Räumliches Denken Günter Maresch (Universität Salzburg) E-Mail: Raumgeometrie (GZ , DG, CAD)

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Räumliches Denken Günter Maresch (Universität Salzburg) E-Mail: Raumgeometrie (GZ , DG, CAD)
Räumliches Denken
 Günter Maresch (Universität Salzburg)
 E-Mail: guenter.maresch@sbg.ac.at

                                                                                                                             Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung
Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Fähigkeit            in die wir gegangen sind, versetzen, uns dort die
zum räumlichen Denken als eine der maßgeblichen          räumlichen Situationen und Relationen in Erinne-
Facetten der menschlichen Intelligenz erkannt und        rung holen und gegebenenfalls bestimmte Wege
wird seit dieser Zeit von unterschiedlichen Wissen-      (z. B. von einem Klassenzimmer zur Garderobe)
schaftszweigen beforscht. Dieser Beitrag stellt die      einer anderen Person beschreiben.
vier maßgeblichen Gebiete der Wissenschaft vor,
welche sich eingehend mit dem räumlichen Den-
ken befassen und sich jeweils aus unterschied-
lichen Perspektiven diesem nähern. Es werden die
entsprechenden Herangehensweisen, Kernaussa-
gen, Modelle und Ansätze kompakt erörtert, wo-
durch im Rahmen dieser Beschreibung der histo-
rischen Genese der Auseinandersetzung mit dem
räumlichen Denken die Möglichkeit eröffnet wird,
dieses Beschäftigungsfeld in einer umfassende-
ren Weise sehen zu können. Dies wiederum ist der
fruchtbare Nährboden für Weiterentwicklungen             Abbildung 1: Eine exemplarische Aufgabe zum rein gedank-
auf diesem Gebiet. Schließlich wird auf das Mo-          lichen Drehen eines Würfels. Der links gegebene Würfel wird
dell der Grundroutinen des räumlichen Denkens            entlang den gegebenen Achsen x, y, z gedreht, bis dieser in die
verwiesen, welches mit der Intention entwickelt          Lage des rechten Würfels kommt. Die noch nicht beschrifteten
wurde, die Essenz aus den Erkenntnissen der vier         Würfelecken sind zu beschriften. (Eigene Grafiken, die auch in
Wissenschaftsgebiete, die sich eingehend mit dem         Aufgaben von RIF2.0 (https://adi3d.at/rif20/) enthalten sind.)
räumlichen Denken beschäftigen, herauszuschä-
len und in einem Modell zusammenzuführen.

 Einleitung
Die Fähigkeit zum räumlichen Denken ist eine der
grundlegendsten kognitiven Leistungen von Men-
schen. Sie befähigt uns unter anderem dazu, uns in
unserer Umwelt bewegen zu können, Ziele anpei-
len zu können, Routen planen zu können, Distan-
zen und Geschwindigkeiten schätzen zu können,
                                                         Abbildung 2: Eine exemplarische Aufgabe zum rein gedank-
die Lage von räumlichen Objekten zueinander er-
                                                         lichen Vermögen, sich an andere Positionen im Raum versetzen
kennen zu können, Kühlschränke und Kofferräume
                                                         zu können. Im linken Bild ist ein Foto einer kleinen Ortschaft zu
geschickt befüllen zu können und sperrige Gegen-
                                                         sehen. Ein Fotograph nimmt von den Positionen 1-8 ein Foto von
stände durch Stiegenhäuser und andere Räume
                                                         der Ortschaft auf. Von welcher Position wurde das Foto rechts
bewegen zu können. Räumliches Denken beinhal-
                                                         aufgenommen? (Eigene Grafiken, die auch in Aufgaben von
tet zum einen die Fähigkeit, sich rein gedanklich
                                                         RIF2.0 (https://adi3d.at/rif20/) enthalten sind.)
räumliche Objekte vorstellen zu können und diese
rein durch die Kraft unserer Vorstellung gedank-         Räumliches Denken ist seit Urzeiten eine über-
lich drehen (Abbildung 1), spiegeln und verschie-        lebensnotwendige Fähigkeit für Menschen. Mehr
ben zu können, sich von mehreren Objekten die            denn je wird sie in unserer modernen technolo-
Lage zueinander und die Lage im Raum vorstel-            giegestützten Welt benötigt. Das Betrachten und
len zu können und Objekte schneiden zu können.           Analysieren der großen gesellschaftlichen Verän-
Dies alles sind Beispiele für die Fähigkeit, sich rein   derungen seit der Jahrtausendwende zeigt uns,
kognitiv räumliche Objekte vorstellen zu können          dass unsere Welt kontinuierlich digitaler, daten-
und diese rein gedanklich manipulieren (drehen,          gestützter und visueller wird (Montello, Grossner,
spiegeln, schneiden, …) zu können. Zudem bein-           Janelle, 2014). Während der digitale Fortschritt
haltet die Fähigkeit zum räumlichen Denken das           durch stete Berichte über digitale Errungenschaf-
Vermögen, sich rein gedanklich an andere Posi-           ten in den Medien in unserem Bewusstsein ist und
tionen im Raum versetzen zu können (Abbildung            die Diskussionen um Aspekte wie Big Data und
2). Wir Menschen können uns jederzeit gedanklich         Datenschutz das Thema des Datenreichtums un-
in ein uns bekanntes Gebäude, z. B. in die Schule,       serer modernen Welt kommunizieren, scheint der

                                                                                                             IBDG 23
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Umstand, dass unsere Welt immer visueller wird,                 In vielen weiteren modernen Bereichen unseres
                                                   ein wenig beachteter zu sein. Der Begriff „wenig                privaten bzw. beruflichen Umfelds sind vermehrt
                                                   beachtet“ ist in diesem Zusammenhang in keinster                visuelle Fähigkeiten von Nöten, wie z. B. beim
                                                   Weise gleichzusetzen mit „wenig effektvoll“ bzw.                passenden Platzieren von räumlichen Objekten
                                                   „wenig bedeutend“. Ganz im Gegenteil. In nahezu                 zur Vorbereitung auf einen 3D-Druck, beim Steu-
Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung

                                                   allen Bereichen unseres privaten und beruflichen                ern und Navigieren von Drohnen, beim Navigieren
                                                   Alltags werden wir vermehrt mit visuellen Infor-                von fahrbaren Robotern in Kanälen, bei Operati-
                                                   mationen und Herausforderungen konfrontiert,                    onen am Menschen via minimalinvasiver Eingriffe
                                                   müssen diese erkennen, richtig interpretieren und               mithilfe von Minikameras und in der Zahntechnik,
                                                   schließlich passende Entscheidungen treffen. Als                wo mit hochpräzisen Verfahren beginnend von
                                                   Beispiel dafür seien Navigationsgeräte erwähnt.                 3D-Scans und CAD-gestützter Planung schließlich
                                                   Diese Geräte in unseren Fahrzeugen helfen uns                   Implantate, Kronen und Zahnspangen geplant und
                                                   potenziell enorm, den besten Weg von A nach B zu                realisiert werden.
                                                   finden (Abbildung 3).                                           In naher Zukunft werden wir zahlreichen weiteren
                                                                                                                   visuellen Entwicklungen in unserem privaten und
                                                                                                                   beruflichen Alltag begegnen (z. B. VR- und AR-An-
                                                                                                                   wendungen), die eine noch bessere und differen-
                                                                                                                   zierte Fähigkeit zum räumlichen Denken erfordern
                                                                                                                   werden als bis dato notwendig war. Z. B. werden
                                                                                                                   Einkäufe in Geschäften, das Planen und Betrach-
                                                                                                                   ten von Wohnungs(um)bauten, der Kauf von Häu-
                                                                                                                   sern, die Anleitungen zum Aufbau von Möbeln, der
                                                                                                                   Aufbau und die Installation von technischen Ge-
                                                                                                                   räten und vieles mehr in größerem Umfang durch
                                                                                                                   virtuelle Umgebungen unterstützt werden.
                                                   Abbildung 3: Wegverlauf, angezeigt auf einem Navigationsgerät
                                                   Bei näherer Betrachtung sind mit dem Gebrauch
                                                   von Navigationssystemen allerdings einige visuelle               Räumliches Denken
                                                   Herausforderungen verbunden. Es ist von der Be-
                                                   nützerin/vom Benützer unter anderem mit einem                   Der Begriff „räumliches Denken“ (im Englischen
                                                   zumeist kurzen Blick auf das Gerät zu erkennen,                 zumeist als spatial skills bezeichnet, manchmal
                                                   ob das Gerät die tatsächliche Position des Autos in             auch spatial thinking bzw. spatial ability) wird als
                                                   der Umwelt korrekt anzeigt, welche Objekte der                  Überbegriff für die diversen Begriffe wie Raumden-
                                                   realen Umwelt die einzelnen grafischen Elemente                 ken, Raumvorstellung(svermögen), visuelle Wahr-
                                                   am Bildschirm symbolisch darstellen und schließ-                nehmung, räumliche Wahrnehmung, Raumwahr-
                                                   lich welche der realen Abbiegemöglichkeiten in der              nehmung oder Raumintelligenz verwendet. Die
                                                   Umwelt der am Bildschirm angezeigten Fahrroute                  Analyse der Beschreibungen und Definitionsver-
                                                   entspricht. Dieses Übersetzen der sich kontinu-                 suche der erwähnten Begriffe zeigt (vgl. etwa He-
                                                   ierlich bewegenden Symbole am Bildschirm des                    garty, 2010; Maier, 1994), dass diese oftmals von
                                                   Navigationsgerätes ist ein kognitiv fordernder                  unterschiedlichen Personen und Wissenschaftsge-
                                                   Prozess, der ein gut ausgeprägtes Vermögen zum                  bieten deutlich unterschiedlich beschrieben und
                                                   räumlichen Denken voraussetzt. Dass dies so ist,                verwendet werden. Die Unterbegriffe sind nicht
                                                   führen uns z. B. Berichte über Unfälle vor Augen,               als Synonyme für den Begriff „räumliches Denken“
                                                   wo ein/e AutolenkerIn die angezeigte Route am                   zu verstehen, sondern beziehen sich im Allgemei-
                                                   Navigationsgerät missinterpretiert (Abbildung 4)                nen auf spezifische räumliche Teilfähigkeiten, die
                                                   und die nächste Seitengasse mit einem Treppen-                  in unterschiedlichen Kontexten in der Literatur
                                                   abgang verwechselt.                                             oftmals unterschiedlich beschrieben und verwen-
                                                                                                                   det werden. Als verbindender, gemeinsamer Über-
                                                                                                                   begriff für die menschliche Fähigkeit, vom Auge
                                                                                                                   empfangene optische Reize ins Gehirn leiten zu
                                                                                                                   können, diese interpretieren zu können und daher
                                                                                                                   räumliche Objekte als diese erkennen zu können,
                                                                                                                   sich räumliche Objekte mental vorstellen zu kön-
                                                                                                                   nen (mit oder ohne vorherige optische Reize), die-
                                                                                                                   se gedanklich manipulieren zu können, sich rein
                                                                                                                   in der Vorstellung an unterschiedliche Positionen
                                                                                                                   im Raum versetzen zu können, Bewegungsabläufe
                                                                                                                   wahrnehmen und interpretieren zu können und
                                                   Abbildung 4: Foto eines Autounfalls, bei dem möglicherweise
                                                                                                                   (fein)motorische räumliche Bewegungen ausfüh-
                                                   eine Missinterpretation der Anzeige eines Navigationsgerätes
                                                                                                                   ren zu können, wird der Begriff „räumliches Den-
                                                   die Unfallursache darstellt (Foto: Berufsfeuerwehr Graz)
                                                                                                                   ken“ verwendet (Abbildung 5).

                                                   24 IBDG
Räumliches Denken Günter Maresch (Universität Salzburg) E-Mail: Raumgeometrie (GZ , DG, CAD)
Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung
Abbildung 5: Die aufbauenden Stationen räumlichen Denkens. Grundlegend werden Sinne(sorgane) benötigt, um optische Reize
empfangen zu können. Die Facetten der visuellen Wahrnehmung helfen, die optischen Reize, unterstützt von weiteren Sinnesein-
drücken wie Hören oder Kinästhetik, zu filtern, zu interpretieren und damit grundlegend zu analysieren. Mithilfe der faszinierenden
Möglichkeit des rein gedanklichen Operierens mit räumlichen Objekten können diese nun (rein gedanklich) je nach Zweck manipu-
liert werden, wir können uns rein gedanklich je nach Bedarf an anderen Positionen des Raumes versetzen und können somit unser
Raumvorstellungsvermögen einsetzen. Gegebenenfalls planen wir dabei auch (fein)motorische Bewegungsabläufe, führen diese
durch, sehen die Ergebnisse der Durchführung und kommen somit in einen schleifenartigen Ablauf des räumlichen Denkens (rechte
Pfeile in der Abbildung). Dem gegenüber benötigen wir z. B. bei kreativen Prozessen (wie dem Entwerfen eines Hauses) keinerlei
optischen Reize, um räumlich zu denken (siehe linker Pfeil in der Abbildung). Wir setzen hier rein unser Raumvorstellungsvermögen
ein, um Neues gedanklich zu entwerfen oder Lösungen von räumlich-geometrischen Problemen zu entwickeln.

Der Überbegriff „räumliches Denken“ beinhaltet
somit folgende Fähigkeiten:
»   Empfangen des optischen Reizes (über das
    Auge) und Weiterleiten über diverse Stationen
    bis hin zum Gehirn
»   Grundlegende Interpretation des optischen
    Reizes und kognitiver Abgleich des optischen
    Reizes mit Erfahrungen auf den diversen Sta-
    tionen vom Auge bis hin zum Gehirn und damit
    schließlich die Fähigkeit, räumliche Objekte
    „erkennen“ bzw. „kennenlernen“ zu können
»   Planen und Durchführen von (fein)motorischen
    Reaktionen auf optische Reize (siehe zu den
    ersten drei Listenpunkten auch Abbildung 6)
»   Rein gedankliches Vorstellen von räumlichen
    Objekten (ohne vorherigen optischen Reiz)
»   Rein gedankliches Manipulieren von räum-
    lichen Objekten (Drehen, Schieben, Spiegeln,
    Skalieren, …)                                                  Abbildung 6: Schrittweise Darstellung einer exemplarischen Tä-
                                                                   tigkeit, die räumliches Denken benötigt. Hier: Tippen der Ziffer
»   Sich rein gedanklich an andere Positionen im
                                                                   „3“. (Grafik: Emily Willoughby)
    Raum versetzen zu können

                                                                                                                     IBDG 25
Räumliches Denken Günter Maresch (Universität Salzburg) E-Mail: Raumgeometrie (GZ , DG, CAD)
Räumliches Denken als Voraussetzung                          Räumliches Denken als Voraussetzung
                                                     für MINT-/STEM-Berufsfelder                                  für erfolgreiches schulisches Lernen
                                                                                                                 Eine gut ausgeprägte Fähigkeit zum räumlichen
                                                   Eine gut ausgeprägte Fähigkeit zum räumlichen                 Denken ist nicht nur eine grundlegende wichtige
Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung

                                                   Denken unterstützt nicht nur unser Tun im privaten            Fähigkeit zum Bewältigen vieler Tätigkeiten un-
                                                   Alltag, sondern erleichtert, fördert bzw. ermögli-            seres privaten und beruflichen Alltags, sondern
                                                   cht sogar oftmals erst eine berufliche Karriere in            ist bereits in jungen Jahren während der Schul-
                                                   den Berufsfeldern der Mathematik, Informatik,                 zeit ein Vermögen, welches deutlich hilft, das
                                                   Naturwissenschaften und Technik (MINT; Science,               Lernen in unterschiedlichen Bereichen zu erleich-
                                                   Technology, Engineering, Mathematics – STEM).                 tern bzw. sogar erst zu ermöglichen. Frostig hat
                                                                                                                 in den 1970er-Jahren deutliche Zusammenhänge
                                                   Im Jahre 2009 zeigten Wai und seine KollegInnen
                                                                                                                 von visuellen Fähigkeiten und dem Vermögen,
                                                   (Wai Lubinski und Benbow, 2009) im Rahmen der
                                                                                                                 Schreiben und Lesen zu lernen, festgestellt. Ha-
                                                   Auswertung einer Studie überzeugend, dass eine                wes und seine Kollegen (Hawes, Tepylo und Moss,
                                                   gut ausgeprägte Fähigkeit zum räumlichen Denken               2015) haben herausgefunden, dass unter anderem
                                                   die maßgebliche Schlüsselqualifikation für erfolg-            bei grundlegenden mathematischen Tätigkeiten
                                                   reiches berufliches Wirken in den MINT-/STEM-                 wie dem Umformen einfacher Terme von z. B.
                                                   Bereichen ist. Von 400.000 amerikanischen Ober-               5 + __ = 7 auf __ = 7 – 5 diejenigen SchülerInnen
                                                   stufenschülerInnen der 9. bis zur 12. Schulstufe              deutlich im Vorteil sind, die eine gute Fähigkeit
                                                   wurde mithilfe zahlreicher Tests neben weiteren               zum räumlichen Denken mitbringen. Weitere Stu-
                                                   Fähigkeiten auch das Raumvorstellungsvermögen                 dien mit ähnlichen Ergebnissen zeigen insgesamt,
                                                   getestet. 11 Jahre nach dem Schulabschluss (Ma-               dass eine gut entwickelte Fähigkeit zum räum-
                                                   tura, Abitur) wurden von diesen 400.000 Absol-                lichen Denken Menschen bei weit über den MINT-/
                                                   ventInnen im Rahmen einer weiteren Befragung                  STEM-Bereich hinausgehenden Tätigkeiten hilft
                                                   unter anderem deren Berufe erhoben.                           bzw. diese erst ermöglicht.
                                                   Dabei hat sich gezeigt, dass 45 % derjenigen, die
                                                   einen Doktortitel im Bereich der MINT-/STEM-Be-
                                                   reiche besitzen, unter den besten 4 % der Raum-                Trainierbarkeit des räumlichen
                                                   vorstellungstestung während der Schulzeit waren.               Denkens
                                                   Ziemlich genau 90 % derjenigen, die einen Dok-                Die Wichtigkeit der Fähigkeit zum räumlichen
                                                   tortitel im Bereich der MINT-/STEM-Bereiche auf-              Denken wurde in den obigen Kapiteln angespro-
                                                   weisen können, waren unter den besten 23 % im                 chen und exemplarisch argumentiert. In einem
                                                   Bereich der Raumvorstellungstests während der                 logischen nächsten Schritt kann daher die Forde-
                                                   Schulzeit (Abbildung 7).                                      rung nach einer eingehenden Förderung dieser Fä-
                                                                                                                 higkeit im schulischen Kontext aufgestellt werden.
                                                                                                                 Als Voraussetzung dafür muss allerdings noch der
                                                                                                                 Aspekt betrachtet werden, ob das räumliche Den-
                                                                                                                 ken trainierbar ist oder ob es eine angeborene Fä-
                                                                                                                 higkeit darstellt, die in einem bestimmten Maße bei
                                                                                                                 Menschen verfügbar ist, aber nicht durch Training
                                                                                                                 und Förderung weiterentwickelt werden kann.
                                                                                                                 Generell können in der Literatur des 20. Jahrhun-
                                                                                                                 derts zwei gegensätzlich erscheinende Stand-
                                                                                                                 punkte gefunden werden. Zum einen der Stand-
                                                                                                                 punkt, dass das Vermögen zum räumlichen Denken
                                                                                                                 eine rein genetisch bedingte Fähigkeit eines Men-
                                                                                                                 schen darstellt und durch Förderung de facto nicht
                                                                                                                 weiterentwickelt werden kann. Zum anderen wird
                                                                                                                 dem gegenüber oftmals festgehalten, dass die
                                                   Abbildung 7: Wie gut waren DoktorInnen, Master- bzw. Bache-   Fähigkeit zum räumlichen Denken eine im hohen
                                                   lorabsolventInnen, die im MINT-/STEM-Bereich arbeiten, bei    Maße trainierbare und steigerbare ist und dass
                                                   Raumvorstellungstests während ihrer Oberstufenzeit? (Grafik   maßgeblich die aktive Förderung der räumlichen
                                                   aus Wai et al., 2009)                                         Fähigkeiten den Ausschlag dafür gibt, wie gut die-
                                                                                                                 se Fähigkeit bei einem Individuum ausgeprägt ist.
                                                   Allein anhand der Ergebnisse dieser Studie ist ein-           Der aktuelle Stand der Forschung geht davon aus,
                                                   drucksvoll zu erkennen, dass die Fähigkeit zum                dass beide Aspekte zutreffend sind und diese nicht
                                                   räumlichen Denken eine der Schlüsselqualifikati-              disjunkte Ausprägungen darstellen. Montello,
                                                   onen dafür ist, um im mathematisch-informatisch-              Grossner und Janelle stellen dazu fest: „One com-
                                                   naturwissenschaftlich-technischen Bereich beruf-              mon misunderstanding in this regard is the notion
                                                   lich reüssieren zu können.                                    that just because some trait is genetically deter-

                                                   26 IBDG
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mined, it is necessarily immutable, and that be-         1. Strang: Entwicklungspsychologie
cause some trait is modifiable, it must be caused        Die Entwicklungspsychologie geht in Bezug auf das
by experiences after birth (or conception) rather        räumliche Denken hauptsächlich der Frage nach,
than by genetics. Neither of these complementary         wie sich dieses im Laufe der ersten Lebensjahre
claims are true.“ (Montello et al., 2014). Die Fä-       entwickelt. Zumeist werden dabei die einzelnen

                                                                                                                Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung
higkeit zum räumlichen Denken ist einerseits in          Phasen, die Monate bzw. Jahre dauern können,
einem bestimmten Maße individuell bei Menschen           bereits mit dem Zeitpunkt der Geburt beginnend
genetisch angelegt, kann aber andererseits zudem         bis zum Alter von etwa 14 Jahren betrachtet und
im hohen Maße durch Förderung und Training ge-           untersucht. Maßgebliche entwicklungspsycholo-
steigert werden (z. B. Glück, Kaufmann, Dünser,          gische Modelle in Bezug auf das räumliche Denken
Steigbügl, 2005). Montello und seine KollegInnen         wurden von Stückrath (1968), dem Forscher-Ehe-
schreiben dazu weiters: „Spatial learning in educa-      paar van Hiele (1978), Piaget und Inhelder (1971),
tional and everyday settings is important because        Thurstone (1955) und Bruner (1960) in der zwei-
it holds the promise of improving spatial thinking,      ten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt.
which in turn holds the promise of contributing to       Stückrath (1969) beschreibt in seinem Modell der
a host of desirable outcomes, including generating       Stufen der Raumorientierung, dass sich bei einem
economic development, making more user-friend-           Kind in der frühen Kindheit im Alter von 0-1 Jahren
ly and functional technology, fostering equitable        im Allgemeinen der sogenannte Leibraum entwi-
access to employment, and generally helping peo-         ckelt und anschließend im Alter von 2-6 Jahren der
ple realize their potential.“ (Montello et al., 2014).   Ichraum. Im Alter von 6-14 Jahren entwickeln sich
Es wird neben der großen allgemeinen Nützlich-           danach jeweils in drei Unterstufen unterteilt der
keit des räumlichen Denkens unter anderem auch           Handlungsraum und der Laufraum.
hier betont, dass die explizite und implizite aktive
                                                         Das Ehepaar von Hiele beschreibt 1978 fünf Ni-
Förderung der räumlichen Denkfähigkeit im Schul-         veaustufen, die bei der Entwicklung des geome-
unterricht erfolgversprechend zu sein scheint und        trisch/räumlichen Denkens durchlaufen werden:
davon ausgegangen werden kann, dass ein varian-          (0) anschauungsgebundenes Denken, (1) Analy-
tenreiches, strukturiertes Training im schulischen       sieren geometrischer Figuren und Beziehungen,
Kontext Menschen substanziell dabei fördert und          (2) erstes Ableiten und Schließen, (3) geometri-
unterstützt, in vielen Bereichen des privaten und        sches Schließen/Deduktion und (4) strenge, ab-
beruflichen Tuns erfolgreicher zu sein.                  strakte Geometrie.
                                                         Piaget teilt die großen generellen Entwicklungs-
                                                         phasen eines Kindes in vier Stufen ein und be-
 Die vier generischen Stränge des                        schreibt diese Phasen im Rahmen seiner Stufen-
 räumlichen Denkens                                      theorie. Die vier Phasen der Stufentheorie lauten:
Die Einsicht, dass das räumliche Denken (1) eine         (1) sensomotorische Phase. Diese Phase wird im
lebenspraktische wichtige Fähigkeit darstellt, (2)       Alter von etwa 0 – 1 ½ Jahren bei der Entwicklung
eine der maßgeblichen Schlüsselkompetenzen ei-           durchlaufen. Anschließend folgt die (2) präoperati-
ner modernen Gesellschaft ist und (3) durch Trai-        onale Phase, die etwa im Alter von 1 ½ – 7 Jahren
ning verbessert werden kann, leitet uns direkt zur       erkennbar ist. An diese Phase schließt die Phase
Frage über, wie nun dieses menschliche Vermögen          (3), die konkret- operationale Phase an. Diese Pha-
sinnvoll und strukturiert gefördert und trainiert        se wird im Allgemeinen von Kindern im Alter von 7
werden kann.                                             – 11/12 Jahren durchlaufen. Schließlich entwickeln
                                                         sich Kinder weiter zur Phase (4), der formal-ope-
Dazu benötigt es im ersten Schritt eine einge-           rationalen Phase, die ab dem 11. bzw. 12. Lebens-
hende Auseinandersetzung mit derjenigen pu-              jahr beobachtbar ist. Erst ab dieser Phase ist es
blizierten Literatur, die sich mit dem räumlichen        Kindern im Allgemeinen möglich, abstrakte Struk-
Denken beschäftigt und wertvolle Beiträge dazu           turen erfassen und nachvollziehen zu können. Dies
leistet. In diesem Kapitel wird in kompakter Weise       ist auch die Phase, wo unter anderem erstmals
die Essenz dieser Literaturrecherche zusammen-           (einfache) mathematische Beweise nachvollzogen
gefasst und der Leserin/dem Leser dadurch die            werden können. Im Buch „Die Entwicklung des
Möglichkeit angeboten, das Themenfeld „räum-             räumlichen Denkens beim Kinde“ – die Originalaus-
liches Denken“ aus einer umfassenden Perspekti-          gabe wurde 1948 mit dem Titel „La représentation
ve betrachten zu können und in größeren Zusam-           de l‘espace chez l’enfant“ in Französisch verfasst –
menhängen zu sehen.                                      beschreibt Piaget gemeinsam mit Inhelder (1971)
Dabei ist bemerkenswert, dass genau vier Wissen-         auf 565 Seiten sehr ausführlich die Entwicklung
schaftsbereiche verortet werden können, die sich         des räumlichen Denkens von der Geburt bis hin
aus unterschiedlichen Traditionen und Blickwin-          zum jungen Erwachsenenalter. Es werden detail-
keln heraus und zu unterschiedlichen Zwecken mit         reich Entwicklungsstufen wie die der stereognos-
dem räumlichen Denken beschäftigt haben. Die-            tischen Wahrnehmung, des projektiven Raumes
se vier großen Bereiche und damit maßgeblichen           und des euklidischen Raumes beschrieben.
Stränge des räumlichen Denkens sind:

                                                                                                  IBDG 27
Räumliches Denken Günter Maresch (Universität Salzburg) E-Mail: Raumgeometrie (GZ , DG, CAD)
Thurstone (1955) wendet sich in seiner Arbeit                      sinnvolle bzw. oftmals sogar notwendige Vorstufe
                                                   der Frage zu, wie sich die aus seiner Sicht sieben                 des späteren Begreifens. In einer weiteren Ent-
                                                   grundlegenden Facetten der Intelligenz (= sieben                   wicklungsstufe sind Kinder dazu in der Lage, iko-
                                                   primären mentalen Fähigkeiten) über die Lebens-                    nische Darstellungen von den haptisch erfassten
                                                   jahre hinweg entwickeln.                                           Objekten anzufertigen. Diese Stufe bildet den not-
Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung

                                                                                                                      wendigen Übergang zur dritten Entwicklungsstufe,
                                                                                                                      bei der Kinder bzw. Jugendliche sich mit Lernin-
                                                                                                                      halten auf symbolischer Ebene auseinandersetzen
                                                                                                                      können. Am Beispiel Würfel betrachtet, sollten
                                                                                                                      Kinder zu Beginn der Beschäftigung mit einem
                                                                                                                      Würfel beispielsweise einen Holzwürfel oder Moos-
                                                                                                                      gummiwürfel haptisch angreifen und diesen in
                                                                                                                      möglichst unterschiedlichsten Situationen enaktiv
                                                                                                                      erleben (z. B. Werfen, Stapeln, Würfeln). Auf der
                                                                                                                      ikonischen Entwicklungsstufe sollten junge Kinder
                                                                                                                      Skizzen und einfache Konstruktionszeichnungen
                                                                                                                      von Würfeln in unterschiedlichen Darstellungs-
                                                   Abbildung 8: Verlaufskurve von acht Intelligenzbereichen. Sie-     formen anfertigen können. Schließlich sind Schü-
                                                   ben primäre Intelligenzfaktoren nach Thurstone (inkl. dick rot:    lerInnen ab der symbolischen Entwicklungsstufe
                                                   Räumliche Fähigkeiten) und zusätzlich „Räumliche Orientierung“     befähigt, an einem Würfel auf symbolischer Ebene
                                                   (SO) (dick blau). Die blauen Intelligenzbereiche entwickeln sich   Berechnungen (wie z. B. Oberfläche, Volumen) an-
                                                   eher langsam, die grünen durchschnittlich schnell. Die orangen     zustellen und diesen somit auf abstrakter Ebene
                                                   Intelligenzbereiche entwickeln sich lt. Thurstones Beobach-        zu behandeln.
                                                   tungen am schnellsten.                                             Die ersten in diesem Kapitel genannten Entwick-
                                                   In der Grafik (Abbildung 8) wird speziell die Fa-                  lungspsychologInnen haben explizit Modelle zur
                                                   cette space bzw. spatial ability (SA) hervorgeho-                  Entwicklung des räumlichen Denkens erstellt.
                                                   ben, indem die Kurve dick rot eingetragen ist. Aus                 Bruners EIS-Prinzip adressiert nicht explizit die
                                                   dem Verlauf der Kurve lässt sich ablesen, dass                     Raumvorstellung, lässt aber auch sehr gut Inter-
                                                   das größte Steigerungspotential für das räumliche                  pretationen für die Entwicklung bzw. Förderung
                                                   Denken im Alter von etwa 3-15 Jahren vorhanden                     des räumlichen Denkens zu, da es sehr große
                                                   ist. Ab dem etwa 14. Lebensjahr sind demnach                       strukturelle Parallelitäten zu den vier zuvor ge-
                                                   bereits etwa 80 % der Fähigkeit zum räumlichen                     nannten Modellen von Stückrath, van Hiele, Pia-
                                                   Denken entwickelt. Aktuelle Forschungsergeb-                       get, Inhelder und Thurstone beinhaltet.
                                                   nisse (Wilhelm, Maresch, 2017) zeigen, dass die-
                                                   se Kurve für nahezu alle Bereiche des räumlichen
                                                                                                                      2. Strang: Visuelle Wahrnehmung
                                                   Denkens bestätigt werden kann. Der Bereich der
                                                   räumlichen Orientierung hingegen entwickelt sich                   Die visuelle Wahrnehmung ist in gewisser Weise
                                                   deutlich langsamer als die anderen räumlichen Fä-                  eine Vorstufe des Raumvorstellungvermögens.
                                                   higkeiten. Die Entwicklungskurve für die räumliche                 Das Raumvorstellungsvermögen adressiert – wie
                                                   Orientierung (in Abbildung 8 dick blau; SO) ver-                   der Name eigentlich schon treffend beschreibt
                                                   läuft etwas unterhalb der eingetragenen Kurve W                    – die Fähigkeit eines Menschen, sich gedanklich
                                                   der Wortflüssigkeit. Im Rahmen der Auswertung                      räumliche Objekte vorstellen und diese gedank-
                                                   von Studiendaten ist zu beobachten, dass erst                      lich transformieren zu können, Relationen zwi-
                                                   etwa ab dem 25. Lebensjahr die räumliche Orien-                    schen mehreren dieser mentalen Objekte erken-
                                                   tierungsfähigkeit zu annähernd 100 % entwickelt                    nen zu können und selbst mental unterschiedliche
                                                   ist.                                                               räumliche Positionen einnehmen zu können. Es
                                                                                                                      geht also um das rein kognitive Vermögen eines
                                                   Der US-amerikanische Entwicklungspsychologe
                                                                                                                      Menschen, sich räumliche Objekte vorstellen zu
                                                   Bruner (1960/1970) entwickelte als eines seiner
                                                                                                                      können, diese drehen, spiegeln, verschieben und
                                                   zahlreichen Prinzipien und Theorien das sogenann-
                                                                                                                      verschneiden zu können und sich rein gedank-
                                                   te EIS-Prinzip. Der Name dieses Prinzips steht als
                                                                                                                      lich an andere Positionen im Raum versetzen zu
                                                   Akronym für die drei Handlungsaktivitäten enak-
                                                                                                                      können. Das betrifft unter anderem die Fähigkeit,
                                                   tiv, ikonisch und symbolisch. Lernen funktioniert
                                                                                                                      sich eine Szene auf einem Bild aus einer anderen
                                                   nach Bruner genau dann erfolgreich, wenn die
                                                                                                                      Perspektive vorstellen zu können oder sich auch
                                                   erste Entwicklungsstufe enaktiv erlebt wird. In
                                                                                                                      gedanklich an andere Orte versetzen zu können
                                                   dieser Stufe sollten Kinder demnach zahlreichen
                                                                                                                      und daher z. B. auch Wegrouten beschreiben zu
                                                   Tätigkeiten nachgehen bzw. mit mannigfaltigen
                                                                                                                      können. Das Raumvorstellungsvermögen ist daher
                                                   Aktivitäten gefördert werden, die auf unter-
                                                                                                                      eine rein kognitive Fähigkeit unseres menschli-
                                                   schiedlichste Art und Weise auf haptischem Tun,
                                                                                                                      chen Gehirns (siehe dazu auch Abbildung 5). Es
                                                   aktivem Angreifen, Falten, Kleben, Laufen, Hüp-
                                                                                                                      werden daher keinerlei realen optischen Reize und
                                                   fen und weiteren enaktiven Tätigkeiten basieren.
                                                                                                                      keinerlei realen Bewegungen im Raum benötigt.
                                                   Dieses aktive Greifen ist nach Hüther (2013) eine

                                                   28 IBDG
Räumliches Denken Günter Maresch (Universität Salzburg) E-Mail: Raumgeometrie (GZ , DG, CAD)
Es handelt sich um ein rein kognitives „Gedanken-      visuellen Wahrnehmung in diese fünf unterschied-
spiel“. Anzumerken ist, dass im Gehirn die sel-        lichen Bereiche ist gut geeignet, differenziert Aus-
ben Areale beim tatsächlichen Betrachten eines         prägungsgrade der visuellen Wahrnehmung von
räumlichen Objekts (also beim tatsächlichen Se-        Menschen erkennen zu können. Die visuelle Wahr-
hen) und beim Denken an diese Objekte aktiviert        nehmung adressiert im Allgemeinen Kinder ab

                                                                                                              Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung
werden. Die Areale werden aber auf zwei gänzlich       dem Alter von etwa 3-12 Jahren. Die Altersgruppe
unterschiedlichen Wegen aktiviert: Beim Sehen          von den noch jüngeren Kindern wird in Hinblick
über den optischen Nerv, der von der Retina der        auf deren Fähigkeiten zum räumlichen Denken
Augen beginnend Richtung Gehirn die optischen          von der Entwicklungspsychologie beforscht – dem
Reize weiterleitet und beim Raumvorstellen über        ersten generischen Strang der Forschung zum
das rein kognitive Denken an die entsprechenden        räumlichen Denken. Die Altersgruppe der ab etwa
räumlichen Objekte.                                    zwölf Jahre alten Kinder und Jugendlichen wurde
Bei der visuellen Wahrnehmung geht es in einer         in den vergangenen etwa 70 Jahren häufig mittels
Vorstufe (zum reinen kognitiv-gedanklichen Ope-        faktoranalytischer Herangehensweise untersucht.
rieren mit räumlichen Objekten) um die anato-
mische Aufnahme und basal-kognitive Verarbei-          3. Strang: Faktoranalytische Modelle
tung optischer Reize. Es werden dabei die über die
                                                       Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Augen empfangenen optischen Reize vom Gehirn
                                                       wurde in der sogenannten präfaktoriellen Phase
bzw. dessen vorgelagerten Arealen gefiltert und
                                                       der Raumvorstellungsforschung (Maresch, 2013)
relevante Informationen extrahiert und interpre-
                                                       von diversen ForscherInnen das Konstrukt der
tiert. Diese anatomischen und basalen kognitiven
                                                       menschlichen Intelligenz näher untersucht. Dabei
Schritte ermöglichen schließlich danach das „Er-
                                                       wurde diese vermehrt nicht mehr eindimensional
kennen“ von räumlichen Objekten durch Abgleich
                                                       und undifferenziert gesehen, sondern es wurden
mit Erinnerungen bzw. „Kennenlernen“ und Mer-
                                                       unterschiedliche Modelle der menschlichen Intel-
ken von neuen räumlichen Objekten. Die Fähigkeit
                                                       ligenz aufgestellt, die mehrdimensional mannig-
zur visuellen Wahrnehmung ist somit eine wichtige
                                                       faltige differenzierbare Bereiche der Intelligenz
Stufe, um gegebenenfalls anschließende rein ko-
                                                       beschrieben (Thurstone, 1938; Spearman, 1904;
gnitive und motorische Schritte folgen lassen zu
                                                       Cattell, 1963). Zum Beispiel umfasste das Intel-
können. Entweder gedankliche Weiterverarbei-
                                                       ligenzmodell von Thurstone (1938) sieben unter-
tung der optischen Reize durch das Raumvorstel-
                                                       schiedliche primäre mentale Fähigkeiten (primary
lungsvermögen (Drehen, Spiegeln, Verschieben,
                                                       mental abilities): space, perceptual speed, nume-
Schneiden, … der wahrgenommenen räumlichen
                                                       rical ability, memory, reasoning, word fluency und
Objekte) oder auch die Vorbereitung und Durch-
                                                       verbal relations. Grundsätzlich hatten alle die zu
führung von motorischen Reaktionen (wie Flucht,
                                                       dieser Zeit aufgestellten Intelligenzmodelle die Ge-
Ausweichen, …) darauf.
                                                       meinsamkeit, dass diese unter anderem die Intelli-
Der eindeutige und klare Unterschied der beiden        genzfacette „space“ (Raumvorstellungsvermögen)
Begriffe Raumvorstellung und visuelle Wahrneh-         beinhalteten. Aufgrund dieser Tatsache wurden in
mung wird an dieser Stelle nochmals deutlich           weiterer Folge – cum grano salis in der zweiten
betont. Visuelle Wahrnehmung beinhaltet das            Hälfte des 20. Jahrhunderts in der sogenannten
anatomische Vermögen, optische Reize über die          faktoriellen Phase der Raumintelligenzforschung
Augen und deren Retina aufzunehmen und diese           (Maresch, 2013) – die Facette „Raumvorstellungs-
über die entsprechenden basalen vorgelagerten          vermögen (space)“ von zahlreichen ForscherInnen
Gehirnareale ans Gehirn (und hier speziell an den      näher untersucht. Dabei wurde methodisch oft-
primären visuellen Cortex) weiterleiten zu können      mals faktoranalytisch vorgegangen. Dies bedeu-
und schließlich räumliche Objekte zu erkennen          tet, dass zumeist Versuchspersonen eine Vielzahl
oder gegebenenfalls diese neu kennenzulernen.          an Aufgaben in Zusammenhang mit ebenen bzw.
Dem deutlich gegenüber steht das Raumvorstel-          räumlichen geometrischen Fragestellungen zur
lungsvermögen, also das rein gedankliche kogni-        Bearbeitung vorgelegt bekommen haben. An-
tive Operieren mit räumlichen Objekten (Drehen,        schließend wurde im Rahmen der Auswertung der
Spiegeln, Schneiden, …) und die Fähigkeit, sich        Tests mittels faktoranalytischer mathematischer
rein gedanklich in andere räumliche Positionen         Berechnungen versucht zu erkennen, welche von
versetzen zu können.                                   den Testaufgaben die Versuchspersonen mit eher
Die Fähigkeit zur visuellen Wahrnehmung wird           gleicher Wahrscheinlichkeit gelöst haben bzw. wel-
eingehend seit ca. Mitte des 20. Jahrhunderts er-      che weiteren Testaufgaben b, c, d, … auch korrekt
forscht. Frostig (1979) hat dazu ein Modell von fünf   gelöst wurden, wenn die Versuchsperson das Bei-
Teilbereichen der visuellen Wahrnehmung erstellt.      spiel a richtig gelöst hat. Dieses faktoranalytische
Diese umfassen: (1) Figur-Grund-Wahrnehmung,           Vorgehen mit passenden zugrundeliegenden ma-
(2) Wahrnehmungskonstanz, (3) Wahrnehmung              thematischen Rechenmodellen sollte ermöglichen
der Raumlage, (4) Wahrnehmung räumlicher Be-           zu erkennen, welche Testaufgaben inhaltlich „ver-
ziehungen und (5) visuomotorische Koordination         wandt“ sind, welche Testaufgaben also inhaltliche
(Frostig, 1979). Die Unterteilung von Aufgaben zur     Gemeinsamkeiten haben, daher mit gleichartigen

                                                                                                IBDG 29
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Überlegungen und dadurch auch mit ziemlich                   Aufgaben nicht dazu dienen kann, ein tragfähiges
                                                   gleich hoher Wahrscheinlichkeit gelöst werden.               Modell zum Raumvorstellungsvermögen zu entwi-
                                                   Auf diesem Wege wurde gehofft, dass einzelne Be-             ckeln (Souvignier, 2000).
                                                   reiche – aufgrund des faktoranalytischen Vorge-              Die Zeitphase ab 1994 wird daher auch die post-
                                                   hens „Faktoren“ genannt – gefunden werden, die               faktorielle Phase der Raumvorstellungsforschung
Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung

                                                   inhaltlich zusammenhängen und die somit unter-               (Abbildung 9) genannt (Maresch, 2013), da erkannt
                                                   schiedliche Bereiche des Raumvorstellungsvermö-              wird, dass unter anderem individuelle Lösungs-
                                                   gens (= Faktoren) erkennen lassen. Es wurden auf             strategien beim Bearbeiten von Aufgaben eine
                                                   diesem Weg während der faktoriellen Phase der                wichtige Rolle spielen, dass auch weitere Aspekte
                                                   Raumintelligenzforschung (1950-1994) zahlreiche              wie z. B. das Arbeitsgedächtnis oder die Dynamik
                                                   Modelle des Raumvorstellungsvermögens aufge-                 bis hin zur Feinmotorik die Lösungswahrschein-
                                                   stellt (Thurstone, 1950; French, 1951; Guilford,             lichkeit von Raumvorstellungsaufgaben maßgeb-
                                                   1956; Rost, 1977; Lohman, 1979; McGee, 1979;                 lich beeinflussen und daher auch diese Aspekte
                                                   Linn & Petersen, 1985; Lohman, 1988; Carroll;                in einer Gesamtsicht des räumlichen Denkens
                                                   1993), die das gemeinsame Bemühen verbindet,                 beachtet werden müssen. Der faktoranalytische
                                                   auf faktoranalytischem Weg passende Modelle                  Strang der Forschung zum Raumvorstellungsver-
                                                   des Raumvorstellungsvermögens zu finden. Dabei               mögen hat in seinen knapp 50 Jahren (etwa 1950-
                                                   wurden zumeist von den ForscherInnen Modelle                 1994) einen maßgeblichen Beitrag zur Analyse der
                                                   mit zwei bzw. drei Faktoren formuliert. Manche Mo-           Intelligenzfacette „space“ beigetragen, hat zahl-
                                                   delle wiesen bis zu neun unterschiedliche Faktoren           reiche Ansätze und Anregungen geliefert und war
                                                   auf (Lohmann, 1988; Carroll, 1993). Maier hat in             somit ein idealer Nährboden, auf dessen Basis die
                                                   seinem bemerkenswerten Werk „Räumliches Vor-                 später entwickelten Forschungsansätze aufbauen
                                                   stellungsvermögen“ (1994) die faktoranalytischen             konnten.
                                                   Modelle der Raumvorstellung erstmals im deutsch-
                                                   sprachigen Bereich ausführlich zusammengefasst
                                                   und erörtert. Er schlägt selbst in diesem Buch               4. Strang: Neurologie
                                                   fünf der erwähnten Faktoren als insgesamt stim-
                                                                                                                Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein war es
                                                   mige Essenz der Faktoren der Raumvorstellung
                                                                                                                Forschenden nur schwerlich bzw. gar nicht mög-
                                                   vor. Die Jahre nach 1994 waren davon geprägt,
                                                                                                                lich, am lebenden menschlichen Gehirn Untersu-
                                                   unterschiedliche dieser in der zweiten Hälfte des
                                                                                                                chungen durchzuführen und daraus substanzielle
                                                   20. Jahrhunderts entwickelten faktoranalytischen
                                                                                                                Erkenntnisse gewinnen zu können. Im Jahr 1971
                                                   Modelle einzusetzen und diese Modelle unter an-
                                                                                                                wurde die Magnetresonanztomographie (MRT) von
                                                   derem auf innere Konsistenz und Trennschärfe der
                                                                                                                Lauterbur erfunden, 1973 wurde diese Errungen-
                                                   Faktoren und damit auf deren Tragfähigkeit hin
                                                                                                                schaft publiziert und im Jahr 2003 erhielt er dafür
                                                   zu prüfen. Dabei wurde bewusst, dass diejenigen
                                                                                                                den Nobelpreis für Medizin. Die funktionelle Ma-
                                                   Modelle des Raumvorstellungsvermögens, die auf
                                                                                                                gnetresonanztomographie (abgekürzt fMRT bzw.
                                                   faktoranalytischem Weg entwickelt wurden, unter
                                                                                                                fMRI) wurde 20 Jahre nach der MRT entwickelt.
                                                   anderem bedingt durch die fehlende Trennschärfe
                                                                                                                Maßgeblich beteiligt daran war Belliveau mit sei-
                                                   der beschriebenen Faktoren, wenig belastbar sind.
                                                                                                                nen KollegInnen. Sie publizierten im Jahr 1991
                                                                                                                erstmals Ergebnisse von funktioneller Magnetre-
                                                                                                                sonanztomographie an Menschen. Seit dieser Zeit
                                                                                                                wurden einige weitere ähnliche Verfahren entwi-
                                                                                                                ckelt, die heute allesamt unter dem Überbegriff
                                                                                                                der sogenannten „bildgebenden Verfahren“ zu-
                                                                                                                sammengefasst werden. Alle diese Verfahren ver-
                                                                                                                bindet die gemeinsame Eigenschaft, dass diese
                                                                                                                Einblicke in die inneren Strukturen des Gehirns er-
                                                                                                                möglichen, ohne dass dabei operativ in den Schä-
                                                                                                                del eingedrungen werden muss. Diese technischen
                                                                                                                Entwicklungen erwiesen sich von unschätzbarem
                                                                                                                Wert, da es dadurch seit etwa 50 Jahren möglich
                                                   Abbildung 9: Die drei Phasen der Raumvorstellungsforschung   wurde, substanzielle neue wissenschaftliche Er-
                                                   Ab etwa dem Jahr 2010 kam zusätzlich die Er-                 kenntnisse auf diesem nicht invasivem Weg ge-
                                                   kenntnis hinzu, dass Versuchspersonen, die                   winnen zu können.
                                                   Raumvorstellungsaufgaben bearbeiten, dies mit                In Bezug auf das räumliche Denken bzw. den Seh-
                                                   zumeist deutlich unterschiedlichen individuellen             vorgang formulierten Ungerleider und Mishkin 1982
                                                   Strategien machen und damit nicht die von den                das bahnbrechende Konzept der zwei unterschied-
                                                   EntwicklerInnen von Tests intendierten Bearbei-              lichen Sehpfade (Two cortical visual systems) im
                                                   tungsstrategien verwenden. Daher wurde schließ-              Gehirn (Ungerleider und Mishkin, 1982). Dieses
                                                   lich klar, dass der Zugang über die faktoranaly-             Konzept beschreibt, wie vom primären visuellen
                                                   tische Auswertung von Lösungshäufigkeiten von                Cortex (V1, das orange Areal in Abbildung 10),

                                                   30 IBDG
Räumliches Denken Günter Maresch (Universität Salzburg) E-Mail: Raumgeometrie (GZ , DG, CAD)
der im hinteren Bereich des Gehirns liegt, aus-                  le etabliert, dass das Konzept der zwei Sehpfade
gehend, visuelle Reize weiterverarbeitet werden.                 und damit der klaren Trennung der Verarbeitung
Dabei erkannten Ungerleider und Mishkin, dass                    von optischen Reizen im Gehirn in die Was-Bahn
die Weiterverarbeitung in zwei unterschiedlichen                 und Wo/Wann-Bahn in dieser ursprünglichen Form
Bahnen verläuft. Einerseits werden räumliche Ob-                 nicht bestätigt werden kann. Es zeigt sich vielmehr,

                                                                                                                        Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung
jekte an sich (Farbe, Textur, Form, Größe, …) in                 dass sämtliche Gehirnareale, die an der Verarbei-
Arealen abgespeichert und erkannt, die im soge-                  tung visueller Reize beteiligt sind, in hochgradig
nannten ventralen pathway verlaufen. Dieser ven-                 vernetzter Art und Weise Informationen austau-
trale Sehpfad (auch ventral stream bzw. ventral                  schen und vernetzt sind. Die Theorie der Trennung
pathway genannt, siehe Abbildung 10) beginnt im                  der visuellen Reize nach dem primären visuellen
primären visuellen Cortex und verläuft Richtung                  Cortex in mehr oder weniger disjunkt verlaufende
Schläfenlappen. Dieser Sehpfad wird oftmals als                  Sehpfade gilt mittlerweile als überholt und ist der
„Was“-Bahn bezeichnet (Nänni, 2008), da in den                   Ansicht gewichen, dass alle Gehirnareale, die mit
entsprechenden Gehirnarealen räumliche Objekte                   der Verarbeitung von visuellen Reizen beschäftigt
(wie Gesichter, Häuser, Bäume, Würfel, Kegel, Ku-                sind, sich in mannigfaltiger Art und Weise neu-
gel, …), also das „Was“ gespeichert und erkannt                  ronal kontinuierlich austauschen (Freud, Plaut,
werden. Demgegenüber verläuft der dorsale Seh-                   Behrmann, 2016).
pfad von V1 aus nach hinten oben im Gehirn und                   Neben dem kognitiven Erkennen und Operieren
wird als „Wo und Wann“-Bahn bezeichnet. Es wird                  mit räumlichen Objekten geht es beim räumlichen
in diesen Gehirnarealen bzgl. der räumlichen Ob-                 Denken auch um das gedankliche Wechseln von
jekte erkannt, wo sich diese befinden und zudem                  räumlichen Perspektiven und somit um räumliche
die zeitlichen Abläufe von bewegten Objekten er-                 Orientierungsfähigkeit. Die räumliche Orientie-
fasst und interpretiert. Aus diesen Gehirnarealen                rung wird maßgeblich in zwei zueinander benach-
heraus entstehen auch konkrete Anweisungen für                   barten Gehirnbereichen behandelt. Einerseits im
Handlungen. Es besteht hier enger Konnex zu den                  enthorinalen Cortex und andererseits im Hippo-
motorischen Arealen, die die motorische Umset-                   campus. Im enthorinalen Cortex befinden sich die
zung der konkreten Handlungen einleiten.                         sogenannten Raster- bzw. Gitterzellen, welche in
                                                                 sechseckiger Form angeordnet sind und die Ei-
                                                                 genschaft besitzen, dass sie die genaue räumliche
                                                                 Position erkennen können. Im Hippocampus wie-
                                                                 derum sind sogenannte Ortszellen vorhanden, die
                                                                 sich jeweils die Eigenschaften eines bestimmten
                                                                 Ortes merken können, aber nicht wissen, wo sich
                                                                 dieser Ort befindet. Durch die Zusammenarbeit
                                                                 von Raster- und Ortszellen ist es möglich, einer-
                                                                 seits durch die Rasterzellen zu wissen, wo man
                                                                 sich befindet und andererseits durch die Ortszel-
                                                                 len abrufbereit zu haben, welche Eigenschaften
                                                                 dieser Ort hat. Diese beiden Hirnregionen bilden
                                                                 bedingt durch die faszinierende Zusammenarbeit
                                                                 der Raster- und Ortszellen unser inneres Naviga-
                                                                 tionssystem.
                                                                 Die Erforschung dieser Strukturen unserer räum-
                                                                 lichen Orientierungsfähigkeit wurde maßgeb-
                                                                 lich von dem britisch-amerikanischen Forscher
Abbildung 10: Schematische Darstellung der beiden visuellen      O’Keefe und dem norwegischen Forscherehepaar
Sehpfade (ventraler Sehpfad und dorsaler Sehpfad) (Grafik: An-   Moser (Moser, 2014; Moser et al., 2014) beein-
drey Vyshedskiy, Shreyas Mahapatra, Rita Dunn)                   flusst, wofür die drei Genannten 2014 den Nobel-
Die Theorie der zwei unterschiedlichen Sehpfade,                 preis für Medizin erhielten.
in denen optische Reize nach der Weiterleitung                   Sehen und räumliches Denken benötigt insge-
von den Augen in den primären visuellen Cortex                   samt mehr als die Hälfte der Gehirnareale (Nänni,
mehr oder weniger getrennt voneinander weiter-                   2008). Beim Denken an räumliche Objekte werden
verarbeitet werden, war für viele Jahre ein äußerst              die gleichen Gehirnareale als beim realen Betrach-
fruchtbarer Ausgangspunkt dafür, die konkreten                   ten dieser Objekte aktiviert. Die Erkenntnisse
Prozesse der Verarbeitung von optischen Reizen                   der Neurologie zeigen, dass räumliches Denken
im Gehirn zu erforschen.                                         ein hochkomplexer Prozess ist, der in zahlreichen
Die modernen bildgebenden Verfahren haben ei-                    unterschiedlichen Gehirnarealen, die für jeweils
nen maßgeblichen Teil dazu beigetragen, dass in                  spezifische Aufgaben angelegt sind, verarbeitet
den letzten Jahren auf diesem Gebiet bedeutende                  wird und wo noch viele offene Fragen uns auch
Erkenntnisse gewonnen werden konnten. Als ak-                    hinkünftig beschäftigen werden. Zusätzlich sind
tueller Stand der Forschung hat sich mittlerwei-                 diejenigen Areale, die mit der Verarbeitung von

                                                                                                          IBDG 31
Räumliches Denken Günter Maresch (Universität Salzburg) E-Mail: Raumgeometrie (GZ , DG, CAD)
Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung

                                                   Abbildung 11: Generische Stränge des räumlichen Denkens

                                                   optischen Reizen im Gehirn bzw. auch schon da-             Die generischen Stränge des
                                                   vor auf den Zwischenstationen zwischen Auge und            räumlichen Denkens im Überblick
                                                   Gehirn beschäftigt sind (wie z. B. Kniehöcker), in
                                                   ständigem Austausch mit denjenigen Teilen des             Die Fähigkeit zum räumlichen Denken wird seit
                                                   Gehirns, wo verwandte Erfahrungen unterschied-            etwa 140 Jahren von unterschiedlichen Wissen-
                                                   licher Sinne gespeichert werden.                          schaftsbereichen untersucht.
                                                   Mithilfe dieses kontinuierlichen Austausches wer-         Konkret werden dabei vier Stränge erkannt: (1)
                                                   den auf allen Stationen der Verarbeitung von op-          Entwicklungspsychologie, (2) visuelle Wahrneh-
                                                   tischen Reizen diese gefiltert, interpretiert, mit        mung, (3) faktoranalytische Modelle und (4) Neu-
                                                   Erfahrungen abgeglichen und komprimiert. Erst             rologie. Jeder dieser Stränge blickt aus einer ande-
                                                   diese Verdichtung von optischen Reizen ermögli-           ren Perspektive, mit unterschiedlichen Methoden,
                                                   cht es einem menschlichen Gehirn, die unglaublich         Traditionen und Zielsetzungen auf die räumliche
                                                   hohe Zahl an optischen Eindrücken kognitiv verar-         Denkfähigkeit.
                                                   beiten zu können.                                         Die Aussagen, Befunde und entwickelten Model-
                                                   Die Neurologie liefert seit etwa 50 Jahren in Bezug       le und Ansätze der einzelnen Forschungszweige
                                                   auf das räumliche Denken markante Hinweise da-            spiegeln diese Verschiedenartigkeit wider. Abbil-
                                                   rauf, dass optische Reize in unterschiedlichen spe-       dung 11 fasst kompakt relevante Begriffe der je-
                                                   zifizierten Gehirnarealen, die in ständigem neuro-        weiligen Stränge schlagwortartig zusammen und
                                                   nalem Austausch untereinander sind, verarbeitet           zeigt, welcher Altersgruppe das Hauptinteresse
                                                   werden.                                                   des jeweiligen Stranges gilt.
                                                   Aus diesem Wissen lässt sich die Forderung ablei-         Der Blick auf diese in vielen Parametern hetero-
                                                   ten, dass die unterschiedlichen räumlichen Denk-          gene Landschaft der vier Wissenschaftszweige,
                                                   weisen kontinuierlich strukturiert und differenziert      die sich maßgeblich mit dem räumlichen Den-
                                                   trainiert werden sollten.                                 ken und dessen Teilgebieten beschäftigen, lässt
                                                                                                             erkennen, dass es zahlreiche Bemühungen und
                                                   Eine systematische Förderung des räumlichen               große Fortschritte gab und gibt, die Grundlagen
                                                   Denkens, welche darauf abzielt, möglichst alle            des räumlichen Denkens zu erforschen.
                                                   am Sehen und räumlichen Denken beteiligten
                                                   Gehirnareale in einem ausgewogenen Verhältnis             Durch das Besprechen der grundlegenden An-
                                                   anzusprechen, die kognitiven Möglichkeiten der            sichten dieser Forschungstraditionen und das Ge-
                                                   einzelnen Areale zu trainieren und den neuro-             genüberstellen der Modelle der vier Stränge und
                                                   nalen Austausch zwischen den Arealen zu fördern,          deren adressierter Altersgruppen zeigt sich deut-
                                                   scheint daher ein naheliegender und vielverspre-          lich, dass es oft nur wenig Gemeinsamkeiten und
                                                   chender Ansatz zu sein.                                   Überlappungen zwischen den Bereichen gibt.

                                                   32 IBDG
Ganzheitliches Modell der                                   stufen eine Orientierung bieten zu können, welche
  Grundroutinen des räumlichen                                Facetten des räumlichen Denkens bereits bis zu
  Denkens                                                     welcher Tiefe entwickelt sind. Das Modell der acht
                                                              Grundroutinen des räumlichen Denkens wurde
Ein besonderer Reiz der Weiterentwicklung und                 im Jahr 2020 publiziert (Maresch, 2020). In die-

                                                                                                                    Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung
des Fortschritts im Bereich des räumlichen Den-               ser Erstveröffentlichung werden sämtliche Stufen
kens besteht nun darin, Brücken zwischen den vier             ausführlich beschrieben, deren Grundfunktionen
Strängen zu bauen und die vier Bereiche unter                 erörtert, Teilfähigkeiten aufgelistet, Teilaspekte
einem gemeinsamen Dach zu vereinen, indem die                 genannt, exemplarische Übungen vorgestellt, Be-
relevanten Erkenntnisse und Facetten der einzel-              züge zu den vier generisch-historischen Strängen
nen Stränge herausgeschält und in einem gemein-               des räumlichen Denkens beschrieben und unter
samen Modell zum räumlichen Denken zusammen-                  anderem auch Bezüge zum Schreiben und Lesen
geführt werden. Als Vorschlag für ein derartiges              hergestellt.
Modell wurde das Modell der Grundroutinen des
räumlichen Denkens (Maresch, 2020) entwickelt,
welches insgesamt acht Grundroutinen zum räum-
lichen Denken beinhaltet (Abbildung 12).                       Zusammenfassung
Die ersten fünf Stufen (Visualisierung, Formkon-              1879 beschrieb Galton die Intelligenzfacette des
stanz, Raumlage, Raumtransformationen und Ob-                 räumlichen Denkens als „visualising faculty“, in-
jektkombinationen) verstehen sich als aufbauende              dem er schreibt: „Memories that are extreme-
Stufen. Kinder und Jugendliche entwickeln diese               ly vivid may at the same time be very mobile,
Stufen im Allgemeinen aufeinander folgend, wo-                and capable of blending together. Much instruc-
bei die Fähigkeit zur Visualisierung die grundle-             tion on these matters can be derived from those
gendste Stufe darstellt. Darauf aufbauend wird die            who possess the power of what is called the vi-
Fähigkeit zum Erkennen von Formkonstanzen, von                sualising faculty, in a high degree. The objects of
Raumlagen, Raumtransformationen und schließ-                  their memory are conspicuous images“. Das Ende
lich von Objektkombinationen in dieser aufstei-               des 19. Jahrhunderts gilt unter anderem durch
genden Reihenfolge entwickelt. Studienergebnisse              die Beschreibung von Galton als die Zeit, wo die
von Hofer (2020) und Wallinger (2020) bestätigen              menschliche Intelligenz mehr und mehr in den Fo-
diesen strukturellen Aufbau und die inhaltliche               kus von Untersuchungen und wissenschaftlicher
Konsistenz der ersten fünf Grundroutinen. Die                 Beschäftigung rückte. Diverse ein- und mehrdi-
weiteren drei grundlegenden Routinen des räum-                mensionale Intelligenzmodelle wurden seit dieser
lichen Denkens sind Dynamik, Feinmotorik und                  Zeit entwickelt, in denen die unterschiedlichsten
räumliche Orientierung.                                       Teilbereiche der Intelligenz formuliert bzw. postu-
                                                              liert wurden. Nahezu alle Intelligenzmodelle haben
                                                              die Gemeinsamkeit, dass das räumliche Denken
                                                              (space) als grundlegende Facette der Intelligenz
                                                              erkannt wurde und in den diversen Strukturmo-
                                                              dellen beinhaltet ist.
                                                              Die Fähigkeit zum räumlichen Denken ist bei Men-
                                                              schen hochgradig individuell unterschiedlich ent-
                                                              wickelt. Eine Erkenntnis, die Galton mit den Wor-
                                                              ten „I do not know any faculty that varies so much
                                                              as this in different persons. None can vary more,
                                                              because its range lies between perfection and
                                                              nothingness.“ (Galton, 1879) beschreibt. Unter
Abbildung 12: Die acht Grundroutinen des räumlichen Denkens   anderem dieser Umstand und auch die Tatsache,
                                                              dass das räumliche Denken ein grundlegender
Die einzelnen Stufen des Modells der Grundrouti-
                                                              Teilaspekt zahlreicher Intelligenzmodelle ist, bot
nen beschreiben konkrete räumliche Fähigkeiten,
sind an Inhalten ausgerichtet und sind daher wie-             Vielen ausreichend Motivation, um sich diesem
derum unabhängig davon, mit welcher Strategie                 spezifischen Teil der menschlichen Intelligenz ein-
Lernende die Aufgaben der entsprechenden Stufen               gehender zu widmen. Zumindest vier markant
bearbeiten. Das vordringlichste Anliegen bei der              unterschiedliche Herangehensweisen an die Aus-
Konzeption des Modells war es, die grundlegenden              einandersetzung mit dem räumlichen Denken sind
Aussagen, Erkenntnisse, Faktoren und Facetten                 erkennbar.
der vier generisch-historischen Stränge des räum-             Diese vier generischen Stränge des räumlichen
lichen Denkens herauszuschälen und diese in einer             Denkens sind: Der Strang der Entwicklungspsy-
neuen übergreifenden und ganzheitlichen Struktur              chologie, der Strang der visuellen Wahrnehmung,
stimmig zu vereinen. Das entwickelte Modell soll              der Strang der faktoranalytischen Modelle und
als ganzheitliches Modell auch dem Zweck dienen,              schließlich als jüngster Strang jener der Neuro-
für Lernende auf allen Entwicklungs- und Alters-              logie. Jeder dieser Stränge betrachtet das For-

                                                                                                      IBDG 33
schungsfeld jeweils aus unterschiedlichen Per-       Raumdenken, Raumintelligenz
                                                   spektiven, spezifiziert zumeist die Untersuchungen   Beide Begriffe sind Synonyme für den Begriff
                                                   auf bestimmte Altersgruppen und formuliert daher     räumliches Denken (siehe unten). Beide Begriffe
                                                   verschiedenartige Modelle, Ansätze und Thesen.       werden selten verwendet und kommen de facto
                                                   In diesem Beitrag werden die vier bedeutenden        in der Literatur nicht vor. Es sind daher auch kei-
Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung

                                                   Zugangsweisen, deren VertreterInnen und Kern-        nerlei konkrete Definitionen bzw. Beschreibungs-
                                                   aussagen kompakt erörtert, wodurch ein ganz-         versuche bekannt. Entsprechend der Verwendung
                                                   heitlicherer Blick eröffnet wird.                    der Begriffe im Kontext ist zu erkennen, dass die
                                                   Eine reizvolle Weiterentwicklung auf dem Gebiet      Begriffe Raumdenken und Raumintelligenz sehr
                                                   des räumlichen Denkens besteht darin, die Es-        großzügig zahlreiche Facetten des räumlichen
                                                   senz der vier Stränge herauszuschälen und diese      Denkens beinhalten und dass diese daher auch
                                                   in einem ganzheitlichen Modell zu vereinen. Auf      als Synonyme zum Begriff „räumliches Denken“ zu
                                                   einen Vorschlag für ein derartiges Modell wird im    verstehen sind.
                                                   abschließenden Teil des Beitrags als Modell der
                                                   Grundroutinen des räumlichen Denkens verwie-         Raumvorstellungsvermögen
                                                   sen. Von den insgesamt acht Stufen des Modells       (kurz: Raumvorstellung)
                                                   verstehen sich die ersten fünf Stufen als aufbau-    Das Raumvorstellungsvermögen ist die Fähigkeit
                                                   ende Stufen, wobei die Fähigkeit zur Visualisie-     eines Individuums, sich räumliche Objekte mental
                                                   rung die grundlegendste Stufe darstellt. Daran       vorstellen zu können, diese rein gedanklich mani-
                                                   schließen die Stufen des Erkennens von Formkon-      pulieren (schieben, skalieren, drehen, spiegeln, …)
                                                   stanzen, von Raumlagen, von Raumtransformati-        zu können, Relationen zwischen mehreren räum-
                                                   onen und von Objektkombinationen an. Ergebnisse      lichen Objekten erkennen zu können und sich rein
                                                   von Studien (Hofer, 2020; Wallinger, 2020) zeigen,   in der Vorstellung an unterschiedliche Positionen
                                                   dass die Fähigkeiten, die mit den einzelnen Stu-     im Raum versetzen zu können (also sich den Raum
                                                   fen verbunden sind, steigenden Komplexitätsgrad      aus anderen Perspektiven vorstellen zu können).
                                                   aufweisen und dass Kinder und Jugendliche diese      Raumvorstellung(svermögen) ist daher eine rein
                                                   Fähigkeiten in der im Modell ausgewiesenen Rei-      kognitive Leistung und inkludiert keinerlei reale
                                                   henfolge durchlaufen. Die weiteren drei Stufen des   Tätigkeiten (wie reales Betrachten von räumlichen
                                                   Modells (Dynamik, Feinmotorik und räumliche Ori-     Objekten oder Durchführen von (fein)motorischen
                                                   entierung) wurden in allen vier generischen Strän-   Bewegungsabläufen).
                                                   gen als essenzielle räumliche Fähigkeiten erkannt
                                                   und daher als stimmige Komplettierung in das Mo-     Raumwahrnehmung
                                                   dell der Grundroutinen des räumlichen Denkens
                                                                                                        Das Gehirn verfügt über zahlreiche Möglichkeiten,
                                                   aufgenommen. Die einzelnen Grundroutinen des
                                                                                                        aus dem zweidimensionalen Bild unserer Umwelt
                                                   Modells werden in der Erstveröffentlichung (Ma-
                                                                                                        auf die Retina (= Netzhaut, Innenwand des Auges)
                                                   resch, 2020) detailliert beschrieben, argumentiert
                                                                                                        ein räumliches, dreidimensionales Abbild erzeu-
                                                   und Bezüge zu den vier Strängen und zum Lesen
                                                                                                        gen zu können. Diese Fähigkeit, die Raumwahr-
                                                   und Schreiben hergestellt. Erste Untersuchungen
                                                                                                        nehmung genannt wird, entsteht durch das Zu-
                                                   zeigen, dass das Modell als stimmige strukturelle
                                                                                                        sammenspiel einer Vielzahl von unterschiedlichen
                                                   Basis für die Entwicklung von Lernmaterialien über
                                                                                                        Interpretationen der visuellen Wahrnehmung, wie
                                                   alle Altersstufen hinweg verwendbar ist und spe-
                                                                                                        z. B. monokulares/binokulares Sehen, Farbinter-
                                                   ziell auch daher zur umfassenden Diagnose der
                                                                                                        pretationen, vertraute Größe, Überlappungen,
                                                   räumlichen Fähigkeiten eingesetzt werden kann.
                                                                                                        Schatten, Texturdichte, Querdisparität, Muskel-
                                                                                                        bewegungen der Linse, Bewegungsparallaxe und
                                                                                                        inkludiert dabei auch die Reize und Eindrücke wei-
                                                    Anhang: Begriffserläuterungen                       terer Sinnesquellen (z. B. Kinästhetik, Hören).

                                                   In der Literatur sind zahlreiche Begriffe rund um    Räumliches Denken
                                                   das Themenfeld „räumliches Denken“ in Verwen-        Als verbindender, gemeinsamer Überbegriff für
                                                   dung. Jeder dieser Begriffe beschreibt eine be-      die menschliche Fähigkeit, vom Auge empfangene
                                                   stimmte Facette (spezifische Fähigkeit, konkretes    optische Reize ins Gehirn leiten zu können, diese
                                                   Phänomen, …).                                        interpretieren und daher räumliche Objekte er-
                                                   Oftmals ist zu bemerken, dass diese Begriffe sa-     kennen zu können, sich räumliche Objekte mental
                                                   lopp verwendet, sehr offen und breit beschrieben     vorstellen zu können, diese gedanklich manipu-
                                                   bzw. großzügig behandelt werden. Die nachfol-        lieren zu können, sich rein in der Vorstellung an
                                                   genden Begriffserläuterungen einiger der häufig      unterschiedliche Positionen im Raum versetzen zu
                                                   verwendeten Begriffe in Bezug auf räumliches         können, Bewegungsabläufe wahrnehmen und in-
                                                   Denken soll die Spezifika der einzelnen Begriffe     terpretieren sowie (fein)motorische räumliche Be-
                                                   hervorheben und dadurch die korrekte Verwen-         wegungen ausführen zu können, wird der Begriff
                                                   dung ermöglichen.                                    „räumliches Denken“ verwendet. Räumliches Den-

                                                   34 IBDG
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