Ratsbericht - Konrad-Adenauer-Stiftung
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Oktober 2020 Ratsbericht Europabüro Brüssel Strategische Autonomie im Übungsmo- dus Sondergipfel des Europäischen Rates am 1. und 2. Oktober 2020 Dr. Hardy Ostry, Sophia Pena Pereira, Kai Gläser, Ludger Bruckwilder Beim ersten EU-Gipfel nach der politischen außenpolitischen Themen vorgesehen, der zweite Sommerpause standen zwei Themenbereiche Tag für die Themen Binnenmarkt, Industriepolitik im Mittelpunkt: Außenpolitik und der Binnen- und Digitalisierung. markt. Im Gasstreit mit der Türkei sicherten die Staats- und Regierungschefs Zypern und Außenpolitik Griechenland volle Unterstützung zu und rie- fen Ankara zur Einstellung der Provokationen Hintergrund auf. Mit Blick auf Belarus einigte sich das Gre- Lange hatte es keinen EU-Gipfel mehr gegeben, der mium auf eine Liste von 40 Regierungsvertre- sich mit außenpolitischen Themen an so vielen Fron- tern und Beamten, denen die Visumsvergabe ten konfrontiert sah. In einem bereits lang schwelen- künftig verwehrt wird. Zudem wurde be- den Konflikt war es im Mittelmeer zuletzt zu einer be- schlossen, die Integrität des Binnenmarkts zu sorgniserregenden Zuspitzung gekommen: Die EU- stärken und das Tempo bei der Digitalisierung Mitgliedsstaaten Zypern und Griechenland befinden der Union zu erhöhen. sich in einem Streit mit der Türkei, in welchem es um Obwohl es sich bei dem Gipfel der Staats- und Regie- die Erschließung von Gasfeldern geht. Der soge- rungschefs offiziell um einen Sondergipfel handelte, nannte Gasstreit entzündet sich an Gasvorkommen war vieles an diesem Treffen so normal wie lange im östlichen Mittelmeer, die vor etwa zehn Jahren nicht. Zum einen handelte es sich trotz steigender entdeckt worden waren. Die Türkei erhebt seither Infektionszahlen in den meisten Mitgliedsstaaten Ansprüche auf die Bodenschätze, da sie vor der tür- nicht um eine Videokonferenz, so wie es sie Anfang kischen Küste liegen. Allerdings befinden sich in die- des Jahres in der ersten Phase der Corona-Pandemie sem Gebiet auch einige griechische Inseln, sowie die mehrfach gegeben hatte. Zum anderen gab es eine Insel Zypern, die de facto geteilt ist in das unabhän- Agenda, auf der kein außergewöhnliches Investiti- gige EU-Mitglied Republik Zypern und einen unter onspaket zur Bewältigung der Pandemie stand, wie türkischer Kontrolle stehenden Norden. Trotz einer der Rat es zuletzt bei seiner mehrere Tage dauern- ungeklärten Situation, in der nicht klar ist, wer und den Mammutsitzung im Juli erlebt hatte. Zwar war in welchem Ausmaß das Gas fördern könnte und das aktuelle Treffen um eine Woche verschoben wor- dürfte, hat die Türkei im Sommer Probebohrungen den, da Ratspräsident Charles Michel sich nach einem mit einem Forschungsschiff vorgenommen. Begleitet Corona-Risikokontakt in Quarantäne begeben hatte, wurde dieses Forschungsschiff zudem von Schiffen und Journalisten waren entgegen der eigentlichen der türkischen Marine. Ein Fakt, der in der konflikt- Gipfelpraxis auch weiterhin nicht im Ratsgebäude an- behafteten Lage von Griechenland und Zypern als wesend, dennoch war der Ratsgipfel mit Beginn am gefährliche Provokation eingestuft worden war. So- Donnerstagmittag und Ende am Freitagnachmittag wohl Griechenland als auch Zypern forderten zuletzt fast schon ungewohnt routiniert. Im Kreis der Staats- einen härteren Kurs gegenüber der Türkei sowie de- und Regierungschefs zum ersten Mal mit von der Par- ren Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und forderten tie war Belgiens frisch gebackener Premierminister explizit Sanktionen der EU. Alexander De Croo, der pünktlich zum Gipfel im Amt Das Verhältnis der gesamten EU zur Türkei ist seit vereidigt worden war. Thematisch war die Agenda jeher kompliziert und hatte sich in den vergangenen zweigeteilt: Der erste Tag war für die Vielzahl von
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Oktober 2020 2 Jahren mehr und mehr problematisch entwickelt. Ne- Weitere außenpolitische Themen waren aus aktuel- ben dem nun hochgekochten Gasstreit sind auch die lem Anlass die Lage im Bergkarabach-Konflikt zwi- zunehmende Autokratisierung im Innern durch Präsi- schen Armenien und Aserbaidschan, in dem es jüngst dent Erdoğan, die Lage an der türkisch-syrischen zu einer militärischen Eskalation gekommen war, so- Grenze sowie die Schlüsselrolle der Türkei als Migra- wie die Vergiftung des russischen Oppositionspoliti- tionsroute zur Belastungsprobe im Verhältnis der Eu- kers Alexej Nawalny, der aller Wahrscheinlichkeit ropäischen Union zur Türkei geworden. Im Mittel- nach im Juli einem Mordversuch durch den Einsatz meer versucht Ankara zunehmend, eine Vormacht- von Nervengift zum Opfer gefallen war. stellung zu erlangen, wenn es um Ressourcen geht. Nicht nur die Gasfelder im östlichen Mittelmeer, die Entwicklung ganz offensichtlich Gegenstand türkischen Interesses Hinsichtlich der Türkei war die Lage während des sind, spielen hierbei eine Rolle. Das Engagement An- Ratsgipfels zunächst vertrackt. Einerseits stand hier karas in Libyen, wo es lukrative Öl- und Gasvorkom- die Forderung nach einem harten Vorgehen im men gibt, ist ebenso im Lichte dieser Entwicklung zu Raum, und insbesondere Zypern und Griechenland betrachten. Auch durch die obengenannte Rolle als forderten EU-Sanktionen. Auch Österreichs Bundes- Konfliktpartei ist die EU-Perspektive des Landes mitt- kanzler Kurz reklamierte zu Gipfelbeginn ein hartes lerweile in weite Ferne gerückt, wenngleich eine Part- Vorgehen gegenüber der Türkei. Er sprach davon, nerschaft zwischen der EU und der Türkei im Inte- rote Linien zu definieren, und schloss Sanktionen resse beider Seiten liegt. nicht aus. Andererseits trat Angela Merkel eingangs Das zweite große außenpolitische Thema des Gipfels des Gipfels sehr diplomatisch vorsichtig auf und be- war die Lage in Belarus. Dort hatte es im August Prä- tonte, dass das Verhältnis der EU zur Türkei komplex sidentschaftswahlen gegeben, die von massiven Fäl- sei und man ein hohes Interesse habe, bei allen schungsvorwürfen begleiten wurden. Nach offiziel- Schwierigkeiten ein konstruktives Verhältnis zu ent- len, staatlichen Angaben wurde Amtsinhaber Alek- wickeln. „Für mich spielt Diplomatie eine herausra- sandr Lukaschenka mit 80 Prozent der Stimmen wie- gende Rolle“, so die Bundeskanzlerin. Gleichzeitig dergewählt. Dieses Ergebnis wird international, ins- knüpfte Zypern seine Zustimmung zu möglichen besondere von der EU nicht anerkannt. Seit der Wahl Sanktionen gegenüber Belarus an Sanktionen gegen- gibt es landesweite Proteste und Streiks mit der For- über der Türkei. Der niederländische Ministerpräsi- derung nach Neuwahlen. Das belarussische Regime dent Mark Rutte kommentierte hierzu, es gelte, die begegnet den Protesten immer wieder mit brutaler Verquickung solcher Themen zu überwinden. Repression, lässt Regimegegner massenweise fest- Ratspräsident Charles Michel überraschte zu Beginn nehmen und macht ausländische Kräfte für die Pro- des Ratsgipfels mit dem Vorschlag, die Tagesord- teste verantwortlich. Innerhalb der EU gab es zuletzt nung kurzfristig anzupassen und mit der Diskussion aus verschiedenen Richtungen immer lauter wer- in der Türkei-Frage zu starten. Ein ungewöhnliches, dende Forderungen nach Sanktionen der EU gegen wenngleich sinnvolles und vermutlich strategisch ge- Belarus, sodass auch dieses Thema unausweichlich plantes Vorgehen. Mit dieser Anpassung der Agenda auf der Agenda der Staats- und Regierungschefs nahm man sich gleich der schwierigsten Problematik stand. an. Nur durch Fortschritte in der Diskussion bei die- Ein weiteres außenpolitisches Thema des Gipfels war sem Thema ließen sich auch Fortschritte bei weiteren das Verhältnis der EU zu China. Dieses Thema hätte Themen erzielen. Ein weiteres ungewöhnliches Vor- ein absoluter Schwerpunkt der Deutschen Ratspräsi- gehen war, dass die Rednerreihenfolge der Staats- dentschaft werden sollen, wurde allerdings von der und Regierungschefs im durchgeführten Plenarfor- Corona-Pandemie und all ihren Folgen etwas in den mat bei dieser ersten Diskussion zum Thema Türkei Hintergrund gerückt. So konnte der für September abgeändert wurde. In der Regel eröffnet der Vertre- geplante große China-Gipfel in Leipzig leider nicht ter der aktuellen Ratspräsidentschaft, derzeit Bun- stattfinden und musste durch ein reduziertes Video- deskanzlerin Merkel, anschließend folgen alle Staats- format, welches am 14. September stattfand, ersetzt und Regierungschefs der Reihenfolge des Ratspräsi- werden. An diesem virtuellen Treffen mit Chinas dentschaftsturnus‘ folgend. Bei der Türkei-Diskussion Staatspräsident Xi Jinping hatten Angela Merkel, entschied man sich jedoch, Zypern und Griechenland Charles Michel und Ursula von der Leyen teilgenom- als erstes das Wort nach Angela Merkel zu erteilen, men. Auf dem Ratsgipfel sollten nun die Ergebnisse was als Zeichen verstanden werden kann, dass man der Videokonferenz diskutiert werden, um gemein- beiden Mitgliedern in ihrer Lage Priorität und großes same Positionen zu den wichtigsten Themen im EU- Gehör schenkt. Sicherlich war dies zudem ein Ver- China-Verhältnis zu definieren. such insbesondere Zypern, von einem Abrücken von seiner Position zu überzeugen, Sanktionen gegen- über Belarus mit möglichen Sanktionen gegenüber der Türkei als Bedingung zu verbinden.
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Oktober 2020 3 Merkel und viele weitere Gipfelteilnehmer berichte- Der Konflikt in Bergkarabach wurde ebenfalls in den ten später von zähen und schwierigen Gesprächen. Schlussfolgerungen des Rates erwähnt. Man ruft Klar ist, dass die Gesprächsthemen nicht geordnet dazu auf, die Feindseligkeiten einzustellen und einen nacheinander abgearbeitet werden konnten. Hierfür Waffenstillstand zu erreichen. Der Konflikt sei nur bestanden zu viele Verknüpfungen. Die Türkeifrage durch Verhandlungen zu lösen, die beide Konfliktpar- wurde mit der Frage nach Sanktionen für Belarus ver- teien aufnehmen müssten. Der Hohe Vertreter Josep knüpft. Die Causa Belarus ist untrennbar mit Russ- Borrell wird dazu aufgerufen, den Prozess der Kon- land verbunden. Mit Blick auf Russland wiederum ist fliktbeilegung zu unterstützen. Ähnlich diplomatische derzeit die Rolle bei der Vergiftung von Alexej Na- Worte wählte man auch mit Bezug zu Alexej Na- walny genauso wenig wegzudiskutieren wie die Rolle walny. Der Mordversuch an ihm wird verurteilt und im Bergkarabach-Konflikt. Einzig das Verhältnis zu man ruft Russland dazu auf, in Zusammenarbeit mit China, welches ebenfalls am ersten Gipfeltag disku- der Organisation für das Verbot chemischer Waffen tiert wurde, war nicht unmittelbar mit allen anderen (OVCW) eine unabhängige Untersuchung zu gewähr- Themen verwoben. leisten. Trotz der Schwierigkeiten gelang es dem Rat, sich am Kommentar Ende des ersten Gipfeltages bei allen Themen auf ge- schlossene Positionen zu einigen. Zur Türkei ist die Häufig werden außenpolitische Themen bei Gipfel- Ratsposition auf die Formel Zuckerbrot und Peitsche treffen des Europäischen Rats lediglich als Randthe- herunter zu brechen. Zwar wurden keine Sanktionen men unter ferner liefen behandelt. In dieser Hinsicht beschlossen, aber es bleibt für die EU ultima ratio, im war der jetzige Ratsgipfel eine große Ausnahme und Fall der Fälle „alle ihr zur Verfügung stehenden In- könnte gar als ein Fortschritt betrachtet werden, strumente und Optionen [zu] nutzen, […] um ihre zieht man die immer wieder formulierte Ambition in Interessen und die Interessen ihrer Mitgliedstaaten Betracht, dass die EU an außenpolitischem Gewicht zu verteidigen“. Gleichzeitig reicht man Erdoğan die gewinnen solle. Letztlich eindeutig und sehr zu be- Hand, indem man ein Augenmerk auf die Moderni- grüßen sind die Gipfelbeschlüsse zu Belarus. Die ge- sierung der Zollunion und auf Handelserleichterun- fälschte Wahl und die Ereignisse im Land, die diese gen legen möchte und bei Migrationsfragen eine stär- nach sich zog, sind aus Sicht der EU nicht hinnehm- kere Kooperation auf Basis des EU-Türkei-Abkom- bar. Es ist gut, dass man nach einer vielleicht etwas mens von 2016 anstrebt. Außerdem ruft der Rat dazu zu langen Phase des Beobachtens nun ein klares Sig- auf, ein Multilaterale Konferenz über den östlichen nal gesendet hat. Zwar ist es verständlich, dass man Mittelmeerraum zu veranstalten. dem Narrativ des belarussischen Diktators Luka- schenka keinen Vorschub leisten möchte, dass die Als Reaktion auf die gefälschten und damit illegitimen Proteste von äußeren Akteuren beeinflusst würden. Präsidentschaftswahlen formulierte der Europäische Dennoch hätte dieses Signal durch Sanktionen gegen Rat eine scharfe Verurteilung der inakzeptablen Ge- das Regime durchaus schon früher gesendet werden walt und unterstützt den Wunsch nach unabhängigen können. Die Tatsache, dass Lukaschenka selbst nicht und fairen Neuwahlen. Man einigte sich zudem auf Teil der Sanktionsliste ist, mag überraschen. Die Kri- Sanktionen. 40 Regierungsvertretern und Beamten tik daran ist aber nur in Teilen nachvollziehbar. Nur werden künftig die Visumsvergabe verwehrt. Für mit dem Machthaber ist aktuell ein Weg in Richtung viele überraschend zählt zu dieser Liste nicht Präsi- Neuwahlen denkbar. Um sich diesen Weg nicht vor- dent Lukaschenka. Der Rat ermutigt in seinen schnell zu verbauen, ist aktuell verständlich, ihn per- Schlussfolgerungen zudem die Kommission, einen sönlich bei den Sanktionen außen vor zu lassen. Zu- umfassenden Plan zur wirtschaftlichen Unterstützung dem hält dieser Weg den Handlungsspielraum offen, eines demokratischen Belarus auszuarbeiten. künftig, bei einer geänderten Lage die Sanktionen nochmals zu verschärfen. Mit Blick auf China unterstrichen die Gipfelteilneh- mer, dass es seitens der EU das Ziel bleiben müsse, Auch was die Gipfelbeschlüsse hinsichtlich der Türkei möglichst bald ein umfassendes Investitionsabkom- betreffen, haben die Staats- und Regierungschefs ei- men zu schließen. Bei Marktzugängen und Wettbe- nen ausgeglichenen Weg gewählt – auch dieser dip- werbsbedingungen müssen Asymmetrien abgebaut lomatisch ausgeglichene Weg ist ein wichtiges Signal, werden. China wird dazu ermutigt mehr Verantwor- welches von diesem Gipfel ausgeht. Sicherlich hat die tung bei der Bewältigung globaler Herausforderun- Türkei zuletzt viel Anlass gegeben, die eine scharfe gen zu übernehmen, wie beispielsweise der Corona- Reaktion rechtfertigen. Aber ganz im Sinne der Kanz- Pandemie aber vor allem dem Klimaschutz. Nicht un- lerin hat letztlich die Überzeugung überwogen, dass erwähnt blieb die Sorge hinsichtlich der Menschen- man die Türkei gesamtstrategisch betrachten muss. rechtslage in Hongkong und beim Umgang mit Min- Ohne das Vorgehen der Türkei bezüglich der Gasfel- derheiten in China. der im Mittelmeer zu rechtfertigen, so muss man doch akzeptieren, dass die Türkei hierbei berechtige
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Oktober 2020 4 Interessen hat. Insofern ist es richtig, dass man ein über Versorgungsproblemen und eine geringere Ab- Drohpotential seitens der EU aufbaut, aber gleichzei- hängigkeit von externen Lieferanten zu verstehen. tig in anderen Bereichen die Hand reicht. Es bleibt zu Die EU verfolgt damit das Ziel, ihre Interessen und hoffen, dass Präsident Erdogan diese ergreift. Die Ziele auf internationaler Bühne erfolgreich durchzu- von der EU geforderte multilaterale Konferenz könnte setzen und in Zukunft unabhängig von äußeren Um- ein geeigneter Rahmen sein, in diesem Konflikt, der ständen handlungsfähig zu bleiben. Zur Bewältigung zweifelsohne das Potential hat, große Tragweite an- der Krise und als Teil einer europäischen Post- zunehmen, Positionen in Einklang zu bringen. Corona-Wachstumsstrategie soll das beim letzten Ratsgipfel (Juli 2020) beschlossene NextGeneratio- Die übrigen Gipfelthemen brachten, was die Schluss- nEU-Instrument (ausgestattet mit 750 Mrd. Euro) folgerungen anbetrifft die zu erwartenden Verurtei- lungen, Aufforderungen und Beabsichtigungen, wie diese Transformationsprozesse durch Investitionen, sie in Abschlussdokumenten von Gipfeln üblich sind. Reformen und strategische Programme unterstützen. Dennoch darf mit Blick auf diesen Ratsgipfel die Tat- Der europäische Binnenmarkt ist dabei der Aus- sache als bemerkenswert betrachtet werden, dass gangspunkt der europäischen Wettbewerbsfähigkeit. überhaupt ein solches Augenmerk auf Außenpolitik Im Zuge der Corona-Pandemie wurde deutlich, was gelegt wurde. Nach oftmaligen Bekundungen, die EU ein Europa ohne einen vollständig funktionierenden auch zu einem außenpolitisch relevanten Akteur ma- Binnenmarkt bedeutet. Die Corona-bedingten Stö- chen zu wollen, folgen nun weitere konkrete Schritte, rungen in den Produktions- und Lieferketten haben und dem Europäischen Rat gelingt es, eine Reihe von den europäischen Binnenmarkt im Frühjahr 2020 an wichtigen Signalen zu senden. seine Grenzen gebracht. Die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts und der Abbau Binnenmarkt, Industriepolitik und Digita- von Hindernissen im Binnenmarkt werden prioritär lisierung behandelt und sind im Interesse aller Mitgliedsstaa- ten. Ein funktionierender Binnenmarkt mit einem mo- Hintergrund dernen Wettbewerbsrecht ist einer der wichtigsten Am zweiten Tag des Gipfels, an dem der Fokus auf Schlüssel für die wirtschaftliche Erholung. Damit eu- dem „inneren Kern“ der EU lag, standen die Themen ropäische Unternehmen zu gleichen Wettbewerbsbe- Binnenmarkt, Industriepolitik und Digitalisierung auf dingungen mit Unternehmen aus Drittstaaten kon- der Agenda. kurrieren können, legte die Kommission im Juli 2020 das „Weißbuch zur Gewährleistung fairer Wettbe- Ziel ist es, die europäische Industrie global wettbe- werbsbedingungen bei Subventionen aus Drittstaa- werbsfähiger, autonomer und resilienter zu gestal- ten“ vor. Dieses sogenannte Level Playing Field-In- ten. Die wettbewerbsfähige wirtschaftliche Entwick- strument soll europäische Unternehmen vor Wettbe- lung der Europäischen Union steht dabei im Zeichen werbsverzerrungen schützen. grüner und digitaler Transformationsprozesse. Die Entwicklungen europäische Industrie soll in diesem Zusammenhang Teil des Wandels und der Lösung sein, Europas Der Aktualität der außenpolitischen Themen geschul- Wachstum und Wohlstand zu stärken und vor allem det, wurde dieser Themenkomplex im Vorfeld weni- das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu unterstüt- ger intensiv diskutiert. Dennoch bereitete sich zen. Die Stärkung einer wettbewerbsfähigen und in- Charles Michel auf eine mögliche Diskussion zum novativen Wirtschaft spielt im Zuge der ökonomi- Thema Strategische Autonomie vor. Dies war in sei- schen Erholung von der Corona-Pandemie und im nen öffentlichen Auftritten kurz vor dem Gipfel er- Rahmen der Deutschen Ratspräsidentschaft eine ent- kennbar. In der Rede am 25. September vor den Ver- scheidende Rolle und steht damit in Einklang mit dem einten Nationen sprach er deutlich von einer „freien Motto der Ratspräsidentschaft „Europa wieder stark und offenen Wirtschaft“ und betonte, dass es hierbei machen“. Zukunftstechnologien wie grüner Wasser- nicht um Protektionismus gehe. Der europäische stoff oder der Aufbau einer europäischen Dateninfra- Markt ist für jeden offen, der faire Wettbewerbsbe- struktur sind nur zwei Beispiele, die den Ausbau der dingungen und Reziprozität respektiert. Neben eini- digitalen und technologischen Souveränität Europas gen Nicht-EU-Staaten setzen auch einige Mitglieds- vorantreiben sollen. Als Lehre aus der Corona-Pan- staaten den Begriff Strategische Autonomie mit Pro- demie fordert Ratspräsident Michel – angelehnt an tektionismus gleich. Das Thema sorgte insbesondere Emmanuel Macrons Begriff der „Strategischen Auto- seit Beginn der Corona-Pandemie in den letzten Mo- nomie“ - die Sicherstellung einer europäischen Offe- naten für Gesprächsstoff zwischen den Mitgliedsstaa- ten. Die liberaleren Mitgliedsstaaten wie die Skandi- nen Strategischen Autonomie. Unter diesem Schlag- navier, die Niederlande, Irland und auch die Balti- wort ist die angestrebte Widerstandfähigkeit gegen-
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Oktober 2020 5 schen Staaten sehen das Ziel der Strategischen Au- Die Europäische Datenstrategie zum Aufbau einer tonomie als eine Abkehr von offenen Märkten. „Ganz europäischen Datenwirtschaft sowie ein Konzept ei- im Gegenteil“, sagte Michel bei einer Veranstaltung ner Cloud-Infrastruktur der EU, um die Speicherung beim Think Tank Bruegel diese Woche und wies mit und Verarbeitung europäischer Daten zu sichern, einem Plädoyer für die Strategische Autonomie die wurde ebenfalls von den Staats- und Regierungschef wiederholten Vorwürfe wirtschaftlicher Abschottung begrüßt, wie aus der Schlussfolgerung des Sonder- von sich. gipfels hervorgeht. Des Weiteren wurde nochmals auf die Einreichung nationaler Pläne für die Einfüh- In der Schlussfolgerung heißt es nun „Ein zentrales rung von 5G hingewiesen. Als letzter Punkt wurde die Ziel der Union besteht darin, strategische Autonomie Aufforderung an die Kommission, bis Mitte 2021 ei- zu erreichen und zugleich eine offene Wirtschaft zu nen Rechtsrahmen für ein einheitliches System zur bewahren“. Der Rat betont erneut, dass die „sich elektronischen Identifizierung zu entwickeln, ge- gegenseitig verstärkenden Säulen“ – der digitale und nannt. grüne Wandel – eine zentrale Rolle in der europäi- schen Binnenmarkts- und Industriepolitik spielen und Kommentar Wachstum und Resilienz der EU fördern. Die Kom- mission wird außerdem aufgefordert, strategische Neben den außenpolitischen Themen fanden die Abhängigkeiten in bestimmten Industriezweigen, die Themen Binnenmarkt, Industriepolitik und die Digi- während der Corona-Krise zum Teil zu dramatischen talisierung vergleichsweise wenig Beachtung. Trotz Lieferengpässen führten, zu ermitteln, welche dann des eindringlichen Bekenntnisses zu einem funktio- in einem nächsten Schritt verringert werden sollen. nierenden Binnenmarkt, wurde der erhoffte Durch- bruch beim Thema Vereinheitlichung der Reisbe- Darüber hinaus war die Vollendung eines echten di- schränkungen nicht erreicht. Europäische Unterneh- gitalen Binnenmarkts ein zentrales Thema des zwei- men sind durch die verschiedenen, häufig kurzfristi- ten Ratsgipfeltages. Es sind sich alle einig, dass ein gen nationalen Corona-bedingten Regelungen einem digitaler Binnenmarkt bessere und effizientere Da- wirtschaftlichen Risiko ausgesetzt. Angela Merkel tennutzung, höhere Produktivität, wettbewerbsorien- sprach sich nach dem Gipfel ebenfalls für eine bes- tierte Märkte und technologische Souveränität her- sere Koordinierung aus: „Je besser wir uns koordinie- vorbringen wird. Der Rat fordert die Kommission da- ren, umso besser ist es für die Menschen in Europa“, her auf, einen „Digital-Kompass“ vorzulegen, der die so die Bundeskanzlerin. Einheitliche Regelungen wur- digitalen Ziele für 2030 darlegt. Zudem wurde noch einmal betont, dass mindestens 20 Prozent aus der den am Ende des Tages jedoch von zu unterschiedli- Aufbau- und Resilienzfazilität für ein digitales Europa chen Sichtweisen der Mitgliedsstaaten verhindert. zur Verfügung gestellt wird. Hierbei handelt es sich Große Einigkeit gab es dagegen beim Thema Digita- um Investitionen im Bereich digitale Technologien les. „Europa muss eindeutig digitaler werden“, sagte wie zum Beispiel vertrauenswürdige und ethisch ver- Ursula von der Leyen. Die Staats- und Regierungs- tretbare künstliche Intelligenz, Schutz vor Cyberbe- chefs sprachen von einer Beschleunigung der Digita- drohungen sowie der Aufbau von digitalen Infra- lisierung und begrüßten die Kommissionsvorschläge strukturen und Kapazitäten für Bildungssysteme. im Bereich digitale Infrastruktur, europäische Daten- räume und Künstliche Intelligenz. Im März 2021 wird sich der Rat erneut mit diesen Themen befassen. Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Dr. Hardy Ostry Leiter Europabüro Brüssel www.kas.de/bruessel hardy.ostry@kas.de Der Text dieses Werkes ist lizenziert unter den Bedingungen von „Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international”, CC BY-SA 4.0 (abrufbar unter: https://creativecom mons.org/licenses/ by-sa/4.0/legalcode.de) www.kas.de
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