind die Beiträge in der Regel
                                                                         etwas günstiger als bei konstanter Versicherungssumme.

                                                                         Policen für „verbundene Leben“
                                                                         Eine andere Möglichkeit der Risikolebensversicherung ist
                                                                         eine Absicherung auf verbundene Leben. Beide Partner
                                                                         werden über einen einzigen Versicherungsvertrag abge-
                                                                         ­
                                                                         sichert. Sollte einer der Partner sterben, so bekommt der
                                                                         jeweils andere die Versicherungssumme ausgezahlt. An­
                                                                         schließend erlischt der Versicherungsvertrag; der hinter-
                                                                         bliebene Partner ist dann nicht mehr versichert. Sterben
                                                                         beide gleichzeitig, zum Beispiel durch einen Verkehrsunfall,
                                                                         kommt die Versicherungssumme nur einmal zur Auszahlung,
                                                                         beispielsweise an die ­Kinder, die genau durch den Vertrag
                                                                         abgesichert werden ­sollen.

                                                                         Mehr Infos online unter      www.arbeitnehmerkammer.de/bam

       Risikolebens­­­­versicherung –
       wichtiger Schutz für die
       Familie

       Text: Annabel Oelmann
       Vorständin der ­Verbraucherzentrale ­Bremen
       Illustration: Marco Agosta­

                                                                         Sie haben Fragen zur privaten Vorsorge? Hier hilft
       Eine Risikolebensversicherung sichert die Hinterbliebenen         die unabhängige Beratung der Verbraucherzentrale.
       im Todesfall mit einer bestimmten Versicherungssumme ab.          Beschäftigte im Land Bremen, also alle Kammer-­
       Die Beiträge für eine Risikolebensversicherung sind abhän-        Mitglieder, zahlen bei der Verbraucherzentrale nur
       gig vom Eintrittsalter, von der Laufzeit des Vertrags, der Ver­   die Hälfte für eine Beratung zu arbeitnehmernahen
       sicherungssumme und dem Versicherer.                              ­Themen wie Altersvorsorge, zusätzliche Krankenver­
                                                                          sicherung oder Berufsunfähigkeitsrente. Zusätzlich
       Wer braucht eine Risikolebensversicherung?                         gibt es rund 30 Ratgeber zum halben Preis.
       Eine Risikolebensversicherung bewahrt Menschen vor g  ­ roßer
       finanzieller Not. Sie ist für eine junge Familie mit kleinen      Weitere Infos auf der Rückseite dieses Magazins.
       Kindern sinnvoll, wenn ein Partner hauptsächlich für den
       Lebensunterhalt sorgt, während der andere sich um Nach-
       wuchs und Haushalt kümmert und vielleicht zusätzlich eine
       Immobilie finanziert werden muss. Stirbt der Hauptver­diener
       oder die Hauptverdienerin, kann der oder die Hinter­bliebene
       mit Kindern und Immobilie den Lebensstandard nicht mehr
       halten, sondern muss eventuell arbeiten, die Immobilie ver-
       äußern und den Kindern vielleicht sogar die Ausbildungs-
       wünsche versagen.

— 10
Fragen & Antworten                                                               BAM — März / April 2022

Infos zur
­Steuererklärung

Kurzarbeitergeld, Corona-Bonus & Co. –
was Beschäftigte wissen sollten

                                                  Zuschüsse des Arbeitgebers wur-    einzu­reichen auch über Pauschbeträge
Text: Hanna Mollenhauer                   den teilweise steuerfrei ausgezahlt und    ab­setzen. Diese wurden zum 1. Januar
Beratung: Larissa-Valeska Heilmann        werden in der Steuererklärung nicht        2021 verdoppelt und auch der Grad der
Foto: Jonas Ginter                        weiter berücksichtigt. Die Steuerbe-       Behinderung (GdB) wurde angepasst:
                                          freiung des Zuschusses gilt aber nur       Der Pauschbetrag gilt ab einem GdB
                                          bis zu einer Höhe von 80 Prozent des       von 20 (384 Euro). Für behinderungs-
 1.
	Was gilt für den ­
        Corona-Bonus?                     Soll-­Arbeitslohns, darüber ­hinaus wird   bedingte Fahrtkosten wurde ebenfalls
Arbeitgeber können im Zeitfenster vom     regulär besteuert.                         eine Pauschbetragsregelung eingeführt.
1. März 2020 bis 31. März 2022 ins-
gesamt 1.500 Euro pro Beschäftigten
steuerfrei als Sonderzahlung für beson-   3.
                                          	Wie ist das mit der
                                                   ­Home­office-Pauschale?           5.
                                                                                     	Wie sind die Fristen für die
                                                                                            freiwillige Steuererklärung?
dere Belastungen in der Corona-Krise      Für Beschäftigte im Homeoffice ist         Wer nicht zur Abgabe der Steuer­­­­­­­­­
auszahlen. Es muss sich um eine echte     eine Kostenpauschale von fünf Euro         erklärung verpflichtet ist, sie also frei-
Sonderzahlung handeln, nicht um eine      pro Tag an bis zu 120 Tagen im Jahr        willig macht, hat für 2021 Zeit bis zum
„Umwidmung“ von ansonsten steuer-         ansetzbar, also maximal 600 Euro. Die      31. Dezember 2025 – egal ob mit oder
pflichtigem Arbeitslohn.                  grundsätzlichen Voraussetzungen für        ohne steuerliche Beratung.
                                          ein häus­liches Arbeitszimmer müssen
                                          nicht nachgewiesen werden, das bedeu-
2.
	Ist Kurzarbeitergeld
        ­steuerfrei?                      tet, auch wer zu Hause am Küchen-
Zwar ist auch Kurzarbeitergeld über       tisch arbeitet, kann die Pauschale in
410 Euro steuerfrei, trotzdem muss eine   Anspruch ­  nehmen. Wer die Voraus-
Steuererklärung eingereicht ­werden –     setzungen für ein häusliches Arbeits-      Mitglieder der Arbeitnehmerkammer
für das Jahr 2020 mit Steuerberatung      zimmer erfüllt, kann wie bisher den        können sich zu Fragen des Steuer­­­­­
bis zum 31. Mai 2022, für 2021 ohne       höheren Einzelkostennachweis ­geltend      rechts – auch bei Fragen zur Steuerer­
steuer­liche Beratung bis zum 31. Juli    machen, höchstens 1.250 Euro im Jahr       klärung – kostenlos beraten lassen.
2022 und mit Steuerberatung bis zum       oder, wenn das Arbeitszimmer der           Wenn Sie Hilfe bei der Erstellung Ihrer
28. Februar 2023.                         Mittel­punkt der gesamten beruflichen      Steuererklärung brauchen, verein­baren
        Das Kurzarbeitergeld wurde bis    Be­­tätigung ist, sogar unbegrenzt.        Sie bitte einen Termin. Für diese Be­­
März 2022 aufgestockt – je nach Lauf-                                                ratungsleistung nehmen wir zehn Euro
zeit ab dem vierten beziehungsweise
siebten Bezugsmonat. Dies wird schon      4.
                                          	Ändert sich etwas für
                                                 ­Menschen mit Behinderung?
                                                                                     Gebühr.

bei der Auszahlung berücksichtigt. Im     Menschen mit Behinderung ­  können         Weitere Infos auf der Rückseite dieses
Rahmen der Steuererklärung muss nur       Kosten in der Steuererklärung              Magazins.
der Gesamtbetrag eingestellt werden.      anstatt diese mit Einzelnachweisen
                                                                                                                                  — 11
BAM — März / April 2022                                                              Tipps & Termine

       Tipps &
       Termine                                              PODCAST-TIPP

                                                            Kurze Geschichten
                                                            ­ausgestorbener Berufe
                                                            Verkäufer der genauen Uhrzeit und von Planeten, Kaffee­
                                                            riecher und Schmuckeremiten: Die Historiker Daniel ­Meßner
                                                            und Richard Hemmer sprechen in dieser Folge ihres Podcasts
                                                            „Geschichten aus der Geschichte“ über kuriose, historische
                                                            Berufe, die es heute nicht mehr gibt.

                                                            www.geschichte.fm/podcast/zs238

                                                            VERANSTALTUNGSTIPP

       BUCH-TIPP                                            Infoveranstaltungen der
       Satanische                                           ­Verbraucherzentrale Bremen
       ­Verhandlungskunst                                   Wie beantrage ich Fördermittel fürs Haus? Wie erkenne ich
                                                            Fakeshops im Internet und sozialen Medien (auch in türkischer
                                 Jachtchenko, Wladislaw /   Sprache)? Wie kann ich meine Heizkostenabrechnung ­besser
                                 Ruede-Wissmann, Wolf       ­verstehen, den Strom- oder Gasanbieter wechseln? Die Ver­
                                 Satanische                  braucherzentrale Bremen gibt auch Tipps, wie Sie Reiseärger
                                 Verhandlungs­kunst:         ­vermeiden, Strom sparen können und informiert zu Patienten­­­­­­ver­
                                 Die gemeinsten Tricks        fügung und Vorsorgevollmacht.
                                 aus zwei Jahrhunder-
                                 ten – und wie man sich     Weitere Infos unter
                                 dagegen wehrt              www.verbraucherzentrale-bremen.de/veranstaltungen
                                 Langenmüller, 2021,
                                 253 S.
                                                                                         LESUNG

       Es gibt rhetorische Kniffe, von denen die                                           Frauen ­Literatur.
       ­meisten von uns noch nie etwas gehört haben.
        ­Ge­raten wir an einen Verhandlungspartner,
                                                                                         Abge­wertet,
         der diese beherrscht, könnten wir glauben in                                    ­vergessen,
         einer Win-win-Situation zu stecken, obwohl wir
         ­eigentlich über den Tisch gezogen und mani-
                                                                                          ­wiederentdeckt
          puliert wurden. Das Buch stellt Verhandlungs­
                                                                                         Banal, kitschig, trivial – drei ­Adjektive,
          taktiken, Gesprächsführungen und rhetorische
                                                                                         mit denen das literarische Schaffen
          ­Strategien vor.
                                                                                         von Frauen seit Jahrhunderten ab­­
                                                             Foto: Sabrina Adeline Nagel gewertet wird. Nicole Seifert ist ange­
                                                                                         treten, die frauenfeindlichen Struktu-
                                                            ren im Literaturbetrieb aufzuzeigen. Denn von vielen von Frauen
                                                            verfassten Büchern hören wir erst gar nicht, weil Zeitungs-,
                                                            Radio- und Fernseh­redaktionen und noch davor Buchverlage eine
                                                            entsprechende Vorauswahl treffen.
                                                                      Nachdem Nicole Seifert drei Jahre lang ausschließlich
       Beschäftigte mit KammerCard erhalten auf             Literatur von Frauen – Klassiker wie Zeitgenössisches, Bekanntes
       die ­BIBCARD der Stadt­bibliothek zehn Prozent       wie Unbekannteres – gelesen hat, ist klar: Die vielbeschworene
       Ermäßigung!                                          „Qualität“ ist nicht das Problem.
          www.arbeitnehmerkammer.de/kammercard
                                                            Lesung mit Nicole Seifert am 23. März. Infos auf S. 13.

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Veranstaltungskalender                                                                   BAM — März / April 2022

Veranstaltungen
                                                                                                                    Online
                                                                                                                    Veranstaltungen
    ONLINE                                                                                                              möglich

1. März        Inputvortrag im Rahmen des Equal Care Day mit Diskussion:
                                                                                                                                       demie
12.10 –        ­Pflegekräfte zurückgewinnen – E
                                              ­ rgebnisse der bundes­weiten                                         r Corona-­Pan
                                                                                                      Aufgrund de                         l-
13 Uhr         Studie „Ich pflege wieder, wenn …“                                                                    sere Veransta
                                                                                                      gelten für un               tu el le n
                                                                                                                      weils   ak
               Ihr Recht – einfach erklärt                                                            tungen die je                or m  ie ren
                                                                                                                      . Bitt e i
                                                                                                                               ­ nf
3. März          Infos zum Homeoffice 18 – 19.30 Uhr                                                   Bedingungen                       auf
                                                                                                                     dem Besuch
8. März           „Grundrente“ – Altersarmut adé? 18 – 19.30 Uhr                                       Sie sich vor
                                                                                                                      site unter
                                                                                                       ­unserer Web                            e/
                                                                                                                             merkammer.d
22. März          Das Arbeitszeugnis – „Er hat sich stets bemüht“ 18 – 19.30 Uhr
                                                                                                             www.arbeitneh
                                                                                                                        . Dort finden
                                                                                                        veranstaltungen
17. März       Informationsveranstaltung zur Reihe „Mentoring für Frauen“
               Gewerkschaftshaus Bremen, Bahnhofsplatz 22 – 28, Bremen                                                                    Veran­
17 – 19 Uhr                                                                                                           n Link, wenn
                                                                                                         Sie auch de                         en.
                                                                                                                         line stattfind
                                                                                                         staltungen on
    BREMEN & BREMEN-NORD

               Ihr Recht – einfach erklärt
1. März           Minijob = Minirechte?
22. März          Mutterschutz, Elternzeit und Elterngeld
               Lindenstraße 8, Bremen-Vegesack
8. März           Befristung – auf ewig von einem Vertrag zum nächsten?
26. April         Schwerbehinderte und Steuern
je 18 Uhr      Kultursaal, Bürgerstraße 1, Bremen
16. März       Das BEM erfolgreich umsetzen – Anregungen und Erfahrungs­austausch
14 – 17 Uhr    Kultursaal, Bürgerstraße 1, Bremen
23. März       Digitalisierung & Homeoffice – Herausforderungen für die Mit­
14 – 17 Uhr    bestimmung. Ergebnisse der aktuellen Befragung von Bremer Betriebs-
                                                                            ­­                                  Ausstellung Katrin
               und Personalräten                                                                                Schütte – „umgeben“,
               Kultursaal, Bürgerstraße 1, Bremen                                                               bis 7. April
                                                                                                                Galerie der Arbeitnehmer-
23. März       „Frauen Literatur“ – Lesung mit Nicole Seifert
                                                                                                                kammer, Bremerhaven
19.30 Uhr      Kultursaal, Bürgerstraße 1, Bremen
22. und        LOCOMOTIVE BREATH – Eine Musikrevue. Das Bremer Kaffeehaus-­
24. April      Orchester und rockige Gäste (am 1. Mai auch in Cuxhaven)
19.30 Uhr      Schaulust, Beim Handelsmuseum 9, Bremen

    BREMERHAVEN

               Ihr Recht – einfach erklärt
15. März          Jobwechsel – Kündigung, Abfindung, Sperrzeit
29. März          Mutterschutz, Elternzeit und Elterngeld
je 17 –        Arbeitnehmerkammer Bremerhaven, Barkhausenstraße 16, Bremerhaven
18.30 Uhr

               Kabarett im Capitol
                  „Geht nicht? Gibt’s nicht!“ – Tan Caglar (11.3.), „Zurück in die Zug-
               luft“ – Inka Meyer (25.3.), „Hinter uns die ­Zukunft“ – Thomas Freitag
               (31.3.), „Finne dich selbst“ – Bernd Gieseking (22.4.), Ein Abend mit
               ­Robert Kreis (23.4.), Zirkus Berlin – Arnulf Rating (29.4.)
je 20 Uhr      Capitol, Hafenstraße 156, Bremerhaven
bis            Katrin Schütte – „umgeben“. Ausstellung mit Bildern in Öl und Acryl.
26. April      (Öffnungszeiten: Mo + Mi 8 – 18.30 Uhr, Di + Do 8 – 16.30 Uhr, Fr 8 – 13 Uhr)
               Arbeitnehmerkammer Bremerhaven, Barkhausenstraße 16, Bremerhaven

Weitere Veranstaltun­gen und ­Informationen unter         www.arbeit­nehmer­kammer.de/veranstaltungen

                    = für alle      = für Politikinteressierte     = für Betriebs- und Personalräte
                                                                                                                                       — 13
BAM — März
             November
                  / April/ 2022
                           Dezember 2021

                          Jungs wollen Technik,
                            Mädchen ins Büro?
                         — Rollenklischees bei der
                               Berufswahl

            Das Land Bremen bietet zahlreiche Projekte und Initiativen, um Geschlechterklischees
                   entgegenzuwirken und junge Menschen fit für den Arbeitsmarkt zu machen

                                                                       für sehr wenige Berufe und die entsprechen fast immer den
       Text: Suse Lübker                                               ­klassischen Rollenbildern.
       Fotos: Kay Michalak                                                      Diese Tendenz ist auch in der Berufsberatung erkenn-
                                                                       bar, berichtet Swantje Hüsken, Referentin in der Jugendbe-
       Alissa ist 16 Jahre alt und startet im Sommer ihre Ausbil-       rufsagentur (JBA) in Bremerhaven: „In den Gesprächen mit
       dung zur Kfz-Mechatronikerin. Der 15-jährige Theo würde          den Schulabgängerinnen und Schulabgängern bemühen wir
       gern nach der Schule als Bürokaufmann arbeiten. Klingt           uns sehr, genau an diesen Stellschrauben zu drehen. Die
       plausibel? Die Realität sieht meistens anders aus. So ist der    geschlechtersensible Berufsberatung ist unser roter Faden.
       Beruf des Kfz-Mechatronikers nach wie vor Spitzenreiter bei      Allerdings versuchen wir die Schülerinnen und Schüler nicht
       den Jungs und die Kauffrau für Büromanagement der meist          umzuberaten, sondern informieren sie möglichst früh über
       gewählte Ausbildungsberuf bei den Mädchen. Zwar gibt es          ihre Möglichkeiten“, so Hüsken. Denn oft entwickeln K ­ inder
       laut Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) 324 anerkannte      bereits in jungen Jahren Vorstellungen darüber, welche
       Ausbildungsberufe in Deutschland, dennoch entscheidet sich       Berufe typisch für welches Geschlecht sind.
       die Mehrzahl der Jungen und Mädchen seit vielen Jahren

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Ausbildung                                                               BAM — März / April 2022

                                                                 Auszubildenden aus, die bereits in geschlechtsuntypischen
                                                                 Berufen arbeiten. Eltern und Lehrkräfte sind aktiv einbe­
            „Die geschlechtersensible­                           zogen und das Projekt arbeitet eng mit Betrieben zusammen.
                                                                 Be oK soll langfristig dazu beitragen, dem Fachkräfte­mangel
 Berufsberatung ist unser roter Faden.“                          entgegenzuwirken. Das Projekt läuft noch bis November
       Swantje Hüsken, Referentin in der Jugendberufsagentur     2022.
                                             in Bremerhaven
                                                                 Das GunA-Projekt – kurz für geschlechteruntypische Aus­
                                                                 bildung – ist ein Projekt der Universität Bremen, das junge
                                                                 Menschen in geschlechteruntypischen Ausbildungen be­­
                                                                 gleitet und sie bei Problemen und Konflikten unterstützt.
Berufliche Orientierung muss früh beginnen                       Dabei ­werden sowohl Auszubildende als auch Lehrkräfte und
Kein Wunder, denn die meisten Kinder erleben die ­klassischen    Betriebe nach ihren Einstellungen und Erfahrungen befragt.
Geschlechterrollen tagtäglich im Alltag. So ist es schließ-      Eine Initiative, die vom Land Bremen ins Leben gerufen
lich ganz normal, dass sie in der Kita von einer Er­­zieherin    wurde und finanziert wird und an der sich auch die Jugend-
betreut werden und in der Grundschule selten männliche           berufsagenturen in Bremen und Bremerhaven beteiligen. Die
Lehrer unterrichten. Und auch das Auto wird meist von            wissenschaft­lichen Erkenntnisse aus dem Projekt helfen auch
einem Mechaniker repariert, während man Frauen hingegen          dabei, neue Fortbildungsmodule für die gendersensible Be­ra-
eher an der Supermarktkasse oder als medizinische Fachan-        tung zu konzipieren und die Beraterinnen und Berater fitter
gestellte sieht. Umso wichtiger ist es, dass Eltern und Erzie-   zu machen, so sieht es Swantje Hüsken. Zwar vergeben viele
herinnen und Erzieher die Kinder ermutigen, für alle Berufe      Betriebe in Bremerhaven ihre Ausbildungsplätze unabhängig
offen zu sein und vielmehr die eigenen Stärken und Talente       vom Geschlecht, dennoch habe man bisher wenig Informa­
in den Vordergrund zu stellen.                                   tionen darüber, welche Probleme es tatsächlich gibt.
        Diese Rollenbilder ändern sich langsam, aber ­stetig:
„Anders als Männer mussten Frauen sich die komplette
Berufswelt erst einmal erobern. Dabei haben sie in kurzer
Zeit riesige Schritte zurückgelegt“, erklärt Regine Geraedts,
Referentin für Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik bei
                                                                 Die meisten Kinder erleben die
der Arbeitnehmerkammer. Der Grund: Bis 1994 war ihnen            ­klassischen Geschlechterrollen
der Zugang zu vielen Berufen aus „sittlichen und gesundheit-
lichen Gründen“ gesetzlich versperrt. So dürfen Frauen bei-
                                                                 tagtäglich im Alltag.
spielsweise am Bau erst seit knapp 30 Jahren arbeiten. Davor
galt für fast 120 Jahre ein Berufsverbot.
        Das habe Spuren hinterlassen, so Geraedts: „Die Vor-
urteile gegen Frauen sind geblieben. Maurerinnen, Betonbau-      Alle diese Initiativen unterstützen Mädchen und Jungen
erinnen und Zimmerfrauen haben bis heute einen Exoten­           dabei, bei der Berufswahl viel stärker auf die eigenen Stärken
status auf Baustellen.“ In männerdominierten Branchen            und Interessen zu achten und sich unvoreingenommen für
herrsche außerdem oft eine wenig attraktive Betriebskultur.      eine Ausbildung zu entscheiden – klischeefrei und zukunfts-
„Wenn Betriebe Frauen gewinnen wollen, dann sollten sie          orientiert.
mehr für ein gutes Arbeitsklima, Fairness im Miteinander,
Weiterentwicklungsmöglichkeiten für alle und Flexibilität in
der Arbeitszeit tun. Das spricht besonders junge Frauen, aber
auch Männer an“, resümiert die Referentin.

Unterstützung bei der klischeefreien Berufswahl                  Berufliche Vorbilder gesucht! Wer in einem ge-­
Im Land Bremen gibt es verschiedene Projekte, in den J­ ungen    schlech­ter­­­un­typischen Beruf arbeitet, kann Schü-
und Mädchen bereits in jungen Jahren dabei unterstützt           lerinnen und Schülern davon erzählen. Mehr Infos
­werden, Berufe jenseits von den traditionellen Geschlechter-    unter: www.be-ok.de/rolemodels
 klischees zu wählen.

Be oK – Berufsorientierung und Lebensplanung ohne
­Klischees ist ein Projekt der ZGF Bremen – Bremerhaven,
 das derzeit an 20 Schulen in Bremen, Bremerhaven und
 dem Landkreis Osterholz umgesetzt wird. Das Projekt wird
 durch die Arbeitsagentur Bremen-Bremerhaven, die Handels­
 krankenkasse Bremen, die Arbeitnehmerkammer Bremen
 sowie durch den Landkreis Osterholz finanziert. Innerhalb
 einer Projektwoche setzen sich Schülerinnen und ­Schüler ab
 Jahrgangsstufe 6 praktisch und spielerisch mit ihren Fähig-
 keiten und Zukunftswünschen auseinander – klischee- und
 vorurteilsfrei. Dafür tauschen sie sich zum Beispiel mit

                                                                                                                                  — 15
BAM — März / April 2022      Galerie der Arbeitswelt

        Ilka Böttcher unterstützt
       Familien und leistet damit
          Hilfe zur Selbsthilfe.

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BAM — März / April 2022

                                               GALERIE DER ARBEITSWELT

      Gut vernetzt Familien
          unterstützen
                  Ilka Böttcher arbeitet als Koordinatorin im Kinder- und
                    Familienzentrum (KuFz) Regenbogenhaus in Tenever.
                 Sie berät Familien bei Alltags- und Erziehungsfragen und
                        setzt auf gute Zusammenarbeit im Stadtteil

                                            Text: Suse Lübker – Foto: Kay Michalak

W
               enn Ilka Böttcher über ihren Job spricht,          Eltern ins Gespräch zu kommen – mit Erfolg. Inzwischen
               sprüht sie vor Begeisterung und Energie. Die       kennt sie fast jedes Elternteil der 135 Kitakinder.
               Sozialpädagogin arbeitet als Koordinatorin in
               einem der rund 90 Kinder- und Familienzen-         Die Bandbreite der Themen ist groß. Wichtig ist es, die
tren von KiTa Bremen, Bremens größtem Träger für Kinder-          Bedarfe der Eltern zu kennen. Oft sind es Dokumente von
tagesbetreuung. Vor einigen Jahren wurden die städtischen         Behörden, die nicht verstanden werden, Eltern kommen mit
Kindertagesstätten in Kinder- und Familienzentren um­­            Fragen zur Kita-Anmeldung oder sind unsicher, wenn es um
gewandelt: Zwischen den Fachkräften im Kindergarten und           die Mediennutzung ihrer Kinder geht. „In Tenever leben
den Eltern soll eine Erziehungspartnerschaft entstehen, so        Menschen aus 98 unterschiedlichen Ländern mit ganz ver-
die Idee. Koordinatorinnen und Koordinatoren kommt dabei          schiedenen Lebenswelten“, sagt Böttcher, „viele von ihnen
eine zentrale Rolle zu: Sie unterstützen die Entwicklung vom      sind von Armut betroffen“. So organisiert sie nicht nur die
Kindergarten hin zu einem Sozialraum mit niederschwelligen        Schwimmkurse für die Kinder, sondern hilft Eltern auch
Angeboten für die ganze Familie.                                  dabei, den Antrag für die Kostenübernahme zu organisieren.
                                                                  Immer mit dem Ziel, dass die Eltern sich zukünftig trauen,
Vor drei Jahren startete Ilka Böttcher im KuFz Regenbogen-        Dinge allein zu regeln. „Ich leiste Hilfe zur Selbsthilfe“, so
haus in Osterholz-Tenever. Damals gab es noch nicht einmal        beschreibt es Ilka Böttcher, es sei ihr wichtig, dass Eltern
eine Stellenbeschreibung für ihre Aufgabe – so neu war die        irgendwann unabhängig sind.
Idee, Familienbildungsarbeit in Kitas zu integrieren. ­Böttcher
nutzte die Chance, ihre Aufgaben mitzugestalten, entwickelte
Konzepte und knüpfte Kontakte. Vieles fällt ihr leicht, auch
weil sie viel Unterstützung und Zuspruch von ihrer KuFz-­
Leiterin bekommt. Hilfreich ist auch, dass sie lange Zeit als
sozialpädagogische Familienhilfe und in der Geflüchteten-         Die Kita-Koordinatorin / der Kita-Koordinator
hilfe gearbeitet hat: „Die Erfahrungen und Vernetzungen
kommen dieser Arbeit zugute“, weiß Böttcher.                      Voraussetzung ist ein Studium der Sozialpädagogik oder
        Das Vertrauen der Eltern zu gewinnen, sei die größte      der Sozialen Arbeit mit Erfahrungen/Qualifikationen in der
Heraus­forderung gewesen, berichtet die Koordinatorin. Wäh-       Kinder- und Jugendhilfe. Infos zum Studium in Bremen
rend des ersten Lockdowns hat sie sich monatelang morgens         unter: www.hs-bremen.de/studieren/studiengang/soziale-arbeit-b-a
vor den Eingang des Familienzentrums gestellt, um mit den

                                                                                                                                   — 17
BAM — März / April 2022

                   Eine Branche braucht
                         Bewegung
          In Physiotherapiepraxen mangelt es an Arbeitskräften. Ausgebildete Fachkräfte wandern
         immer häufiger ab und zugleich wird zu wenig Nachwuchs ausgebildet. Dass das wichtige
              Berufsfeld einer Reform bedarf, darin sind sich Angestellte und Praxisinhaber einig

                                                 Patienten indivi­
       Text: Frauke Janßen                       dueller    behan-
       Fotos: Kay Michalak                       deln und sie
                                                 dazu zu ermäch-
       Anja Naumann wusste schon als tigen, Beschwer-
       Kind, dass sie Physiotherapeutin wer- den selbst in
       den will. Sie wuchs in Mecklenburg-­ den Griff zu
       Vorpommern auf und kam in einer bekommen, wird
       Polyklinik der ehemaligen DDR zum Anja Naumann
       ­
       ersten Mal mit dem Arbeitsfeld in zufolge              auch
       Berührung. „Ich habe meinen Berufs- durch das von
       wunsch nie bereut“, erzählt die heute den Krankenkas-
       44-Jährige, die als Angestellte in einer sen vorgegebene
       Bremer Praxis arbeitet. Fachkräfte mit Therapie­s chema
       einer solchen Leidenschaft werden erschwert. Dieser
       zunehmend gesucht. Dabei bietet der Meinung ist auch Praxisinhaber Jens           2.700 Euro brutto. Der Tariflohn nach
       Beruf mit den vielfältigen physikali- ­Uhlhorn. „Die Therapie müsste von          TVöD liegt im stationären Bereich,
       schen Therapieansätzen nach wie vor der Zeit, dem Umfang der Behandlun-           also für Physiotherapeuten, die in den
       das, was Anja Naumann schon immer gen und hinsichtlich der Beratung auf           Kliniken arbeiten, deutlich darüber.
                                                                                         ­
       begeisterte: „Ich helfe Menschen, mit die Menschen abgestimmt werden“,            Um meine Angestellten angelehnt an
       ihren Problemen besser zurechtzu­ sagt der Praxischef, der fünf Praxen            den Tarif be­­zahlen zu ­können, müssten
       kommen – das ist ein schönes Gefühl!“     in Bremen und umzu betreibt. Grund-     die Kranken­kassen die entsprechenden
               Ihre Ausbildung hat sie 1996 am sätzlich soll das vorgegebene Behand-     Honorare dafür zur Verfügung s­ tellen“,
       Bremer Lehrinstitut für Physio­therapie lungsschema Qualitätsstandards und        wünscht sich Praxisinhaber Jens
       abgeschlossen. Inhaltlich habe sich ­     -kontrolle ermöglichen. In der täg­     ­Uhlhorn. Dem widerspricht ein Report
       seitdem nicht viel verändert, ­kritisiert lichen Praxis wäre mehr Handlungs-       der Barmer Ersatzkasse, demzufolge
       Naumann die Ausbildungssituation spielraum wünschenswert, so Uhlhorn.
       ­                                                                                  die Umsätze der Praxen ­zwischen 2017
       heute. Zum Beispiel Kneipp-Güsse Die Befürchtung, dem hohen Bedarf                 und 2020 um 46 Prozent ge­­stiegen
       gehörten aus Ihrer Sicht eher in den könnten die Praxen dann noch weni-            sind, während der Durchschnittslohn
       Wellnessbereich; die Befundung von ger gerecht werden, hält ­Uhlhorn für           der Physio­therapeuten im selben Zeit-
       Beschwerden müsse in der Ausbildung un­berechtigt. ­Manche Patienten be­­          raum um nur 21 Prozent gestiegen ist.
       stärker in den Fokus gerückt werden, so nötigen aus seiner Sicht weniger Zeit
       Naumann weiter. Schon deshalb, weil als verschrieben wurde, weil sie sich
       die Diagnosen auf den Rezepten, wie mit einer entsprechenden Beratung
       zum Beispiel Kniearthrose, Hals- oder sehr gut selbst ­helfen könnten, andere
                                                                                         „Die Therapie müsste von
       Lendenwirbelsyndrom zu allgemein for- wiederum könnten somit länger und
       muliert seien, um adäquat therapieren ­besser behandelt ­werden – mit mehr        der Zeit, dem Umfang der
       zu können. Das hätte zur Folge, dass zu Flexi­bilität eben.
                                                                                         ­Behandlungen und hinsichtlich
       oft passiv wie zum ­Beispiel mit Massa-
       gen behandelt würde, statt zielgerichte- Dass es in den Praxen zu wenig Hand-     der Beratung auf die Menschen
       ter auf das einzugehen, was der jewei- lungsspielraum gibt, sieht Uhlhorn als
                                                                                         abgestimmt werden.“
       lige Patient brauche, um eigenständig einen Grund für den Fachkräfte- und
       wieder gut funktionieren zu können. Nachwuchsmangel. Ein a       ­ nderer wiegt
                                                                                         Jens Uhlhorn, Praxisinhaber
       „Denn das ist ja schließlich das Ziel!“, noch schwerer: „Bundesweit liegt der
       fasst die Physiotherapeutin zusammen. durchschnittliche Verdienst bei rund

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Branchenreport                                                                   BAM — März / April 2022

Der Barmer-­Heilmittelreport gebe unter       Die meisten Akteure
anderem deshalb ein verzerrtes Bild           wünschen sich eine Ver-
wieder, weil im Pandemiejahr 2020             besserung der Physio-
sozialversicherungspflichtige Gehäl-          therapieausbildung. Ver-
ter durch Kurzarbeit gesenkt wurden,          bandsexperte ­S teffen
hält Praxischef Uhlhorn dagegen. „Es          Gabriel ­a rgumentiert,
hat viel zu lange kaum Erhöhungen             dass      die    Ausbildung
vonseiten der gesetzlichen Kranken-           zumindest dadurch attrak­­­
kassen gegeben“, fügt Steffen Gabriel         tiver wird, dass das Schul-
vom Verband Physikalische Therapie            geld in ­    Bremen abge-
(VPT) hinzu. Auch wenn die Vergütung          schafft wurde. „­Darüber
und die Gehälter schon gestiegen sind,        hinaus muss inhalt-
reicht das laut VPT nicht aus, um eine        lich e­   iniges erneuert
Praxis wirtschaftlich führen und ange-        ­werden“, so Gabriel. Zur-
messenere Gehälter zahlen zu können,           zeit müssen ausge­bildete
auch weil Praxisinhaber die gestiege-          Physiothera­peuten       für
nen Ein­nahmen nun auch dafür n     ­ utzen    bestimmte       Tätig­keiten
­müssen, dringende Anschaffungen zu            wie Manuelle ­    Therapie
 tätigen und Rücklagen für die Praxis zu       oder die Lymphdrainage
 ­bilden. Fest steht, dass die Angestellten    Weiter­bildungen ab­­sol­
  in den Physiotherapiepraxen weniger          vieren. „­Solche Zertifi­
  verdienen als diejenigen, die in ande-       katspositionen müssen
  ren Gesundheitsberufen be­­schäftigt         zumindest teilweise in
  sind.                                        die Aus­   bildung integ-
                                               riert werden“, sagt der
                                               VPT-Experte. Durch die
                                               Folgen der ­     Pandemie
                                               wird sich der Bedarf
    „Es hat viel zu lange kaum
                                               vielleicht noch ­    weiter
    ­Erhöhungen vonseiten der                  er­­höhen.    Kai    Huter,
                                               Referentin für Arbeits-
  gesetzlichen Krankenkassen                                                      Physiotherapeutin Anja Naumann wünscht sich,
                                               schutz- und Gesund-
                                                                                   Patienten individueller behandeln zu können.
                             gegeben.“         heitspolitik der Arbeit-
                                               nehmerkammer Bremen,
                        Steffen Gabriel,       fasst zusammen: „Wir haben schon Wandels steigen wird, gibt es in Bre-
         Verband Physikalische ­Therapie       jetzt zu wenig Physiothera­peuten und men jetzt schon zu wenig Ausbildungs-
                                               Physio­therapeutinnen in Bremen. Die plätze, um dem zukünftig noch grö-
                                               Arbeitsbe­dingungen sollten ­weiter ßer werdenden Fachkräftemangel
                                               ver­ bessert werden, um diese auch wirkungsvoll be­­         gegnen zu können.“
         Auch Anja Naumann ist über-           im Beruf zu halten. Da in den nächs- Umso mehr braucht der anspruchsvolle
zeugt, dass Therapeuten und Therapeu-          ten Jahren viele Therapeuten altersbe- Gesundheits­    beruf in Zukunft Arbeits-
tinnen besser bezahlt werden müssten.          dingt ausscheiden werden und der kräfte wie Anja N          ­ aumann.
Mit rund 70 Prozent arbeiten über-             Bedarf aufgrund des demografischen
wiegend Frauen in dem Beruf – viele
in Teilzeit. Anja Naumann mag ihren
Vollzeitjob im ambulanten Bereich.                     Monatsentgelte in den Gesundheitsfachberufen (in Euro)
Sie möchte trotz besserer Gehaltsaus­                 Sozialvers. Vollzeitbeschäftigte, Median, Stichtag 31.12.2020
sichten nicht die Klinik wechseln.
                                                                          4.446
Aber sie wünscht sich, dass sie in                                                                         4.284
Weiter­bildungen – abgesehen von den                                                               3.610
                                                                  3.427
­Zertifikatsfortbildungen, die die Arbeit-                                                                          2.912
                                                                                                                            3.212
 geber finanzieren – nicht mit privater                                           2.578 2.588
                                                  insgesamt
 Zeit und aus eigener Tasche investieren
                                                  Anforderungs-
 müsste. Nur so hat sie sich nämlich auf
                                                  niveau
 Migräne- und Kopfschmerzpatienten                Spezialist
 spezialisieren können. Und ein neues
 Arbeitsfeld mit einer Vielfalt an Symp­
                                                                   alle Berufe     Berufe in der Gesundheits- und    Altenpflege
 tomen tut sich auf, in dem N   ­ aumann
                                                                                  Physiotherapie Krankenpflege
 bereits eine 46-Jährige Patien­tin be­­
 handelt: „Long Covid!“                       Quelle: Verband für Physikalische Therapie (VPT),         © Arbeitnehmerkammer Bremen
                                              basierend auf Sonderauswertung Bundesagentur für Arbeit

                                                                                                                                      — 19
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