Ratsbericht - Konrad-Adenauer-Stiftung

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Ratsbericht - Konrad-Adenauer-Stiftung
Oktober 2020

Ratsbericht
Europabüro Brüssel

Strategische Autonomie im Übungsmo-
dus
Sondergipfel des Europäischen Rates am 1. und 2. Oktober 2020

Dr. Hardy Ostry, Sophia Pena Pereira, Kai Gläser, Ludger Bruckwilder

Beim ersten EU-Gipfel nach der politischen              außenpolitischen Themen vorgesehen, der zweite
Sommerpause standen zwei Themenbereiche                 Tag für die Themen Binnenmarkt, Industriepolitik
im Mittelpunkt: Außenpolitik und der Binnen-            und Digitalisierung.
markt. Im Gasstreit mit der Türkei sicherten
die Staats- und Regierungschefs Zypern und              Außenpolitik
Griechenland volle Unterstützung zu und rie-
fen Ankara zur Einstellung der Provokationen            Hintergrund
auf. Mit Blick auf Belarus einigte sich das Gre-
                                                        Lange hatte es keinen EU-Gipfel mehr gegeben, der
mium auf eine Liste von 40 Regierungsvertre-
                                                        sich mit außenpolitischen Themen an so vielen Fron-
tern und Beamten, denen die Visumsvergabe
                                                        ten konfrontiert sah. In einem bereits lang schwelen-
künftig verwehrt wird. Zudem wurde be-
                                                        den Konflikt war es im Mittelmeer zuletzt zu einer be-
schlossen, die Integrität des Binnenmarkts zu
                                                        sorgniserregenden Zuspitzung gekommen: Die EU-
stärken und das Tempo bei der Digitalisierung
                                                        Mitgliedsstaaten Zypern und Griechenland befinden
der Union zu erhöhen.
                                                        sich in einem Streit mit der Türkei, in welchem es um
Obwohl es sich bei dem Gipfel der Staats- und Regie-    die Erschließung von Gasfeldern geht. Der soge-
rungschefs offiziell um einen Sondergipfel handelte,    nannte Gasstreit entzündet sich an Gasvorkommen
war vieles an diesem Treffen so normal wie lange        im östlichen Mittelmeer, die vor etwa zehn Jahren
nicht. Zum einen handelte es sich trotz steigender      entdeckt worden waren. Die Türkei erhebt seither
Infektionszahlen in den meisten Mitgliedsstaaten        Ansprüche auf die Bodenschätze, da sie vor der tür-
nicht um eine Videokonferenz, so wie es sie Anfang      kischen Küste liegen. Allerdings befinden sich in die-
des Jahres in der ersten Phase der Corona-Pandemie      sem Gebiet auch einige griechische Inseln, sowie die
mehrfach gegeben hatte. Zum anderen gab es eine         Insel Zypern, die de facto geteilt ist in das unabhän-
Agenda, auf der kein außergewöhnliches Investiti-       gige EU-Mitglied Republik Zypern und einen unter
onspaket zur Bewältigung der Pandemie stand, wie        türkischer Kontrolle stehenden Norden. Trotz einer
der Rat es zuletzt bei seiner mehrere Tage dauern-      ungeklärten Situation, in der nicht klar ist, wer und
den Mammutsitzung im Juli erlebt hatte. Zwar war        in welchem Ausmaß das Gas fördern könnte und
das aktuelle Treffen um eine Woche verschoben wor-      dürfte, hat die Türkei im Sommer Probebohrungen
den, da Ratspräsident Charles Michel sich nach einem    mit einem Forschungsschiff vorgenommen. Begleitet
Corona-Risikokontakt in Quarantäne begeben hatte,       wurde dieses Forschungsschiff zudem von Schiffen
und Journalisten waren entgegen der eigentlichen        der türkischen Marine. Ein Fakt, der in der konflikt-
Gipfelpraxis auch weiterhin nicht im Ratsgebäude an-    behafteten Lage von Griechenland und Zypern als
wesend, dennoch war der Ratsgipfel mit Beginn am        gefährliche Provokation eingestuft worden war. So-
Donnerstagmittag und Ende am Freitagnachmittag          wohl Griechenland als auch Zypern forderten zuletzt
fast schon ungewohnt routiniert. Im Kreis der Staats-   einen härteren Kurs gegenüber der Türkei sowie de-
und Regierungschefs zum ersten Mal mit von der Par-     ren Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und forderten
tie war Belgiens frisch gebackener Premierminister      explizit Sanktionen der EU.
Alexander De Croo, der pünktlich zum Gipfel im Amt
                                                        Das Verhältnis der gesamten EU zur Türkei ist seit
vereidigt worden war. Thematisch war die Agenda
                                                        jeher kompliziert und hatte sich in den vergangenen
zweigeteilt: Der erste Tag war für die Vielzahl von
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Jahren mehr und mehr problematisch entwickelt. Ne-       Weitere außenpolitische Themen waren aus aktuel-
ben dem nun hochgekochten Gasstreit sind auch die        lem Anlass die Lage im Bergkarabach-Konflikt zwi-
zunehmende Autokratisierung im Innern durch Präsi-       schen Armenien und Aserbaidschan, in dem es jüngst
dent Erdoğan, die Lage an der türkisch-syrischen         zu einer militärischen Eskalation gekommen war, so-
Grenze sowie die Schlüsselrolle der Türkei als Migra-    wie die Vergiftung des russischen Oppositionspoliti-
tionsroute zur Belastungsprobe im Verhältnis der Eu-     kers Alexej Nawalny, der aller Wahrscheinlichkeit
ropäischen Union zur Türkei geworden. Im Mittel-         nach im Juli einem Mordversuch durch den Einsatz
meer versucht Ankara zunehmend, eine Vormacht-           von Nervengift zum Opfer gefallen war.
stellung zu erlangen, wenn es um Ressourcen geht.
Nicht nur die Gasfelder im östlichen Mittelmeer, die     Entwicklung
ganz offensichtlich Gegenstand türkischen Interesses
                                                         Hinsichtlich der Türkei war die Lage während des
sind, spielen hierbei eine Rolle. Das Engagement An-
                                                         Ratsgipfels zunächst vertrackt. Einerseits stand hier
karas in Libyen, wo es lukrative Öl- und Gasvorkom-
                                                         die Forderung nach einem harten Vorgehen im
men gibt, ist ebenso im Lichte dieser Entwicklung zu
                                                         Raum, und insbesondere Zypern und Griechenland
betrachten. Auch durch die obengenannte Rolle als
                                                         forderten EU-Sanktionen. Auch Österreichs Bundes-
Konfliktpartei ist die EU-Perspektive des Landes mitt-
                                                         kanzler Kurz reklamierte zu Gipfelbeginn ein hartes
lerweile in weite Ferne gerückt, wenngleich eine Part-
                                                         Vorgehen gegenüber der Türkei. Er sprach davon,
nerschaft zwischen der EU und der Türkei im Inte-
                                                         rote Linien zu definieren, und schloss Sanktionen
resse beider Seiten liegt.
                                                         nicht aus. Andererseits trat Angela Merkel eingangs
Das zweite große außenpolitische Thema des Gipfels       des Gipfels sehr diplomatisch vorsichtig auf und be-
war die Lage in Belarus. Dort hatte es im August Prä-    tonte, dass das Verhältnis der EU zur Türkei komplex
sidentschaftswahlen gegeben, die von massiven Fäl-       sei und man ein hohes Interesse habe, bei allen
schungsvorwürfen begleiten wurden. Nach offiziel-        Schwierigkeiten ein konstruktives Verhältnis zu ent-
len, staatlichen Angaben wurde Amtsinhaber Alek-         wickeln. „Für mich spielt Diplomatie eine herausra-
sandr Lukaschenka mit 80 Prozent der Stimmen wie-        gende Rolle“, so die Bundeskanzlerin. Gleichzeitig
dergewählt. Dieses Ergebnis wird international, ins-     knüpfte Zypern seine Zustimmung zu möglichen
besondere von der EU nicht anerkannt. Seit der Wahl      Sanktionen gegenüber Belarus an Sanktionen gegen-
gibt es landesweite Proteste und Streiks mit der For-    über der Türkei. Der niederländische Ministerpräsi-
derung nach Neuwahlen. Das belarussische Regime          dent Mark Rutte kommentierte hierzu, es gelte, die
begegnet den Protesten immer wieder mit brutaler         Verquickung solcher Themen zu überwinden.
Repression, lässt Regimegegner massenweise fest-
                                                         Ratspräsident Charles Michel überraschte zu Beginn
nehmen und macht ausländische Kräfte für die Pro-
                                                         des Ratsgipfels mit dem Vorschlag, die Tagesord-
teste verantwortlich. Innerhalb der EU gab es zuletzt
                                                         nung kurzfristig anzupassen und mit der Diskussion
aus verschiedenen Richtungen immer lauter wer-
                                                         in der Türkei-Frage zu starten. Ein ungewöhnliches,
dende Forderungen nach Sanktionen der EU gegen
                                                         wenngleich sinnvolles und vermutlich strategisch ge-
Belarus, sodass auch dieses Thema unausweichlich
                                                         plantes Vorgehen. Mit dieser Anpassung der Agenda
auf der Agenda der Staats- und Regierungschefs
                                                         nahm man sich gleich der schwierigsten Problematik
stand.
                                                         an. Nur durch Fortschritte in der Diskussion bei die-
Ein weiteres außenpolitisches Thema des Gipfels war      sem Thema ließen sich auch Fortschritte bei weiteren
das Verhältnis der EU zu China. Dieses Thema hätte       Themen erzielen. Ein weiteres ungewöhnliches Vor-
ein absoluter Schwerpunkt der Deutschen Ratspräsi-       gehen war, dass die Rednerreihenfolge der Staats-
dentschaft werden sollen, wurde allerdings von der       und Regierungschefs im durchgeführten Plenarfor-
Corona-Pandemie und all ihren Folgen etwas in den        mat bei dieser ersten Diskussion zum Thema Türkei
Hintergrund gerückt. So konnte der für September         abgeändert wurde. In der Regel eröffnet der Vertre-
geplante große China-Gipfel in Leipzig leider nicht      ter der aktuellen Ratspräsidentschaft, derzeit Bun-
stattfinden und musste durch ein reduziertes Video-      deskanzlerin Merkel, anschließend folgen alle Staats-
format, welches am 14. September stattfand, ersetzt      und Regierungschefs der Reihenfolge des Ratspräsi-
werden. An diesem virtuellen Treffen mit Chinas          dentschaftsturnus‘ folgend. Bei der Türkei-Diskussion
Staatspräsident Xi Jinping hatten Angela Merkel,         entschied man sich jedoch, Zypern und Griechenland
Charles Michel und Ursula von der Leyen teilgenom-       als erstes das Wort nach Angela Merkel zu erteilen,
men. Auf dem Ratsgipfel sollten nun die Ergebnisse       was als Zeichen verstanden werden kann, dass man
der Videokonferenz diskutiert werden, um gemein-         beiden Mitgliedern in ihrer Lage Priorität und großes
same Positionen zu den wichtigsten Themen im EU-         Gehör schenkt. Sicherlich war dies zudem ein Ver-
China-Verhältnis zu definieren.                          such insbesondere Zypern, von einem Abrücken von
                                                         seiner Position zu überzeugen, Sanktionen gegen-
                                                         über Belarus mit möglichen Sanktionen gegenüber
                                                         der Türkei als Bedingung zu verbinden.
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Merkel und viele weitere Gipfelteilnehmer berichte-       Der Konflikt in Bergkarabach wurde ebenfalls in den
ten später von zähen und schwierigen Gesprächen.          Schlussfolgerungen des Rates erwähnt. Man ruft
Klar ist, dass die Gesprächsthemen nicht geordnet         dazu auf, die Feindseligkeiten einzustellen und einen
nacheinander abgearbeitet werden konnten. Hierfür         Waffenstillstand zu erreichen. Der Konflikt sei nur
bestanden zu viele Verknüpfungen. Die Türkeifrage         durch Verhandlungen zu lösen, die beide Konfliktpar-
wurde mit der Frage nach Sanktionen für Belarus ver-      teien aufnehmen müssten. Der Hohe Vertreter Josep
knüpft. Die Causa Belarus ist untrennbar mit Russ-        Borrell wird dazu aufgerufen, den Prozess der Kon-
land verbunden. Mit Blick auf Russland wiederum ist       fliktbeilegung zu unterstützen. Ähnlich diplomatische
derzeit die Rolle bei der Vergiftung von Alexej Na-       Worte wählte man auch mit Bezug zu Alexej Na-
walny genauso wenig wegzudiskutieren wie die Rolle        walny. Der Mordversuch an ihm wird verurteilt und
im Bergkarabach-Konflikt. Einzig das Verhältnis zu        man ruft Russland dazu auf, in Zusammenarbeit mit
China, welches ebenfalls am ersten Gipfeltag disku-       der Organisation für das Verbot chemischer Waffen
tiert wurde, war nicht unmittelbar mit allen anderen      (OVCW) eine unabhängige Untersuchung zu gewähr-
Themen verwoben.                                          leisten.

Trotz der Schwierigkeiten gelang es dem Rat, sich am      Kommentar
Ende des ersten Gipfeltages bei allen Themen auf ge-
schlossene Positionen zu einigen. Zur Türkei ist die      Häufig werden außenpolitische Themen bei Gipfel-
Ratsposition auf die Formel Zuckerbrot und Peitsche       treffen des Europäischen Rats lediglich als Randthe-
herunter zu brechen. Zwar wurden keine Sanktionen         men unter ferner liefen behandelt. In dieser Hinsicht
beschlossen, aber es bleibt für die EU ultima ratio, im   war der jetzige Ratsgipfel eine große Ausnahme und
Fall der Fälle „alle ihr zur Verfügung stehenden In-      könnte gar als ein Fortschritt betrachtet werden,
strumente und Optionen [zu] nutzen, […] um ihre           zieht man die immer wieder formulierte Ambition in
Interessen und die Interessen ihrer Mitgliedstaaten       Betracht, dass die EU an außenpolitischem Gewicht
zu verteidigen“. Gleichzeitig reicht man Erdoğan die      gewinnen solle. Letztlich eindeutig und sehr zu be-
Hand, indem man ein Augenmerk auf die Moderni-            grüßen sind die Gipfelbeschlüsse zu Belarus. Die ge-
sierung der Zollunion und auf Handelserleichterun-        fälschte Wahl und die Ereignisse im Land, die diese
gen legen möchte und bei Migrationsfragen eine stär-      nach sich zog, sind aus Sicht der EU nicht hinnehm-
kere Kooperation auf Basis des EU-Türkei-Abkom-           bar. Es ist gut, dass man nach einer vielleicht etwas
mens von 2016 anstrebt. Außerdem ruft der Rat dazu        zu langen Phase des Beobachtens nun ein klares Sig-
auf, ein Multilaterale Konferenz über den östlichen       nal gesendet hat. Zwar ist es verständlich, dass man
Mittelmeerraum zu veranstalten.                           dem Narrativ des belarussischen Diktators Luka-
                                                          schenka keinen Vorschub leisten möchte, dass die
Als Reaktion auf die gefälschten und damit illegitimen    Proteste von äußeren Akteuren beeinflusst würden.
Präsidentschaftswahlen formulierte der Europäische        Dennoch hätte dieses Signal durch Sanktionen gegen
Rat eine scharfe Verurteilung der inakzeptablen Ge-       das Regime durchaus schon früher gesendet werden
walt und unterstützt den Wunsch nach unabhängigen         können. Die Tatsache, dass Lukaschenka selbst nicht
und fairen Neuwahlen. Man einigte sich zudem auf          Teil der Sanktionsliste ist, mag überraschen. Die Kri-
Sanktionen. 40 Regierungsvertretern und Beamten           tik daran ist aber nur in Teilen nachvollziehbar. Nur
werden künftig die Visumsvergabe verwehrt. Für            mit dem Machthaber ist aktuell ein Weg in Richtung
viele überraschend zählt zu dieser Liste nicht Präsi-     Neuwahlen denkbar. Um sich diesen Weg nicht vor-
dent Lukaschenka. Der Rat ermutigt in seinen              schnell zu verbauen, ist aktuell verständlich, ihn per-
Schlussfolgerungen zudem die Kommission, einen            sönlich bei den Sanktionen außen vor zu lassen. Zu-
umfassenden Plan zur wirtschaftlichen Unterstützung       dem hält dieser Weg den Handlungsspielraum offen,
eines demokratischen Belarus auszuarbeiten.               künftig, bei einer geänderten Lage die Sanktionen
                                                          nochmals zu verschärfen.
Mit Blick auf China unterstrichen die Gipfelteilneh-
mer, dass es seitens der EU das Ziel bleiben müsse,       Auch was die Gipfelbeschlüsse hinsichtlich der Türkei
möglichst bald ein umfassendes Investitionsabkom-         betreffen, haben die Staats- und Regierungschefs ei-
men zu schließen. Bei Marktzugängen und Wettbe-           nen ausgeglichenen Weg gewählt – auch dieser dip-
werbsbedingungen müssen Asymmetrien abgebaut              lomatisch ausgeglichene Weg ist ein wichtiges Signal,
werden. China wird dazu ermutigt mehr Verantwor-          welches von diesem Gipfel ausgeht. Sicherlich hat die
tung bei der Bewältigung globaler Herausforderun-         Türkei zuletzt viel Anlass gegeben, die eine scharfe
gen zu übernehmen, wie beispielsweise der Corona-         Reaktion rechtfertigen. Aber ganz im Sinne der Kanz-
Pandemie aber vor allem dem Klimaschutz. Nicht un-        lerin hat letztlich die Überzeugung überwogen, dass
erwähnt blieb die Sorge hinsichtlich der Menschen-        man die Türkei gesamtstrategisch betrachten muss.
rechtslage in Hongkong und beim Umgang mit Min-           Ohne das Vorgehen der Türkei bezüglich der Gasfel-
derheiten in China.                                       der im Mittelmeer zu rechtfertigen, so muss man
                                                          doch akzeptieren, dass die Türkei hierbei berechtige
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Interessen hat. Insofern ist es richtig, dass man ein    über Versorgungsproblemen und eine geringere Ab-
Drohpotential seitens der EU aufbaut, aber gleichzei-    hängigkeit von externen Lieferanten zu verstehen.
tig in anderen Bereichen die Hand reicht. Es bleibt zu   Die EU verfolgt damit das Ziel, ihre Interessen und
hoffen, dass Präsident Erdogan diese ergreift. Die       Ziele auf internationaler Bühne erfolgreich durchzu-
von der EU geforderte multilaterale Konferenz könnte     setzen und in Zukunft unabhängig von äußeren Um-
ein geeigneter Rahmen sein, in diesem Konflikt, der      ständen handlungsfähig zu bleiben. Zur Bewältigung
zweifelsohne das Potential hat, große Tragweite an-      der Krise und als Teil einer europäischen Post-
zunehmen, Positionen in Einklang zu bringen.             Corona-Wachstumsstrategie soll das beim letzten
                                                         Ratsgipfel (Juli 2020) beschlossene NextGeneratio-
Die übrigen Gipfelthemen brachten, was die Schluss-
                                                         nEU-Instrument (ausgestattet mit 750 Mrd. Euro)
folgerungen anbetrifft die zu erwartenden Verurtei-
lungen, Aufforderungen und Beabsichtigungen, wie         diese Transformationsprozesse durch Investitionen,
sie in Abschlussdokumenten von Gipfeln üblich sind.      Reformen und strategische Programme unterstützen.
Dennoch darf mit Blick auf diesen Ratsgipfel die Tat-
                                                         Der europäische Binnenmarkt ist dabei der Aus-
sache als bemerkenswert betrachtet werden, dass
                                                         gangspunkt der europäischen Wettbewerbsfähigkeit.
überhaupt ein solches Augenmerk auf Außenpolitik
                                                         Im Zuge der Corona-Pandemie wurde deutlich, was
gelegt wurde. Nach oftmaligen Bekundungen, die EU
                                                         ein Europa ohne einen vollständig funktionierenden
auch zu einem außenpolitisch relevanten Akteur ma-
                                                         Binnenmarkt bedeutet. Die Corona-bedingten Stö-
chen zu wollen, folgen nun weitere konkrete Schritte,
                                                         rungen in den Produktions- und Lieferketten haben
und dem Europäischen Rat gelingt es, eine Reihe von
                                                         den europäischen Binnenmarkt im Frühjahr 2020 an
wichtigen Signalen zu senden.
                                                         seine Grenzen gebracht. Die Wiederherstellung der
                                                         Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts und der Abbau
Binnenmarkt, Industriepolitik und Digita-
                                                         von Hindernissen im Binnenmarkt werden prioritär
lisierung
                                                         behandelt und sind im Interesse aller Mitgliedsstaa-
                                                         ten. Ein funktionierender Binnenmarkt mit einem mo-
Hintergrund
                                                         dernen Wettbewerbsrecht ist einer der wichtigsten
Am zweiten Tag des Gipfels, an dem der Fokus auf         Schlüssel für die wirtschaftliche Erholung. Damit eu-
dem „inneren Kern“ der EU lag, standen die Themen        ropäische Unternehmen zu gleichen Wettbewerbsbe-
Binnenmarkt, Industriepolitik und Digitalisierung auf    dingungen mit Unternehmen aus Drittstaaten kon-
der Agenda.                                              kurrieren können, legte die Kommission im Juli 2020
                                                         das „Weißbuch zur Gewährleistung fairer Wettbe-
Ziel ist es, die europäische Industrie global wettbe-    werbsbedingungen bei Subventionen aus Drittstaa-
werbsfähiger, autonomer und resilienter zu gestal-       ten“ vor. Dieses sogenannte Level Playing Field-In-
ten. Die wettbewerbsfähige wirtschaftliche Entwick-      strument soll europäische Unternehmen vor Wettbe-
lung der Europäischen Union steht dabei im Zeichen       werbsverzerrungen schützen.
grüner und digitaler Transformationsprozesse. Die
                                                         Entwicklungen
europäische Industrie soll in diesem Zusammenhang
Teil des Wandels und der Lösung sein, Europas            Der Aktualität der außenpolitischen Themen geschul-
Wachstum und Wohlstand zu stärken und vor allem          det, wurde dieser Themenkomplex im Vorfeld weni-
das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu unterstüt-     ger intensiv diskutiert. Dennoch bereitete sich
zen. Die Stärkung einer wettbewerbsfähigen und in-       Charles Michel auf eine mögliche Diskussion zum
novativen Wirtschaft spielt im Zuge der ökonomi-         Thema Strategische Autonomie vor. Dies war in sei-
schen Erholung von der Corona-Pandemie und im            nen öffentlichen Auftritten kurz vor dem Gipfel er-
Rahmen der Deutschen Ratspräsidentschaft eine ent-       kennbar. In der Rede am 25. September vor den Ver-
scheidende Rolle und steht damit in Einklang mit dem     einten Nationen sprach er deutlich von einer „freien
Motto der Ratspräsidentschaft „Europa wieder stark       und offenen Wirtschaft“ und betonte, dass es hierbei
machen“. Zukunftstechnologien wie grüner Wasser-         nicht um Protektionismus gehe. Der europäische
stoff oder der Aufbau einer europäischen Dateninfra-     Markt ist für jeden offen, der faire Wettbewerbsbe-
struktur sind nur zwei Beispiele, die den Ausbau der     dingungen und Reziprozität respektiert. Neben eini-
digitalen und technologischen Souveränität Europas       gen Nicht-EU-Staaten setzen auch einige Mitglieds-
vorantreiben sollen. Als Lehre aus der Corona-Pan-       staaten den Begriff Strategische Autonomie mit Pro-
demie fordert Ratspräsident Michel – angelehnt an        tektionismus gleich. Das Thema sorgte insbesondere
Emmanuel Macrons Begriff der „Strategischen Auto-        seit Beginn der Corona-Pandemie in den letzten Mo-
nomie“ - die Sicherstellung einer europäischen Offe-     naten für Gesprächsstoff zwischen den Mitgliedsstaa-
                                                         ten. Die liberaleren Mitgliedsstaaten wie die Skandi-
nen Strategischen Autonomie. Unter diesem Schlag-
                                                         navier, die Niederlande, Irland und auch die Balti-
wort ist die angestrebte Widerstandfähigkeit gegen-
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Ratsbericht                                                                                      Oktober 2020     5

schen Staaten sehen das Ziel der Strategischen Au-        Die Europäische Datenstrategie zum Aufbau einer
tonomie als eine Abkehr von offenen Märkten. „Ganz        europäischen Datenwirtschaft sowie ein Konzept ei-
im Gegenteil“, sagte Michel bei einer Veranstaltung       ner Cloud-Infrastruktur der EU, um die Speicherung
beim Think Tank Bruegel diese Woche und wies mit          und Verarbeitung europäischer Daten zu sichern,
einem Plädoyer für die Strategische Autonomie die         wurde ebenfalls von den Staats- und Regierungschef
wiederholten Vorwürfe wirtschaftlicher Abschottung        begrüßt, wie aus der Schlussfolgerung des Sonder-
von sich.                                                 gipfels hervorgeht. Des Weiteren wurde nochmals
                                                          auf die Einreichung nationaler Pläne für die Einfüh-
In der Schlussfolgerung heißt es nun „Ein zentrales       rung von 5G hingewiesen. Als letzter Punkt wurde die
Ziel der Union besteht darin, strategische Autonomie      Aufforderung an die Kommission, bis Mitte 2021 ei-
zu erreichen und zugleich eine offene Wirtschaft zu       nen Rechtsrahmen für ein einheitliches System zur
bewahren“. Der Rat betont erneut, dass die „sich          elektronischen Identifizierung zu entwickeln, ge-
gegenseitig verstärkenden Säulen“ – der digitale und      nannt.
grüne Wandel – eine zentrale Rolle in der europäi-
schen Binnenmarkts- und Industriepolitik spielen und      Kommentar
Wachstum und Resilienz der EU fördern. Die Kom-
mission wird außerdem aufgefordert, strategische          Neben den außenpolitischen Themen fanden die
Abhängigkeiten in bestimmten Industriezweigen, die        Themen Binnenmarkt, Industriepolitik und die Digi-
während der Corona-Krise zum Teil zu dramatischen         talisierung vergleichsweise wenig Beachtung. Trotz
Lieferengpässen führten, zu ermitteln, welche dann        des eindringlichen Bekenntnisses zu einem funktio-
in einem nächsten Schritt verringert werden sollen.       nierenden Binnenmarkt, wurde der erhoffte Durch-
                                                          bruch beim Thema Vereinheitlichung der Reisbe-
Darüber hinaus war die Vollendung eines echten di-        schränkungen nicht erreicht. Europäische Unterneh-
gitalen Binnenmarkts ein zentrales Thema des zwei-
                                                          men sind durch die verschiedenen, häufig kurzfristi-
ten Ratsgipfeltages. Es sind sich alle einig, dass ein
                                                          gen nationalen Corona-bedingten Regelungen einem
digitaler Binnenmarkt bessere und effizientere Da-
                                                          wirtschaftlichen Risiko ausgesetzt. Angela Merkel
tennutzung, höhere Produktivität, wettbewerbsorien-
                                                          sprach sich nach dem Gipfel ebenfalls für eine bes-
tierte Märkte und technologische Souveränität her-
                                                          sere Koordinierung aus: „Je besser wir uns koordinie-
vorbringen wird. Der Rat fordert die Kommission da-
                                                          ren, umso besser ist es für die Menschen in Europa“,
her auf, einen „Digital-Kompass“ vorzulegen, der die
                                                          so die Bundeskanzlerin. Einheitliche Regelungen wur-
digitalen Ziele für 2030 darlegt. Zudem wurde noch
einmal betont, dass mindestens 20 Prozent aus der         den am Ende des Tages jedoch von zu unterschiedli-
Aufbau- und Resilienzfazilität für ein digitales Europa   chen Sichtweisen der Mitgliedsstaaten verhindert.
zur Verfügung gestellt wird. Hierbei handelt es sich
                                                          Große Einigkeit gab es dagegen beim Thema Digita-
um Investitionen im Bereich digitale Technologien
                                                          les. „Europa muss eindeutig digitaler werden“, sagte
wie zum Beispiel vertrauenswürdige und ethisch ver-
                                                          Ursula von der Leyen. Die Staats- und Regierungs-
tretbare künstliche Intelligenz, Schutz vor Cyberbe-
                                                          chefs sprachen von einer Beschleunigung der Digita-
drohungen sowie der Aufbau von digitalen Infra-
                                                          lisierung und begrüßten die Kommissionsvorschläge
strukturen und Kapazitäten für Bildungssysteme.
                                                          im Bereich digitale Infrastruktur, europäische Daten-
                                                          räume und Künstliche Intelligenz. Im März 2021 wird
                                                          sich der Rat erneut mit diesen Themen befassen.

Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Dr. Hardy Ostry
Leiter
Europabüro Brüssel
www.kas.de/bruessel

hardy.ostry@kas.de

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