Räumliches Denken Günter Maresch (Universität Salzburg) E-Mail: Raumgeometrie (GZ , DG, CAD)
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Räumliches Denken Günter Maresch (Universität Salzburg) E-Mail: guenter.maresch@sbg.ac.at Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Fähigkeit in die wir gegangen sind, versetzen, uns dort die zum räumlichen Denken als eine der maßgeblichen räumlichen Situationen und Relationen in Erinne- Facetten der menschlichen Intelligenz erkannt und rung holen und gegebenenfalls bestimmte Wege wird seit dieser Zeit von unterschiedlichen Wissen- (z. B. von einem Klassenzimmer zur Garderobe) schaftszweigen beforscht. Dieser Beitrag stellt die einer anderen Person beschreiben. vier maßgeblichen Gebiete der Wissenschaft vor, welche sich eingehend mit dem räumlichen Den- ken befassen und sich jeweils aus unterschied- lichen Perspektiven diesem nähern. Es werden die entsprechenden Herangehensweisen, Kernaussa- gen, Modelle und Ansätze kompakt erörtert, wo- durch im Rahmen dieser Beschreibung der histo- rischen Genese der Auseinandersetzung mit dem räumlichen Denken die Möglichkeit eröffnet wird, dieses Beschäftigungsfeld in einer umfassende- ren Weise sehen zu können. Dies wiederum ist der fruchtbare Nährboden für Weiterentwicklungen Abbildung 1: Eine exemplarische Aufgabe zum rein gedank- auf diesem Gebiet. Schließlich wird auf das Mo- lichen Drehen eines Würfels. Der links gegebene Würfel wird dell der Grundroutinen des räumlichen Denkens entlang den gegebenen Achsen x, y, z gedreht, bis dieser in die verwiesen, welches mit der Intention entwickelt Lage des rechten Würfels kommt. Die noch nicht beschrifteten wurde, die Essenz aus den Erkenntnissen der vier Würfelecken sind zu beschriften. (Eigene Grafiken, die auch in Wissenschaftsgebiete, die sich eingehend mit dem Aufgaben von RIF2.0 (https://adi3d.at/rif20/) enthalten sind.) räumlichen Denken beschäftigen, herauszuschä- len und in einem Modell zusammenzuführen. Einleitung Die Fähigkeit zum räumlichen Denken ist eine der grundlegendsten kognitiven Leistungen von Men- schen. Sie befähigt uns unter anderem dazu, uns in unserer Umwelt bewegen zu können, Ziele anpei- len zu können, Routen planen zu können, Distan- zen und Geschwindigkeiten schätzen zu können, Abbildung 2: Eine exemplarische Aufgabe zum rein gedank- die Lage von räumlichen Objekten zueinander er- lichen Vermögen, sich an andere Positionen im Raum versetzen kennen zu können, Kühlschränke und Kofferräume zu können. Im linken Bild ist ein Foto einer kleinen Ortschaft zu geschickt befüllen zu können und sperrige Gegen- sehen. Ein Fotograph nimmt von den Positionen 1-8 ein Foto von stände durch Stiegenhäuser und andere Räume der Ortschaft auf. Von welcher Position wurde das Foto rechts bewegen zu können. Räumliches Denken beinhal- aufgenommen? (Eigene Grafiken, die auch in Aufgaben von tet zum einen die Fähigkeit, sich rein gedanklich RIF2.0 (https://adi3d.at/rif20/) enthalten sind.) räumliche Objekte vorstellen zu können und diese rein durch die Kraft unserer Vorstellung gedank- Räumliches Denken ist seit Urzeiten eine über- lich drehen (Abbildung 1), spiegeln und verschie- lebensnotwendige Fähigkeit für Menschen. Mehr ben zu können, sich von mehreren Objekten die denn je wird sie in unserer modernen technolo- Lage zueinander und die Lage im Raum vorstel- giegestützten Welt benötigt. Das Betrachten und len zu können und Objekte schneiden zu können. Analysieren der großen gesellschaftlichen Verän- Dies alles sind Beispiele für die Fähigkeit, sich rein derungen seit der Jahrtausendwende zeigt uns, kognitiv räumliche Objekte vorstellen zu können dass unsere Welt kontinuierlich digitaler, daten- und diese rein gedanklich manipulieren (drehen, gestützter und visueller wird (Montello, Grossner, spiegeln, schneiden, …) zu können. Zudem bein- Janelle, 2014). Während der digitale Fortschritt haltet die Fähigkeit zum räumlichen Denken das durch stete Berichte über digitale Errungenschaf- Vermögen, sich rein gedanklich an andere Posi- ten in den Medien in unserem Bewusstsein ist und tionen im Raum versetzen zu können (Abbildung die Diskussionen um Aspekte wie Big Data und 2). Wir Menschen können uns jederzeit gedanklich Datenschutz das Thema des Datenreichtums un- in ein uns bekanntes Gebäude, z. B. in die Schule, serer modernen Welt kommunizieren, scheint der IBDG 23
Umstand, dass unsere Welt immer visueller wird, In vielen weiteren modernen Bereichen unseres ein wenig beachteter zu sein. Der Begriff „wenig privaten bzw. beruflichen Umfelds sind vermehrt beachtet“ ist in diesem Zusammenhang in keinster visuelle Fähigkeiten von Nöten, wie z. B. beim Weise gleichzusetzen mit „wenig effektvoll“ bzw. passenden Platzieren von räumlichen Objekten „wenig bedeutend“. Ganz im Gegenteil. In nahezu zur Vorbereitung auf einen 3D-Druck, beim Steu- Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung allen Bereichen unseres privaten und beruflichen ern und Navigieren von Drohnen, beim Navigieren Alltags werden wir vermehrt mit visuellen Infor- von fahrbaren Robotern in Kanälen, bei Operati- mationen und Herausforderungen konfrontiert, onen am Menschen via minimalinvasiver Eingriffe müssen diese erkennen, richtig interpretieren und mithilfe von Minikameras und in der Zahntechnik, schließlich passende Entscheidungen treffen. Als wo mit hochpräzisen Verfahren beginnend von Beispiel dafür seien Navigationsgeräte erwähnt. 3D-Scans und CAD-gestützter Planung schließlich Diese Geräte in unseren Fahrzeugen helfen uns Implantate, Kronen und Zahnspangen geplant und potenziell enorm, den besten Weg von A nach B zu realisiert werden. finden (Abbildung 3). In naher Zukunft werden wir zahlreichen weiteren visuellen Entwicklungen in unserem privaten und beruflichen Alltag begegnen (z. B. VR- und AR-An- wendungen), die eine noch bessere und differen- zierte Fähigkeit zum räumlichen Denken erfordern werden als bis dato notwendig war. Z. B. werden Einkäufe in Geschäften, das Planen und Betrach- ten von Wohnungs(um)bauten, der Kauf von Häu- sern, die Anleitungen zum Aufbau von Möbeln, der Aufbau und die Installation von technischen Ge- räten und vieles mehr in größerem Umfang durch virtuelle Umgebungen unterstützt werden. Abbildung 3: Wegverlauf, angezeigt auf einem Navigationsgerät Bei näherer Betrachtung sind mit dem Gebrauch von Navigationssystemen allerdings einige visuelle Räumliches Denken Herausforderungen verbunden. Es ist von der Be- nützerin/vom Benützer unter anderem mit einem Der Begriff „räumliches Denken“ (im Englischen zumeist kurzen Blick auf das Gerät zu erkennen, zumeist als spatial skills bezeichnet, manchmal ob das Gerät die tatsächliche Position des Autos in auch spatial thinking bzw. spatial ability) wird als der Umwelt korrekt anzeigt, welche Objekte der Überbegriff für die diversen Begriffe wie Raumden- realen Umwelt die einzelnen grafischen Elemente ken, Raumvorstellung(svermögen), visuelle Wahr- am Bildschirm symbolisch darstellen und schließ- nehmung, räumliche Wahrnehmung, Raumwahr- lich welche der realen Abbiegemöglichkeiten in der nehmung oder Raumintelligenz verwendet. Die Umwelt der am Bildschirm angezeigten Fahrroute Analyse der Beschreibungen und Definitionsver- entspricht. Dieses Übersetzen der sich kontinu- suche der erwähnten Begriffe zeigt (vgl. etwa He- ierlich bewegenden Symbole am Bildschirm des garty, 2010; Maier, 1994), dass diese oftmals von Navigationsgerätes ist ein kognitiv fordernder unterschiedlichen Personen und Wissenschaftsge- Prozess, der ein gut ausgeprägtes Vermögen zum bieten deutlich unterschiedlich beschrieben und räumlichen Denken voraussetzt. Dass dies so ist, verwendet werden. Die Unterbegriffe sind nicht führen uns z. B. Berichte über Unfälle vor Augen, als Synonyme für den Begriff „räumliches Denken“ wo ein/e AutolenkerIn die angezeigte Route am zu verstehen, sondern beziehen sich im Allgemei- Navigationsgerät missinterpretiert (Abbildung 4) nen auf spezifische räumliche Teilfähigkeiten, die und die nächste Seitengasse mit einem Treppen- in unterschiedlichen Kontexten in der Literatur abgang verwechselt. oftmals unterschiedlich beschrieben und verwen- det werden. Als verbindender, gemeinsamer Über- begriff für die menschliche Fähigkeit, vom Auge empfangene optische Reize ins Gehirn leiten zu können, diese interpretieren zu können und daher räumliche Objekte als diese erkennen zu können, sich räumliche Objekte mental vorstellen zu kön- nen (mit oder ohne vorherige optische Reize), die- se gedanklich manipulieren zu können, sich rein in der Vorstellung an unterschiedliche Positionen im Raum versetzen zu können, Bewegungsabläufe wahrnehmen und interpretieren zu können und Abbildung 4: Foto eines Autounfalls, bei dem möglicherweise (fein)motorische räumliche Bewegungen ausfüh- eine Missinterpretation der Anzeige eines Navigationsgerätes ren zu können, wird der Begriff „räumliches Den- die Unfallursache darstellt (Foto: Berufsfeuerwehr Graz) ken“ verwendet (Abbildung 5). 24 IBDG
Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung Abbildung 5: Die aufbauenden Stationen räumlichen Denkens. Grundlegend werden Sinne(sorgane) benötigt, um optische Reize empfangen zu können. Die Facetten der visuellen Wahrnehmung helfen, die optischen Reize, unterstützt von weiteren Sinnesein- drücken wie Hören oder Kinästhetik, zu filtern, zu interpretieren und damit grundlegend zu analysieren. Mithilfe der faszinierenden Möglichkeit des rein gedanklichen Operierens mit räumlichen Objekten können diese nun (rein gedanklich) je nach Zweck manipu- liert werden, wir können uns rein gedanklich je nach Bedarf an anderen Positionen des Raumes versetzen und können somit unser Raumvorstellungsvermögen einsetzen. Gegebenenfalls planen wir dabei auch (fein)motorische Bewegungsabläufe, führen diese durch, sehen die Ergebnisse der Durchführung und kommen somit in einen schleifenartigen Ablauf des räumlichen Denkens (rechte Pfeile in der Abbildung). Dem gegenüber benötigen wir z. B. bei kreativen Prozessen (wie dem Entwerfen eines Hauses) keinerlei optischen Reize, um räumlich zu denken (siehe linker Pfeil in der Abbildung). Wir setzen hier rein unser Raumvorstellungsvermögen ein, um Neues gedanklich zu entwerfen oder Lösungen von räumlich-geometrischen Problemen zu entwickeln. Der Überbegriff „räumliches Denken“ beinhaltet somit folgende Fähigkeiten: » Empfangen des optischen Reizes (über das Auge) und Weiterleiten über diverse Stationen bis hin zum Gehirn » Grundlegende Interpretation des optischen Reizes und kognitiver Abgleich des optischen Reizes mit Erfahrungen auf den diversen Sta- tionen vom Auge bis hin zum Gehirn und damit schließlich die Fähigkeit, räumliche Objekte „erkennen“ bzw. „kennenlernen“ zu können » Planen und Durchführen von (fein)motorischen Reaktionen auf optische Reize (siehe zu den ersten drei Listenpunkten auch Abbildung 6) » Rein gedankliches Vorstellen von räumlichen Objekten (ohne vorherigen optischen Reiz) » Rein gedankliches Manipulieren von räum- lichen Objekten (Drehen, Schieben, Spiegeln, Skalieren, …) Abbildung 6: Schrittweise Darstellung einer exemplarischen Tä- tigkeit, die räumliches Denken benötigt. Hier: Tippen der Ziffer » Sich rein gedanklich an andere Positionen im „3“. (Grafik: Emily Willoughby) Raum versetzen zu können IBDG 25
Räumliches Denken als Voraussetzung Räumliches Denken als Voraussetzung für MINT-/STEM-Berufsfelder für erfolgreiches schulisches Lernen Eine gut ausgeprägte Fähigkeit zum räumlichen Eine gut ausgeprägte Fähigkeit zum räumlichen Denken ist nicht nur eine grundlegende wichtige Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung Denken unterstützt nicht nur unser Tun im privaten Fähigkeit zum Bewältigen vieler Tätigkeiten un- Alltag, sondern erleichtert, fördert bzw. ermögli- seres privaten und beruflichen Alltags, sondern cht sogar oftmals erst eine berufliche Karriere in ist bereits in jungen Jahren während der Schul- den Berufsfeldern der Mathematik, Informatik, zeit ein Vermögen, welches deutlich hilft, das Naturwissenschaften und Technik (MINT; Science, Lernen in unterschiedlichen Bereichen zu erleich- Technology, Engineering, Mathematics – STEM). tern bzw. sogar erst zu ermöglichen. Frostig hat in den 1970er-Jahren deutliche Zusammenhänge Im Jahre 2009 zeigten Wai und seine KollegInnen von visuellen Fähigkeiten und dem Vermögen, (Wai Lubinski und Benbow, 2009) im Rahmen der Schreiben und Lesen zu lernen, festgestellt. Ha- Auswertung einer Studie überzeugend, dass eine wes und seine Kollegen (Hawes, Tepylo und Moss, gut ausgeprägte Fähigkeit zum räumlichen Denken 2015) haben herausgefunden, dass unter anderem die maßgebliche Schlüsselqualifikation für erfolg- bei grundlegenden mathematischen Tätigkeiten reiches berufliches Wirken in den MINT-/STEM- wie dem Umformen einfacher Terme von z. B. Bereichen ist. Von 400.000 amerikanischen Ober- 5 + __ = 7 auf __ = 7 – 5 diejenigen SchülerInnen stufenschülerInnen der 9. bis zur 12. Schulstufe deutlich im Vorteil sind, die eine gute Fähigkeit wurde mithilfe zahlreicher Tests neben weiteren zum räumlichen Denken mitbringen. Weitere Stu- Fähigkeiten auch das Raumvorstellungsvermögen dien mit ähnlichen Ergebnissen zeigen insgesamt, getestet. 11 Jahre nach dem Schulabschluss (Ma- dass eine gut entwickelte Fähigkeit zum räum- tura, Abitur) wurden von diesen 400.000 Absol- lichen Denken Menschen bei weit über den MINT-/ ventInnen im Rahmen einer weiteren Befragung STEM-Bereich hinausgehenden Tätigkeiten hilft unter anderem deren Berufe erhoben. bzw. diese erst ermöglicht. Dabei hat sich gezeigt, dass 45 % derjenigen, die einen Doktortitel im Bereich der MINT-/STEM-Be- reiche besitzen, unter den besten 4 % der Raum- Trainierbarkeit des räumlichen vorstellungstestung während der Schulzeit waren. Denkens Ziemlich genau 90 % derjenigen, die einen Dok- Die Wichtigkeit der Fähigkeit zum räumlichen tortitel im Bereich der MINT-/STEM-Bereiche auf- Denken wurde in den obigen Kapiteln angespro- weisen können, waren unter den besten 23 % im chen und exemplarisch argumentiert. In einem Bereich der Raumvorstellungstests während der logischen nächsten Schritt kann daher die Forde- Schulzeit (Abbildung 7). rung nach einer eingehenden Förderung dieser Fä- higkeit im schulischen Kontext aufgestellt werden. Als Voraussetzung dafür muss allerdings noch der Aspekt betrachtet werden, ob das räumliche Den- ken trainierbar ist oder ob es eine angeborene Fä- higkeit darstellt, die in einem bestimmten Maße bei Menschen verfügbar ist, aber nicht durch Training und Förderung weiterentwickelt werden kann. Generell können in der Literatur des 20. Jahrhun- derts zwei gegensätzlich erscheinende Stand- punkte gefunden werden. Zum einen der Stand- punkt, dass das Vermögen zum räumlichen Denken eine rein genetisch bedingte Fähigkeit eines Men- schen darstellt und durch Förderung de facto nicht weiterentwickelt werden kann. Zum anderen wird dem gegenüber oftmals festgehalten, dass die Abbildung 7: Wie gut waren DoktorInnen, Master- bzw. Bache- Fähigkeit zum räumlichen Denken eine im hohen lorabsolventInnen, die im MINT-/STEM-Bereich arbeiten, bei Maße trainierbare und steigerbare ist und dass Raumvorstellungstests während ihrer Oberstufenzeit? (Grafik maßgeblich die aktive Förderung der räumlichen aus Wai et al., 2009) Fähigkeiten den Ausschlag dafür gibt, wie gut die- se Fähigkeit bei einem Individuum ausgeprägt ist. Allein anhand der Ergebnisse dieser Studie ist ein- Der aktuelle Stand der Forschung geht davon aus, drucksvoll zu erkennen, dass die Fähigkeit zum dass beide Aspekte zutreffend sind und diese nicht räumlichen Denken eine der Schlüsselqualifikati- disjunkte Ausprägungen darstellen. Montello, onen dafür ist, um im mathematisch-informatisch- Grossner und Janelle stellen dazu fest: „One com- naturwissenschaftlich-technischen Bereich beruf- mon misunderstanding in this regard is the notion lich reüssieren zu können. that just because some trait is genetically deter- 26 IBDG
mined, it is necessarily immutable, and that be- 1. Strang: Entwicklungspsychologie cause some trait is modifiable, it must be caused Die Entwicklungspsychologie geht in Bezug auf das by experiences after birth (or conception) rather räumliche Denken hauptsächlich der Frage nach, than by genetics. Neither of these complementary wie sich dieses im Laufe der ersten Lebensjahre claims are true.“ (Montello et al., 2014). Die Fä- entwickelt. Zumeist werden dabei die einzelnen Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung higkeit zum räumlichen Denken ist einerseits in Phasen, die Monate bzw. Jahre dauern können, einem bestimmten Maße individuell bei Menschen bereits mit dem Zeitpunkt der Geburt beginnend genetisch angelegt, kann aber andererseits zudem bis zum Alter von etwa 14 Jahren betrachtet und im hohen Maße durch Förderung und Training ge- untersucht. Maßgebliche entwicklungspsycholo- steigert werden (z. B. Glück, Kaufmann, Dünser, gische Modelle in Bezug auf das räumliche Denken Steigbügl, 2005). Montello und seine KollegInnen wurden von Stückrath (1968), dem Forscher-Ehe- schreiben dazu weiters: „Spatial learning in educa- paar van Hiele (1978), Piaget und Inhelder (1971), tional and everyday settings is important because Thurstone (1955) und Bruner (1960) in der zwei- it holds the promise of improving spatial thinking, ten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt. which in turn holds the promise of contributing to Stückrath (1969) beschreibt in seinem Modell der a host of desirable outcomes, including generating Stufen der Raumorientierung, dass sich bei einem economic development, making more user-friend- Kind in der frühen Kindheit im Alter von 0-1 Jahren ly and functional technology, fostering equitable im Allgemeinen der sogenannte Leibraum entwi- access to employment, and generally helping peo- ckelt und anschließend im Alter von 2-6 Jahren der ple realize their potential.“ (Montello et al., 2014). Ichraum. Im Alter von 6-14 Jahren entwickeln sich Es wird neben der großen allgemeinen Nützlich- danach jeweils in drei Unterstufen unterteilt der keit des räumlichen Denkens unter anderem auch Handlungsraum und der Laufraum. hier betont, dass die explizite und implizite aktive Das Ehepaar von Hiele beschreibt 1978 fünf Ni- Förderung der räumlichen Denkfähigkeit im Schul- veaustufen, die bei der Entwicklung des geome- unterricht erfolgversprechend zu sein scheint und trisch/räumlichen Denkens durchlaufen werden: davon ausgegangen werden kann, dass ein varian- (0) anschauungsgebundenes Denken, (1) Analy- tenreiches, strukturiertes Training im schulischen sieren geometrischer Figuren und Beziehungen, Kontext Menschen substanziell dabei fördert und (2) erstes Ableiten und Schließen, (3) geometri- unterstützt, in vielen Bereichen des privaten und sches Schließen/Deduktion und (4) strenge, ab- beruflichen Tuns erfolgreicher zu sein. strakte Geometrie. Piaget teilt die großen generellen Entwicklungs- phasen eines Kindes in vier Stufen ein und be- Die vier generischen Stränge des schreibt diese Phasen im Rahmen seiner Stufen- räumlichen Denkens theorie. Die vier Phasen der Stufentheorie lauten: Die Einsicht, dass das räumliche Denken (1) eine (1) sensomotorische Phase. Diese Phase wird im lebenspraktische wichtige Fähigkeit darstellt, (2) Alter von etwa 0 – 1 ½ Jahren bei der Entwicklung eine der maßgeblichen Schlüsselkompetenzen ei- durchlaufen. Anschließend folgt die (2) präoperati- ner modernen Gesellschaft ist und (3) durch Trai- onale Phase, die etwa im Alter von 1 ½ – 7 Jahren ning verbessert werden kann, leitet uns direkt zur erkennbar ist. An diese Phase schließt die Phase Frage über, wie nun dieses menschliche Vermögen (3), die konkret- operationale Phase an. Diese Pha- sinnvoll und strukturiert gefördert und trainiert se wird im Allgemeinen von Kindern im Alter von 7 werden kann. – 11/12 Jahren durchlaufen. Schließlich entwickeln sich Kinder weiter zur Phase (4), der formal-ope- Dazu benötigt es im ersten Schritt eine einge- rationalen Phase, die ab dem 11. bzw. 12. Lebens- hende Auseinandersetzung mit derjenigen pu- jahr beobachtbar ist. Erst ab dieser Phase ist es blizierten Literatur, die sich mit dem räumlichen Kindern im Allgemeinen möglich, abstrakte Struk- Denken beschäftigt und wertvolle Beiträge dazu turen erfassen und nachvollziehen zu können. Dies leistet. In diesem Kapitel wird in kompakter Weise ist auch die Phase, wo unter anderem erstmals die Essenz dieser Literaturrecherche zusammen- (einfache) mathematische Beweise nachvollzogen gefasst und der Leserin/dem Leser dadurch die werden können. Im Buch „Die Entwicklung des Möglichkeit angeboten, das Themenfeld „räum- räumlichen Denkens beim Kinde“ – die Originalaus- liches Denken“ aus einer umfassenden Perspekti- gabe wurde 1948 mit dem Titel „La représentation ve betrachten zu können und in größeren Zusam- de l‘espace chez l’enfant“ in Französisch verfasst – menhängen zu sehen. beschreibt Piaget gemeinsam mit Inhelder (1971) Dabei ist bemerkenswert, dass genau vier Wissen- auf 565 Seiten sehr ausführlich die Entwicklung schaftsbereiche verortet werden können, die sich des räumlichen Denkens von der Geburt bis hin aus unterschiedlichen Traditionen und Blickwin- zum jungen Erwachsenenalter. Es werden detail- keln heraus und zu unterschiedlichen Zwecken mit reich Entwicklungsstufen wie die der stereognos- dem räumlichen Denken beschäftigt haben. Die- tischen Wahrnehmung, des projektiven Raumes se vier großen Bereiche und damit maßgeblichen und des euklidischen Raumes beschrieben. Stränge des räumlichen Denkens sind: IBDG 27
Thurstone (1955) wendet sich in seiner Arbeit sinnvolle bzw. oftmals sogar notwendige Vorstufe der Frage zu, wie sich die aus seiner Sicht sieben des späteren Begreifens. In einer weiteren Ent- grundlegenden Facetten der Intelligenz (= sieben wicklungsstufe sind Kinder dazu in der Lage, iko- primären mentalen Fähigkeiten) über die Lebens- nische Darstellungen von den haptisch erfassten jahre hinweg entwickeln. Objekten anzufertigen. Diese Stufe bildet den not- Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung wendigen Übergang zur dritten Entwicklungsstufe, bei der Kinder bzw. Jugendliche sich mit Lernin- halten auf symbolischer Ebene auseinandersetzen können. Am Beispiel Würfel betrachtet, sollten Kinder zu Beginn der Beschäftigung mit einem Würfel beispielsweise einen Holzwürfel oder Moos- gummiwürfel haptisch angreifen und diesen in möglichst unterschiedlichsten Situationen enaktiv erleben (z. B. Werfen, Stapeln, Würfeln). Auf der ikonischen Entwicklungsstufe sollten junge Kinder Skizzen und einfache Konstruktionszeichnungen von Würfeln in unterschiedlichen Darstellungs- Abbildung 8: Verlaufskurve von acht Intelligenzbereichen. Sie- formen anfertigen können. Schließlich sind Schü- ben primäre Intelligenzfaktoren nach Thurstone (inkl. dick rot: lerInnen ab der symbolischen Entwicklungsstufe Räumliche Fähigkeiten) und zusätzlich „Räumliche Orientierung“ befähigt, an einem Würfel auf symbolischer Ebene (SO) (dick blau). Die blauen Intelligenzbereiche entwickeln sich Berechnungen (wie z. B. Oberfläche, Volumen) an- eher langsam, die grünen durchschnittlich schnell. Die orangen zustellen und diesen somit auf abstrakter Ebene Intelligenzbereiche entwickeln sich lt. Thurstones Beobach- zu behandeln. tungen am schnellsten. Die ersten in diesem Kapitel genannten Entwick- In der Grafik (Abbildung 8) wird speziell die Fa- lungspsychologInnen haben explizit Modelle zur cette space bzw. spatial ability (SA) hervorgeho- Entwicklung des räumlichen Denkens erstellt. ben, indem die Kurve dick rot eingetragen ist. Aus Bruners EIS-Prinzip adressiert nicht explizit die dem Verlauf der Kurve lässt sich ablesen, dass Raumvorstellung, lässt aber auch sehr gut Inter- das größte Steigerungspotential für das räumliche pretationen für die Entwicklung bzw. Förderung Denken im Alter von etwa 3-15 Jahren vorhanden des räumlichen Denkens zu, da es sehr große ist. Ab dem etwa 14. Lebensjahr sind demnach strukturelle Parallelitäten zu den vier zuvor ge- bereits etwa 80 % der Fähigkeit zum räumlichen nannten Modellen von Stückrath, van Hiele, Pia- Denken entwickelt. Aktuelle Forschungsergeb- get, Inhelder und Thurstone beinhaltet. nisse (Wilhelm, Maresch, 2017) zeigen, dass die- se Kurve für nahezu alle Bereiche des räumlichen 2. Strang: Visuelle Wahrnehmung Denkens bestätigt werden kann. Der Bereich der räumlichen Orientierung hingegen entwickelt sich Die visuelle Wahrnehmung ist in gewisser Weise deutlich langsamer als die anderen räumlichen Fä- eine Vorstufe des Raumvorstellungvermögens. higkeiten. Die Entwicklungskurve für die räumliche Das Raumvorstellungsvermögen adressiert – wie Orientierung (in Abbildung 8 dick blau; SO) ver- der Name eigentlich schon treffend beschreibt läuft etwas unterhalb der eingetragenen Kurve W – die Fähigkeit eines Menschen, sich gedanklich der Wortflüssigkeit. Im Rahmen der Auswertung räumliche Objekte vorstellen und diese gedank- von Studiendaten ist zu beobachten, dass erst lich transformieren zu können, Relationen zwi- etwa ab dem 25. Lebensjahr die räumliche Orien- schen mehreren dieser mentalen Objekte erken- tierungsfähigkeit zu annähernd 100 % entwickelt nen zu können und selbst mental unterschiedliche ist. räumliche Positionen einnehmen zu können. Es geht also um das rein kognitive Vermögen eines Der US-amerikanische Entwicklungspsychologe Menschen, sich räumliche Objekte vorstellen zu Bruner (1960/1970) entwickelte als eines seiner können, diese drehen, spiegeln, verschieben und zahlreichen Prinzipien und Theorien das sogenann- verschneiden zu können und sich rein gedank- te EIS-Prinzip. Der Name dieses Prinzips steht als lich an andere Positionen im Raum versetzen zu Akronym für die drei Handlungsaktivitäten enak- können. Das betrifft unter anderem die Fähigkeit, tiv, ikonisch und symbolisch. Lernen funktioniert sich eine Szene auf einem Bild aus einer anderen nach Bruner genau dann erfolgreich, wenn die Perspektive vorstellen zu können oder sich auch erste Entwicklungsstufe enaktiv erlebt wird. In gedanklich an andere Orte versetzen zu können dieser Stufe sollten Kinder demnach zahlreichen und daher z. B. auch Wegrouten beschreiben zu Tätigkeiten nachgehen bzw. mit mannigfaltigen können. Das Raumvorstellungsvermögen ist daher Aktivitäten gefördert werden, die auf unter- eine rein kognitive Fähigkeit unseres menschli- schiedlichste Art und Weise auf haptischem Tun, chen Gehirns (siehe dazu auch Abbildung 5). Es aktivem Angreifen, Falten, Kleben, Laufen, Hüp- werden daher keinerlei realen optischen Reize und fen und weiteren enaktiven Tätigkeiten basieren. keinerlei realen Bewegungen im Raum benötigt. Dieses aktive Greifen ist nach Hüther (2013) eine 28 IBDG
Es handelt sich um ein rein kognitives „Gedanken- visuellen Wahrnehmung in diese fünf unterschied- spiel“. Anzumerken ist, dass im Gehirn die sel- lichen Bereiche ist gut geeignet, differenziert Aus- ben Areale beim tatsächlichen Betrachten eines prägungsgrade der visuellen Wahrnehmung von räumlichen Objekts (also beim tatsächlichen Se- Menschen erkennen zu können. Die visuelle Wahr- hen) und beim Denken an diese Objekte aktiviert nehmung adressiert im Allgemeinen Kinder ab Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung werden. Die Areale werden aber auf zwei gänzlich dem Alter von etwa 3-12 Jahren. Die Altersgruppe unterschiedlichen Wegen aktiviert: Beim Sehen von den noch jüngeren Kindern wird in Hinblick über den optischen Nerv, der von der Retina der auf deren Fähigkeiten zum räumlichen Denken Augen beginnend Richtung Gehirn die optischen von der Entwicklungspsychologie beforscht – dem Reize weiterleitet und beim Raumvorstellen über ersten generischen Strang der Forschung zum das rein kognitive Denken an die entsprechenden räumlichen Denken. Die Altersgruppe der ab etwa räumlichen Objekte. zwölf Jahre alten Kinder und Jugendlichen wurde Bei der visuellen Wahrnehmung geht es in einer in den vergangenen etwa 70 Jahren häufig mittels Vorstufe (zum reinen kognitiv-gedanklichen Ope- faktoranalytischer Herangehensweise untersucht. rieren mit räumlichen Objekten) um die anato- mische Aufnahme und basal-kognitive Verarbei- 3. Strang: Faktoranalytische Modelle tung optischer Reize. Es werden dabei die über die Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Augen empfangenen optischen Reize vom Gehirn wurde in der sogenannten präfaktoriellen Phase bzw. dessen vorgelagerten Arealen gefiltert und der Raumvorstellungsforschung (Maresch, 2013) relevante Informationen extrahiert und interpre- von diversen ForscherInnen das Konstrukt der tiert. Diese anatomischen und basalen kognitiven menschlichen Intelligenz näher untersucht. Dabei Schritte ermöglichen schließlich danach das „Er- wurde diese vermehrt nicht mehr eindimensional kennen“ von räumlichen Objekten durch Abgleich und undifferenziert gesehen, sondern es wurden mit Erinnerungen bzw. „Kennenlernen“ und Mer- unterschiedliche Modelle der menschlichen Intel- ken von neuen räumlichen Objekten. Die Fähigkeit ligenz aufgestellt, die mehrdimensional mannig- zur visuellen Wahrnehmung ist somit eine wichtige faltige differenzierbare Bereiche der Intelligenz Stufe, um gegebenenfalls anschließende rein ko- beschrieben (Thurstone, 1938; Spearman, 1904; gnitive und motorische Schritte folgen lassen zu Cattell, 1963). Zum Beispiel umfasste das Intel- können. Entweder gedankliche Weiterverarbei- ligenzmodell von Thurstone (1938) sieben unter- tung der optischen Reize durch das Raumvorstel- schiedliche primäre mentale Fähigkeiten (primary lungsvermögen (Drehen, Spiegeln, Verschieben, mental abilities): space, perceptual speed, nume- Schneiden, … der wahrgenommenen räumlichen rical ability, memory, reasoning, word fluency und Objekte) oder auch die Vorbereitung und Durch- verbal relations. Grundsätzlich hatten alle die zu führung von motorischen Reaktionen (wie Flucht, dieser Zeit aufgestellten Intelligenzmodelle die Ge- Ausweichen, …) darauf. meinsamkeit, dass diese unter anderem die Intelli- Der eindeutige und klare Unterschied der beiden genzfacette „space“ (Raumvorstellungsvermögen) Begriffe Raumvorstellung und visuelle Wahrneh- beinhalteten. Aufgrund dieser Tatsache wurden in mung wird an dieser Stelle nochmals deutlich weiterer Folge – cum grano salis in der zweiten betont. Visuelle Wahrnehmung beinhaltet das Hälfte des 20. Jahrhunderts in der sogenannten anatomische Vermögen, optische Reize über die faktoriellen Phase der Raumintelligenzforschung Augen und deren Retina aufzunehmen und diese (Maresch, 2013) – die Facette „Raumvorstellungs- über die entsprechenden basalen vorgelagerten vermögen (space)“ von zahlreichen ForscherInnen Gehirnareale ans Gehirn (und hier speziell an den näher untersucht. Dabei wurde methodisch oft- primären visuellen Cortex) weiterleiten zu können mals faktoranalytisch vorgegangen. Dies bedeu- und schließlich räumliche Objekte zu erkennen tet, dass zumeist Versuchspersonen eine Vielzahl oder gegebenenfalls diese neu kennenzulernen. an Aufgaben in Zusammenhang mit ebenen bzw. Dem deutlich gegenüber steht das Raumvorstel- räumlichen geometrischen Fragestellungen zur lungsvermögen, also das rein gedankliche kogni- Bearbeitung vorgelegt bekommen haben. An- tive Operieren mit räumlichen Objekten (Drehen, schließend wurde im Rahmen der Auswertung der Spiegeln, Schneiden, …) und die Fähigkeit, sich Tests mittels faktoranalytischer mathematischer rein gedanklich in andere räumliche Positionen Berechnungen versucht zu erkennen, welche von versetzen zu können. den Testaufgaben die Versuchspersonen mit eher Die Fähigkeit zur visuellen Wahrnehmung wird gleicher Wahrscheinlichkeit gelöst haben bzw. wel- eingehend seit ca. Mitte des 20. Jahrhunderts er- che weiteren Testaufgaben b, c, d, … auch korrekt forscht. Frostig (1979) hat dazu ein Modell von fünf gelöst wurden, wenn die Versuchsperson das Bei- Teilbereichen der visuellen Wahrnehmung erstellt. spiel a richtig gelöst hat. Dieses faktoranalytische Diese umfassen: (1) Figur-Grund-Wahrnehmung, Vorgehen mit passenden zugrundeliegenden ma- (2) Wahrnehmungskonstanz, (3) Wahrnehmung thematischen Rechenmodellen sollte ermöglichen der Raumlage, (4) Wahrnehmung räumlicher Be- zu erkennen, welche Testaufgaben inhaltlich „ver- ziehungen und (5) visuomotorische Koordination wandt“ sind, welche Testaufgaben also inhaltliche (Frostig, 1979). Die Unterteilung von Aufgaben zur Gemeinsamkeiten haben, daher mit gleichartigen IBDG 29
Überlegungen und dadurch auch mit ziemlich Aufgaben nicht dazu dienen kann, ein tragfähiges gleich hoher Wahrscheinlichkeit gelöst werden. Modell zum Raumvorstellungsvermögen zu entwi- Auf diesem Wege wurde gehofft, dass einzelne Be- ckeln (Souvignier, 2000). reiche – aufgrund des faktoranalytischen Vorge- Die Zeitphase ab 1994 wird daher auch die post- hens „Faktoren“ genannt – gefunden werden, die faktorielle Phase der Raumvorstellungsforschung Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung inhaltlich zusammenhängen und die somit unter- (Abbildung 9) genannt (Maresch, 2013), da erkannt schiedliche Bereiche des Raumvorstellungsvermö- wird, dass unter anderem individuelle Lösungs- gens (= Faktoren) erkennen lassen. Es wurden auf strategien beim Bearbeiten von Aufgaben eine diesem Weg während der faktoriellen Phase der wichtige Rolle spielen, dass auch weitere Aspekte Raumintelligenzforschung (1950-1994) zahlreiche wie z. B. das Arbeitsgedächtnis oder die Dynamik Modelle des Raumvorstellungsvermögens aufge- bis hin zur Feinmotorik die Lösungswahrschein- stellt (Thurstone, 1950; French, 1951; Guilford, lichkeit von Raumvorstellungsaufgaben maßgeb- 1956; Rost, 1977; Lohman, 1979; McGee, 1979; lich beeinflussen und daher auch diese Aspekte Linn & Petersen, 1985; Lohman, 1988; Carroll; in einer Gesamtsicht des räumlichen Denkens 1993), die das gemeinsame Bemühen verbindet, beachtet werden müssen. Der faktoranalytische auf faktoranalytischem Weg passende Modelle Strang der Forschung zum Raumvorstellungsver- des Raumvorstellungsvermögens zu finden. Dabei mögen hat in seinen knapp 50 Jahren (etwa 1950- wurden zumeist von den ForscherInnen Modelle 1994) einen maßgeblichen Beitrag zur Analyse der mit zwei bzw. drei Faktoren formuliert. Manche Mo- Intelligenzfacette „space“ beigetragen, hat zahl- delle wiesen bis zu neun unterschiedliche Faktoren reiche Ansätze und Anregungen geliefert und war auf (Lohmann, 1988; Carroll, 1993). Maier hat in somit ein idealer Nährboden, auf dessen Basis die seinem bemerkenswerten Werk „Räumliches Vor- später entwickelten Forschungsansätze aufbauen stellungsvermögen“ (1994) die faktoranalytischen konnten. Modelle der Raumvorstellung erstmals im deutsch- sprachigen Bereich ausführlich zusammengefasst und erörtert. Er schlägt selbst in diesem Buch 4. Strang: Neurologie fünf der erwähnten Faktoren als insgesamt stim- Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein war es mige Essenz der Faktoren der Raumvorstellung Forschenden nur schwerlich bzw. gar nicht mög- vor. Die Jahre nach 1994 waren davon geprägt, lich, am lebenden menschlichen Gehirn Untersu- unterschiedliche dieser in der zweiten Hälfte des chungen durchzuführen und daraus substanzielle 20. Jahrhunderts entwickelten faktoranalytischen Erkenntnisse gewinnen zu können. Im Jahr 1971 Modelle einzusetzen und diese Modelle unter an- wurde die Magnetresonanztomographie (MRT) von derem auf innere Konsistenz und Trennschärfe der Lauterbur erfunden, 1973 wurde diese Errungen- Faktoren und damit auf deren Tragfähigkeit hin schaft publiziert und im Jahr 2003 erhielt er dafür zu prüfen. Dabei wurde bewusst, dass diejenigen den Nobelpreis für Medizin. Die funktionelle Ma- Modelle des Raumvorstellungsvermögens, die auf gnetresonanztomographie (abgekürzt fMRT bzw. faktoranalytischem Weg entwickelt wurden, unter fMRI) wurde 20 Jahre nach der MRT entwickelt. anderem bedingt durch die fehlende Trennschärfe Maßgeblich beteiligt daran war Belliveau mit sei- der beschriebenen Faktoren, wenig belastbar sind. nen KollegInnen. Sie publizierten im Jahr 1991 erstmals Ergebnisse von funktioneller Magnetre- sonanztomographie an Menschen. Seit dieser Zeit wurden einige weitere ähnliche Verfahren entwi- ckelt, die heute allesamt unter dem Überbegriff der sogenannten „bildgebenden Verfahren“ zu- sammengefasst werden. Alle diese Verfahren ver- bindet die gemeinsame Eigenschaft, dass diese Einblicke in die inneren Strukturen des Gehirns er- möglichen, ohne dass dabei operativ in den Schä- del eingedrungen werden muss. Diese technischen Entwicklungen erwiesen sich von unschätzbarem Wert, da es dadurch seit etwa 50 Jahren möglich Abbildung 9: Die drei Phasen der Raumvorstellungsforschung wurde, substanzielle neue wissenschaftliche Er- Ab etwa dem Jahr 2010 kam zusätzlich die Er- kenntnisse auf diesem nicht invasivem Weg ge- kenntnis hinzu, dass Versuchspersonen, die winnen zu können. Raumvorstellungsaufgaben bearbeiten, dies mit In Bezug auf das räumliche Denken bzw. den Seh- zumeist deutlich unterschiedlichen individuellen vorgang formulierten Ungerleider und Mishkin 1982 Strategien machen und damit nicht die von den das bahnbrechende Konzept der zwei unterschied- EntwicklerInnen von Tests intendierten Bearbei- lichen Sehpfade (Two cortical visual systems) im tungsstrategien verwenden. Daher wurde schließ- Gehirn (Ungerleider und Mishkin, 1982). Dieses lich klar, dass der Zugang über die faktoranaly- Konzept beschreibt, wie vom primären visuellen tische Auswertung von Lösungshäufigkeiten von Cortex (V1, das orange Areal in Abbildung 10), 30 IBDG
der im hinteren Bereich des Gehirns liegt, aus- le etabliert, dass das Konzept der zwei Sehpfade gehend, visuelle Reize weiterverarbeitet werden. und damit der klaren Trennung der Verarbeitung Dabei erkannten Ungerleider und Mishkin, dass von optischen Reizen im Gehirn in die Was-Bahn die Weiterverarbeitung in zwei unterschiedlichen und Wo/Wann-Bahn in dieser ursprünglichen Form Bahnen verläuft. Einerseits werden räumliche Ob- nicht bestätigt werden kann. Es zeigt sich vielmehr, Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung jekte an sich (Farbe, Textur, Form, Größe, …) in dass sämtliche Gehirnareale, die an der Verarbei- Arealen abgespeichert und erkannt, die im soge- tung visueller Reize beteiligt sind, in hochgradig nannten ventralen pathway verlaufen. Dieser ven- vernetzter Art und Weise Informationen austau- trale Sehpfad (auch ventral stream bzw. ventral schen und vernetzt sind. Die Theorie der Trennung pathway genannt, siehe Abbildung 10) beginnt im der visuellen Reize nach dem primären visuellen primären visuellen Cortex und verläuft Richtung Cortex in mehr oder weniger disjunkt verlaufende Schläfenlappen. Dieser Sehpfad wird oftmals als Sehpfade gilt mittlerweile als überholt und ist der „Was“-Bahn bezeichnet (Nänni, 2008), da in den Ansicht gewichen, dass alle Gehirnareale, die mit entsprechenden Gehirnarealen räumliche Objekte der Verarbeitung von visuellen Reizen beschäftigt (wie Gesichter, Häuser, Bäume, Würfel, Kegel, Ku- sind, sich in mannigfaltiger Art und Weise neu- gel, …), also das „Was“ gespeichert und erkannt ronal kontinuierlich austauschen (Freud, Plaut, werden. Demgegenüber verläuft der dorsale Seh- Behrmann, 2016). pfad von V1 aus nach hinten oben im Gehirn und Neben dem kognitiven Erkennen und Operieren wird als „Wo und Wann“-Bahn bezeichnet. Es wird mit räumlichen Objekten geht es beim räumlichen in diesen Gehirnarealen bzgl. der räumlichen Ob- Denken auch um das gedankliche Wechseln von jekte erkannt, wo sich diese befinden und zudem räumlichen Perspektiven und somit um räumliche die zeitlichen Abläufe von bewegten Objekten er- Orientierungsfähigkeit. Die räumliche Orientie- fasst und interpretiert. Aus diesen Gehirnarealen rung wird maßgeblich in zwei zueinander benach- heraus entstehen auch konkrete Anweisungen für barten Gehirnbereichen behandelt. Einerseits im Handlungen. Es besteht hier enger Konnex zu den enthorinalen Cortex und andererseits im Hippo- motorischen Arealen, die die motorische Umset- campus. Im enthorinalen Cortex befinden sich die zung der konkreten Handlungen einleiten. sogenannten Raster- bzw. Gitterzellen, welche in sechseckiger Form angeordnet sind und die Ei- genschaft besitzen, dass sie die genaue räumliche Position erkennen können. Im Hippocampus wie- derum sind sogenannte Ortszellen vorhanden, die sich jeweils die Eigenschaften eines bestimmten Ortes merken können, aber nicht wissen, wo sich dieser Ort befindet. Durch die Zusammenarbeit von Raster- und Ortszellen ist es möglich, einer- seits durch die Rasterzellen zu wissen, wo man sich befindet und andererseits durch die Ortszel- len abrufbereit zu haben, welche Eigenschaften dieser Ort hat. Diese beiden Hirnregionen bilden bedingt durch die faszinierende Zusammenarbeit der Raster- und Ortszellen unser inneres Naviga- tionssystem. Die Erforschung dieser Strukturen unserer räum- lichen Orientierungsfähigkeit wurde maßgeb- lich von dem britisch-amerikanischen Forscher Abbildung 10: Schematische Darstellung der beiden visuellen O’Keefe und dem norwegischen Forscherehepaar Sehpfade (ventraler Sehpfad und dorsaler Sehpfad) (Grafik: An- Moser (Moser, 2014; Moser et al., 2014) beein- drey Vyshedskiy, Shreyas Mahapatra, Rita Dunn) flusst, wofür die drei Genannten 2014 den Nobel- Die Theorie der zwei unterschiedlichen Sehpfade, preis für Medizin erhielten. in denen optische Reize nach der Weiterleitung Sehen und räumliches Denken benötigt insge- von den Augen in den primären visuellen Cortex samt mehr als die Hälfte der Gehirnareale (Nänni, mehr oder weniger getrennt voneinander weiter- 2008). Beim Denken an räumliche Objekte werden verarbeitet werden, war für viele Jahre ein äußerst die gleichen Gehirnareale als beim realen Betrach- fruchtbarer Ausgangspunkt dafür, die konkreten ten dieser Objekte aktiviert. Die Erkenntnisse Prozesse der Verarbeitung von optischen Reizen der Neurologie zeigen, dass räumliches Denken im Gehirn zu erforschen. ein hochkomplexer Prozess ist, der in zahlreichen Die modernen bildgebenden Verfahren haben ei- unterschiedlichen Gehirnarealen, die für jeweils nen maßgeblichen Teil dazu beigetragen, dass in spezifische Aufgaben angelegt sind, verarbeitet den letzten Jahren auf diesem Gebiet bedeutende wird und wo noch viele offene Fragen uns auch Erkenntnisse gewonnen werden konnten. Als ak- hinkünftig beschäftigen werden. Zusätzlich sind tueller Stand der Forschung hat sich mittlerwei- diejenigen Areale, die mit der Verarbeitung von IBDG 31
Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung Abbildung 11: Generische Stränge des räumlichen Denkens optischen Reizen im Gehirn bzw. auch schon da- Die generischen Stränge des vor auf den Zwischenstationen zwischen Auge und räumlichen Denkens im Überblick Gehirn beschäftigt sind (wie z. B. Kniehöcker), in ständigem Austausch mit denjenigen Teilen des Die Fähigkeit zum räumlichen Denken wird seit Gehirns, wo verwandte Erfahrungen unterschied- etwa 140 Jahren von unterschiedlichen Wissen- licher Sinne gespeichert werden. schaftsbereichen untersucht. Mithilfe dieses kontinuierlichen Austausches wer- Konkret werden dabei vier Stränge erkannt: (1) den auf allen Stationen der Verarbeitung von op- Entwicklungspsychologie, (2) visuelle Wahrneh- tischen Reizen diese gefiltert, interpretiert, mit mung, (3) faktoranalytische Modelle und (4) Neu- Erfahrungen abgeglichen und komprimiert. Erst rologie. Jeder dieser Stränge blickt aus einer ande- diese Verdichtung von optischen Reizen ermögli- ren Perspektive, mit unterschiedlichen Methoden, cht es einem menschlichen Gehirn, die unglaublich Traditionen und Zielsetzungen auf die räumliche hohe Zahl an optischen Eindrücken kognitiv verar- Denkfähigkeit. beiten zu können. Die Aussagen, Befunde und entwickelten Model- Die Neurologie liefert seit etwa 50 Jahren in Bezug le und Ansätze der einzelnen Forschungszweige auf das räumliche Denken markante Hinweise da- spiegeln diese Verschiedenartigkeit wider. Abbil- rauf, dass optische Reize in unterschiedlichen spe- dung 11 fasst kompakt relevante Begriffe der je- zifizierten Gehirnarealen, die in ständigem neuro- weiligen Stränge schlagwortartig zusammen und nalem Austausch untereinander sind, verarbeitet zeigt, welcher Altersgruppe das Hauptinteresse werden. des jeweiligen Stranges gilt. Aus diesem Wissen lässt sich die Forderung ablei- Der Blick auf diese in vielen Parametern hetero- ten, dass die unterschiedlichen räumlichen Denk- gene Landschaft der vier Wissenschaftszweige, weisen kontinuierlich strukturiert und differenziert die sich maßgeblich mit dem räumlichen Den- trainiert werden sollten. ken und dessen Teilgebieten beschäftigen, lässt erkennen, dass es zahlreiche Bemühungen und Eine systematische Förderung des räumlichen große Fortschritte gab und gibt, die Grundlagen Denkens, welche darauf abzielt, möglichst alle des räumlichen Denkens zu erforschen. am Sehen und räumlichen Denken beteiligten Gehirnareale in einem ausgewogenen Verhältnis Durch das Besprechen der grundlegenden An- anzusprechen, die kognitiven Möglichkeiten der sichten dieser Forschungstraditionen und das Ge- einzelnen Areale zu trainieren und den neuro- genüberstellen der Modelle der vier Stränge und nalen Austausch zwischen den Arealen zu fördern, deren adressierter Altersgruppen zeigt sich deut- scheint daher ein naheliegender und vielverspre- lich, dass es oft nur wenig Gemeinsamkeiten und chender Ansatz zu sein. Überlappungen zwischen den Bereichen gibt. 32 IBDG
Ganzheitliches Modell der stufen eine Orientierung bieten zu können, welche Grundroutinen des räumlichen Facetten des räumlichen Denkens bereits bis zu Denkens welcher Tiefe entwickelt sind. Das Modell der acht Grundroutinen des räumlichen Denkens wurde Ein besonderer Reiz der Weiterentwicklung und im Jahr 2020 publiziert (Maresch, 2020). In die- Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung des Fortschritts im Bereich des räumlichen Den- ser Erstveröffentlichung werden sämtliche Stufen kens besteht nun darin, Brücken zwischen den vier ausführlich beschrieben, deren Grundfunktionen Strängen zu bauen und die vier Bereiche unter erörtert, Teilfähigkeiten aufgelistet, Teilaspekte einem gemeinsamen Dach zu vereinen, indem die genannt, exemplarische Übungen vorgestellt, Be- relevanten Erkenntnisse und Facetten der einzel- züge zu den vier generisch-historischen Strängen nen Stränge herausgeschält und in einem gemein- des räumlichen Denkens beschrieben und unter samen Modell zum räumlichen Denken zusammen- anderem auch Bezüge zum Schreiben und Lesen geführt werden. Als Vorschlag für ein derartiges hergestellt. Modell wurde das Modell der Grundroutinen des räumlichen Denkens (Maresch, 2020) entwickelt, welches insgesamt acht Grundroutinen zum räum- lichen Denken beinhaltet (Abbildung 12). Zusammenfassung Die ersten fünf Stufen (Visualisierung, Formkon- 1879 beschrieb Galton die Intelligenzfacette des stanz, Raumlage, Raumtransformationen und Ob- räumlichen Denkens als „visualising faculty“, in- jektkombinationen) verstehen sich als aufbauende dem er schreibt: „Memories that are extreme- Stufen. Kinder und Jugendliche entwickeln diese ly vivid may at the same time be very mobile, Stufen im Allgemeinen aufeinander folgend, wo- and capable of blending together. Much instruc- bei die Fähigkeit zur Visualisierung die grundle- tion on these matters can be derived from those gendste Stufe darstellt. Darauf aufbauend wird die who possess the power of what is called the vi- Fähigkeit zum Erkennen von Formkonstanzen, von sualising faculty, in a high degree. The objects of Raumlagen, Raumtransformationen und schließ- their memory are conspicuous images“. Das Ende lich von Objektkombinationen in dieser aufstei- des 19. Jahrhunderts gilt unter anderem durch genden Reihenfolge entwickelt. Studienergebnisse die Beschreibung von Galton als die Zeit, wo die von Hofer (2020) und Wallinger (2020) bestätigen menschliche Intelligenz mehr und mehr in den Fo- diesen strukturellen Aufbau und die inhaltliche kus von Untersuchungen und wissenschaftlicher Konsistenz der ersten fünf Grundroutinen. Die Beschäftigung rückte. Diverse ein- und mehrdi- weiteren drei grundlegenden Routinen des räum- mensionale Intelligenzmodelle wurden seit dieser lichen Denkens sind Dynamik, Feinmotorik und Zeit entwickelt, in denen die unterschiedlichsten räumliche Orientierung. Teilbereiche der Intelligenz formuliert bzw. postu- liert wurden. Nahezu alle Intelligenzmodelle haben die Gemeinsamkeit, dass das räumliche Denken (space) als grundlegende Facette der Intelligenz erkannt wurde und in den diversen Strukturmo- dellen beinhaltet ist. Die Fähigkeit zum räumlichen Denken ist bei Men- schen hochgradig individuell unterschiedlich ent- wickelt. Eine Erkenntnis, die Galton mit den Wor- ten „I do not know any faculty that varies so much as this in different persons. None can vary more, because its range lies between perfection and nothingness.“ (Galton, 1879) beschreibt. Unter Abbildung 12: Die acht Grundroutinen des räumlichen Denkens anderem dieser Umstand und auch die Tatsache, dass das räumliche Denken ein grundlegender Die einzelnen Stufen des Modells der Grundrouti- Teilaspekt zahlreicher Intelligenzmodelle ist, bot nen beschreiben konkrete räumliche Fähigkeiten, sind an Inhalten ausgerichtet und sind daher wie- Vielen ausreichend Motivation, um sich diesem derum unabhängig davon, mit welcher Strategie spezifischen Teil der menschlichen Intelligenz ein- Lernende die Aufgaben der entsprechenden Stufen gehender zu widmen. Zumindest vier markant bearbeiten. Das vordringlichste Anliegen bei der unterschiedliche Herangehensweisen an die Aus- Konzeption des Modells war es, die grundlegenden einandersetzung mit dem räumlichen Denken sind Aussagen, Erkenntnisse, Faktoren und Facetten erkennbar. der vier generisch-historischen Stränge des räum- Diese vier generischen Stränge des räumlichen lichen Denkens herauszuschälen und diese in einer Denkens sind: Der Strang der Entwicklungspsy- neuen übergreifenden und ganzheitlichen Struktur chologie, der Strang der visuellen Wahrnehmung, stimmig zu vereinen. Das entwickelte Modell soll der Strang der faktoranalytischen Modelle und als ganzheitliches Modell auch dem Zweck dienen, schließlich als jüngster Strang jener der Neuro- für Lernende auf allen Entwicklungs- und Alters- logie. Jeder dieser Stränge betrachtet das For- IBDG 33
schungsfeld jeweils aus unterschiedlichen Per- Raumdenken, Raumintelligenz spektiven, spezifiziert zumeist die Untersuchungen Beide Begriffe sind Synonyme für den Begriff auf bestimmte Altersgruppen und formuliert daher räumliches Denken (siehe unten). Beide Begriffe verschiedenartige Modelle, Ansätze und Thesen. werden selten verwendet und kommen de facto In diesem Beitrag werden die vier bedeutenden in der Literatur nicht vor. Es sind daher auch kei- Geometrie in Technik, Wissenschaft und Forschung Zugangsweisen, deren VertreterInnen und Kern- nerlei konkrete Definitionen bzw. Beschreibungs- aussagen kompakt erörtert, wodurch ein ganz- versuche bekannt. Entsprechend der Verwendung heitlicherer Blick eröffnet wird. der Begriffe im Kontext ist zu erkennen, dass die Eine reizvolle Weiterentwicklung auf dem Gebiet Begriffe Raumdenken und Raumintelligenz sehr des räumlichen Denkens besteht darin, die Es- großzügig zahlreiche Facetten des räumlichen senz der vier Stränge herauszuschälen und diese Denkens beinhalten und dass diese daher auch in einem ganzheitlichen Modell zu vereinen. Auf als Synonyme zum Begriff „räumliches Denken“ zu einen Vorschlag für ein derartiges Modell wird im verstehen sind. abschließenden Teil des Beitrags als Modell der Grundroutinen des räumlichen Denkens verwie- Raumvorstellungsvermögen sen. Von den insgesamt acht Stufen des Modells (kurz: Raumvorstellung) verstehen sich die ersten fünf Stufen als aufbau- Das Raumvorstellungsvermögen ist die Fähigkeit ende Stufen, wobei die Fähigkeit zur Visualisie- eines Individuums, sich räumliche Objekte mental rung die grundlegendste Stufe darstellt. Daran vorstellen zu können, diese rein gedanklich mani- schließen die Stufen des Erkennens von Formkon- pulieren (schieben, skalieren, drehen, spiegeln, …) stanzen, von Raumlagen, von Raumtransformati- zu können, Relationen zwischen mehreren räum- onen und von Objektkombinationen an. Ergebnisse lichen Objekten erkennen zu können und sich rein von Studien (Hofer, 2020; Wallinger, 2020) zeigen, in der Vorstellung an unterschiedliche Positionen dass die Fähigkeiten, die mit den einzelnen Stu- im Raum versetzen zu können (also sich den Raum fen verbunden sind, steigenden Komplexitätsgrad aus anderen Perspektiven vorstellen zu können). aufweisen und dass Kinder und Jugendliche diese Raumvorstellung(svermögen) ist daher eine rein Fähigkeiten in der im Modell ausgewiesenen Rei- kognitive Leistung und inkludiert keinerlei reale henfolge durchlaufen. Die weiteren drei Stufen des Tätigkeiten (wie reales Betrachten von räumlichen Modells (Dynamik, Feinmotorik und räumliche Ori- Objekten oder Durchführen von (fein)motorischen entierung) wurden in allen vier generischen Strän- Bewegungsabläufen). gen als essenzielle räumliche Fähigkeiten erkannt und daher als stimmige Komplettierung in das Mo- Raumwahrnehmung dell der Grundroutinen des räumlichen Denkens Das Gehirn verfügt über zahlreiche Möglichkeiten, aufgenommen. Die einzelnen Grundroutinen des aus dem zweidimensionalen Bild unserer Umwelt Modells werden in der Erstveröffentlichung (Ma- auf die Retina (= Netzhaut, Innenwand des Auges) resch, 2020) detailliert beschrieben, argumentiert ein räumliches, dreidimensionales Abbild erzeu- und Bezüge zu den vier Strängen und zum Lesen gen zu können. Diese Fähigkeit, die Raumwahr- und Schreiben hergestellt. Erste Untersuchungen nehmung genannt wird, entsteht durch das Zu- zeigen, dass das Modell als stimmige strukturelle sammenspiel einer Vielzahl von unterschiedlichen Basis für die Entwicklung von Lernmaterialien über Interpretationen der visuellen Wahrnehmung, wie alle Altersstufen hinweg verwendbar ist und spe- z. B. monokulares/binokulares Sehen, Farbinter- ziell auch daher zur umfassenden Diagnose der pretationen, vertraute Größe, Überlappungen, räumlichen Fähigkeiten eingesetzt werden kann. Schatten, Texturdichte, Querdisparität, Muskel- bewegungen der Linse, Bewegungsparallaxe und inkludiert dabei auch die Reize und Eindrücke wei- Anhang: Begriffserläuterungen terer Sinnesquellen (z. B. Kinästhetik, Hören). In der Literatur sind zahlreiche Begriffe rund um Räumliches Denken das Themenfeld „räumliches Denken“ in Verwen- Als verbindender, gemeinsamer Überbegriff für dung. Jeder dieser Begriffe beschreibt eine be- die menschliche Fähigkeit, vom Auge empfangene stimmte Facette (spezifische Fähigkeit, konkretes optische Reize ins Gehirn leiten zu können, diese Phänomen, …). interpretieren und daher räumliche Objekte er- Oftmals ist zu bemerken, dass diese Begriffe sa- kennen zu können, sich räumliche Objekte mental lopp verwendet, sehr offen und breit beschrieben vorstellen zu können, diese gedanklich manipu- bzw. großzügig behandelt werden. Die nachfol- lieren zu können, sich rein in der Vorstellung an genden Begriffserläuterungen einiger der häufig unterschiedliche Positionen im Raum versetzen zu verwendeten Begriffe in Bezug auf räumliches können, Bewegungsabläufe wahrnehmen und in- Denken soll die Spezifika der einzelnen Begriffe terpretieren sowie (fein)motorische räumliche Be- hervorheben und dadurch die korrekte Verwen- wegungen ausführen zu können, wird der Begriff dung ermöglichen. „räumliches Denken“ verwendet. Räumliches Den- 34 IBDG
Sie können auch lesen